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Hilskehmen, Januar 18 . .

Aus Kerlchens Tagebuch.

Als neulich der Wagen in der Kirchallee vor Villa Käfermann hielt, da stockte mir doch ein klein wenig der Herzschlag. Man ist doch trotz aller Tapferkeit ein recht hasenherziges Frauenzimmer. Ich sagte dasselbe schon zu Onkel Liskow beim Abschied, aber der meinte:

»Aus ›Hasen‹ mache ich mir nichts, aber ein ›herziges Frauenzimmer‹ bist du, das stimmt!«

Er muß ja immer seinen Scherz machen. Ach, und ich meine, hier muß einem aller Spaß vergehen in diesem kalten, öden Hause, wenn man auch wirklich noch ein fröhliches Herz hätte, das ich ja nicht mehr hab' – – es liegt bei meinem Väterchen tief, tief drunten in der Erde.

Die ›Villa‹ ist schon von außen fürchterlich, krebsrot, mit bunten Blumen bemalt und über der Einfahrt prangt ein mächtiger goldener Käfer, es sieht zu lächerlich aus.

Auch im Innern des Hauses spielt der Käfer eine große Rolle, überall ist er angebracht, an der Treppe ist eine ganze Käfergalerie, als sei es eine Auszeichnung, den Namen dieses Tierchens zu tragen.

Die Zimmer sind sämtlich ganz und gar überladen eingerichtet, nur das von Herrn Käfermann ist einfach, und zwar übermäßig einfach, es sieht aus wie ein Wartezimmer vierter Klasse, nur daß ein Bett darin steht, das hinter einem Wandschirm von Segeltuch versteckt ist. Es soll eine Marotte von Herrn Käfermann sein, so einfach zu wohnen, die Möbel hat er sich vor fünfunddreißig Jahren angeschafft, als er sein erstes Geld verdiente.

»Aber Arrnst!« sagt Frau Käfermann jedesmal, wenn er's einem Fremden erzählt, »i laß doch, es klingt so jewehnlich, so arm, i Chott nei, wie jrrräßlich!«

Aber Herr Käfermann erzählt es doch immer wieder, er ist so stolz darauf, ein self made man zu sein.

Damit ich nicht übermütig werde, hat mir Frau Käfermann ein ebenso einfaches Stübchen angewiesen, wie dem Hausherrn, ich war zuerst ordentlich erschrocken, als ich hineinschaute, aber jetzt sieht es schon anders aus. Mit meinen Decken und Bildern hab' ich mir ein ganz liebes Heim geschaffen, nur ein Teppich fehlt mir so sehr – – ja, so dumm und anspruchsvoll bin ich noch.

Frau Käfermann scheint gleich gemerkt zu haben, woran sie mit mir ist, sie hat sehr scharfe Augen, am ersten Abend hat sie mir schon gesagt, daß ich ein hochmütiges Gesicht hätte und daß sich dies für mich nicht mehr passe. Ihr scheint nichts an mir zu gefallen, nicht einmal mein einfaches, schwarzes Trauerkleid, »das nicht für ihr Haus geeignet sei.«

Ich sah sie an und da rief sie: »Um Gott, Kind, solche Blicke missen Sie sich eiiiin für alle mal abjewehnen.«

Ich glaub' aber nicht, daß ich das kann. Reden halten darf man nicht in diesem Käferhause, das besorgt alles Frau Käfermann, nur blicken kann man und sich wundern, wenigstens ich lasse mir das nicht nehmen.

Als ich zum ersten Mal allein war und in meiner kahlen, unfreundlichen Bude stand, da meinte ich, das Herz sollte mir in Stücke brechen. Ganz trostlos saß ich auf meinem Koffer und guckte mit brennenden Augen durch Türen und Häuser und Wälder hindurch in mein liebes, verödetes Schwarzhausen und dann weiter nach Buchenwalde, wo ich so unendlich viel Liebe zurückgelassen hatte.

Ich war so versunken in tiefste Betrübnis, daß ich draußen gar keine Schritte hörte und sehr erschrak, als die Tür leise geöffnet wurde und ein blondlockiger Jungskopf hereinguckte.

»Tag, Fräulein,« sagte eine lustige Stimme, »ich wollte Sie mir mal besehen.«

»Na bitte,« entgegnete ich mürrisch, »dann tu's.«

»Och, ich mein's nicht bös,« rief er und dann stellte er sich wirklich hin und betrachtete mich von allen Seiten.

»Es ist wirklich schade um Sie,« meinte er dann mit kritischer Miene, »an Ihrer Stelle kratzte ich wieder aus.«

»Wer bist du denn?« fragte ich erstaunt. »Ich bin leider nur Willy Reymers,« und gehöre nicht in die hochedle Familie derer von und zu Käfer, täte ich's, dann hätte ich Geld wie Heu und brauchte mich hier nicht schlecht behandeln zu lassen. So aber bin ich nur ein Sohn von der Schwester des »Käfermannes«, die einen blutarmen Lehrer geheiratet hat.«

» Mußten Sie denn »Erziehersche« werden,« fragte Willy weiter und betrachtete mich mit zweifelnden Blicken.

Ich nickte schweigend.

»Sie Ärmste, ach Sie Ärmste!« rief der Junge in so schmerzlichem Tone, daß die mühsam zurückgehaltenen Tränen bei mir mit einem Male hervorbrachen.

»Na,« sagte er altklug und trippelte recht unbehaglich von einem Fuß auf den andern, »weinen Sie sich man aus, Marjellen tun das ja nich anners, aber wenn Sie fertig sind, muß ich Ihnen doch die »Käfer« vorführen, Sie sind dann mehr gewappnet.«

Ich war im Nu fertig und blickte ihn gespannt an. Willy Reymers gefiel mir gleich vom ersten Anblick. Er hat ein solch' offenes, liebes Knabengesicht, das mich an meinen Erich-Bruder erinnert, blondes, lockiges Haar, mutige blau-graue Augen und eine energische Nase. –

»Er, – der Käfermann, ist ein guter Kerl, eine Null, ein Gar-Niemand,« erzählte Willy. und dämpfte seine Stimme kein bißchen, so als wollte er im hellen Trotz ungebetene Lauscher heranreden, »ihm gehört eigentlich nichts in diesem schauderhaften Hause, obgleich er sich alles sauer verdient hat, sie belegt alles mit Beschlag, sie, das » Käferweib

Willy schleuderte den letzten Namen mit solcher Verachtung heraus, daß ich am liebsten sofort wieder abgereist wäre, – zum ersten Mal fürchtete ich mich vor der Zukunft, vor der einsamen Fremde, vor meinem neuen Beruf.

»Und dann die übrigen Käfer!« fuhr Willy aufgeregt fort. »Hüten Sie sich vor der Angela! Ich nenne sie ›Teufela‹, und dann ist sie so wütend darüber, daß der Name richtig paßt.«

»Soll ich die erziehen?« fragte ich erschrocken.

»Nee, die is schon, d. h. sie is garnich, aber Sie sollen's nich,« lautete die etwas orakelhafte Antwort, und als ich Willy fragend anblickte, erklärte er sich deutlicher.

»Sie ist längst aus der Pension zurück und mindestens zwanzig Jahr alt und das »feinste, wohlerzogenste Wesen in ganz Ostpreußen,« wie das Käferweib sagt. Aber der Käfermann sagt: »Na na, man lernt nie zuviel und nie aus,« und ich sage: »Sie ist ein geborenes Scheusal.«

»Und wer ist nun noch da?« fragte ich zaghaft.

»Na, – der Max zählt nicht, das ist so 'ne Art gelehrtes Huhn, der steckt immer zwischen seinen Büchern oder im Laboratorium, aber nun kommt ja noch der eigentliche Käfer, den Sie erziehen sollen, – Friederike, oder, wie das Käferweib wünscht, »Rika« genannt, – nun, ich rufe sie so hart wie nur möglich »Friedderikke«, und das giftet das ganze Volk.«

Ich erhob mich in meiner ganzen – Kleine, mir fiel mit einem Male ein, daß ich ja jetzt Erzieherin bin.

»Ich glaube, ich darf das nicht so mit anhören, wie du immer »Käfermann und Käferweib und Volk« sagst,« – fing ich an, aber er wurde gleich braunrot vor Zorn und Überraschung und schrie mich an:

» Mich soll'n Sie nich erziehen, davon is garnich die Red', verstanden?«

Paff, schlug er die Tür zu, und ich war allein, – ich hatte meinen ersten und letzten Freund in diesem Haufe verscheucht. Als ich ganz todtraurig meinen Koffer auspackte und darüber nachdachte, wie ich das schauderhafte Zimmer etwas behaglicher machen könnte, öffnete sich leise die Türe wieder, und Willys Gesicht schaute mit sehr ernstem Ausdrucke herein.

»Tut's Ihnen leid,« fragte er, wie ungefähr ein betrübter Vater fragt, der sein unartiges Kind eingesperrt und geprügelt hat.

» Sehr!« gab ich zerknirscht und wahrheitsgemäß zur Antwort.

Willys Gesicht hellte sich mit einem Schlage auf.

»Dann kann ich ja wohl wieder 'neinkommen,« meinte er fröhlich, und ließ seinen Worten gleich die Tat folgen, »Sie sind ja ein außergewöhnlich vernünftiges Mädchen.«

Ich lachte ihn an und knickste dankend.

»Und hübsch sind Sie,« fuhr der dreizehnjährige Schlingel fort, »Donnerwetter ja, das wird dem Käferweib unangenehm sein, denn Angela – – brrr – sehen Sie mal so – – – so sieht die aus!«

Er hielt die zur Faust geballte Hand an die Nase, schielte gräulich und zog den Mund breit auseinander, dabei die Zähne fletschend wie ein Kannibale.

»Hör' auf,« bat ich, »es kann einem übel werden.«

»Es stimmt aber,« meinte er, höchst befriedigt von seiner Vorführung.

»Sie sollen mich aber nicht für einen gräßlichen Bengel halten, der seine Verwandten bloß schlecht macht,« rief er plötzlich rauh, »denn erstens will ich Ihnen helfen,« – – damit neigte er sich über einen Koffer und warf planlos die darin befindlichen Sachen heraus, bis ich ihm in den Arm fiel, – – und zweitens – – –«

Eine längere Pause entstand, ich guckte garnicht hin, sondern ordnete in großer Hast meine Sachen, damit ich fertig sei, falls man mich rufen würde, – dann erfolgte plötzlich ein tiefer Seufzer, zwei Arme warfen sich über den wackeligen Tisch, der vor dem steinharten Sofa stand, und Willy brach in ungestümes Schluchzen aus.

Ich sah ihm eine Weile stumm zu, dann richtete er sich hastig auf.

»Soweit kommt man hier,« rief er zornig und bearbeitete mit einem fragwürdig aussehenden Taschentuch sein heißes Gesicht. »Sie müssen mir auf Ehre glauben, daß ich sonst nie heule. Aber ich hab' Heimweh,« schrie er mich an, »und ich weiß nicht wonach, ich hab' ja gar niemand auf Gottes Welt.«

Ich stand ganz stumm diesem großen Schmerze gegenüber, und er biß sich die Lippen beinahe blutig, um sich zu beherrschen.

»Der Vater ist schon lange tot, aber ich weiß doch noch, wie gut und klug er war, er wußte alles, alles, und das ganze Dorf kam zu ihm. Mutter und ich waren sehr unglücklich, als er starb. Na, und da blieb ich bei der Mutter, und immer sagte ich zu ihr: »Weine nicht, ich bin bald groß, dann sorge ich für dich!« Ach und dann kam die schreckliche Zeit von Mutters Krankheit, und ehe sie einschlief, sagte sie noch leise: »Tapfer, mein Willusch!«

Willy schluchzte laut auf.

»Dann war sie tot, – ich wollt's nicht glauben, na – und tapfer bin ich auch nicht gewesen, geschrieen hab' ich, – geschrieen, bis sie mich hierher brachten. Da wurde ich still, weil das Käferweib immer sagte: »Der Bengel ist ein Waschlappen!« Sie hätte mich auch nicht zu sich genommen, wenn ich auf der weiten Welt jemand gehabt hätte, der mir zugehörte, aber Onkel bestand darauf, Onkel ist so gut. Aber ich bin ganz anders hier geworden, – viel ruppiger, sie nennen mich hier Wilhelm, kein Mensch hat mich früher so genannt, die Mutter sagte: »Willusch« – – – –

Stromweise stürzten dem armen Kerl wieder die Tränen hervor, und ich saß dabei so hölzern und ungeschickt – –

»Wein' doch nicht, lieber, kleiner Willusch,« sagte ich plötzlich ganz zaghaft, und er sprang auf und erdrosselte mich beinahe mit seinen Liebkosungen.

Mit einem Schlage gewann er seinen Frohsinn wieder, sein ganzes Gesicht strahlte, als er fragte:

»Ist es wahr, daß Sie ›Felicitas‹ heißen?«

Ich nickte erstaunt.

»Och – wie schade! So dürfen Sie hier nicht heißen, der Namen ist viel zu fein für eine Erziehersche, sagt das Käferweib. Haben Sie nicht noch 'n andern? Oder 'ne Abkürzung?«

»Fee« nannte mich Mama, und Väterchen sagte: – – »Kerlchen.«

Willusch schlug die Hände über den Kopf zusammen, dann bearbeitete er mit den Fäusten seine Kniee und lachte sich rein von Sinn und Verstand.

»Kerlchen!« schrie er entzückt. »Kerlchen als Erziehersche in der Käfersammlung! Ich werde immer nur »Kerlchen« rufen!«

»Untersteh Dich!« fuhr ich ihn an. »Niemand soll mich wieder so nennen, hörst Du? Niemand!« Ich fühlte, daß ich ganz blaß geworden war, und Willusch machte ein verdutztes, erschrockenes Gesicht.

»Nein, nein,« sagte er begütigend, »aber »Fee« darf ich doch sagen? Es ist beinahe noch toller, als »Kerlchen« und ich werde es jeden Tag sechsunddreißig mal anwenden!«

»Wozu?« fragte ich. »Meinen Namen kann mir doch niemand nehmen, und Frau Käfermann wird sich dazu bequemen müssen, mich Felicitas zu nennen!«

»Das tut sie nicht, das tut sie nicht,« rief Willusch aufgeregt, »Sie sollen's sehen! Oh hören Sie, sie kommt; wenn sie mich sieht, kriegen wir's beide.«

Mit einem Riesensatz sprang er zur Tür hinaus und kaum war er weg, da schlürfte Frau Käfermann herein.

Sie schlürft immer. Sie ist eine so kleine, dicke, gewichtige Dame, aber ich glaube, sie würde auch schlürfen, wenn sie lang und dünn wäre, jeder Schritt von ihr sagt: »Ich bin die Frau Kommerzienrat Käfermann!«

Sehr, sehr häßlich ist Frau Käfermann, abschreckend häßlich, – wie ein großer Karpfen sah sie aus, der nach Luft schnappt, denn mein Stübchen liegt ganz oben und sie mußte zwei Treppen zu mir heraufpusten. Während sie noch pustete, schossen ihre winzig kleinen Schweinsäugelchen in dem mir gehörenden Raume umher.

»Sehr unordentlich!« sagte sie atemlos.

»Ich fang' ja auch erst an,« verteidigte ich mich, aber da wurde sie so heiß und rot, daß sie zum Fürchten aussah.

»Was, Sie widersprechen ?« schrie sie mich an.

»I wo, ich widerspreche nicht, es sieht greulich unordentlich aus, aber ich kann da nix für, ich werde es schon noch ordentlich machen.«

»Sie führen eine sonderbare Sprache, Fräulein Marie,« eiferte nun Frau Käfermann, »ich bin das von meinen Dienstboten nicht gewöhnt, haben Sie verstanden, Fräulein Marie?«

Ich guckte mich rings im Zimmer um, um die »Marie« zu entdecken, mit der gesprochen wurde, aber ich sah niemand, ich sah nur die häßliche, zornige Frau, die mit mir redete.

»Ich heiße doch nicht Marie,« sagte ich erstaunt.

»Ach so, darüber wollt' ich mit Ihnen ja sprechen, deshalb bin ich hinaufgestiegen. Also Fräulein Marie, – » Felicitas« ist ein Unsinn, solche verrückte Namen sind für reiche Gräfinnen, aber nicht für Erzieherinnen und Stützen. Meine »Vorige« hieß »Marie«, sie heiratete den Krämer Wachduleit in der Gumbinner Straße, ich hab' mich an den Namen gewöhnt und werde Sie auch so nennen!«

»Aber ich gewöhne mich nicht daran, nie, nie!« rief ich aufgeregt und wendete mich sofort meinem Koffer zu. »Oh, oh, ich will wieder nach Hause!«

Ich warf schleunigst die eben von Willusch ausgepackten Kleider in den Koffer zurück, aber dann setzte ich mich ergebungsvoll auf einen Stuhl, – nein, ich ließ mich drauf fallen, vor Schreck über die zornige Redeflut, die über mich hereinbrach.

Ich weiß gar nicht mehr, was sie mir alles vorhielt, wessen sie mich beschuldigte, – ihre furchtbare Wut, ihre ungebildete Sprache hielten mich in Schach, ich packte ein Stück nach dem andern aus und hing es in den Kleiderschrank, oder legte es in die große, wurmstichige Kommode und hatte nur im tiefsten Innern ein wohliges Gefühl, daß diese häßlichen Reden ja gar nicht mir, sondern Fräulein »Marie« galten. Endlich, endlich ging Frau Käfermann fort, und ich blieb zurück mit heißem, schmerzendem Kopf und sagte immer leise für mich hin:

»Felicitas – Kerlchen! Felicitas! Kerlchen!«

*

Das Schulzimmer in Villa Käfermann liegt zu ebener Erde. Es ist ein riesengroßer, ungemütlicher Raum, »für mindestens vierundzwanzig Käferkinder berechnet«, wie Kerlchen schaudernd überlegt, während es dem jüngsten Sproß der Familie, Rika Käfermann, bei den Schulaufgaben ›hilft‹.

»Wenn Sie ein ordentliches Lehrerinnenexamen gemacht hätten, Fräulein Marie, dann könnten Sie sich doch noch das Schulgeld für Rika verdienen, uns kommt es ja nicht darauf an, wieviel wir bezahlen,« hatte Frau Käfermann noch am Morgen mißbilligend zu Kerlchen gesagt, und mit den Worten geschlossen: »Sie können doch rein gar nichts!«

»Rika, Rika, la plume – die Feder, wird nicht mit einem »h« geschrieben, – wie oft soll ich Dir das sagen. Sieh, wie lächerlich das aussieht »la plühme, du lernst ja im Leben kein Französisch.«

»Pah!« Rika rekelt sich aus ihrem bequemen Sitz, der streng nach den neuesten Anforderungen der Schulhygiene gebaut ist.

»Was Sie nur wollen, Fräulein Marie! Meine Institutsvorsteherin sagt, ich wäre hochbegabt für Sprachen.«

Kerlchen zieht die Augenbrauen hoch in ehrlichem Erstaunen.

»Ist die Möglichkeit! Hat sie das wirklich gesagt?«

»Ja, gestern. Mama holte sie zu einer Spazierfahrt in unserem Wagen ab, das hat Fräulein Milauer gern, und da erzählte Mama, Sie wären so ein sonderbares Mädchen, so hochnäsig und dabei arm wie eine Kirchenmaus – –«

»Wir wollen weiter arbeiten, Rika, ich will gar nicht hören, was Frau Käfermann gesagt hat – –«

»Doch, Sie müssen! Und Sie hätten gesagt, es wäre besser, wenn ich eine Lehrerin bekäme, die mir im Hause ordentlich Lesen, Schreiben und Rechnen beibrächte, aber da wurde Fräulein Milauer ganz rot vor Zorn und sagte, Sie wären eine anmaßende Person, und ich müsse unbedingt in ihrer Pension bleiben, ich wäre außerdem sehr begabt für Sprachen, nur etwas zart – –«

Rika lehnt sich bequem zurück und legt die Feder aus der Hand.

»Wie zornig sie aussehen, Fräulein Marie! Ich hab' es gern, wenn sich die Menschen ärgern, es ist sonst so langweilig auf der Welt.«

»Schreib Rika! La plume die Feder. La table, der Tisch. Rika, Rika! Du darfst doch französisch nicht so schreiben, wie du sprichst, guck, wie das aussieht »La tabbel«! Mir ist überhaupt so was nie vorgekommen. O Rika! Das Heft! Le Kajee! Wie schauderhaft!«

»Ja, dann sprechen Sie's mir falsch vor, Fräulein Marie. Fräulein Milauer hat gesagt, ich wäre – begabt – –«

Kerlchen schaudert es. Sie kennt schon genau den Tonfall ihrer Schülerin. Noch ein Widerwort von ihr, und Rika wird die Mundwinkel weit, weit herunterziehen und dann in ohrbetäubendes Geschrei ausbrechen, Frau Käfermann wird auf der Bildfläche erscheinen, hinter ihr Fräulein Angela, eine langgestielte Lorgnette vor Augen, um sich recht genau »Fräulein Marie« zu besehen, die so hoch bezahlt wird und nicht mal der kleinen Schwester bei den Schulaufgaben helfen kann.

»Komm, Rika, weine nicht! Ich will dir nochmal alle die Worte deutlich sagen und hinschreiben und dann lernen wir sie zusammen, willst du? Dann überraschen wir deine Eltern mit lauter richtigen Wörtern, – hör zu: »La plume« p, l, u, m, e – – –«

»Bin ich begabt?« fragt Rika weinerlich.

»Komm, schreib, Rika, sei vernünftig – ich helfe dir – –«

»Bin ich begabt?«

»La plume, die Feder! P, l, u – –«

»Bin – ich begabt?«

»Nein, Rika, nein – fürs Französische nicht – – –«

Kerlchen stockt entsetzt. Ein langgezogener Klagelaut ertönt, dem mehrere schrille Schreie folgen. Rita liegt ausgestreckt auf dem Stuhl, starr und steif, die Augen sind verdreht, ab und zu stößt sie gellende Laute aus, und da kommt auch schon Frau Käfermann gerannt, Fräulein Angela hinterher, sie jammern laut und ringen die Hände, die Köchin und zwei Stubenmädchen drängen sich auch dazu. Herr Käfermann schiebt alle fort, um seine Jüngste in den Arm zu nehmen und beruhigend zu streicheln. Dabei sehen seine Augen vorwurfsvoll Kerlchen an, die es immer noch nicht versteht, das zarte Kind vor Aufregungen zu behüten. Auch das pfiffige Gesicht von Willy Reymers taucht auf, – er ist gleich, nachdem man die ersten Schreie gehört, zum Arzt gelaufen, der glücklicherweise »nebenan« wohnt, – er wird gleich kommen.

»Nur ruhig Blut, Anton,« rannt Willy leise Kerlchen zu, »so 'ne Geschichte dauert nie lange, ich kenn' das. Nicht so blaß sein, Fräulein Fee, i Gott nei, – sie kommt schon wieder zu sich.« – –

»Solche Anfälle müssen unbedingt vermieden werden,« sagt zehn Minuten später der junge Dr. Schirmer, der sich an Stelle des beurlaubten Hausarztes der Familie Käfermann eingestellt hat. Dann tuen ihm seine Worte sofort leid, denn er fängt ein wahres Kreuzfeuer von mitleidslosen, vorwurfsvollen, scharfen Blicken auf, die sich alle auf das blasse, seltsame Mädchen richten, das ihm gleich beim Eintritt aufgefallen ist.

»Fräulein Marie versteht es so garnicht, unser Herzblättchen ›sanft‹ zu unterrichten,« klagt Frau Käfermann dem jungen Arzt, aber dieser unterbricht sie etwas schroff:

»Das Mädchen sollte überhaupt möglichst wenig »unterrichtet« werden, gnädige Frau. Lesen, schreiben, rechnen, plaudern, vorlesen und frische Luft! Haben Sie etwas Kampfer im Hause, gnädige Frau?«

Frau Käfermann läuft fort, so eilig es ihre Fülle erlaubt, und der Doktor bleibt mit Kerlchen allein, das ihm behilflich ist, Rika zu entkleiden.

»Das Kind muß mehr spazieren gehen,« sagt der Doktor und guckt Kerlchen scharf an. »Ich sehe Sie täglich mit ihr ausfahren, Fräulein Marie, das mag bequemer sein, ist aber nicht gut für das Kind.«

Ein paar zornige Augen richten sich auf ihn.

»Ich gehe auch lieber,« ruft Kerlchen, »aber es ist nicht vornehm,« sagt Frau Käfermann.«

»Ach so!«

Ein humoristisches Lächeln zuckt um die Mundwinkel des Arztes.

»Na, das wollen wir schon deichseln. Bitte, gehen Sie von heute ab jeden Nachmittag mit dem Kinde fort, es kann nach Tisch eine halbe Stunde schlafen, dann führen Sie es durchs Tilsiter Tor über den Wiesenweg nach Perkallen. Dort trinken Sie im Blauen Löwen ein Glas frische Milch, – Sie auch, Fräulein Marie!«

Kerlchen zuckt die Achseln.

»Jawohl, Sie auch,« wiederholt der junge Doktor ärgerlich. »Verstanden?«

»Ich will sehen.«

Der Doktor guckt Kerlchen scharf an, und sie erwidert seinen Blick unbefangen.

»Ich lasse mir so furchtbar ungern etwas befehlen,« setzt sie wie entschuldigend hinzu.

Der Doktor lacht.

»Sie sind hier nicht auf Rosen gebettet?« fragt er leise und legt Rika dabei sacht aufs Sofa.

Ein so abweisender Ausdruck tritt in Kerlchens Augen, daß er sich ärgerlich auf die Lippen beißt. Er hat während seiner Praxis gelernt, in den Mienen der Leute zu lesen, und auf Kerlchens offenem Kindergesicht steht ganz deutlich geschrieben :

»Das geht Sie garnichts an!«

In diesem Augenblick kommt Frau Käfermann herein, sie reicht dem Arzt das Kampferfläschchen, und dabei huschen ihre Blicke von ihm zu Kerlchen.

»Wie sonderbar die beiden aussehen!« denkt sie.

Eine Viertelstunde später hat sich Dr. Schirmer verabschiedet. Rika schläft, Kerlchen sitzt neben ihr, es hat die Hände hinter dem Rücken verschlungen, – seine alte Kampfstellung – auf seinem Gesicht liegt's wie Trotz, Zorn und Schmerz, vor ihm steht Frau Käfermann.

»Sie hätten gleich nach mir das Zimmer verlassen müssen, Fräulein Marie,« schließt die Herrin des Hauses ihre Rede, – »nichts ist häßlicher und unpassender, als wenn junge Mädchen Herrengesellschaft förmlich suchen, – es zeugt das von sehr schlechter Erziehung.«

So rasch ist Kerlchen vom Stuhl aufgesprungen, daß dieser zurückfliegt und umfällt. Frau Käfermann zieht es vor, das Zimmer rückwärts zu verlassen, sie behält Kerlchen dabei im Auge, wie ein Tierbändiger, dem ein ungefährlich scheinendes Geschöpf plötzlich Front macht. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloß fällt, kommt es Frau Käfermann sehr ärgerlich zum Bewußtsein, daß sie aus ihrem eigenen Zimmer von einem jungen, dienenden, bezahlten Wesen – – – – hinausgewiesen worden ist – – – – Lächerlich! Sie ist ganz von selbst hinausgegangen, um ihrem Gatten, Herrn Kommerzienrat Käfermann, zu sagen, daß er Herrn Dr. Schirmer gleich das Honorar schicken soll, damit dieser nicht wieder in die Villa zu kommen braucht.

Am nächsten Tag wandert Kerlchen mit Rika den vorgeschriebenen Weg durch das Tilsiter Tor nach Perkallen. Der »Anfall« hat bei Rika nichts zurückgelassen, das Kind läuft ganz vergnügt über die hartgefrorenen Feldwege, nachdem es zu Hause einen kleinen Tobsuchtsanfall durchgemacht, weil der Wagen nicht angespannt wurde. »Rika, mein süßes Herzchen,« hatte Frau Käfermann beschwichtigt, »geh' nur jetzt erst mal 'n paar Tage, dann wirst du rote »Backchen« bekommen und dann kannst du wieder mit der Fräulein Marie im »Wagchen« fahren.«

Das »Wagchen« ist ein stattlicher Landauer, mit zwei schweren ostpreußischen Kutschpferden bespannt.

Aber Rika tobte so lange weiter, bis ihr von Frau Käfermann versichert wurde, daß die vornehmsten und gebildetsten Leute »manchmal« zu Fuß gingen, wenn der Arzt es für gut hielte.

Draußen in Gottes freier Natur merkt man nichts von Rikas übervornehmen Gelüsten; sie veranstaltet Wettrennen mit Kerlchen, das ordentlich aufatmet in der langentbehrten Freiheit; sie sind beide kinderglücklich über jeden aufgestörten Hasen, und jede gefrorene kleine Lache auf dem Wege wird jubelnd mit dem Stiefelabsatz »aufgekracht«

Zwanzig Schritte hinter Kerlchen und Rika geht »Julius«, Käfermanns Diener, – ganz allein nach Perkallen zu pilgern, wäre gegen jeden »Schliff« gewesen.

Julius macht ein höchst verdrießliches Gesicht. Er hat bis jetzt nur in wirklich vornehmen Häusern gedient, wo er allerdings »Jean« genannt wurde. Als »Jean« hat ihn auch Frau Käfermann gemietet, aber er hat sich diese Vertraulichkeit der »bürgerlichen Emporkömmlinge« sofort verbeten und läßt sich bei seinem richtigen Taufnamen »Julius« nennen, ein schmerzlicher Reinfall für Frau Käfermann, die mit »Jean« renommieren wollte.

Julius ist im Laufe seiner Dienstzeit etwas bequem geworden. Er sitzt gern in der hübschen, luftigen »Domestikenstube«, die sogar einen Teppich und eine Bibliothek hat und liest, – wenn es klingelt, schickt er gern das »Zweitmädchen« zum Öffnen der Tür, was wiederum der Herrin des Hauses ein Dorn im Auge ist, da es so wunderhübsch ist, einen »Aufmachdiener« zu haben.

Julius sitzt auch lieber spazieren, als daß er geht, er hat eine außerordentlich gute Haltung auf dem Bock und sticht nach seiner Meinung vorteilhaft gegen den alten Kutscher Karl ab, der schon etwas krumm und knickebeinig geworden ist.

Spazierengehen hat für Julius etwas Herabwürdigendes, und vollends hinter den »Marjellen« herzulaufen findet er »schofel«.

Als daher Perkallen und das mehr als einfache Wirtshaus erreicht ist, in dem es wohl einen guten ostpreußischen Maitrank, d. h. einen steifen Grog, aber sonst keine Unterhaltung für Julius gibt, fragt er »Fräulein Marie«, ob er unbedingt auch auf dem Rückwege dabei sein müsse, oder ob er nicht jetzt umkehren dürfe, um noch einige wichtige Besorgungen vor dem Abendbrot zu erledigen.

»Aber gewiß, Julius,« sagt Kerlchen fröhlich. »Es muß ja furchtbar langweilig für Sie sein, so hinter uns her zu laufen, ich bestelle jetzt erst Kaffee und Milch für uns, das trinken wir gemütlich und wandern dann zurück; vor Dunkelheit sind wir wieder zu Hause.«

»Schön,« meint Julius wohlgefällig. Er findet, daß Fräulein Marie ein recht vernünftiges Mädchen ist. (Stützen sind ihm im allgemeinen ein Greuel, da sie weder zu den Dienstboten, noch zu der Herrschaft gerechnet werden), er trinkt seinen Grog rasch aus und marschiert eiligst nach der Stadt zurück.

In der warmen Wirtsstube ist es recht gemütlich, die freundliche, runde Wirtin hat sich zu Kerlchen gesetzt und erzählt redselig drauf los. Erstens von ihrer eigenen »großen Krankheit«, dann von der »Auszehrung« ihres Seligen und von den Kinderkrankheiten ihrer »Dochter«, die nun auch verheiratet, ja sogar schon wieder gestorben ist und ihr drei »Marjellchen und ein Jungchen« hinterlassen hat.

Kerlchen hört im tiefsten Mitgefühl zu. Ja, sie nimmt sogar das »Jungchen«, das sich aus der Nachbarstube zu »Großchen« herangerutscht hat, auf ihren Schoß, wischt ihm mit dem eigenen weißen Taschentuche die »Talglichtchen« ab und gewinnt so mit einem Schlage das Herz der Wirtin.

Rika hat eine unglückliche Katze entdeckt, d. h. das Tier wird von dem Augenblicke der Entdeckung an unglücklich. Rika scheint es für eine Harmonika zu halten, der man durch kürzeres oder längeres Ausrecken qualvolle Töne entlockt. Der duftende Kaffee kommt, und die Wirtin legt freundlich lächelnd zwei große Stücken Kuchen daneben, eins von ihren »Marjellchen« hat gestern Geburtstag gehabt.

Kerlchen beißt tapfer hinein, aber Rika ist »kisätsch« und ersucht um »Kakes«, ein Gebäck, welches in Perkallen unbekannt ist. Ein Buttersemmelchen wird mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln, ein Sirupbrot schon mit Tränen von Rika abgelehnt, die Katze hat das Weite gesucht, wahrscheinlich um jegliches Vieh im Gasthause Perkallen zu warnen, die Wirtshaus zu betreten, kurz, die Lage wird etwas kritisch, und Kerlchen beschließt deshalb, recht bald aufzubrechen.

Draußen hat sich die Sonne hinter dicke Wolken verkrochen, ein solider Schneefall setzt ein, und Rika jammert laut, daß sie »bei dem Wetter« zu Fuß gehen soll.

Die Wirtin ist ärgerlich auf den »Nörgelfritzen«, der sich so garnicht wie ein Kind, sondern wie eine »Ollsche« benimmt, sie bemitleidet das junge Mädchen mit dem sorgenvollen Kindergesicht. Fröhliches Schellengeläut veranlaßt die Frau jetzt hinauszulaufen, ein Bauernschlitten hält vor dem Hause, und eine beschneite Gestalt mit hochgeschlagenem Mantelkragen und herabgelassener Schutzmütze springt heraus.

»Ein Glas Grog, Frau Perditt,« ruft eine frische Stimme, »ich bin durchfroren bis auf die Knochen.«

»Gleich, Herr Doktor, gleich.«

Dr. Schirmer schaut sehr erstaunt auf das gemütliche Bild, das sich ihm drinnen bietet. Kerlchen im Sofa mit dem Jungchen auf dem Schoß, Rika daneben, in der Ecke ein mächtiger Kachelofen, der behagliche Wärme ausströmt.

»Sie hier, Fräulein Marie, bei dem Wetter? Das nenne ich gehorsam!«

»Oh, es war sehr schön vorher, wir wären sonst nicht gekommen, aber nun – –!« Kerlchen sieht erschrocken in das Flockengewimmel da draußen.

»Ach du liebe Zeit, wie sollen wir nach Haufe kommen!«

»Natürlich mit mir,« lacht Dr. Schirmer. »Aber jetzt noch nicht. Haben Sie Mitleid, Fräulein Marie, und erlauben Sie mir, erst meinen Grog zu trinken.«

Kerlchen nickt vergnügt. Die Aussicht, einmal wieder im Schlitten durch Schneegestöber über Felder und Wiesen zu fahren, macht es ganz froh, und wie die Wirtin den heißen, duftenden Trank bringt, deutet es kindlich mit dem Zeigefinger auf des Doktors Glas und sagte treuherzig:

»Mein Lieblingsgetränk!«

Der Doktor lacht schallend.

»Wirklich, Fräulein Marie? Frau Wirtin, dann aber schnell ein kleines Theeglas voll. Wir müssen doch auf gute Nachbarschaft anstoßen, Fräulein Marie, ich wohne ja neben Villa Käfermann und ich hoffe, wir sehen uns recht oft.«

Der Doktor erschrickt selbst ein wenig über seinen Nachsatz, Kerlchen hat aber garnichts darin gefunden, es nippt an dem Grog und seine Kinderaugen sehen dankbar auf den Mann, der es so gut mit ihm meint.

Dr. Schirmer trinkt ungebührlich lange an seinem Glas, und Frau Perditt sieht ihm erstaunt zu, er pflegt sonst immer sehr rasch aufzubrechen, denn er hat eine große Praxis drunten in Hilskehmen.

»Na, so junge Leute!« denkt sie mild, so 'n Doktor sieht ja auch sonst nur Krankheit und »gräßliches Zeichs«, was Wunder, wenn er mal länger mit einem so reizenden Dingelchen spricht, wie dieses Fräulein Marie es ist.« Dr. Schirmer denkt dasselbe, er sieht gern in die dunkelblauen Augen, die so schelmisch und jung und sonnig aufleuchten können, und über denen dann plötzlich wieder ein so tiefer Ernst liegt. Das arme Ding! So jung und schon in dienender Stellung!

Rika blättert in einem Bilderbuch, das ihr der Doktor vom hohen »Bord« heruntergereicht hat, er sieht nicht, daß die Blicke des Kindes mit lauerndem Ausdruck zwischen ihm und Kerlchen dahinwandern.

»Sie haben Trauer?« fragt der Doktor plötzlich, – es ist der Schluß einer langen Reihe von Fragen, die er innerlich an Kerlchen gestellt hat. Kerlchen schrickt zusammen. Mit einem Schlage ist seine hellere Stimmung verflogen, über sein Gesichtchen huscht es wie ein tiefer Schatten, und die Hände falten sich fest ineinander.

»Mein Vater,« stammelt es hilflos.

»Nicht doch, nicht doch, ich wollte Sie nicht traurig machen, Fräulein Marie,« sagt Dr. Schirmer leise, und diese ruhigen Worte und sein freundlich-ernster Blick bringen es fertig, daß Kerlchen ihm alles erzählt, – den Tod des Vaters, sein Heimweh nach ihm, seinen unfreundlichen Empfang und Aufenthalt bei Käfermanns, und der Doktor schaut mit grenzenlosem Mitleid auf das liebliche, traurige Gesicht und den Kindermund, der so treuherzig alles hinplaudert.

»Aber da sind Sie ja garnicht Fräulein Marie!« stößt er endlich sehr ingrimmig heraus.

»Ach nein, aber »Felicitas« bin ich auch nicht mehr, ich kann nie, nie mehr »die Glückliche« sein, ich bin eben nur noch –«

»Das Kerlchen!« ergänzt er, aber da verändert sich gleich das traurige Gesichtchen in ein trotziges. »Sie dürfen das nicht sagen, – bitte, bitte nicht, ich kann es von niemand hören.«

Rikas ewig weinerliche Stimme ertönt mit einem Male.

»Oh wie dunkel ist es draußen, Sie erzählen aber auch ewig und drei Tage, Fräulein Marie! Was wird Mama sagen!«

Kerlchen wird ganz blaß und sieht den Doktor hilfeflehend an.

»Ruhig, ruhig, mein gnädiges Fräulein,« tröstet er und hilft ihm ritterlich beim Anziehen des Wintermantels, »ich fahre Sie rasch nach Hause; es ist kaum fünf Uhr vorbei, im Januar wird es schnell dunkel.«

»Mama wird aber doch schelten auf Fräulein Marie,« trumpft Rika auf, »wir konnten längst zu Hause sein, es war schrecklich langweilig hier.«

Der Doktor sieht aus, als nähme er Rika am liebsten beim Kragen und würfe sie in die hohe Schneewehe, die sich draußen vor der Haustür aufgetürmt hat, besonders nervös macht ihn das ununterbrochene Rufen: »Fräulein Marie, ich bekomme den Mantel nicht zu, Fräulein Marie, ich werde sehr frieren in dem Schlitten.« Die Wirtin packt sorglich eine Wärmflasche in das Gefährt, Kerlchen schiebt sie gleich unter Rikas Sitz, es selbst friert nicht, der ungewohnte Grog hat es wohlig erwärmt, und nun kommt auch wieder eine kindliche Freude auf die Schlittenfahrt über es. Der Kutscher Pawlick hat während der langen Wartezeit ein Glas nach dem andern zu sich genommen, er sitzt ziemlich wacklig auf der Pritsche, aber auf des Doktors ärgerlichen Anruf: »He, Pawlick, was ist mit Ihnen los?« verteidigt er sich gleich sehr wortreich :

»I wo werd' ich, Här Dokter! I Chott nei! Nur einen, Här Dokter, nur einen!«

»Na denn los, Pawlick, bringen Sie uns sicher heim, schlafen Sie auch nicht ein und fallen Sie nicht vom Stengelchen.«

Pawlick fühlt sich sehr in seiner Kutscherehre gekränkt, daß er nach vier Glas Grog – »viere war'ns doch?« – einschlafen könnte, er giebt zum Zeichen, daß er hell wach ist, dem Handpferd einen sausenden Hieb mit der Peitsche, daß dieses hintenausschlägt und dann davonrast, als wäre der Böse hinter ihm.

Rika schreit laut auf und klammert sich an den Doktor, dieser spricht beruhigende Worte und ermahnt Pawlick, vernünftig zu fahren. Ob seine Worte Eindruck machen, merkt man nicht, man hört nur ab und zu durch das Schellengeläute abgerissene Laute: »I wo – Här Dokter«, und Dr. Schirmer sieht unverwandt Kerlchen an, das keine Furcht kennt und sich so recht in seinem Element befindet.

Die blauen Augen leuchten unter dem kecken Russenmützchen hervor, und plötzlich lacht Kerlchen lustig auf.

»Pawlick schläft, Herr Doktor, hören Sie ihn, wollen Sie nicht lieber die Zügel nehmen, es kommt jetzt so 'ne dumme Ecke mit dem hohen Wegweiser.«

»Pawlick zum D . . . . .« ruft der Doktor ärgerlich; es liegt ihm garnichts daran, jetzt die Zügel zu nehmen und seine Aufmerksamkeit gespannt auf den dämmerigen Weg zu lenken, bloß damit der Kutscher schlafen kann, und bei seinem heftigen Anruf verstummen plötzlich die Schnarchtöne, ein Ruck auf der Pritsche, wieder ein sausender Peitschenhieb. Um die gefährliche Ecke rast der Schlitten und da der hoch und drohend emporragende Wegweiser sehr fest eingerammt ist und durchaus keine Absicht bekundet, sich mitnehmen zu lassen, so prallt der Schlitten hart an ihn an, neigt sich in den Graben und ladet seine Insassen unsanft und »kopfskegel« aus.

Es ist das Werk weniger Minuten.

Die drei sitzen ganz hübsch beisammen, der Kutscher ist schon etwas früher abgeflogen und kommt fluchend herbeigehumpelt, die Pferde stehen, über sich selbst erschrocken, an allen Gliedern zitternd da.

Rika schreit, als ob sie am Spieße stecke, aber als sich die beiden über sie neigen, ändert sie ihre Taktik, – die bekannten langgezogenen Klagelaute werden vernehmbar, die Vorboten des »Anfalls«.

Jetzt kommt bei Kerlchen die Angst, unsinnige, herzbeklemmende Angst vor Familie Käfermann. Aber der Doktor hebt Rika auf und stellt sie unsanft auf die Füße.

»Du bist im Augenblick still,« herrscht er sie an, »Dir tut nichts weh, wir sind nur in den Schnee gefallen, verstanden?«

Rikas Klagelaute verstummen sofort, aber nun »stößt sie der Bock«.

Pawlick erklärt kleinlaut, daß die Leine zerrissen und eine Kufe »totalitter« verbogen ist: »Mer kennen nich fahren,« sagt er, »i nei, hechstens mit der Hand ibers Jesicht.«

»Sie sind ein Dämelack, Pawlick, machen Sie daß Sie mir aus den Augen kommen,« schimpft der Doktor, dann zieht er seinen Überzieher aus und legt ihn sorglich um Kerlchens Schultern.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Die Lichter des Städtchens schimmern schon, weit kann es nicht mehr sein. Kerlchen zieht die schluchzende, stöhnende Rika hinter sich her und redet liebreich, aber ohne Erfolg auf sie ein. Der Doktor schreitet nebenher mit tief verfinstertem Gesicht und beißt seinen Schnurrbart, wütend auf Pawlick, auf sich und die ganze Welt.

Sie sind kaum fünfzig Schritt gegangen, da stolpert ihnen eine Gestalt entgegen, gleichfalls ein Schneemann, beschneit und bereift, ohne Hut und Mantel, – Willy Reymers.

»Gott sei Dank,« stößt er tief aufatmend hervor.

Sein Gesicht ist heiß und dunkelrot von der Anstrengung des Laufens auf dem glatten Wege, er hält Kerlchens beide Hände umklammert, – »Gott sei Dank, daß Sie da sind! Oh Donner noch mal, hatte ich Angst um Sie!«

»Wie steht's zu Hause?« fragt der Doktor rasch, »ängstigt man sich?«

Auch Kerlchen sieht erwartungsvoll in Willys Gesicht.

»Ich bin nur hergelaufen, um Fräulein Fee zu beschützen,« sagt Willy ruhig, »bei uns ist der Deubel los! «

»Ich binde ihn schon wieder an,« tröstet der Doktor, »seien Sie nur ganz, ganz ruhig, liebes Fräulein Felicitas!«

Er zieht mit sanftem und doch energischem Druck Kerlchens Hand durch seinen Arm, und so legen sie schweigend die letzte Strecke zurück. Vor Villa Käfermann verabschiedet sich der Doktor.

»Ich komme morgen hinüber,« sagt er ernst, aber wenn sie's gar zu bunt machen, dann rufen Sie mich nur, – nicht so zittern, Fräulein Felicitas, Vater Käfermann ist ja kein Sklavenhalter, am besten ist's, Sie legen sich gleich zu Bett.«

Kerlchen eilt hinauf in ihr eiskaltes Zimmer und zieht sich rasch das nasse Zeug aus, sie hatte erst Rika umkleiden wollen, aber diese war direkt in Frau Käfermanns Zimmer gelaufen, woraus jetzt gellendes Geschrei und zeternde Ausrufe dringen.

Eine halbe Stunde später steht Kerlchen vor ihren Richtern. Sie muß unwillkürlich stark an ein altes Bilderbuch aus ihrer Kinderzeit denken, darin die heilige Feme abgebildet ist.

Schwarze Masken hatten Käfermanns nicht umgetan, aber so eiskalte, feierliche Mienen aufgesteckt, daß es Kerlchen lieber gewesen wäre, sie hätten ihre drohenden Augen verborgen gehalten.

Rika hat gut vorgearbeitet, ein Sturm bricht herein über das Kerlchen; es wäre darunter zusammengebrochen, wenn es nicht das stärkende Gefühl gehabt hätte, daß unter der Bezeichnung: »Muster aller Schlechtigkeit, alles Leichtsinns, aller Bosheit« garnicht das Kerlchen, sondern »Fräulein Marie« gemeint sei. Aber dann empört sich Kerlchens Gerechtigkeitssinn. Was ihr diese schrecklichen Leute da vorhalten, diese sinnlosen Anschuldigungen, diese beleidigenden Vorhaltungen, hat sie doch gar nicht verdient.

»Ja, was hab' ich denn eigentlich getan?« fragt Kerlchen, blaß bis in die Lippen.

»Sie fragt, sie kann fragen, sie wagt es zu fragen!« kreischt Frau Käfermann, und dann hagelt aufs neue das Unwetter los, schlimmer. weit schlimmer als draußen der Schneesturm, der durch das Kaminrohr die Begleitung faucht zu Frau Käfermanns harten, erbarmungslosen Worten.

»Wie ein Gassenkind haben Sie sich schon auf dem Hinwege benommen, Fräulein Marie, Rika sagt, Sie hätten wettrennen wollen und wären in allen Pfützen herumgepatscht. Dann haben Sie sich's im Wirtshaus mit der ungebildeten Frau Perditt bequem gemacht.« (Hier stellt Kerlchen in ihrem Innern einen Vergleich zwischen der ungebildeten Frau Perditt und der gebildeten Frau Käfermann an, der sehr zu Ungunsten der letzteren ausfällt.) »Sie haben den Diener fortgewiesen, den ich extra zum Aufpassen mitgeschickt hatte, natürlich, der war Ihnen im Wege bei Ihrem Rendez-vous. Dann haben Sie sich mit den schmutzigen Wirtshauskindern beschäftigt und unser zartes, krankes Engelchen unbeachtet gelassen, – aber die Krone setzt doch all diesen Abscheulichkeiten Ihr »Groggelage« mit dem Doktor auf. Oh, oh, oh – und da haben Sie sich nicht geschämt, über unser Haus herzuziehen und ein rührseliges Jammern nach Ihrem verlorenen Namen anzustimmen, alles im Beisein unseres feinfühligen Kindes, – und dabei haben Sie ein Glas nach dem andern getrunken, selbst der Kutscher ist betrunken gewesen; dann haben Sie sich alle zusammen im Schnee herumgewälzt, bis es Ihnen in den Sinn kam, endlich mit Ihrem Verehrer Arm in Arm heimzuwandern.« Kerlchens Augen öffnen sich weit, sie starren mit unverhohlenem Entsetzen in das Gesicht der hartherzigen Frau, ihre Hände tasten nach einem Halt, denn das Zimmer scheint sich mit ihr zu drehen.

»Es ist nicht wahr, – nicht wahr, nicht wahr,« stammelt der blasse Mund.

Aber es sieht lauter anklagende Gesichter, in denen tiefste Verachtung für sein unerhörtes Gebaren ausgeprägt ist, und das kann Kerlchen nicht ertragen, es läuft hinaus, wie gejagt, durch die große, eichene Haustür, welche der Sturm gerade in dem Augenblick wuchtig aufwirft.

Das kleine, villenartige Nachbarhäuschen ist hell erleuchtet, ein großes Schild: »Dr. Schirmer« weist außerdem noch den Weg, Kerlchen stürmt über den verschneiten Gartenweg direkt in das Haus, daß die altmodische Glocke ganz erschrocken über so viel Ungestüm ein langanhaltendes Gebimmel anstimmt.

»'s ist wohl ein ernster Fall, Fräulein?« fragt die alte Haushälterin des Doktors, die eilig herbeigetrippelt kommt, »gehen Sie nur dort ins Wartezimmer, ich ruf' sofort den Herrn, er ist eben auch erst nach Hause gekommen.«

Kaum eine Minute bleibt Kerlchen allein, es hört, wie der Doktor ins Nebenzimmer tritt, und läuft ohne Besinnen zu ihm hinein:

»Helfen Sie mir, ach, helfen Sie mir!«

Der Doktor ist tief erblaßt, der Anblick des Mädchens kommt ihm so unerwartet, daß er zuerst kein Wort hervorbringen kann, und als er dann unter heftigem Herzklopfen spricht, da sind es zu seinem eigenen Schrecken auch Vorwürfe für das arme, gehetzte Kerlchen.

»Liebes, liebes Fräulein, war es denn so schlimm? Zu mir durften Sie nicht kommen! Wenn Sie jemand gesehen hätte!«

Das Mädchen sieht ihn an mit einem ganz gequälten Ausdruck, ihr Anblick schneidet ihm ins Herz.

»Ich hatte doch niemand,« ruft Kerlchen verzweifelt, »ich sollte Sie doch rufen, alle sind ja so entsetzlich zu mir, und nun will ich abreisen, wann geht denn ein Zug, – so sagen Sie mir's doch, – rasch, rasch!!!«

Dr. Schirmer tritt schnell an ein kleines Wandschränkchen, holt aus dem Fach ein weißes und ein rotes Pulver, gießt ein Glas voll Wasser und mischt die beiden Sachen hinein.

»So, das trinken Sie erst mal, und dann ganz ruhig sein, ganz ruhig, sonst werden Sie mir noch krank. So – – und nun bringe ich Sie wieder hinüber, ein Zug geht vor morgen Vormittag nicht mehr, der Anschluß für Sie hat.«

»Kann ich denn nicht bis dahin hier bleiben?« fragt Kerlchen und richtet seine Augen voll tiefsten, kindlichen Vertrauens aus den einzigen, der es gut mit ihm meint in dieser fremden Stadt.

Eine dunkle Röte schießt in sein Gesicht.

»Kerlchen, – Kerlchen!« sagt er leise stockend, dann schüttelt er energisch den Kopf. »Nein, das können Sie nicht, Sie müssen diese Nacht noch bei Käfermanns bleiben, – o liebe, kleine Felicitas, ich kann ja gar nichts für Sie tun, ich nicht, wenn Sie das doch einsehen könnten! Am liebsten brächte ich Sie sofort nach Buchenwalde, Sie passen ja kein bißchen hierher – –«

Kerlchens Augen leuchteten auf. »Ach ja, ach ja, nach Buchenwalde!« ruft es wie erlöst.

»Aber auch das darf ich nicht, ich habe ja nicht das geringste Recht, für Sie zu sorgen,« fährt der Doktor fort, »und auch jetzt dürfen Sie nicht länger hier verweilen, ohne Ihren Ruf zu gefährden!«

Kerlchen sieht ihn verständnislos an, und er schüttelt wieder den Kopf.

»Kommen Sie,« sagte er dann fast rauh.

Kerlchen gehorcht erschrocken. Unten ist alles still, die Haushälterin ist auf einen Augenblick zur Nachbarin gegangen. Der kurze Weg, den die beiden bis zu Käfermanns zurückzulegen haben, ist menschenleer. Vor der Haustür hält Kerlchen seinen Begleiter noch einen Augenblick zurück.

»Sind Sie mir böse?« fragte, es mit halberstickter Stimme, »tat ich Unrecht?«

Dr. Schirmer steigt es heiß in der Kehle auf; er schüttelt nur stumm den Kopf. Dann geht er hochaufgerichtet und festen Schrittes davon, und Kerlchen läuft in sein Stübchen, niemand begegnet ihm, aus dem Wohnzimmer tönt lautes Sprechen, aber Kerlchen kümmert sich nicht darum, nur Ruhe will es haben, Ruhe nach all dem Schrecklichen.

*

In der Nacht wacht Kerlchen auf, zündet hastig sein Licht an und horcht. Es ist ihm, als höre es Türen klappen, und heftige Schritte treppauf, treppab laufen. Rasch kleidet es sich an und wirft sein schlichtes, graues Morgenkleid über.

Als es die Tür öffnet, geht gerade das Stubenmädchen über den Flur.

»Was gibt's, Lene?«

»Nischt für Sie,« lautet die unfreundliche Antwort. »Die gnädige Frau will nicht, daß Sie runterkommen, Sie soll'n ja schuld sein, daß die Fräul'n Rika krank is.«

»Rike krank?«

»Na ja. So vor 'ner halben Stunde kam's, und nun kann sich unsereiner abrackern und die Nacht um die Ohren schlagen; wenn's aber wirklich Differitis is, zieh ich morgen ab.«

»Diphtheritis???« – Kerlchen steht wie gelähmt am Türpfosten.

»Na ja, so sagt der Doktor. Legen Sie sich man wieder hin, Sie haben's gut, Frau Käfermann will Sie nicht sehen.«

Lene geht die Treppe hinab, und Kerlchen faßt sich an den schmerzenden Kopf, um sich vergewissern, daß es nicht träume, daß dieser furchtbare Tag immer noch neue Überraschungen für es habe. –

An Schlaf kann es nicht mehr denken, es wäscht sich die heißen, brennenden Augen, kleidet sich ordentlich an und schleicht leise die Treppe hinunter in die Nähe des Schlafzimmers, wo es die Kranke weiß. Es unterscheidet Männerstimmen und das klagende Organ der Frau Käfermann, und als die Tür auf einen Augenblick geöffnet wird, sieht es den grauhaarigen Kopf eines alten Herrn, dem ein bartloses Gesicht, fest geschlossener Mund und funkelnde Brillengläser etwas sehr Strenges geben.

Kerlchen hört, daß er etwas befiehlt, und daß Frau Käfermann jammernd widerspricht; dann wird die Tür aufgerissen, und der alte Herr steht vor Kerlchen.

»Na, da haben wir ja noch jemand,« ruft er, »Heureka! Kleines Fräulein, wir brauchen Sie notwendig!«

»Nein,« kreischt Frau Käfermann, »sie soll nicht herein zu Rika, ich sagte Ihnen ja, Herr Medizinalrat, daß sie schuld ist an der Krankheit.«

»Hm,« brummt der Arzt und sieht in Kerlchens blasses, freudloses Gesicht, in seine ehrlichen Kinderaugen, »hm! Ich möchte das kleine Fräulein trotzdem hier behalten, sie kann da viel wieder gut machen, wenn sie was versäumt hat!«

Er winkt Kerlchen, in das Zimmer zu treten, aber Frau Käfermann bricht in hysterisches Weinen aus und streckt beide Hände abwehrend gegen Kerlchen, deshalb geht Kerlchen wieder hinaus, um die eben eingeschlafene Rika nicht auch noch zu wecken und aufzuregen.

»Frauenzimmergeschrei und kein Ende,« schimpft der Medizinalrat draußen, – »na, ich kann's nicht ändern. Halten Sie sich jedenfalls zur Verfügung, junges Fräulein, – der Fall ist ernst, Courage scheinen Sie mir zu haben und die brauchen wir in den nächsten Tagen notwendig. Jetzt wollen wir erst 'mal Frau Käfermann sich beruhigen lassen, wecken Sie Fräulein Angela, die sollte längst da sein, um ihre kleine Schwester zu pflegen. In einer Stunde ungefähr bin ich wieder da, meine Anordnungen habe ich drinnen, (er deutete auf das Schlafzimmer) schriftlich niedergelegt, sie müssen pünktlich befolgt werden. Ich habe einen weiteren schweren Fall in meiner Praxis, sollte ich nicht rasch genug hier sein, so rufen Sie den Dr. Schirmer nebenan.«

»Nein, ach nein,« sagt Kerlchen ängstlich abwehrend.

»Adieu,« ruft sehr ärgerlich der Medizinalrat und geht rasch die Treppe hinunter und zum Hause hinaus.

Die große Standuhr in der Vorhalle schlägt drei Uhr. Fröstelnd steigt Kerlchen die Treppe wieder hinauf, um Angela zu wecken. Merkwürdig, die Tür steht auf, sollte das junge Mädchen aus eigenem Pflichtgefühl schon aufgestanden sein? Es sieht ihr so gar nicht ähnlich. Kerlchen schaut ins Zimmer, es ist leer; ein buntes Durcheinander liegt auf dem Fußboden, der Tisch ist sauber abgeräumt, und auf ihm liegt ein großer Zettel mit flüchtigen Krakelfüßen beschrieben :

»Liebe Eltern! Ich fürchte mich so namenlos vor der Ansteckung und bin deshalb, ehe ich Euch erst gesprochen habe, (denn Ihr habt doch jedenfalls die Nacht bei Rika gewacht) zu meiner Freundin Herta gezogen. Lene hat mich begleitet, sie fürchtet sich auch so sehr. Der Doktor besorgt Euch gewiß eine Diakonissin. Seid bestens gegrüßt von Eurer Tochter Angela.«

Kerlchen nimmt den Zettel, und in seinem Herzen quillt ein großes Mitleid auf mit Frau Käfermann, die jetzt an Rikas Bett wacht und doch unbedingt einmal abgelöst werden muß. Aber wer soll es tun, wenn die eigene Tochter so feig war? Kerlchen ballt die Hände zur Faust.

Dann steht es wieder vor der Hausfrau, die es mit eisiger Abwehr in ihren Mienen empfängt.

»Fräulein Angela ist nicht da,« sagt Kerlchen mit einigem Beben in ihrer Stimme.

»Nicht da? Jetzt um drei Uhr nachts? Was soll das heißen?«

Einen Augenblick zögert Kerlchen noch, das verhängnisvolle Schriftstück zu überreichen, aber Frau Käfermann hat längst entdeckt, daß etwas vor ihr verborgen gehalten wird, sie zeigt gebieterisch auf den Zettel und wird dann sehr blaß, als sie ihn liest.

Mit müden, verweinten Augen schaut sie auf das Bett, in welchem Rika in unruhigem, fieberhaftem Halbschlummer liegt.

»Es ist gut,« sagt sie mit belegter Stimme, »ich werde weiter wachen.«

»Darf ich nicht, Frau Käfermann?«

»Nein.«

Die Tür schließt sich langsam hinter Kerlchen, aber dieses geht nicht in sein Stübchen, sondern setzt sich ganz mutlos auf die Treppenstufen, um die Wiederkehr des Medizinalrates abzuwarten, der doch vielleicht einige Aufträge für es hat.

Einmal geht Herr Käfermann an ihm vorbei in das Krankenzimmer, er bleibt einen Augenblick stehen und sieht mitleidig in sein verwachtes Gesicht.

»Ob Sie nicht lieber schlafen gehen, Fräulein Marie?« fragt er leise.

Kerlchen schüttelt stumm den Kopf.

Gegen halb fünf Uhr kommt der Medizinalrat, er bleibt erschrocken und verwundert vor der zusammengekauerten Gestalt stehen.

»Kind, Kind, was machen Sie denn hier? Wollen Sie sich mit aller Gewalt für Diphtheritis vorbereiten. Und wenn hier zehnmal Centralheizung ist, im Monat Januar setzt man sich in Ostpreußen nicht des Nachts auf den Treppenflur. Warum gehen Sie nicht hinein?«

»Ich darf ja nicht, sie will es nicht, Frau Käfermann.«

»Aber das ist ja der helle Wahnsinn! Und warum holen Sie nicht die Angela und legen sich unter solchen Verhältnissen ins warme Bett? In Ihren Jahren schläft man ja das Blaue vom Himmel herunter! He?«

»Angela hat so viel Angst vor Ansteckung – sie ist noch in dieser Nacht zu ihrer Freundin gezogen, – die Lene hat sie auch mitgenommen, – da dachte ich, ich würde doch vielleicht mal gebraucht. – Frau Käfermann tut mir so leid – – «

»Sie sind ja ein tapferes Kerlchen!« ruft der Arzt bewundernd, ohne im Entferntesten zu ahnen, daß er ihm den richtigen Namen gibt, »aus solchem Stoff macht man die echten Krankenpfleger. Und nun kommen Sie mit mir!«

Kerlchen steht auf, d. h. es versucht aufzustehen, aber seine Glieder sind von dem langen Kauern auf der Treppe wie zerschlagen. Es dehnt und reckt sich erst ein Weilchen und geht dann langsam und zögernd hinter dem Arzt ins Krankenzimmer.

Die Lampe drohte auszulöschen, ein erstickender, qualmartiger Geruch schlägt den Eintretenden entgegen. Das Ehepaar Käfermann sitzt auf dem Sofa, Frau Käfermann schläft fest, der Hausherr dämmert vor sich hin und schrickt auf, als die beiden hereintreten.

Der Medizinalrat tritt heftig an Rikas Bett.

»Der Umschlag ist glühend heiß, – ist er denn nicht erneuert worden? fragt er mit mühsam beherrschter Stimme. »Und die Arznei, – haben Sie ihr die Arznei nicht gegeben?«

Herr Käfermann wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Meine Frau schlief so schön, als ich hineinkam, ich mochte sie nicht wecken, und Rika schien auch zu schlafen, – da dachte ich – –«

Der Medizinalrat fuhr sich verzweifelt durch sein volles, graues Haar, es schweben ihm wohl harte Worte aus der Zunge, aber er unterdrückte sie. Heftig legte er der teilnahmelos daliegenden Rika den frischen Umschlag um, flößt ihr die Tropfen ein und wendet sich dann schroff um.

Frau Käfermann ist erwacht und sehr erschrocken, den gestrengen Arzt zu sehen. Sie streift Kerlchen mit einem empört erstaunten Blick und fragt dann hastig:

»Sie haben Rika doch nicht schlimmer gefunden?«

»Sie gehen jetzt beide ins Bett,« gebietet der alte Herr barsch und stellt sich dicht vor sie hin. »Sie sind beide todmüde und garnicht daran gewöhnt, so etwas wie eine Nachtwache bei einem Schwerkranken zu übernehmen. Das junge Mädchen wird hier bleiben, sie war die Einzige, die ich wachend fand in so kritischen Augenblicken – – (dem alten Herrn ging ordentlich der Atem aus vor Empörung).

Das heißt, ich weiß noch nicht, ob Fräulein – – –«

»Felicitas,« wirft Kerlchen rasch ein.

»Ob Fräulein Felicitas es als Fremde tun wird, sich der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen.«

»Aber natürlich – ach und so gern,« ruft Kerlchen und reicht Frau Käfermann die Hand hin. Aber die Herrin der Käfervilla muß noch mehr mit ihren Nerven herunterkommen, ehe sie Großmut übt, sie lehnt die kleine, kalte Hand ab und geht schweigend aus der Tür. Nach einer Viertelstunde sitzt Kerlchen allein im Krankenzimmer, sie hat frische, erquickende Winterluft hereingelassen und Ordnung in das Chaos von Büchern, Tüchern, Gläsern und Flaschen gebracht, die auf dem Tisch umherstanden. Der Medizinalrat hat ihr Verhaltungsmaßregeln gegeben und ihr Mut zugesprochen, es sei vorläufig nur eine sehr heftige Halsentzündung.

Mit leisen Schritten geht Kerlchen umher, erneuert unermüdlich die Umschläge, legt seine kühlen Hände auf die heißen des Kindes, dessen schmerzverzogenes Gesicht allmählich ruhiger wird. Auch in Kerlchens Herz zieht Frieden, der Kopf schmerzt wohl noch tüchtig, aber es ist doch ein liebes Gefühl, Gutes tun zu können, um des Guten willen, ohne Dank.

Als der Morgen ins Zimmer hereinschaut, schiebt es die Vorhänge zurück, trägt die Lampe hinaus und setzt sich dann still mit einem Buch ans Fenster. Rika schlummert ruhig. Kerlchen spürt mit der Zeit ein ehrliches Hungergefühl, sie hat ja außer dem Kaffee und dem Gebäck am Nachmittag in Perkallen nichts genossen, aber wie sie Julius, dessen Schritt sie auf der Treppe hört, darum bitten will, ihr etwas Frühstück heraufzubringen, tritt dieser rasch ins Zimmer und meldet den Herrn Doktor.

Kerlchen wird noch um einen Schein blasser; als ihr Dr. Schirmer entgegentritt.

»Es geht Rika viel besser,« sagt sie dann eindringlich.

»So? Und das heißt wohl, ich könne gleich wieder gehen,« bemerkt er. »Aber der Medizinalrat hat mich extra gebeten, hier zu verweilen, bis er selbst käme, – Sie erlauben wohl?«

Er nimmt sich ohne Zögern einen Stuhl, setzt sich aber nicht, sondern tritt an Rikas Bett.

»Sie schläft ganz ruhig, der Umschlag ist schön kühl, haben Sie die ganze Nacht gewacht?«

»So ungefähr,« sagt Kerlchen müde. »Man wollte es mir erst nicht erlauben, sie waren so schrecklich böse auf mich, ich muß gestern sehr schlecht gewesen sein, ich hab' es selbst garnicht so gemerkt.«

Der Doktor sieht unverwandt in Kerlchens liebes, unschuldiges Kindergesicht.

»Ja, sind denn das wirklich fühlende Menschen, die Sie so quälen können,« bricht er endlich los. »Aber ich werde das nicht leiden, – ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, immer überlegt, immer an Sie gedacht, liebes Fräulein Felicitas – – – ich kann nicht viel Worte machen – ich – – hier ist auch wahrlich nicht der Ort dazu. Würden Sie mir erlauben, Sie von hier fortzubringen – würden Sie – –«

»Ich denk', Sie wollen's nicht leiden, daß man mich quält,« sagt Kerlchen tonlos und sieht ihn an, so voll Weh, so todtraurig, daß er rasch seine beiden Hände in die seinen nimmt.

»Ich quäle Sie, Fräulein Felicitas, ich Sie

»Ja,« sagt sie leise. »Alle tun es, seit mein Väterchen tot ist.«

»Haben Sie mich denn kein bißchen lieb?«

Sie nickt eifrig. »O doch, Sie sind so gut!«

»Haben Sie jemand anderen noch lieber?«

Kerlchen denkt nach.

»Ich weiß es nicht. Ich hab' Mama lieb und Erich, und Fürst Li, und Onkel Liskow und Onkel Waldemar und Chrisli und – und – und –«

Immer blasser ist ihr Gesichtchen geworden, die ganze Stube dreht sich um sie herum, so eigentümlich kalt wird ihr Körper, ein Sausen und Summen tönt um ihre Ohren – – – sacht legt Dr. Schirmer die Ohnmächtige auf das Sofa.

»Sie hat Hunger, Herr Doktor,« sagt Willy Reymers und steht wie aus der Erde gewachsen vor dem erschrockenen Manne. »Nichts gegessen seit gestern Mittag, und immer schlechte Behandlung, – das macht auch hungrig, ich weiß es von mir. Und dann sagen Sie ihr auch noch sowas Sonderbares, Herr Doktor, so ganz auf den nüchternen Magen.«

Der Doktor hat sich höchst verblüfft nach dem Sprecher umgedreht.

»Ich hab' nämlich alles mit angehört,« sagt Willy trocken, »ich hab' schon ein paar Stunden dort hinten am Ofen gesessen und aufgepaßt und auch geschlafen, niemand hat mich gesehen. Julius! Julius!« ruft er jetzt hastig durch die Tür, »schnell, schnell Kaffee und Semmeln, Fräulein ist ohnmächtig.«

Julius hat sich rasch einen Blick auf das blasse Gesichtchen gestattet, und als er nun, mit allem Nötigen bewaffnet, wiederkommt, da sitzt Kerlchen schon wieder aufrecht da und lehnt nur noch etwas matt ihren Kopf an die Sofalehne.

Nun läßt sie sich ganz gehorsam von den beiden füttern und kommt bald wieder mit sich und der Welt zurecht. »So was ist mir aber noch nie passiert,« sagt Kerlchen leise, »bin ich mit einem Male so ein schwacher Kerl geworden?«

Der Doktor antwortet nicht, er denkt nur, daß wohl eine Stärkere als dieses junge, zarte Mädchen nach solchen Stunden hätte zusammenbrechen können. Und er selbst macht sich bittere Vorwürfe.

Rika ist aufgewacht und verlangt dringend nach ihrer Mutter. Kerlchen tritt an ihr Bett, aber Rika weist sie erst stumm, dann jämmerlich weinend zurück. Kerlchen gehorcht, um das Fieber der Kranken nicht zu steigern, sie will Frau Käfermann wecken, und Dr. Schirmer erbietet sich, solange bei Rika zu bleiben. Ehe Kerlchen das Zimmer verläßt, tritt der junge Doktor noch einmal zu ihm. Er nimmt seine beiden Hände und fühlt, wie es zittert.

»Nicht fürchten,« sagt er freundlich, »Sie sollen mir ja nur versprechen, daß Sie jetzt ein paar Stunden fest und traumlos schlafen wollen – ja?«

Kerlchen sieht ihn dankbar an.

»O wie gern, – – wollen Sie Frau Käfermann bitten, daß sie es erlaubt? –«

Dann ist es gegangen, und der Doktor murmelt etwas, was sich wie »europäisches Sklavenleben« anhört, er steht noch ein Weilchen in tiefen Gedanken und in tiefen Gedanken schenkt er sich auch wohl Kerlchens Kaffeetasse wieder voll, und als er es merkt, trinkt er sie andächtig leer.

Willy hat ihm ruhig und verständnisinnig zugeschaut und bemerkt jetzt weise:

»Ich weiß wohl, wie es in Ihnen aussieht.«

»So?« ruft der Doktor verblüfft, »und woher weißt du das, du altes Haupt auf jungen Schultern?«

»Pah! Das sieht doch jeder, daß Fräulein Felicitas was ganz besonderes ist, wir Männer hier im Hause haben das gleich gemerkt, selbst der Julius sagte es mir gestern Abend.«

Der Doktor besieht sich sarkastisch lächelnd den »Mann«, der da in grauen Pumphöschen und Ringelstrümpfen neben ihm sitzt.

Willy wird ein wenig rot.

»Och, ich weiß wohl, was Sie denken, und das schadet auch garnichts, – es ist doch alles wahr, was ich sage. – Ich habe die Frauenzimmer kennen gelernt, wahrhaftig ja! Alle stupsen sie an mir armem Kerl rum, bloß das Kerlchen nicht, und deshalb lasse ich mich auch für sie totschlagen.«

Dieses letzte Argument dringt durch. Der Doktor schüttelt Willy beinahe die Hand ab; sie schließen ein Schutz- und Trutzbündnis für das Kerlchen.


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