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Hallo, Cassim – he, sei brav, hoppla, oho – T . . . . . noch mal, meinetwegen go on!«

Und dahinsauste das herrliche Tier, und das schwarze, koboldartige Geschöpf auf seinem Rücken feuerte es mit Schnalzen und kurzen Rufen zu immer rasenderem Laufe an.

Es war ein harter Kampf zwischen Mensch und Tier gewesen, jeden Augenblick hatte man gefürchtet, das Menschenkind kopfüber hinunterfliegen zu sehen, aber es war wie festgewachsen mit dem herrlichen Araber, und jetzt sah man beide nur noch als kleinen fliegenden Punkt weitab vom Schauplatz des Kampfes.

»Man« waren die beiden Zuschauer: ein Weib, in ärmlicher Dienertracht, barfuß und barhaupt, und ein Mann Mitte oder Ende der Dreißiger, beinahe schwarz gebrannt von der indischen Sonne, mit düsteren, schwarzen Augen zwischen starken Brauen.

Er saß auf dem Stumpf eines abgehauenen Teakbaumes und hatte die Arme über der Brust gekreuzt, während das Weib wild mit den Händen in der Luft herumfocht.

»Jesus, Jesus, Master Franz, es kommt nicht wieder, es bricht den Hals, ich hab's gesagt.«

»Rede doch nicht solchen Unsinn, Maria, es kommt schon wieder, gestern war's gerade so.«

»Ja, und morgen wird es ebenso sein und so jeden Tag, und ich schlafe nicht mehr und ängstige mich tot um das Kind.«

Maria schlug die Hände vor das braune Gesicht, ließ sie aber ebensoschnell wieder sinken und setzte beinahe triumphierend hinzu:

»O, Master Franz ist auch voll Angst, ich bin nicht so dumm, Master Franz war ganz weiß vorhin –«

Eine Blutwelle schoß in das Gesicht des Mannes, um ebenso rasch einer tiefen Blässe zu weichen. Schwerfällig erhob er sich und schritt durch die kleine Allee nach dem steinernen Haus hin, das sich so mitten im Dschungel gar seltsam ausnahm, und wie er sich so mühsam an den Peepul peepul, indische Maulbeerbaumart (Moraceae)- und Tamarindenbäumen festhielt, welche den Pfad einsäumten, sah man, daß der Mann wohl eben erst aus schwerer Krankheit erstanden war. Die alte Magd lief auch sofort ihm nach und reichte ihm den braunen, sehnigen Arm zur Stütze.

Auf der Veranda des »Bungalow« angelangt, ließ sich der Mann schwer in einen Rohrsessel fallen.

»O, das Fieber,« stöhnte er, »dies verd . . . Fieber! Es muß fort, es muß fort!«

»Es wird fortgehen, Master Franz, ich presse Limonen aus, gleich bin ich wieder da!«

Master Franz hob matt abwehrend die Rechte und sah der Davoneilenden düster nach.

Er hatte unter dem »es« etwas anderes gemeint. Das erfrischende Getränk kam unglaublich rasch, und Master Franz trank es mit durstigen Zügen, dann fiel das Glas aus seiner Hand, denn eben kam Cassim wieder angeflogen, aber der Kobold auf seinem Rücken war unbestrittener Sieger; das Tier stand plötzlich lammfromm vor dem Bungalow, schweißbedeckt und mit bebenden Flanken.

Mit einem kühnen Schwung sprang das schwarze Geschöpfchen herunter.

Es war ein Bub mit dunklem Lockenkopf, einem blassen, leicht gebräunten Gesicht, einem klassischen Näschen und nicht allzu kleinen Mund, der zwei Reihen blitzender Zähne sehen ließ, da er jetzt zu den beiden auf der Veranda hinüberlachte.

»Da bin ich!« rief er.

Es klang etwas gezwungen, weil die beiden sich gar so stumm verhielten, und die Hand des schönen Jungen hielt die weite schwarze Pluderhose verlegen zusammen, sie hing am Knie zerfetzt herunter.

»Einmal hat mich Cassim doch runtergeholt, mein Schädel brummt wie toll,« fing er wieder an, bekam aber keine Antwort.

Jetzt warf der Bursche den Kopf zurück, stampfte etwas mit dem Fuß auf und begann dann das Pferd sorgfältig abzureiben; den wollenen Lappen dazu holte er aus einer Satteltasche.

Lange hielt es die alte Maria nicht aus. Mit wenigen Schritten stand sie neben dem Knaben.

»Herzenskind, schreckliches!«

Das »schreckliche Herzenskind« warf einen verstohlenen Blick auf Master Franz, die feingezeichneten Brauen über den blauen Augen zogen sich dicht zusammen, einen Augenblick zögerte es noch, dann sprang es mit wildem Satz auf die Veranda und hing im nächsten Augenblicke am Halse des ernsten Mannes.

»Du sollst nicht blaß aussehen, ich will es nicht!« rief er trotzig.

Master Franz löste mit raschem Ruck die ihn umklammernden Hände.

»Du wirst es nicht wieder tun,« sagte er ernst.

»Nein.«

»Es ist gut. Und nun wirst du Hunger haben.«

»Schrecklichen. Ich führe jetzt Cassim auf und ab, und Maria backt mir ›Chupattie‹, willst du, Maria?«

»Alles, Herzenskind, alles!«

Marias Gesicht strahlte, und sie verschwand schleunigst im Hause.

Master Franz versank wieder in düstere Gedanken, der Bub führte Cassim langsam die Allee auf und ab und band ihn dann an eine der Korkeichen, die vor dem Stallgebäude standen, dann holte er eine ungefüg zurecht gezimmerte Krippe, in die er Futter einschüttete, der Eimer mit Wasser wurde noch beiseite gestellt, nachdem Cassim liebevoll bedeutet war, daß er gegenwärtig noch zu heiß für dieses Labsal sei. Dann war der Bub wieder mit kühnem Satz auf der Veranda, holte aus dem Kasten, der auf dem Seitentischchen stand, ein Knäuel groben, schwarzen Zwirns und eine Nadel, die für Lederzeug bestimmt schien, und begann die zerrissene Hose in großen, überwendlichen Stichen zu flicken.

Niemand sprach, endlich erfolgte ein scharfes Knirschen der weißen Zähne, der Faden war durchgebissen.

»Fertig, und das Beste daran, man sieht nichts,« rief der kleine Schneider strahlend aus. Er sah befriedigt auf die sehr mangelhafte Arbeit seiner Hände und dann auf Master Franz, dessen düstere Stirn sich durchaus nicht aufhellen wollte.

»Nein, man sieht nichts,« wiederholte der Mann, »man merkt leider, leider an keinem Anzeichen, daß du ein erwachsenes Mädchen bist, Felicitas Christiani.«

Die so Angeredete warf ungestüm den Kopf in den Nacken und schüttelte so die kleine Lockentolle von der Stirn.

»Warum nennst du mich so?« fragte sie heftig.

»Weil – weil – –«

Er verstummte.

Das Mädchen verfärbte sich, die Lippen preßten sich fest aufeinander, Tränen traten in die Blauaugen.

»Muusch!« sagte es tonlos. »Wenn Muusch da wäre!«

Der Mann trat erschüttert zu dem Kinde hin, dessen Körper jetzt in Schluchzen bebte. Wie hilflos es plötzlich aussah.

»Still,« raunte er, und strich mit scheuer Liebkosung über den Lockenkopf, »ich – ich wollte dir nicht weh tun – Kerlchen

Da versiegten die Tränen, und mit einer ungestümen Bewegung sprang das Mädchen die Verandastufen hinunter, um Cassim in den Stall zu führen.

Maria trat wieder auf die Veranda, deckte den Tisch, legte zwei silberne Bestecke auf und setzte den Teller mit »Chupattie«, einem einfachen Pfannkuchen aus Wasser, Mehl und Salz, hin.

»Wo ist Kerlchen?«

»Im Stall.«

»Es wollte doch essen? Der Chupattie ist knusprig.«

»Es wird schon kommen.«

Master Franz erhob sich plötzlich und stützte sich im Stehen auf den Rohrsessel.

»Maria,« raunte er mit seltsam klangloser Stimme, »das Kerlchen muß fort.«

»Jesus, – wohin denn?«

»Fort! Heim! Nach Deutschland.«

»Jesus, das Fieber kommt bei Euch wieder, Master Franz, setzt Euch, ich hole frische Limonen – –«

»Bleib, Maria. Laß vernünftig mit dir reden. Es geht nicht länger so, – ich verwundere mich so schon über die Maßen, daß noch niemand in all den langen Monaten von der Station hergekommen ist.«

»Die Seuche, Master Franz –«

»Natürlich, die ist's ja; die schreckt alles ab, und sie wissen nicht, daß das Kind lebt.«

»War auch ein Wunder Gottes, Master Franz.«

Der Mann nickte matt.

»Jesus, ich seh es noch, wie Ihr das Kind aus den Flammen trugt, selber fieberkrank, o die schreckliche Feuersbrunst, die Luft riecht noch heute danach.«

»Das soll's wohl.«

»Und wohin wollt Ihr das Kind bringen?«

»Frag nicht so töricht, – in seine Heimat.«

»Wo ist sie?«

»Hab dir's tausendmal gesagt, – fern, in Deutschland, in Thüringen.«

»Ich kann den Namen nicht behalten. Können wir nicht hier bleiben, Master Franz, kann nicht alles so weiter gehen?«

Der Mann atmete schwer.

»Nein, ich muß einen Bericht schicken, und – das Kind muß fort. Als der Herr Pfarrer starb und – die Frau, – Frau Rose – da lebten die Großeltern noch, – ich muß das Kind hinbringen, hier verkommt es.«

»Master Franz, es ist frisch und gesund und schlank und biegsam wie ein Tamarindenbäumchen.«

»So mein ich's nicht, – es gehört nicht hierher, nicht zu dir, nicht zu mir.«

»Aber Master Franz wird sterben, wenn er das Kind nicht mehr hat.«

»Schweig. Ich bringe das Kerlchen heim und komme wieder, – du bleibst bei mir.«

»Jesus, soll ich mit in das ferne Land?«

»Was solltest du dort wohl anfangen, alte gute, dumme Maria? Du bleibst so lange hier beim Ältesten des Dorfes, und unsern Bungalow verrammeln wir.«

»Warum sind wir nicht in Australien geblieben,« jammerte Maria. »In Indien fing unser Unglück an, warum ließ es der Herr Jesus zu? Aber der ›Malgoozar‹ ist ein guter Mann, ich werde zu ihm gehen und auf Euch warten.«

Master Franz schaute stumm und mitleidig – verächtlich auf die alte Magd, die so heftig jammern konnte und so rasch wieder getröstet war.

Und jetzt kam Kerlchen wieder herangestürmt, hatte sich im Nu der Speise bemächtigt und aß sie nicht allzu anmutig herunter.

»Er ist kalt, der Chupattie,« lachte es vergnügt, »ich habe mich zu lange aufgehalten. Aber ich habe gleich noch meine Flinte gereinigt und das junge Büffelkalb besehen – was habt ihr beide? Ihr seht mich so an.«

Kerlchen spielte mit der silbernen Gabel und ließ sie auf der Hand wippen.

Master Franz nahm sie ihr sacht aus der Hand und zeigte auf den Stiel und die großen Buchstaben darin mit der Krone darüber.

»Was heißt das, Kerlchen?«

»R. v. R.-R!«

»Rose von Rumohr-Rotbach.«

»Ich weiß. Was soll's. So hieß meine Muusch.«

»Und so – – ›Rumohr-Rotbach‹ heißen alle deine Angehörigen.«

»Ich habe keine Angehörigen, ich hab nur dich.«

»Kerlchen!«

»Doch! Muusch hat es gesagt.«

Es zuckte mächtig im Angesicht des Mannes.

»Das ist nicht wahr,« sagte er endlich streng. » So hat sie es nicht gesagt. Sie hat nur nicht gewollt, daß ich als – Diener gelten sollte. sondern als Angehöriger, aber – – sie hat mir immer gesagt – in schöner, glücklicher Zeit: Franz, wenn uns etwas zustoßen sollte, mir und meinem Mann, – das Kerlchen gelt das Kerlchen bringst du heim – zur Großmuusch. Und ich gab ihr mein Wort und hab's nicht gehalten.«

»Ich will ja gar nicht fort!« rief Kerlchen mit blitzenden Augen. »Ich war ja einmal dort, ich weiß es noch, wenn es auch schon dreizehn oder vierzehn Jahre her ist, es waren viele Knaben da und viele Leute, die mich besahen und anfaßten und küßten und redeten und schrecklich waren. Sie haben auch alle meine Muusch nicht verstanden, daß sie wieder hierher zurück ging, das hat sie mir oft erzählt und sie weinte dabei. Und mein Väterchen haben sie auch nicht verstanden.«

Master Franz nickte ernst vor sich hin.

»Wie sollten sie ihn wohl verstehen, die Kurzsichtigen – den Seher. Er war ein herrlicher Mann, dein Vater, Kerlchen.«

»Das weiß ich,« bestätigte das Mädchen stolz, »die Muusch erzählte mir, er müsse meinem Urgroßvater gleichen, das war ein Oberst Schlieden, – warum sterben alle guten Menschen zuerst, Franz?«

»Tun sie das? Der beste Mensch ist wohl deine Großmutter, Kerlchen, und die lebt ja auch noch gottlob!«

»Warum seufzst du so tief, Franz? Ich kann mich gar nicht mehr auf die Großmutter besinnen.«

»Sie war damals krank, Kerlchen, schwerkrank, – man fürchtete für ihr Leben, da kamen deine Eltern und legten ihr dich in den Arm, das erste Enkelchen, und von Stund' an wurde sie gesund.«

Franz, der wortkarge, ernste Master Franz sprach mit leuchtenden Augen. Kerlchen sah ihn verwundert an.

»Du mußt hin, Kerlchen, du mußt zu ihr, – mach' mir meine Pflicht nicht schwer,« brach er jetzt leidenschaftlich aus. »Du bist das Vermächtnis deiner Mutter, – ich hab's ihr heilig versprochen, dich hinzugeben.«

Kerlchen sprang auf. Die leuchtenden Blauaugen erschienen fast schwarz von innerer Erregung. Ohne ein Wort zu erwidern, stürmte es die Verandastufen hinunter, dem Stallgebäude zu, und wenige Minuten später hatten die alte Magd und der ernste Mann dasselbe Schauspiel wie schon einmal vor kurzer Zeit. – Cassim jagte in toller Flucht die Landstraße entlang, und auf seinem Rücken lag wie zusammengewachsen mit ihm das schwarze Bündelchen, – sausend fuhr die Reitpeitsche durch die Luft.

»Es ist höchste Zeit,« murmelte Franz Körbs.

 

»Und das war vor siebzehn Jahren?« fragte der alte Herr Pfarrer Bauer, der erst seit einem Tage in Rotbach weilte, den alten Kantor Rensefeld, der schon sämtliche Pfarrherren »durchgemacht« hatte und eine Art Chronik von Rotbach war.

Pfarrer Truling war in die Residenzstadt gekommen, die hohen Herren am grünen Tische hatten gefunden, daß ein so vorzüglicher Kanzelredner für die Bauern zu schade sei, und wie er und seine Gemeinde auch gebeten hatten, ihn in seinem Dörfchen zu lassen, es half ihnen nichts.

So führte nun der alte Organist den neuen Herrn Seelsorger in die Geheimnisse von Rotbach ein.

»Genau heute vor siebzehn Jahren!« bestätigte er, »der Herr Pfarrer braucht nur im Kirchenbuch nachzusehen. Sie war noch das richtige Kind, die Rose von Rumohr, und wie ein Kind stand sie neben dem jungen Herrn Pfarrer, dem Dr. Christiani, trotz aller Ernsthaftigkeit in dem zarten Gesichtchen. Aber ich konnte gar nicht so viel auf das Brautpaar gucken, ich mußte immer unsere liebe, gnädige Frau von Rumohr ansehen, Herr du meines Lebens, wie war sie blaß. Jeden Augenblick konnt' sie hinschlagen, und sehen Sie, Herr Pfarrer, das Kirchentreppenfegen und Kirchhofbegießen und Glockenläuten und Ohnmächtige 'raustragen, das gehört zu den Funktionen eines ordentlichen Organisten.«

Es klang rührend, mit welcher Wichtigkeit der alte Mann das sagte.

»Und fand sich die Frau Baronin nicht in das Geschick, ihre Tochter weggeben zu müssen, das sie doch mit vielen Müttern teilt?«

»Aber freilich, Herr Pfarrer, freilich. Unsere Baronin, das ist beileib keine gewöhnliche Frau. Die ist tapfer wie ein Mann, – ach, ich mein', – noch viel tapferer. Da weiß unser Dorf in allen Nöten ein Lied davon zu singen. Nur die Augen, die schauten ernsthafter drein, – ach, und die konnten sonst lachen, Herr Pfarrer, ganz warm wurde so 'nem alten Knackstiebel ums Herz, wenn sie einen ansah. Dann kam die Rose Christiani mit Mann und Kind nach vier Jahren wieder, und obwohl unsere Baronin damals den Typhus hatte, weil sie in der schrecklichen Seuche im Dorfe gepflegt hatte, – sie wurde gesund, als sie das Enkelchen sah – von Stund' an gesund und war doch so matt wie 'ne Fliege.«

»Erzählt nur weiter,« bat Pfarrer Bauer, als der Alte eine Pause machte. »So komme ich am besten in die Herzen meiner Pfarrkinder.«

»Nun, damals meinten meine Frau und ich, es könnt' nichts Glücklicheres geben auf der Welt als unser Schloß und die Menschen darin. Förmlich geleuchtet haben alle vor Frohsinn, und selbst das kleine Scheusälchen konnt' dran nichts ändern, – das Enkelkind. Wie ein Zigeuner sah's aus, das justemente Gegenteil von seinem schönen Mütterchen, ich hab' alleweil gedacht, die greuliche schwarze Amme, die sie mitbrachten, nährte es auch mit schwarzer Milch.«

»Aber Rensefeld!«

»Nichts für ungut, Herr Pfarrer, ich kenne mich da drüben nicht so aus in der Naturgeschichte. Na, ich bin der Kleinen nie zu nahe gekommen, sie brüllte ja immer wie am Spieße.«

»Und dann ging Dr. Christiani wieder hinaus, nach Indien? Ich weiß es noch, es war ein einsamer, schwerer Posten, in allen Missionsversammlungen war davon die Rede, aber der Mann hatte sich selbst dazu gemeldet.«

»Und Frau Rose ging wieder mit ihm. Herr du meines Lebens, wie setzten sie ihr zu, hier zu bleiben mit dem Kinde. – Ich war ja einmal selbst dabei, es war am Geburtstage der Frau Baronin, und wir waren alle eingeladen. Ich vergesse es mein Lebtag nicht, wie der Herr Pfarrer Truling schließlich selbst zum Hierbleiben sprach, und wie die junge Frau ihn mit den klaren Augen ansah und so ernst bat: ›Ach, sagen Sie mir meinen Hochzeitsspruch doch noch einmal.‹ Da drückte er ihr nur stumm die Hand, denn der Spruch hieß: ›Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, dein Gott ist mein Gott‹.«

»Nun und dann?«

»Dann kam eine sehr stille Zeit für Rotbach. Von den lieben acht Kegeln zog eins nach dem andern fort, nur in den Ferien hörte man noch helles Lachen und Singen. Von Indien kamen nur spärliche Nachrichten, war aber eine da, dann lief auch unsere Baronin hinüber ins Pfarrhaus und zu mir, und wir nahmen teil an ihrer jubelnden Freude. Sie konnte so lachen, die Frau Kerlchen, ach Gott, was konnte sie lachen!«

»Und dann kam das Unglück?«

»Ja, Herr Pfarrer. – Herrgott, ich sehe immer noch, wie sie die Fahne am Herrenhaus hochzogen – halbmast. Und ganz Rotbach stand unter Wasser, die wilde Gera brauste und gurgelte, und der Herr Pfarrer Truling und ich und der Inspektor, wir fuhren im Kahn vors Herrenhaus, um unsern gnädigen Herrn aufzubahren.«

»Drei Menschenleben hatte er aus Wassersnot gerettet,« schaltete der Pfarrer bewegt ein, »ob alle drei so viel wert waren, als das seine?«

»Sicher nicht, Herr Pfarrer, sicher nicht. Seit der Zeit sind wir alle ernsthafte Leute hier geworden, wir können's halt nicht verwinden. Ich war eigentlich von Geburt 'n humoristischer Mann, und die Leute wollten immer lustige Geschichten von mir hören, – o du liebe Zeit– und das Leben ist doch so bitter ernst. Damals glaubt ich, die Frau Baronin würde den Herrn nicht überleben, – aber sie sah ihre Kinder an, – die Kegel – und dann richtete sie sich auf und schloß sich ein in ihr Zimmer. Als sie wieder herauskam, da sahen wir sie weinend an, – mitten durch ihre dunkelblonden Locken zog sich ein silberweißer Streifen, wie ihn der Herr Oberst hat auf dem großen Ölbild, der Herr Vater selig.«

»Und dann?«

»Dann nahm sie die Bewirtschaftung des großen Gutes allein in die Hände, und gute Freunde und getreue Nachbarn standen ihr bei, der Herr von Reymerstal und der junge Herr von Eulried, dem das Mustergut gehört. Der ist wie ihr Sohn und sollte es wohl auch werden, ehe der Doktor Christiani kam.«

»So so, hm.«

»So haben wir die Jahre miteinander verbracht, Herr Pfarrer, und alleweile haben wir den Hut vor unserer Frau Baronin abgezogen.«

»Wie trug sie den zweiten Schlag ?«

»Herr Pfarrer, ein Fremder merkt's vielleicht gar nicht, daß die gnädige Frau verändert ist, aber wir Alten, wir wissen's, es ist etwas entzwei gegangen in ihr, – sie kann nicht mehr lachen. Und das ist zum Weinen, Herr Pfarrer, für den, der das Kerlchen gekannt hat, als Braut und als junge Frau, so ein Sonnenscheinchen, wie sie alleweile war. Herrgott, so ein Unglück kommt ja auch nicht alle Tage, es war was extra Ausgesuchtes vom Herrgott, damit er sah, wie tapfer die Frau ist.

Und die Herren vom hohen Konsistorium kamen alle Nasenlang und wühlten den Schmerz wieder auf, unnützerweise, denn die späteren Nachrichten bestätigten ja nur die vorhergegangenen: ›Beide, Dr. Christiani und Frau, am gelben Fieber gestorben, und das Mädchen, die kleine Felicitas, im Feuer umgekommen mitsamt dem Franz Körbs.‹ Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, so was hat man erlebt, und dann soll man humoristisch erzählen, und die Leute wollen lustige Geschichten hören.«

»Arme, schwergeprüfte Frau, – gleich morgen gehe ich zu ihr,« sagte der alte Seelsorger schmerzlich bewegt.

»Das tun Sie nur, Herr Pfarrer, aber denken Sie beileibe nicht, daß sie Ihnen was vorklagt. Sie zeigt ihr Inneres nicht, unsere Frau Baronin, sie läßt sich nicht unterkriegen, sie ist von Stahl. Aber eine Herzensfreude könnt sie brauchen, Himmel, Herrgott, eine Herzensfreude, – ich gäbe die paar Jahre drum, die ich noch zu leben habe.«

Kantor Rensefeld zog sein rotes Taschentuch hervor und schneuzte sich laut und umständlich.

*

Aus Kerlchen seniors Tagebuch.

Wenn das alles, was ich so erlebt und niedergeschrieben habe, einmal veröffentlicht würde, – zehn stattliche Bände dürfte es geben – was würden wohl die Leute darüber sagen? Ich glaube, sie würden leicht über alles hinweggehen und lachen: »Es ist ja nur Geflunkertes!«

So viele Menschen lesen aber lieber Geflunkertes, weil die Wahrheit gewöhnlich ein gar ernstes Gesicht macht.

Nun, meine Büchlein sind wahr, Heiteres und Trübes hab' ich getreulich gebucht, sie könnten getrost als Familienchronik in die Welt ziehen.

Und doch – die ganze volle Wahrheit darf auch ich nicht schreiben, sonst müßte sich jeder die Augen rot weinen, der in diesem Buch blättert, und schließlich würde noch einmal eine Urenkelin von mir zu meiner Ururenkelin sagen: »Ach, laß das weinerliche Buch, so alte Leute, wie die Ururgroßmutter wühlen gern in ihrem Schmerz, wein' dir die schönen Augen nicht rot, sterben müssen wir alle.«

Ja, sterben müssen wir alle!

Aber warum der eine vor dem andern?

Warum so früh der beste, der herzgeliebteste Mensch – – – –, still, o still! –

Du liebes Tagebuch, – gleich will ich es hier niederlegen, es gibt eine Stelle im Innersten meines Herzens, über die kann ich nie mehr sprechen, nie mehr schreiben, – über meinen Fritz, meinen Friedel, mein alles, mein totes Glück!

Wachse, Efeu, grüne und blühe, und verhülle das liebste Stellchen. – – –

Gut sein will ich und will glücklich machen,
Will verwandeln Leid in Dank und Lachen,
Laß mich Sonnenschein vielen Menschen sein,
Daß ein Segen walte, wo ich geh und schalte.

Dieses Lied, einst zur Einsegnung unserer herzlieben Rose gesungen, soll mein Leitstern, mein Wahlspruch, mein Gebet sein.

Aber wie schwer ist's, Leid in »Dank und Lachen« zu verwandeln!

Bis jetzt hab' ich nur die Hände zum Dank falten gelernt, zum Lachen ist, so mein' ich, gar keine Veranlassung mehr in Rumohr. –

 

Daß uns der Erni, mein guter, biederer Ältester, solch ein Schwiegerkind bringen würde, wie diese Agnete.

»Agnete, Freiin von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien.«

Ausgerechnet diese mußte es sein.

Durch den hochtönenden Namenkrimskrams hat sich der Jung' nicht blenden lassen, das liegt ihm weltenfern, und Terlan-Olzen samt dem Hause Krien sind ja auch ins schlichte Rumohr-Rotbach übergegangen, als das »Ja« vor fünf Jahren gesprochen wurde. – Er hat sie lieb, – das ist die einfache Geschichte seiner Heirat.

Der selige Kapitän Liskow pflegte früher immer ein uraltes Liedchen zu trillern, wenn er von einer Verlobung hörte, und dieses Liedchen hieß:

Oha, s' ist zum Verwundern auch,
Wenn man verliebet ist,
Die Lieb' fällt auf'n Rosenstrauch,
Die Lieb' fällt auf'n Mist.

Wie würde er wohl geträllert haben bis zum lautesten Forte, wenn er meine älteste Schwiegertochter kännte!

Beileibe nicht – daß ich dieses drastische Wort im Liedchen auf Agnete anwenden will (für eine Gutsbesitzersfrau ist es außerdem nicht drastisch, sondern ein liebes, gutes, schönes Wort).

Nein, nein! Es würde auch gar nicht passen, denn Agnete ist nicht im mindesten nützlich.

O jeh! Was habe ich da geschrieben!

Klingt's nicht, als sei ich eine nörgelnde, – eine böse Schwiegermutter, eine, die in die »Fliegenden« gehört?

Gott bewahre mich davor! Da wäre es ja die höchste Zeit, daß ich mich zur »Muusch« zurückentwickelte.

Wir haben an einer Spezies »Schwiegermutter« schon genug.

Erni hat nämlich nicht Agnete allein geheiratet, ich fürchte, er hat beim Standesamt seine Schwiegermutter, die Frau Baronin Terlan-Olzen aus dem Hause Krien mit unterschreiben lassen und lebt wie der selige Graf von Gleichen, nur mit dem Unterschiede, daß er die »zweite Frau« als wenig beglückendes Anhängsel betrachtet.

Es ist die Stiefmutter von Agnete.

Sie macht die Pointe sämtlicher Märchenbücher zu schanden, in denen die Stiefmutter als etwas Peinigendes für die Stiefkinder empfunden wird, diese verzieht ihre Agnete in jeder Weise, erfüllt ihre verrücktesten Wünsche und macht dadurch meinem lieben Ältesten das Leben nicht gerade zur Rosenlaube.

Ernst und Agnete wohnen in Rumohr, aber einige Wochen habe ich sie immer hier in Rotbach mit Kind und Kegel, und Weihnachten verleben wir stets zusammen in Rotbach. Der ganze Trubel, der dann hier wohnt, bringt mich auch am besten über das Fest hinweg, – obgleich ich gern einmal stille Einkehr hielte in diesen Tagen.

Weihnachten!

Wenn ich an die Zeiten denke, da ich glückseliges Kind in Schwarzhausen war, oder glückselige Frau hier in Rotbach, – wie Tannenduft, Kuchen und Wachslichtchen riecht es plötzlich, – – aber dann ist's mir, als läge diese süße Erinnerung Jahrhunderte weit zurück, als erzählte Frau Sage mir ein wunderschönes, altes Märchen.

 

Meine Kegel haben alle ihre Bahn gefunden, sind tüchtige Kerle geworden und geblieben; ich sehe sie nicht viel, aber wir haben so Gedenktage, da kommen sie zu mir, in verschiedenster Jahreszeit, wie es jedem paßt, das sind dann köstliche Zeiten. Und so zeigt mein Buch rot angestrichene Feiertage, die sonst in keinem Kalender als Feste stehen.

Vom 1. Januar bis 19. Dezember, lauter Gedenktage! Und für mich ganz allein hebt sich besonders leuchtend der 29. Juni ab, ein Tag, an dem alle Arbeit ruht, ein Tag, an dem ich nur Rückschau halte auf das sonnige, glückliche »Einst«.

 

Von allen Kegeln am meisten und längsten in der Heimat ist »Pate«, unser Willusch, der, wie sein alter Gönner und Freund Reymerstal sich neckend ausdrückt, ein »von Sachkenntnis ungetrübter Jurist« geworden ist.

Willy ist Assessor am Landgericht I in Berlin und hat uns schon seit Jahren die Paragraphen des »Neuen Bürgerlichen« dermaßen eingepaukt, daß ich mich jeden Tag als Rechtsanwalt niederlassen könnte.

Ich beschränke mich aber darauf, meinen Bauern und Tagelöhnern vom Prozessieren – abzuraten.

Es ist oft sehr erheiternd, Willy mit Herrn von Reymerstal zusammen im Gespräch zu sehen. Der erstere macht die schwierigsten Sachen, löst Probleme, hetzt A. contra B., nimmt die fürchterlichsten Dinge an, die überhaupt denkbar sind, holt dann diesen Paragraphen und jenen hervor, bis der zum Schafott bestimmte Delinquent plötzlich als weißgewaschene Jungfrau dasteht, oder aber im Gegensatz ein uns harmlos vorschwebender Bürger durch dieselben Paragraphen zum schwarzen Bösewicht wird.

Freund Reymerstal dagegen liebt durchaus abgekürztes Verfahren, und sein drittes Wort ist: »Man sollte ihn einfach totschlagen«.

Willy ist der einzige im weiten Umkreise von Rotbach, der sich des Wohlwollens der Schwiegermutter Terlan-Olzen aus dem Hause Krien rühmen darf.

Einen uralten Prozeß, den die Großmutter dieser Dame geführt, und der ihr ein Kunkellehen entriß, hat Willy nämlich in einen glänzenden Sieg verwandelt, leider nur im Wechselgespräch und gänzlich post festum. Aber Schwiegermutter Terlan-Olzen liebt meinen Jüngsten seiner »Wenn's und Aber's« wegen, sie kann stundenlang mit Willy über die verjährte Sache reden und bedauert nur lebhaft, daß er nicht hundert Jahre früher geboren wurde.

Auch Herr von Reymerstal hört manchmal zu, aber mit grimmiger Miene.

Er kann »Schwiegermama« nicht ausstehen, und wenn sie ihm von den längst verstorbenen Prozeßführenden spricht und so aufgeregt und giftig dabei aussieht, antwortet er stets: »Man sollte sie einfach totschlagen«, bei welchem Satz man aber nie weiß, ob das »sie« groß oder klein geschrieben ist.

Mein Erich-Bruder ist unter die Schriftsteller gegangen. Seine »Tropenbilder« sind berühmt, ebenso sein großes Werk über unsere Kolonien.

Aber ich bin doch recht froh, daß ich ihn wieder in Deutschland habe; wir glaubten ja zuerst, er würde den »Knacks«, den er sich »drüben« geholt, nicht überwinden, aber Gottlob, die eiserne Natur der Schliedens hat gesiegt, und Erich hat sich eine nette kleine Villa im Fichtelgebirge gebaut, wo er in der Nähe von Wunsiedel auf Jean Pauls Spuren wandelt und die Tyrannei seiner alten Wirtschafterin philosophisch trägt.

Ich halte »Agathe« (so heißt sie) für einen Drachen, der die prähistorischen Befestigungen auf der jetzigen Luisenburg angelegt hat, aber die Hauptsache ist, daß sie während der Seelenwanderung einen guten Kochkursus durchgemacht hat. Erich schreibt, ihre Leistungen seien nicht von Pappe, und sein beginnendes Embonpoint ist die beste Bestätigung.

Jedes Jahr besucht uns der Herr Oberst mit Agathe, was dann immer die Kündigung etlicher Kleinmädchen zur Folge hat, die der prähistorische Drache mir hinausgrault, aber das köstliche Musizieren mit Erich überwiegt die Mißhelligkeiten in der Küche, und die Manen Beethovens, Mozarts und Wagners und der köstliche, lebendige Grieg scheuchen jede unliebe Stimmung und Störung fort.

Wenn ich in den letzten Jahren die Musik nicht gehabt hätte, wie hätt' ich alles tragen sollen! Zuerst nach einem schweren Schlag meint man freilich, man könnte nicht einen Ton vertragen und tippt nur zaghaft eine Taste nach der andern an, bis der Akkord sich bildet, und schließlich die vollen Melodien das wunde, müde Herz in den Schlaf singen.

Musik ist besser als Menschenwort.

 

Fritz ist Weltenbummler geworden, ein ganz genialer Mensch. Augenblicklich ist er in Patagonien und verspricht, uns eine nette, kleine, anschauliche Sammlung vergifteter Pfeile zu schicken.

Es kann aber auch sein, daß er nicht in Patagonien ist, sondern plötzlich vor mir steht, mich stürmisch umarmt und sagt: »Herzensmuusch, ich hatte Heimweh, und Tannenruh ist doch nun einmal Mittelpunkt des Planeten.«

Auf solch einen Geniestreich folgen dann immer die köstlichsten Tage des Beisammenseins, mit der kleinen Einschränkung, daß weder eins von meinen Enkelkindern, noch eins von den jüngeren Dienstboten abends einschlafen kann. Denn Fritz erzählt am Tage seinen Neffen und Nichten Räuber-, Tiger- und Indianergeschichten, und abends hat er so eine Art Spinnstube eingerichtet, worin er seine Geschichten bis ins Endlose ausdehnt und einige weitere Schauerlichkeiten hinzudichtet, so daß bei den Mägden die Gänsehaut zum Naturzustand wird. Dann gibt es wieder Wochen, wo er ganz still in Tannenruh sitzt, dichtet, malt, oder an seinen köstlichen Reiseschilderungen schreibt. Fritz ist Kapitalist, seine Bücher verkaufen sich glänzend, aber Geld hat er selten.

Dann taucht sein Schelmengesicht in meiner Kemenate auf und er fragt:

»Muusch, edelste der Frawen, könntest du mir einen gänzlich verschimmelten blauen Lappen anvertrauen?« Das tue ich dann natürlich gern, wär es auch nur, um Fritz zu einem jener köstlichen, kleinen Gedichte zu begeistern, die mir bei der Rückgabe des Scheines zufliegen.

Fritz ist aller Liebling, vom Postboten an, den er mit einer Hymne an seine Nase empfängt: »Sei mir gegrüßt, o Berg, mit dem rötlich strahlenden Gipfel«, oder, falls er Geld bringt: »An mein Herz, Freund und Kupferstecher; komm mit deinen Scheinen, süßes Engelsbild«, bis herunter zu Aurora, welche die Aufzucht der Ferkelchen besorgt und deshalb den Namen »Göttliche Sauhirtin« trägt. Wenn Fritz in Rotbach ist, sieht man nur strahlende Gesichter. Alte Mütterchen erhalten neue Hauben von ihm, junge Mädchen Bänder und Schürzen, die älteren Männer wundervolle Tabakspfeifen, und die Burschen Bierseidel und Zigarren.

Auch stellt er seine Muse in den Dienst des Dörfleins und seiner Insassen.

Festspiele werden gedichtet und aufgeführt, Geburts- und Sterbegedichte verfaßt, sowie Stammbuchverse, die gar nicht genug hochtrabend und blödsinnig sein können.

»Teure Freundin, die ich habe,
Deine heiße Hand mir gib,
Wenn du stehst an meinem Grabe,
Schrei ich laut: Ich hab' dich lieb.«

»Fürchterlich,« raunte ich Fritz zu, als er dieses Pröbchen niedergeschrieben hatte, und er flüsterte lachend: »Bitte, enterbe mich nicht.« Aber Katharine Bitterlich, für die er's geschrieben, nahm das Blatt strahlend in Empfang und rief: »Nie in mein Läben habch so was Schenes nich gehatt!«

Wird es dem Fritz aber zu bunt, so reißt er aus, – ein richtiger Zugvogel.

Elimar ist Oberlehrer am Gymnasium in Z. Ein rechter und echter Pädagoge ist der Li; seine Jungens vergöttern ihn, und als er im vorigen Jahre eine Turnfahrt mit seinen Schülern nach Thüringen machte, und sie einen Tag unsere Gäste waren, da konnte ich ihn so recht in seinem Berufe kennen lernen und hätte mich am liebsten auch zu seinen Füßen hingesetzt und gelauscht, wie schön er von unserer Wartburg erzählte.

Die Brüder necken ihn mit seiner Leidenschaft für das Lehrfach, er lacht aber frisch-fröhlich, wenn sie ihn »oller Magister« oder »Bubenversohler« nennen, wie er überhaupt eine sonnige Natur ist, gleich Fritz, mit dem er sich auch am besten steht. Er hat nichts Dozierendes an sich und keine Spur von Gelehrtendünkel.

Li ist unverheiratet, er behauptet, sein Gehalt sei zu groß, das Mädchen würde nur verwöhnt, das seinen Mammon mit ihm teilen müsse.

Paul ist Arzt in Berlin. Seine Doktordissertation soll etwas Bedeutendes gewesen sein, ich könnte ja den Titel hierherschreiben, denn er wimmelt von lateinischen unverständlichen Worten, aber wozu?

Einige neugierige Urenkel, die das Buch möglicherweise lesen, könnten fragen, was es heißt, und es ist doch nicht nötig, daß die ganze Verwandtschaft erfährt, welch greuliches Thema er sich gewählt hatte.

Paul hatte schon als Student eine Vorliebe, in den Ferien just bei Tisch von »herausgelösten Nieren«, »prächtigen Geschwüren« und andern »schönen Fällen« zu reden, so daß niemand mehr ein Stück rohen Schinken oder Roastbeef herunterbrachte, was er dann mit Wonne allein aufaß.

Er hat bereits eine Riesenpraxis, die er nur zum Teil seinem Onkel Schirmer verdankt, zum andern Teil jedenfalls seinem sicheren Blick, der scharfen und richtigen Diagnose und seinem grundguten Herzen, das sich schon im Blick spiegelt und ihm besonders die Kinderherzen erobert.

Harald, Carlo und Adolf sind Offiziere, und wie ich schon sagte, liebe, prächtige Kerle, tüchtige Artilleristen.

Harald ist Lehrer an der Kriegsschule und verheiratet mit unserer Elsa Mottlau, einem zarten, liebenswürdigen, feingliederigen Wesen, das wir alle ins Herz geschlossen haben.

Sie ist jetzt mit ihrem süßen, kleinen Buben bei mir, um sich rote Backen zu holen. Aber Fritz, Li, Paul, Carlo und Adolf machen noch keine Anstalten, sich zu verloben, von Willy gar nicht zu reden, der als eben »bestandener« Assessor noch nichts verdient und auf ein Kommissorium lauert.

Augenblicklich ist Tannenruh Hotel.

Die schönsten Zimmer nimmt Dame Terlan-Olzen aus dem Hause Krien ein.

Dicht neben dieser wohnt meine Bümi Schirmer, die mir durch alle schönen und herben Jahre hindurch die treueste Freundin war.

Wenn ich dich nicht gehabt hätte, gelt, meine Bümi? Aber sie steht auf entschiedenem Kriegsfuße mit »Schwiegermama«. Zum eigentlichen Kampfe kommt es nicht, es sind nur Plänkeleien und Vorpostengefechte, aber manchmal bange ich doch ein wenig, wenn sie so aufeinander losgehen. Aber dann kann Bümi plötzlich hinreißend liebenswürdig werden, so daß Mama Terlan verdutzt zurückweicht und mit einem geflöteten »Meine liebe Geheimrätin« das Gespräch in andere Bahnen hinüberlenkt. Und meiner Bümi, die das Urbild einer behaglichen, stattlichen Geheimrätin ist, sitzt dann der Schalk im Nacken, oder er lacht aus ihren guten, fidelen Augen, und sie blinzelt mir zu, als wollte sie sagen:

»Du denkst doch nicht, Kerlchen, daß ich in deinem Hause und in dessen Umkreis Krakeel anfange?«

Aber aufregend ist es doch, immer so in banger Erwartung zu sitzen, ob die feindlichen Parteien nicht doch einmal aufeinander platzen.

So hab ich mein Haus hübsch voll, denn neben Bümi wohnt Frau Elsa mit ihrem kleinen Werner und einem so bildhübschen Kindermädchen, daß um seinetwillen bereits Küchenrevolution ausgebrochen ist; alles verliebt sich in Luise, und das wollen sich die Rotbacher Mädchen nicht gefallen lassen.

Dann kommt ein kleines Kämmerchen, das sonst Schrankstübchen war, aber nun von der Tochter unseres einstigen Pfarrers Truling bewohnt wird.

Sie hilft mir tapfer, meine Lissy Truling, und ist unser aller Liebling, deshalb erlaubte ihr der Vater, einstweilen bei mir zu bleiben, als er den ehrenvollen Ruf in die Residenz annahm.

Sie ist vierundzwanzig Jahre alt, ein ruhiges, tüchtiges Mädchen mit goldblondem Haar und tiefdunklen Augen; schon diese Zusammenstellungen gibt ihrem Gesicht einen besonderen Reiz, wenn sie auch sonst nicht eben schön zu nennen ist.

In den schweren Tagen und Wochen, die ich in den letzten Jahren durchmachte, war sie mir in ihrem leisen und doch immer geschäftigen Tun eine große Hilfe, – sie war überall, wo man sie gerade brauchte, und nicht allein die Arbeit meiner Hände nahm sie mir ab, sondern sie wußte auch immer liebe gute Worte für mein wundes Herz.

So wäre auch meine Rose mit mir gewesen, so gut, so sorglich und herzlich, meine Rose, mein Kind, mein einziges Mädel – – aber Rose ist tot.

O die heiße Sehnsucht, die oft mich packt! Wo ist das friedliche Stellchen, darinnen mein Kind schläft?!

Und Felicitas, mein erstes, geliebtes Enkelkind! Wie war ich so glückselig trotz meiner Schwäche, die mir schwere Krankheit hinterlassen, als man mir das kleine Kerlchen in den Arm legte, – ich spüre ihn noch, den Genesungshauch, der von dem warmen Körperchen ausging.

 

Wie weit war ich mit dem Aufzählen meiner lieben Hotelgäste gekommen? Fertig bin ich noch nicht.

Denn nun kommt erst noch das Zimmer der beiden Freifräuleins von Terlan, der Schwestern Agnetens, welche die Jüngste ist.

Adelheid und Eva von Terlan sind Zwillinge, und zwar so unbegreifliche, waschechte, daß man tatsächlich nicht eine von der andern unterscheiden kann. Sie sind beide impertinent blond, haben dieselbe Stupsnase und dieselben wasserhellen Augen, – selbst ihre Bewegungen sind völlig gleich.

Ich bin der unumstößlichen Ansicht, daß beide schon am ersten Tage ihres Lebens verwechselt worden sind, so daß eigentlich Adelheid Eva und Eva Adelheid ist, jedenfalls habe ich sie jetzt gebeten, sich in blau und rosa zu kleiden, seit ich neulich Adelheid ihre sämtlichen Geburtstagsgeschenke und Überraschungen verriet, in der Meinung, ich hätte Eva vor mir. Und so geht es allen.

Paul hat schon gesagt, daß, wenn er in die Verlegenheit käme, sich in eine der beiden zu verlieben, so würde er doch jedenfalls beide heiraten, um durchaus richtig zu gehen.

Er ist ein gottloser Junge.

Die beiden Lebewesen vorteilhaft zu verheiraten, ist Tag und Nacht der Gedanke ihrer Mutter, wie sie mir selbst sagte.

Sie hat sich auch die Schwiegersöhne schon ausgesucht, – meinen Paul, Herrn von Reymerstal und Hans-Hugo Eulried.

Natürlich sollen nicht alle drei die zwei Mädels heiraten, aber mein Paul ist ihr ein zu unsicherer Kantonist, weshalb sie Reserve vorgesehen hat. Es ist nun für den Zuschauer sehr erheiternd, die Jagd nach dem Glück mit anzusehen, wenigstens machen meine Jungens sowohl, als auch Reymerstal, der in dieser Beziehung sich gar nicht als alter Herr, sondern als jüngster Bursch benimmt, ein Lustspiel daraus, – ich selbst finde es nicht hübsch und nicht würdevoll von Frau von Terlan und auch nicht nett von den Mannsleuten, wie sie darauf eingehen oder vielmehr ausreißen.

Aber Paul, der Stabsarzt, lacht und meint:

»Muusch, Muusch, du bist darin ein kleines Philisterchen.« So was muß man sich von den eigenen Jungens sagen lassen.

Pate Willy macht den Beschluß mit seinem Zimmer; er hat sich auch zum Oberhofmeister angeboten, der auf Ordnung sieht, worüber ein Hohngelächter bei den andern ausbrach.

Willusch ist derselbe geblieben, der er zu werden versprach, seine etwas pedantische Gewissenhaftigkeit ist sprichwörtlich in der Familie. Paul mit seinen zweiunddreißig Jahren macht beinahe einen jüngeren Eindruck. Er hat, wenn er hier in Rotbach weilt und seine Praxis auf vier Wochen einem Vertreter übergeben hat, tausend bunte, verdrehte, jungenhafte Einfälle, und man sollte es einem so mit Berufsgeschäften überladenen Arzt gar nicht zutrauen, daß er aus Übermut die Schuhe vor den Gastzimmern verwechselt, Schwiegermama Terlan, die sehr stolz auf ihren winzigen Fuß ist, seine eigenen Spreekähne hinsetzt und so weiter.

Im Fremdenflügel ist oft ein Lachen und Toben, daß ich ihn schon in »Gummizelle« umtaufen wollte, aber mit Rücksicht auf die Empfindungen der Madame Terlan es unterlassen habe. Sie tobt ja auch nicht mit.

 

Sieben Kilometer von hier, ganz versteckt in Tannen und Bergen liegt Schloß Eulried, und da haust Hans-Hugo, der Einsiedler, wie ich sage, – der Sonderling, der Krösus, der Mustermensch, wie die Leute sagen.

Eine Lust ist's, auf seinem herrlichen Gute umherzugehen und die großartigen Neuerungen zu betrachten, die er angebracht hat, Neuerungen, die ein warmes Herz für Mensch und Tier voraussetzen und – einen Riesengeldbeutel. Hans-Hugo und ich sind treue Freunde. Er hat Rose nicht vergessen; ihr großes Ölbild, ein Kinderbild, das gemalt wurde, als sie fünfzehn Jahre alt war, hängt in seinem Studierzimmer, und ihre sonnigen Blauaugen lächeln den Eintretenden an. Er hat sie nach ihrer Heirat mit Johannes Christiani nicht wiedergesehen, denn als sie mit Gatten und Kind nach Deutschland kam, war er schon mehrere Wochen im Ausland, und als er heimkehrte, war mein Kind in Indien.

Hans-Hugo ist der einzige, mit dem ich über meinen Liebling spreche.

Meine Söhne wollen in zarter Fürsorge die Wunde nicht aufreißen, die sie verharscht glauben, sie wissen nicht, daß diese sich niemals schließen kann.

Bin ich bei Hans-Hugo, oder er bei mir, dann kramen wir alle alten, lieben Erinnerungen hervor, und an besonderen Festtagen, wie an Rosens Geburtstag, da nennt er mich: »Mutter«, – der große, ernste, vierzigjährige Mann.

Sein Haar ist an den Schläfen bereits leicht ergraut, aber der feine dunkelblonde Spitzbart zeigt noch kein weißes Fädchen.

Er brauchte noch nicht mit allem Glück abzuschließen, aber er scheint es getan zu haben. Nie macht er eine Festlichkeit oder einen Ball in der Stadt mit, und auf den kleinen Dorffesten geht er immer so ehrbar und ruhig einher, als sei er ein uralter Patronatsherr.

Ich habe ihn nur lächeln sehen, wenn irgendein wohltätiges Unternehmen von ihm gut geglückt war, und die Leute sich dankend um ihn drängten, dann flog ein unbeschreiblicher Schimmer über sein schönes, ernstes Gesicht.

Wie oft denke ich, – was ich doch nie denken sollte: »Hätte meine Rose ihn gewählt, dann lebte sie heute, und ich sonnte mich in ihrem Glück.

Vorbei!

Aber ich habe noch jemand, der übrig geblieben ist aus den Tagen meines reinsten Glückes, jemand, der in seltener Geistesfrische mit mir lebt und die Reise hierher in gesunden Tagen nicht scheut, während ich in den Monaten, da das Zipperlein bei ihm zu Gaste ist, ein paar Tage in Schwarzhausen und in seine hübsche, kleine Villa einkehre, wo ich wie eine Fürstin gehalten werde. Mein alter Freund Krone ist's, der Treuste der Treuen, und bald feiern wir seinen achtzigsten Geburtstag.

Dazu soll er hierher kommen, der Gute, und ich will ihn wie einen Vater ehren, das ganze Dorf soll den Mann feiern, der immer ein Wohltäter für alle war.

Seine Wunderlichkeiten hat natürlich mein Freund Krone auch trotz aller geistigen Regsamkeit, und wir rechnen damit.

Es ist ein ganz kleines, leises »Verfolgungswähnchen«, das ihn beherrscht, hervorgerufen durch jahrelange Bemühungen der jungen und alten Mädchen und Witwen, den braven, reichen Witwer wieder unter den Pantoffel zu bringen. Durch fortwährende Abwehr ist er etwas nervös in diesem Punkte geworden und wittert bis in sein hohes Alter hinein fortwährend Fallen.

Selbst mir gegenüber, die er mit fast ehrfürchtiger Hochachtung behandelt, glaubte er doch an seinem 79. Geburtstag wiederholt betonen zu müssen, daß er nie wieder heiraten wolle, –aber » nie« ! – und sei ich darein anderer Meinung, so möchte ich lieber abreisen. Ich stimmte ihm ernst und vollständig bei, und das beruhigte ihn sichtlich.

Daß der biedere Kommissionsrat seine alten Zylinderhüte im Hause aufträgt, ist nicht weiter beunruhigend für die Umgebung.

Es wird ja viel darüber gespöttelt, aber ich finde, er sieht ungeheuer stattlich aus, wenn er im schwarzen Gehrock (Hausjoppe oder gar Schlafrock sind verpönt) im Sessel sitzt, die lange Pfeife im Munde und den Zylinder auf dem Kopf. »Man muß in hoher Stellung immer die ›Dekoration‹ wahren,« sagt Krone.

 

Es ist wirklich eine stattliche Versammlung, die um den großen Kaffeetisch unter der alten Linde sitzt.

Frau von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien nimmt den meisten Platz ein.

Nicht, daß sie selbst bedeutenden Umfang hätte, aber sie hat sich einen der großen, tiefen, sorgsam mit seidenen Kissen gepolsterten Rohrsessel hinschieben lassen, und ein Diener steht extra für sie hinter ihrem Stuhl, um ihr die Tasse unermüdlich zu reichen und wieder hinzusetzen, eine umständliche Geschichte, die dem etwas zu Fettansatz neigenden Arzt Paul von Rumohr beim bloßen Zusehen Schweißtropfen auspreßt.

Neben Frau von Terlan sitzt Herr von Reymerstal, – »der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe,« er ist in den siebzehn vergangenen Jahren, da wir ihn zuletzt sahen, nicht rundlich oder behaglich, eher ein wenig gallig geworden. Rheuma, Leber und schlechte Haushälterinnen haben ihn griesgrämig geärgert, und von Frau von Terlan behauptet er, daß sie ihm direkt auf die Nerven falle.

Auf seiner anderen Seite sitzt Eva, – oder ist es Adelheid ?

Neben dieser – Paul von Rumohr mit Adelheid, oder ist's Eva?

Sie sind heute einmal wieder ganz gleich gekleidet, und da ist nichts zu machen, kein Mensch kann sie auseinander halten.

Frau von Rumohr-Kerlchen nimmt nicht den größten Platz ein, aber man sieht doch, daß sie den Vorsitz führt.

Sie sorgt umsichtig für ihre Gäste durch Wort und Wink, und es geht alles am Schnürchen. Es ist natürlich nicht mehr ganz das alte Kerlchen. Der silberweiße Streifen quer durch das dunkle Blondhaar gibt dem Gesicht etwas sehr Ernstes, und in den Augen liegt ein Schatten, der von kummervollen Tagen und durchweinten Nächten spricht.

Aber die Augen hellen sich auf, wenn einer der Kegel sie mit einem guten Worte anspricht, oder wenn der kleine, blonde Werner, Haralds Sohn, der unter Aufsicht einer Wärterin spielt, in ihre Nähe kommt.

Dann ist sie ganz und gar »Oma«, und vergißt für eine Weile Zeit und Umgebung.

Die große blonde Lissy Truling ist überall und nirgends. Doktor Paul von Rumohr behauptet, sie besäße eine Tarnkappe, die sie immer aufsetzte, wenn ihre Person (nach ihrer Meinung) einmal überflüssig sei. Frau Kerlchen kannte die Tarnkappe, – sie hieß: »Taktgefühl«.

Lissy Truling ist stolz.

Sie sieht, daß sie für Frau von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien »Luft« ist, und sie sieht, daß die Zwillingsfreifräuleins, die weit gemütvoller als ihre Mutter sind, und denen Lissy oft durch rasches Zugreifen, durch Nähen, Stopfen und Flicken aus den verschiedensten Nöten helfen mußte, doch nicht so viel Mut besitzen, sie gegen kleine und heftige Nadelstiche ihrer Mutter zu schützen.

Sobald Frau von Terlan merkt, daß Lissy Truling von irgend jemand beobachtet wird (und dies ist öfters der Fall), so hat sie eine merkwürdige Gabe, das Gespräch zu wechseln und in kühnem Gedankensprunge auf » unsere Kreise« zu kommen, womit sie den Adel im allgemeinen und den Großgrundbesitz im einzelnen meint, und auf diesem Thema reitet sie dann so lange herum, bis sie tausend kleine Hiebe an die Umsitzenden verabreicht hat, von denen neunhundertneunundneunzig der blonden, hochgewachsenen Lissy Truling gelten. Frau Baronin nennt das: »Jemand in seine Schranken zurückweisen.«

Lissy Truling pariert keinen dieser Hiebe, trotzdem sie von ihrer verstorbenen Mutter eine hübsche Portion schlagfertigen Witzes und von ihrem grundgescheiten Vater scharfen Verstand geerbt hat.

Denn die Bemerkungen der alten Baronin sind unpersönlich gehalten, tun aber dem feinfühligen Mädchen sehr weh, weil es wohl fühlt, wem sie gelten.

»Stützen im allgemeinen pflegen greulich zu sein,« war eine der letzten liebenswürdigen Anzapfungen der Dame gewesen.

»Jawohl,« fiel Frau Kerlchen lebhaft und rasch ein, – »das muß wahr sein, ich selbst bin mir nie wieder so greulich vorgekommen, als während meiner Zeit als ›Stütze der Hausfrau‹. Wohl dem Mädchen, daß solch eine Stellung nie anzunehmen braucht, es gehört so großer Takt von beiden Seiten dazu. Ich habe deshalb auch Fräulein Truling gebeten, als mein liebes Töchterchen hierher zu kommen, nicht als ›Stütze‹. Und da Lissy Truling gerade vorbei ging, wurde ihre Hand einen Augenblick mit liebevollem Druck festgehalten.

Das »Töchterchen« scheint aber noch mehr zu verschnupfen. Frau von Terlan fächelt sich sehr erregt Luft zu, und Lissy Truling verläßt mit sachtem Schritte die Gesellschaft unter der blühenden Linde, um in der Ökonomie nach dem Rechten zu sehen und in Küche und Keller Bescheid zu geben.

Sie ist wirklich eine »Stütze« des Hauses, und jeder hat das blonde Mädchen gern und freut sich, daß die unermüdliche Frau Baronin-Kerlchen etwas entlastet wird.

Doktor Paul von Rumohr findet es plötzlich recht langweilig am Familientisch, seine Muusch guckt so nachdenklich ins Weite und hat auf verschiedene seiner Fragen keine Antwort gegeben, daß er merkt, sie ist innerlich stark beschäftigt.

Die Zwillinge sind ihm unheimlich, denn er weiß, daß eine von ihnen sein Los gern teilen möchte, und daß die alte Baronin mit gezücktem Segen und Taschentraualtar bei ihnen sitzt.

Jedes noch so harmlose Wort von ihm wird mit einem dreifachen Augenaufleuchten entgegengenommen, und wenn er auch ein Thema vom Südpol anfängt, so endet es doch regelmäßig in Berlin, in der Eisenacherstraße, in seinem »schönen, prächtigen Heim, dem nur eins fehlt – die Frau«.

Doktor Paul wird nervös und gedenkt sich im Ökonomiegarten etwas zu erholen.

Lissy Truling steht an einem Zwergapfelbaum und bindet eine volle Frucht etwas höher, man sieht, sie ist ganz bei der Arbeit, und der Näherkommende wird gar nicht beachtet.

Aber Doktor Paul von Rumohr ist ja seines scharfen Blickes wegen bekannt, und er sieht, daß Fräulein Truling heißere und rötere Wangen hat, als vorhin unter der Linde, daß ihre Augen ebenfalls gerötet sind und fast finster auf das wundervolle Äpfelchen in ihrer Hand schauen.

»Warum reißen Sie aus, Fräulein Truling?« fragte er sehr streng das junge Mädchen.

Keine Antwort.

»Ich hatte Sie für tapferer gehalten,« fuhr Herr von Rumohr fort. »Sie gingen heute Morgen z. B. mit bewundernswerter Energie durch die aufgeregte Kuhherde, während die Terlan-Zwillinge mit ihren knallroten Sonnenschirmen nur schreien konnten, ohne auch nur einmal daran zu denken, die Schirme über den Zaun zu werfen, damit der Stier sie nicht sah.«

Lissy Truling lächelte leicht.

»Ich weiß wohl, was dieses Zucken um Ihre Mundwinkel bedeuten soll,« fuhr Paul von Rumohr fort, »Sie wollen damit sagen, daß es leichter ist, einen Stier bei den Hörnern zu packen, als mutig auf Frau Baronin von Terlan loszugehen.«

»O nein, Herr Doktor, ein so harter Vergleich lag mir fern, – ich dachte nur daran, daß die alte Dame heute morgen laut äußerte, ich hätte nur meine Pflicht getan, – als Stütze – indem ich den Stier verjagte.«

»Alle Wetter! Das ist ja ein großartig liebevoller Ausspruch!«

Doktor Paul von Rumohr steigt Zornröte ins Gesicht, seine Worte überstürzen sich förmlich.

»Sie haben aber auch vorhin die Worte unserer Muusch gehört, nicht wahr, Fräulein Lissy, und eben über diese Worte, über das ›Töchterchen‹ möchte ich jetzt mit Ihnen reden.«

Er nimmt ohne weiteres ihre Hand, zieht sie durch seinen Arm und geht mit raschen Schritten durch den Obstgarten hindurch bis ans andere Ende, wo ein alter Kiosk eine verstaubte, morsche Bank birgt.

Hier stellt er sich vor das junge Mädchen hin, welches bis in die Lippen hinein erblaßt ist.

Er sucht nach einer Einleitung zu dem, was er sagen will, aber Paul von Rumohr ist ein so gerader, aufrichtiger Mensch, so gar kein Freund von langen Umschweifen und pflegt auch seinen Patienten gegenüber keine Redensarten zu machen, – – so spricht er auch heute in dem einsamen Pavillon einfach das aus, was er denkt:

»Lissy Truling, ich hab dich unsäglich lieb!«

Und die große, blonde Lissy ist so sehr lieblich in ihrer Verwirrung und sieht ihn dann so gut und aufrichtig an, daß er sie fest an sich zieht.

»Du auch?« fragt er glücklich, und sie nickt.

»Aber was nun?« meint sie zaghaft. »Sie werden sich alle so schrecklich wundern, und niemand wird sich freuen.«

»So? Das wollen wir erst mal sehen. Aber das Wundern erlaube ich ihnen allen, bin ich doch selbst gar arg verwundert, daß du mich willst, mein Herzensliesel. Ich hatte dich lieb vom ersten Augenblick, aber du kleiner Eiszapfen wolltest trotz der tropischen Hitze in diesem Sommer nicht schmelzen.«

»O Herr von Rumohr!«

»Siehst du wohl, das mußt du dir nun auch noch rasch abgewöhnen, – ich heiße nun ›Paul‹, dein Paul, – – und sieh, da kommt Muusch und will nach ihrem Töchterchen sehen. Muusch ist die verkörperte Telegraphie ohne Draht.«

Ja, es ist wirklich so, – Frau Kerlchen hat das alles »geahnt«, und als ihr das Paar entgegentritt, Hand in Hand, fliegt ein frohes Aufleuchten über ihr Gesicht.

»Bin ich nicht ein rechter Glückspilz?« fragt Paul von Rumohr und küßt sie dann stürmisch.

»Mutter!« sagt Lissy leise, – »ich will ihn sehr glücklich machen.«

Frau Kerlchen entgegnet beinahe gar nichts, es strömen mit einem Male so viele und starke Erinnerungen auf sie ein, aber sie läßt sich willig zu dem alten Pavillon zurückführen und nimmt auf der notdürftig abgestäubten und mit Sackleinwand belegten Bank Platz, um rasch ein wenig über die Zukunft des Paares zu beraten. »Lange lasse ich sie dir nicht, meine Muusch,« ruft Paul fröhlich, – »meine Klinik braucht eine Frau ebenso nötig, wie ich, und ich denke, morgen reist sie erst mal zu Vater Truling, wie wird er sich freuen, – ich weiß, er hat mich lieb, – ich komme dann in einigen Tagen nach, gelt, Schatz?«

»Wer sollte wohl ihren geradherzigen, offenen, biederen Paul nicht lieb haben,« denkt Frau Kerlchen, und laut vollendet sie ihren Gedankengang:

»Mein Jung, wäre Schwiegermama Terlan nicht so seßhaft, ich führe mit euch beiden.«

Sie hatte ihren Arm um Lissy Truling gelegt, und das Bild ist so herzerfreuend, daß Paul sich ungestüm neben seiner Braut niederläßt: »Ich sei, gewährt mir die Bitte«.

Aber die alte, wacklige Bank scheint anderer Ansicht zu sein, – sie befördert durch energisches Zusammenknacken die drei Glücklichen auf den Boden, ohne sie jedoch gleichzeitig aus allen Himmeln zu stürzen, denn Paul gibt seiner Braut noch auf der Erde einen ordentlichen Verlobungskuß, und auch Frau Kerlchen spricht noch ihre Meinung aus:

»Also in vier Wochen ist Hochzeit,« ehe sie sich aufsammelt.

 

»Du bist eine Gans!«

Die also liebreich Angeredete war Eva von Terlan, und die erzürnte Mutter stand vor ihr und glich eigentlich nur in der Toilette einer vornehmen Dame, denn ungeheurer Ärger, Wut und bittere Enttäuschung hatten die sonst regelmäßigen Züge verzerrt und jede Spur ruhiger Würde von ihr genommen.

»Eine Gans bist du, ich wiederhole es. Sich von einem derartig obskuren Mädchen ausstechen zu lassen. Eine solche Partie hinzugeben! Alter, guter Adel, und dann noch einen angesehenen Namen als Arzt, und eine Praxis, die viele Tausende einbringt!«

»Wenn er mich aber doch nicht liebt,« warf Eva kläglich ein.

»Nicht liebt! Als ob man eine alte Jungfer aus der Rokokozeit sprechen hörte. Wer verlangt denn, daß er dich liebt? Außerdem wäre das vielleicht noch einmal später eingetreten, denn die Rumohrs haben alle so altmodische Ansichten und Gefühle. Das sieht man an Erni, – ich finde, Agnete ist gar nicht besonders liebenswürdig zu ihm, und er trägt sie auf Händen.«

»Ja, – Agnete verdient Erni nicht,« bemerkte Eva in einem Anfall von trotzigem Mut. »Sie ist so sehr zu beneiden um ihren Mann, – um die süßen Kinder, – ich möchte auch so geliebt sein.«

»Wer hat dir so dummes Zeug in den Kopf gesetzt, Eva? Es klingt unendlich albern aus dem Munde eines vierundzwanzigjährigen Mädchens. Aber gleichviel. Du hattest die Chance in den Händen, von einem Rumohr geliebt zu werden, und hast sie abgegeben.«

»Ehen werden im Himmel geschlossen!«

»Eva! Ich hasse Gemeinplätze. Hör' mir zu. Die Sachlage ist so: Unser Vermögen schmilzt langsam, aber sicher zusammen; wir haben in den letzten Jahren über unsern Etat gelebt, und trotzdem hat sich nur eine von euch verheiratet. Ich kann nicht länger abwechselnd in Rumohr und Rothbach Rotbach leben, denn abgesehen davon, daß mir der Landaufenthalt für die Dauer öde, langweilig und abstoßend erscheint, fällt es auch andern unliebsam auf. Wärt ihr beide nicht so unglaublich stumpfsinnig veranlagt (euer unbegreiflicher Vater muß euch das vererbt haben), so wärt ihr schon lange unter der Haube. Jetzt gilt es, mit Reymerstal öfters zusammen zu sein und Herrn von Eulried richtig kennen zu lernen, – diesen Krösus und Sonderling, der beinahe mit niemand verkehrt, als mit Frau Felicitas Rumohr. Ich finde es ungeheuer anmaßend von ihr, ihn niemand sonst zu gönnen.«

»Da ist er doch selbst daran schuld, Mama. Wie oft sollte er schon mit uns zusammen sein, und immer sagte er in letzter Stunde ab.«

»Larifari. Ich habe es mir fest vorgenommen, mich in allernächster Zeit bei ihm einzuladen, sein Mustergut wird ja von Nah und Fern besucht, da fällt es nicht auf.«

»Dann laß mich aber zu Hause, Mama.«

»Unsinn. Deinetwegen geschieht es.«

»Nimm Adelheid mit.«

»Für die habe ich meine besonderen Pläne, – Reymerstal unterhält sich gern mit ihr.«

»O, Mama, – Herr von Reymerstal könnte unser Vater sein, – unser Großvater.«

»Er ist es aber nicht. ›Springinsfelde‹ können wir nicht brauchen – die sehen nach Vermögen und Riesenaussteuer –; wir müssen jemand haben, der auf angestammtem Boden wohnt und reich ist. Denkt, wie oft Erni unserm Botho schon ausgeholfen hat.«

»Wie geschäftsmäßig das alles klingt, Mama. – Furchtbar!«

»Danke Gott, daß du eine wachsame Mutter hast, – wäre ich nicht gewesen, dann hättest du dich mit Bothos Hauslehrer verlobt.«

»Laß doch die alte, traurige Geschichte, Mama, Hilpert ist ja tot.«

»Beinahe hätte ich gesagt: gottlob! Wie du so ruhig sein kannst! Noch jetzt nach Jahren überläuft mich eine Gänsehaut, wenn ich an die Zusammenstellung denke: ›Eva Hilpert, geborene Freiin von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien‹.«

»Ich finde nichts so Fürchterliches daran und denke doch, die Tochter von Tante Felicitas hat auch einen Bürgerlichen genommen, den Doktor Christiani, und mit welcher Liebe und Achtung wird überall von den beiden gesprochen.«

»Die Rumohrs darfst du nicht ins Treffen führen, Eva, – die sind bis obenhin erfüllt mit neuzeitlichen Ideen. Erni auch – leider Gottes! Ich bin überzeugt, er hätte Agnete genommen, auch wenn sie einfach ›Terlan‹ hieß.«

Die Baronin sprach den letzten Satz so tragisch aus, daß Eva hell auflachte.

Aber gleich darauf wurde sie ernst.

»Wie gut, daß er so ist,« sagte sie warm, »Agnete soll es nur auch mehr einsehen und ihn nicht immer mit Launen quälen, und, Mama, Botho muß einmal energisch der Standpunkt klar gemacht werden, – sieh, so kann es doch nicht fortgehen.«

Eva zog aus dem seidenen Pompadour, den sie am Arme trug, einen dicken Brief hervor; er war eingeschrieben gewesen, und das starke, an den Seiten ausgefaserte Papier, trug großspurige, aufdringliche Schriftzüge.

Ihr feines Gesicht, das die überaus zarte Hautfarbe der Hochblonden besaß, rötete sich im hellsten Unmut.

»Sind es wieder Schulden?« fragte Frau von Terlan ängstlich und ergriff hastig den Brief. Ihr im allgemeinen noch recht jugendliches Gesicht sah plötzlich alt und verfallen aus.

»Natürlich, Mama, was sonst? Er will sich wieder an Erni wenden, aber ich meine, er darf es nicht.«

»Warum nicht, Eva, Erni ist reich – –«

»Aber ich hasse es, so zu schmarotzen, wie wir es tun, Mama, kannst du es denn nicht einsehen? Die eine Hälfte des Jahres sind wir bei Erni und Agnete in Rumohr, die andere Hälfte bei Tante Felicitas hier –«

»Eva, du übertreibst!«

»Nun, was daran fehlt, die Zeit bringen wir in Bädern und Sommerfrischen zu, und alles doch nur durch Ernis Güte.«

»Wer das Glück hat, eine Terlan-Olzen heimzuführen –«

»O, Mutter, das hab' ich früher auch gedacht,« brach Eva beinahe leidenschaftlich aus. »Ich hörte ja schon in der Kinderstube nichts anderes. Aber besieh dir doch das Glück einmal genauer, – ich hab's getan in diesen letzten Wochen – seit ich Lissy Truling kenne.«

»Dieses obskure, bürgerliche Mädchen?«

»O nenne sie nicht so, Mama. Ich weiß durch sie, was uns Töchtern aus den sogenannten besten Ständen fehlt. Wir haben viel zu wenig gelernt, Mama.«

»Das sagst du, Eva? Undankbares Mädchen! Habe ich nicht all deinen Schrullen nachgegeben? Hast du nicht sogar dein Lehrerinnenexamen gemacht? Sogar mit einer Briefträgerstochter zusammen?«

»Ja, Mutter, und diese war die gescheiteste von uns allen. Aber wenn ich nun auch wirklich früher etwas mehr gelernt habe, als andere aus unseren Kreisen, so hat doch all das in den letzten Jahren brach gelegen, denn ich durfte ja nicht unterrichten.«

»Das fehlte auch noch!«

»Nun, siehst du, – und was das Schlimmste ist, die Gemütsseite ist bei uns verkümmert, – ach, was hat mich Lissy Truling alles gelehrt, wie sind mir die Augen aufgegangen!«

»Das sind ja nette Enthüllungen, Eva. Und während du über die wunderbaren Lehren dieser Pfarrerstochter nachgrübeltest, schnappte sie dir den Bräutigam fort, – wahrhaftig ein nettes Umsetzen ihrer Lehren in die Tat.«

»Nicht doch, Mama. Ich habe Paul von Rumohr gern gesehen und würde ihn, falls er mich gewählt hätte, wohl auch genommen haben, aus dem einfachen Grunde, weil er ein Ehrenmann ist und es sich so unendlich warm im Schoße der Familie Rumohr und am Herzen von Tante Felicitas ruht; – aber weh tut mir seine Verlobung mit Lissy deshalb nicht, weil ich seit langem darauf vorbereitet war.«

»Es ist die Möglichkeit! Und ich ahnte nichts.«

»Ich habe eben bessere Augen als du, Mama. Aber wir sind von Botho abgekommen. Was wird mit ihm?«

»Der unglückliche, böse, liebe Junge! Natürlich muß ihm geholfen werden, – aber wie?«

»Es sind siebenhundert Mark, Mama, – Läpperschulden, wie er sie nennt, aber – ich habe nichts, und Adelheid hat auch nichts, erst vorige Woche habe ich ihm vierzig Mark geschickt, wahrscheinlich für ein Tänzerinnenbukett.«

Eva lachte bitter auf, und Frau von Terlan führte ihr Taschentuch an die Augen, dann aber schritt letztere mit energischem Zurückwerfen des Kopfes an ihren Schreibtisch, nahm einen Brief und begann zu schreiben, nachdem sie noch Siegel und Petschaft bereit gehalten hatte.

Eva wußte, es gab einen Geldbrief, und die nötige Summe dazu lag in der kleinen, vom Vater ererbten Kassette, – sie würden also auch in diesem Herbst nicht aus eigenen Mitteln nach Nauheim gehn, dessen Heilkraft der Mutter, ihres Herzleidens wegen, verordnet war, sondern würden Schwager Ernis Großmut dafür in Anspruch nehmen.

Eva seufzte tief und schmerzlich auf.

Wie leichtsinnig vergeudete Bruder Botho das Geld, das ihr Vater, der streng denkende, tüchtige Landwirt, zu ererbtem Vermögen erworben und sorglich zusammen gehalten hatte.

Und sie konnte nichts tun, sie war ja nur ein Mädchen und durfte zusehen, wie der Träger des Namens Terlan-Olzen seinen Wechsel, – ach, und so große Summen noch darüber »standesgemäß« vertat.

»So!« sagte die alte Baronin nach einer langen Weile tiefen Stillschweigens und drückte fünf große Siegel auf den umfangreichen Brief, – wie viele solcher waren schon denselben Weg gewandert.

Dann drehte sie sich herum und sah die Augen ihrer Tochter Eva mit unbeschreiblich traurigen Ausdruck auf sich geheftet.

Aber auch Eva sah in nasse Augen, und einen Augenblick hielten sich Mutter und Tochter fest umschlungen.

»Mach mich nicht weich,« sagte Frau von Terlan rauh und löste sich hastig aus der Umarmung, – »es ist eben ein Unglück, arm zu sein.«

Eva schüttelte sacht den Kopf, dann gingen beide hinunter in das große, getäfelte Eßzimmer zum gemeinsamen Abendbrot.

*

Brief des Herrn Kommissionsrats Krone an Frau Kerlchen.

»Teure Freundin!

Meine alte Kathrine hat mir den Schreibtisch schön zurechtgesetzt und Sessel und Tinte und 'n Briefbogen mit samt die Feder beigelegt, und sie leckt auch nachher die Marke, weil sie 'ne umsichtige Person ist.

Und von Ihnen weiß ich dasselbe, geehrteste Freundin und wende mich deshalb auch an Sie mit meinen innerlichen Zuständen. Ich bin nun bald achtzig Jahr, und Sie haben mir das in Ihrer Herzensgüte, die nie alle wird, erlaubt. Nämlich, daß ich meinen Ehrentag höchstselbst bei Ihnen begehe und von Ihnen wie ein wirklicher Vater gehalten werde, wofür ich mich auch immer leibeigen betrachtet habe.

Es gibt einen alten, plattdeutschen Spruch, der heißt:

»Achtzig Johr is 'ne lange Tid,
Wenn man se vör sik liggen süht,
Achtzig Johr is 'ne korte Spann,
Wenn man se sicht von achtern an.«

's kann möglich sein, daß ich nicht ganz rassereines »Plattdütsch« geschrieben habe, wir Leute aus dem Herzen Thüringens lieben aber die Plattdeutschen, seien es nun Mecklenburger oder Schleswig-Holsteiner, mit diesem ganzen Herzen, und ich schreib denn auch diese Sprache so hin, wie mir die Gänsefeder gewachsen ist.

Ich wollt' nun noch sagen, es kommen mir meine achtzig Jahre gar nicht wie 'ne »korte Spann«, sondern wie 'n höllisch langes Ende vor, wenn ich so dran denk', was ich alles in diese Zeit mit meine leiblichen Augen zu sehen gekriegt habe. Und denn noch das geistige Auge, was ohne Brille die tollsten Dinge merkt, und denn noch das Gehör und besonders mit Respekt zu sagen der Geruch.

Ich hab' mich viel mit Jägersche Theorie beschäftigt und finde immer wieder wie dreimal recht der Mann hat, weil ich die meisten Menschen nicht riechen kann. Aber sie können nichts davor, und man weiß auch nicht, woher es kommt.

Liebe Frau Kerlchenbaronin, ich bin wohl etwas auf Abschweifung begriffen, das machen so meine Jahre und die philosophischen Anwandlungen, aber eigentlich wollte ich ganz bei Ihrer herrlichen Person bleiben und dero hochwerter Familie und Ihnen kund tun, daß sich in hochderselben ein elender Windhund befindet.

Nämlich dieser Leutnant von Terlan.

Ich tue ihm nicht den Gefallen ihn Baron zu nennen, obgleich seine Visitenkarte bratschebreit vor mir liegt und es mir unter die Nase reiben will, daß er Freiherr von Terlan-Olzen ist.

Ich nehme es ihm wahrhaftig nicht übel, daß er kein Geld hat, Gott bewahre, im Gegenteil.

Ein armer Leutnant mit Kaiserszulage, der seine Pflicht tut, ist für mich ein herzerfreuender Anblick, aber der Obigte tut sie eben nicht, und ich kann ihn, um mit meinem Freunde Jäger zu sprechen, – nicht riechen.

Sehen Sie, liebste Freundin, ich hab' ihm während der Manöverzeit im vorigen Jahre seine Schulden bezahlt, na, das hat mir Freude gemacht, denn es waren teilweise Schneiderschulden, und ein junger Mann muß was auf Proprität halten, verbunden mit Seife und Ottokolonch, auch 'n paar dammliche Posten waren dabei mit Bukettern und 'n goldenen Armband. Aber die Zeiten haben sich ja so geändert, früher da ging man Feierabend aufs Feld und suchte vier Stunden angestrengt mit Glupschaugen nach 'n vierblättrigen Kleeblatt, und schickte es seiner Angebetenen und log, man hätte es »zufällig« gefunden, denn sonst bringt's kein Glück.

Und so was wurde im Busen aufbewahrt, und noch die Großmutter zeigte den Enkeln ein Häufchen Staub im Medaillon und sagte: »Seht, das war mein erstes Präsent von Ihm. «

Jetzt schickt man 'n Wagenrad ins Haus von lauter Blumen, die's eigentlich gar nicht in der Welt gibt und außerdem im November Veilchen und an Weihnachten 'rum Hyazinthen und Rosen, daß man meinen könnt, unser Herrgott hätte einen Sommer über geschlafen und die Jahreszeiten verwechselt.

Unsereins hat wirklich nicht mehr viel Freude an so 'ner verrückten Welt.

Um aber wieder auf besagten Hammel zu kommen, so war's mir also 'ne Freude, daß dieser schmucke Leutnant Vertrauen zu mir hatte, als ältesten Freund der Familie Rumohr-Schlieden und mein Geld annahm. Aber nun kommt er vor einigen Tagen und schickt mir seine tellergroße Visitenkarte 'rein und stürmt hinterher und ist in Zivil, worin er recht wie'n Säugling aussieht, und das Messer steht ihm an dem Hals oder baumelt über ihm wie beim seligen Damokles. Gespielt hatte er, der – der – Leutnant, oder wie er sich ausdrückte: »'n Büschen geschöht«.

Aber da hat er den alten Krone kennen gelernt.

Zu Beefsteak hab' ich ihn zermürbelt, aber natürlich ist er nicht genießbar, denn aus Kalbfleisch gibt's nur labbrige Schnitzel, wobei noch die Zitrone der Vernunft fehlt.

Aber geholfen hab' ich ihm natürlich noch einmal, weil er der Bruder von der Frau unseres braven, ehrenfesten Erni ist, den er aus Schamgefühl nicht noch mal angehen wollte.

Aber nun ist's zu Ende, liebe Kerlchenbaronin, das habe ich ihm auch gesagt.

Ein Spieler steht für mich an der allerletzten Reihe der allerletzten Lumpen.

Eins hab' ich nicht getan, ich hab' sein Ehrenwort nicht verlangt.

Denn das ist die größte Härte, die bitterste Schuld, die man so 'n blutjungen Kerl antun kann.

Meine alte Kathrine hat ihm einen mordsstarken Kaffee gebraut, von meiner altbewährten Karlsbader Mischung, denn er schnatterte vor innerlichen Frost und Aufregung, und dann hab' ich ihm »adjö« gesagt, aber nicht »auf Wiedersehn«.

Es kann ja nun sein, er bessert sich, denn er stand ganz voll Reue und zerknirscht vor dem alten Schlachter Krone, aber es kann auch nicht sein, denn ich kann mir nicht viel Gescheites vermuten von 'n jungen Mann, wo sein Stehkragen dreimal so hoch ist, wie seine Stirn.

Und wenn ich nun des Pudels Kern betrachte, möchte ich bitten, auf seine Frau Mutter einzuwirken, daß sie dem Musjö nichts mehr außer der Zeit zusteckt, wohl aber erlaubt, daß ich, als ältester Freund, die Zulage etwas höher mache.

Ich will da keinen Dank für, und um Gottes willen, halten Sie mir die beiden Zwillinge vom Leibe, die ich keinesfalls heiraten werde, auch nicht zur Feier meines achtzigsten Geburtstages.

Ich tue alles nur Ihretwegen, teures Frau Kerlchen, und dann auch noch von wegen des Geldes, was ich doch nun mal habe.

Und die Stadtväter von Schwarzhausen machen oft sehr viel dummes Zeug, daß ich noch im Jenseits meinen Ärger haben werde, wie sie meine Stiftungen vermöbeln, wenn ich tot bin.

Schwarzhausen hätte auch nur höchstens hunderttausend Mark gekriegt, nicht die Bohne mehr, wenn die kleine Felicitas Christiani, mein Patenkind leben geblieben wäre.

Das sollte alles haben, das kleine Kerlchen, I h r Ebenbild.

Ich hab' geglaubt, unser Herrgott hätte meinen Nevö Bähr und seine Frau und sein Kind extra deshalb sterben lassen, damit der alte Krone erkennen täte, daß seine Heimat und Freundschaft allein bei den Rumohrs ist.

Aber wenn der da oben auch das kleine Kerlchen in der indischen Wildnis verbrennen läßt, dann hatte doch die ganze Typhusseuche in Schwarzhausen weiter keinen Zweck.

Na, ich will stille sein und nicht mäkeln, – vielleicht wenn ich mal im Jenseits ankomme, läßt mich der alte Herr ein bißchen mitregieren, – not täte es sehr.

Und nun besehen Sie sich mal mit Andacht meinen langen Brief, gelle da merkt man's, wie man im Alter schwatzhaft wird.

Bewahren Sie alles in Ihrem treuen Herzen und versetzen Sie nur einiges daraus der alten Gnädigen.

Mein treues Herz freut sich auf das Wiedersehen in Rotbach, und daß Sie meiner alten Kathrine erlauben, mitzukommen, macht sie ganz wirblicht.

Sie packt jetzt schon, damit ja nichts vergessen wird, und alles, was der Mensch unbedingt zu seines Lebens Nahrung und Notdurft braucht, liegt in freundlicher Reihenfolge da, von den warmen Unterhosen an bis zum Rizinusöl.

Womit ich in ungeheurer Wertschätzung verbleibe

als Ihr treuer Krone.«

*

Aus Frau Kerlchens Tagebuch.

Wie oft habe ich schon in meinem Leben gesagt: »Wenn ich euch nicht hätte, vielliebe Blätter in meinem Tagebuche! Welch gute Freunde seid ihr mir allezeit gewesen!«

Und auch jetzt schreibe ich wieder tage- und – nächtelang, denn was ich erlebt, ist köstlich, ist heilig, ist groß, ach und beinahe übermächtig für ein armes Menschenherz.

Herrgott, du nahmst mir viel, – nahmst mir auch meinen Fritz, mein ein und alles, und gibst mir doch jetzt wieder mit reicher, voller Hand und schenkst mir – auch das Lachen wieder.

Ja, ich kann wieder lachen, spüre wieder den warmen Quell im Herzen, der aufspringt beim Erblicken eines lieben Gesichtchens, und ich fühle nicht nur Mit leid bei allem Trüben, das meine Umwelt durchleben muß, nein, in mir blüht und atmet auch wieder Mit freude, diese viel köstlichere Gottesgabe, die mir, ach so lange, abhanden gekommen war.

Wie soll ich nun sorgfältig von Anfang an erzählen, wenn die Gedanken springen und hüpfen und der Zeit voraus eilen?!

Alte, übermütige, frohe Kerlchengedanken, die jahrelang schlummerten unter tiefem Leid und Bitternissen?

Geduldet euch, ihr losen Gesellen, – in die letzten Seiten eines Familienbuches paßt ihr nicht hinein.

 

Die Hochzeit meines lieben Paul war eben vorbei; ich hatte sie in E. mitgemacht, im Witwerhause unsers Pfarrers Truling.

Ganz still und einfach war sie, großes Trara entspricht weder Pauls noch Lissys Anschauungen. Wir hatten ein feines Frühstück im Pfarrhause, nachdem wir eine köstliche Traurede von Vater Truling gehört, dann reiste das junge Paar nach Berlin, leuchtend von innerer Glückseligkeit, und ich fuhr zurück nach Rotbach, mit dem schönen Gefühl im Herzen, eine liebe Tochter gewonnen zu haben, in deren treuer Liebe und Fürsorge mein Sohn einer schönen Zukunft entgegen geht.

Auf der Rückreise machte ich in Schwarzhausen »Halt«, denn ich wollte meinen Freund Krone mit nach Rotbach nehmen, da die alte Kathrine womöglich noch »püttcheriger« (wie sie in Holstein sagen) ist, als der Achtzigjährige selbst.

O, diese Reise!

Ich werde daran denken, so lange ich atme.

Wir fuhren erster Klasse, und ich bestand darauf, Kathrine mit hereinzunehmen, die sich aber unverantwortlich dämlich benahm.

Da sie in ihrem äußerst einfachen Lebenslauf nur einmal gereist war, und zwar vierter Güte, von Schwarzhausen nach Erfurt, so getraute sie sich nicht, sich auf die roten Polster zu setzen, und stand während der langen Reise trotz unseres Zuredens, bis ihre alten Beinchen einknickten und sie sich auf ihrem Korb niederließ, dessen Mitnahme schon energischen Protest von seiten des Schaffners hervorgerufen hatte.

Krone selbst stieg auf jeder Station aus, teils um sich ins Beschwerdebuch einzutragen, teils um den Stationsvorstand zu versichern, daß ich nicht seine Frau sei, auch nicht seine zukünftige, da er durchaus fest entschlossen sei, ledig zu bleiben. Natürlich blieb er auch sitzen, während wir weiter fuhren, um dann in Dietendorf auf ihn zu warten.

Der gute Krone nahm aber einen Schnellzug, der nicht in Dietendorf hielt, und so sauste wieder er munter an uns vorbei. In Arnstadt bekam wieder die alte Kathrine das »fliegende Zittern«, wie sie behauptete, jedenfalls ein recht abnormer Zustand, denn er war schauderhaft für den Zuschauer. Und trotz des »Fliegens« beharrte sie bockbeinig auf dem Entschluß, ihren Herrn zu erwarten; verfehlte ihn natürlich auch, denn er war längst vorbeigeflitzt, und so kamen wir drei zu gänzlich verschiedenen Tages- und Nachtzeiten in Rotbach an und hatten zu der kleinen Reise zehn Stunden gebraucht.

Mein Lebtag nicht wieder!

Und nun Hotel Rumohr!

Wir im Herrenhause vertragen uns ja noch leidlich gut (wer hätte in meiner krakeelsüchtigen Jugend gedacht, daß ich im Alter als Friedensengel umherschweben würde), Freund Krone und Mama Terlan sind sogar Busenfreunde, wenn man bei der entsetzlich hageren Baronin diese Bezeichnung überhaupt anwenden kann.

Aber die Dienstboten!

»Da unten ist's fürchterlich, und der Mensch versuche die Götter nicht. «

Ich habe sie aber versucht und bin haarscharf mit dem Leben davon gekommen, da sich die Stuben-Dora bereits mit der Feuerschaufel gegen die alte Agathe, Erichs Haushälterin, verteidigte, und ich mich mutig dazwischenwarf.

Ja, mein herzgeliebter Erich-Bruder ist auch da, mit Agathe, die mir nicht zutraut, ihren angebetenen Herrn Oberst ordentlich zu verpflegen.

Und nun stelle man sich die Küchenrevolution vor.

Die bildschöne Luise, das Kindermädchen von Harald und Elsa, reiste gottlob am Tage darauf ab. Gottlob sage ich, trotzdem ich Harry und Elslein samt dem süßen Werner so ungern weggab, aber es wäre noch zu blutigen Köpfen gekommen, wenn das Mädel länger geblieben wäre.

Mit einem Bräutigam aus der Ferne kam sie her und mit einem Bräutigam aus der Nähe zog sie wieder ab, und daß dieser Bräutigam unser zweiter Kutscher ist, der eigentlich meine Stuben-Dora heiraten wollte, erschwert die Sache sehr. Aber nun ist die Luft rein, Dora hat ihre Tränen getrocknet und beide rotgeweinten Augen auf den neuen Landbriefträger geworfen, der es vermutlich nun in kalten Wintertagen sehr behaglich in unserer Küche haben wird.

Agathe und Kathrine sind vorläufig noch Todfeinde, aber, dem Himmel sei Dank, – stumm.

Agathe hat sich in ihrer langjährigen Stellung bei einem strammen Militär, wie Erich einer ist, etwas Forsches, Soldatenhaftes angewöhnt, und schon der Umstand, daß beim »Herrn Rat« alles xmal überlegt wird, ehe ein Entschluß herauskommt, ist ihr ein Greuel.

Wäre das Eiserne Kreuz nicht, das der »Herr Rat« selbst auf dem Nachthemd nicht ablegt, so würde sie ihn gar nicht beachten, Zivilisten sind ihr überhaupt unverständlich, wenn sie nicht vorher Soldaten waren.

Aber das Eiserne Kreuz, das macht's, vor dem hat sie Respekt, die alte Feldwebelswitwe. Auch dieser Titel versetzt sie schon in eine höhere Stellung Katharinen gegenüber, denn diese ist Jungfrau, allerdings in höchsten Semestern.

Und Agathe kennt die Männer aus dem ff, wie sie täglich sagt, und Kathrine hat nur einen gekannt, »mit dem sie ging«, und der dann an der Schwindsucht starb.

Wenn man nun bedenkt, was auf solch' großem Gute für Dienstboten nötig sind, und wenn man sich zu diesen nötigen noch Agathe und Kathrine hinzudenkt, dann hat man ungefähr einen Schimmer von dem, was mir allabendlich an Streit, Tränen und Mißverständnissen zugetragen wird.

Auch Erni ist jetzt hier, mein Erni, mein Ältester, ach, ein Augentrost und rechtes Labsal für mich, denn seine Frau Agnete ist so wenig zutunlich, will immer unterhalten sein, ohne sich selbst auch nur im geringsten zu verausgaben oder anzustrengen, aber wenn ihr Erni da ist, hat sie doch etwas Ablenkung, sie liebt ihn ja auch treu und anhänglich, nur so auf ihre Art, die, dank ihrer Mutter, allerdings etwas arg wunderlich ist.

Meinem Erich-Bruder habe ich das kleine Häuschen am äußersten Parkende eingerichtet. »Goethes Gartenhaus« heißt es seit undenklichen Zeiten, denn es erinnert wirklich sehr an das traute Fleckchen im Weimarschen Schloßgarten, wenn auch der Altmeister und Götterliebling nie darinnen geweilt hat.

In »Goethes Gartenhaus« haust nun mein Erich mit Agathe, und nicht ein Hauch von Unfrieden dringt in seine stille Klause, auch nicht ein Duft von thüringischer Küche, denn Agathe ist Ostpreußin und kocht ihm »Kenigsbarger Flack«, »Ostpreißische Klopse« und »Pastinaken«.

Meinem Erich-Bruder bekommt es, und das ist die Hauptsache.

Ein triftiger Grund für Erichs Abgeschiedenheit ist der: – Hans-Hugo Eulried kommt so ungern in unsern Besuchsschwarm herein, aber die beiden stehen sich sehr, sehr nahe. Erich liebt den jüngeren Mann herzlich, und Hans-Hugo blickt in hoher Verehrung zu meinem Bruder empor.

Da wurde denn früher öfters ein strammer Ritt von Eulried herüber gemacht, schon vor vielen Jahren, als Schloß und Gut Eulried noch Wildnis waren. Dann hielt noch in später Abendstunde Hans-Hugos Rappe vor dem Gartenhaus, und sein Herr sprang ab, um sich im gemütlichen Heim des älteren Freundes ein paar Stunden wohl sein zu lassen.

Da haben Erich und ich fleißig mitgeraten und mitgeholfen, ach, und mein Fritz, der liebte das stille, verwunschene Schlößchen Eulried so, und deshalb hab' ich es auch so lieb.

In den letzten Jahren war es viel ohne seinen Herrn, denn Hans-Hugo weilte im Ausland, meist mit Erich zusammen und die köstlichen »Reisebilder« entstanden dort.

Das war eine einsame Zeit für mich.

Und auch dieses Jahr habe ich Hans-Hugo kaum gesehen, er war nach Indien gegangen, – nach Indien – – – – – – –

Und vor wenigen Tagen, – wir saßen alle unten im Eßzimmer, nur Erich hatte sich schon in sein Gartenhaus zurückgezogen, da kam ein reitender Bote von Eulried und brachte mir einen langen – langen Brief.

Als ich ihn gelesen, da war mir's, als spränge etwas in mir auf, als wäre ich wieder jung und dürfe mich endlich wieder freuen an Gottes schöner Welt. Hinauf lief ich in mein eigenes Zimmer und dort – ja, da stand ich, heiße Freudentränen weinend vor meines toten Gatten großem, schönem Bilde, das zwischen denen meiner trauten Eltern hängt, und ich rief, schluchzte, lachte: »Väterchen, Fritz, Mutti, ich hab' es wieder, es lebt, Hans-Hugo hat es mir gebracht.«

Und dann kam zum ersten Male wieder über mich, nach langen zweifel- und leidvollen Jahren die Erkenntnis von Gottes unerforschlicher Vatergüte.

Was ich ihnen dann unten sagte, den andern, – ich weiß es gar nicht mehr, wunderlich genug mag's ihnen geklungen haben, daß ich in Nacht und Nebel nach Eulried fahren wolle, weil Hans-Hugo heute heimgekehrt sei.

Bümi Schirmer, die unerschrockene Geheimrätin, übernahm es, Mama Terlan-Olzen aus dem Hause Krien davon zu überzeugen, daß ich tatsächlich unbedingt notwendig in Eulried sei.

Ich tat mir nun meinen Regenulster um, setzte eine Mütze auf und fuhr mich selbst hin, einen Diener nahm ich zum Schutze mit, sonst wollte ich niemand haben.

Die sieben Kilometer Entfernung erschienen mir wie siebzig, trotzdem die Gäule nur so dahinflogen auf der herrlich gebauten und vorzüglich gehaltenen Landstraße.

Dann hielt der Wagen, Hans-Hugo hob mich heraus, ich sah in sein tiefgebräuntes Gesicht, in die guten, braunen Augen und drückte seine Hand.

Sprechen konnten wir beide nicht.

Fast feierlich öffnete er eine hohe Flügeltür. Eine Stehlampe verbreitete, geschützt durch roten Gazeschleier, ein magisches Licht.

Aus einem Ruhebett schlief ein Kind, nein, ein junges Mädchen, mit knabenhaft kurz verstutztem Lockenhaar und sonnengebräuntem Gesicht.

Die schwarzen Wimpern lagen über den Augen.

»Rose!« sagte ich leise, und Hans-Hugo drückte schmerzhaft heftig meine Hand.

»Ist es ihr nicht wie aus den Augen geschnitten?« fragte er hastig.

Ich nickte. Mein Herz war so übervoll.

Gleichzeitig erschrak ich über ein paar schwarze Augen, die mich finster und doch voll Weh anstarrten; sie gehörten einer Frau in wunderlich einfachem Gewande, deren braunes Rassegesicht blaß war von Tränen, Aufregung und schlaflosen Nächten.

»Marie, steh' auf,« sagte Hans-Hugo Eulried leise, »dies ist die Großmutter, zu der du willst.«

Die Angeredete küßte unter heißen Tränen meine Hände.

»O, Missis Rumohr,« schluchzte sie – »grüßen soll ich, – viel tausendmal grüßen von Franz Körbs.«

Sie war so erschöpft, daß sie nicht weiter sprechen konnte, und ich brachte sie, so rasch es mir möglich war, zu Bett, wo sie sofort einschlief.

Dann hockte ich auf niederem Sesselchen vor dem Ruhebett, auf dem das Kerlchen schlief, mein kleines, geliebtes Enkelkind, das Vermächtnis meiner unvergessenen Rose.

Hans-Hugo Eulried stand neben mir, oder er ging mit schweren Schritten durch das große, dunkelgetäfelte Zimmer und erzählte mir ununterbrochen, wie er das Kind gefunden.

Auf der Missionsstation war es gewesen, – so weit war der kranke Franz Körbs mit Felicitas gekommen, und hier sollte die Pflegerin Maria bleiben, um als Krankenschwester Verwendung zu finden.

Aber Franz Körbs starb, und der Missionar Pfarrer Bünau wollte mich benachrichtigen von dem unbegreiflichen Wunder, daß mein Kindeskind am Leben sei.

Da kam Eulried, der Gute, der nie Rastende, der immer und auf allen seinen Reisen geforscht hatte, nach Briefen, nach Hinterlassenschaften meiner unglücklichen Kinder Johannes und Rose.

Was hatte er nicht alles zu erzählen! Was lag alles an Schmerzen, an Kämpfen zwischen dem Tag, da er das Kerlchen fand, und der Stunde, da es schlafend vor mir auf dem Ruhebett im alten Schlosse Eulried lag.

Es hatte nicht mitkommen wollen, das wilde, scheue Ding, das mit ganzer Kinderseele an dem Beschützer Franz Körbs hing.

Franz Körbs, armer, verachteter Junge, wie hast du dich der Meinen angenommen!

Wie hast du ihnen treu gedient, Jahre hindurch sie behütet, sie gepflegt in großer, herrlicher Selbstverleugnung!

Und dann auf deinen Armen das Kind aus den Flammen getragen, um es mir zu erhalten, mein Kleinod, das Kind meines Kindes.

Hans-Hugo erzählte mit vor Erregung heiserer Stimme, einer Erregung, die ich an dem stillen, andern so kalt scheinenden Menschen nur selten gesehen.

Auch Maria hatte das heiße Land nicht verlassen wollen und auf den Knien darum gefleht, mit der »Kleinen« auf der Missionsstation bleiben zu dürfen.

Erst den inständigen Bitten Eulrieds war es gelungen, Maria zu bewegen, mitzukommen.

Er hatte ihr von mir erzählt, hatte ihr mit warmen Worten das Heim geschildert, das Felicitas erwarte, und ihr fest versprochen, daß sie, Maria, auf seine Kosten zurückkehren dürfe, wenn Deutschland und die neuen Verhältnisse ihr nicht zusagen sollten, nur möchte sie erst das Kerlchen zu mir bringen, unter seinem und ihrem Schutz.

Da hatte sie eingewilligt.

Aber das Kerlchen!

Hans-Hugo sprach mit einer tiefen Zornesfalte auf der Stirn, daß das Mädchen ihm die Reise geradezu unverantwortlich erschwert habe.

Er habe noch nie bei einem so jungen Geschöpf eine solche Willenskraft und Energie gesehen.

Es habe sich nicht von Franz Körbs trennen wollen, und man habe ihm die Tür versperren müssen zu der Leiche.

Nach dem ersten wilden Schmerzausbruch sei dann ein finsteres Schweigen eingetreten, und der Aufforderung, Maria beim Packen behilflich zu sein und mit ihr und ihm die Reise in die Heimat ihrer Eltern anzutreten, habe es ein wütendes: »Nein« entgegengesetzt.

Bis Eulried ihm befahl, streng befahl.

Da hätte ihn das Kerlchen scheu und blaß angesehen und sei ihm gefolgt. –

Aber schlimm muß die lange Reise gewesen sein, ich glaube es Hans-Hugo aufs Wort.

In Kerlchen scheint Rumohr-Schlieden-Christiani-Dickkopf in schönster Vereinigung beisammen zu sein.

Als mich Eulried rufen ließ, waren sie eben eingetroffen – er selbst sah übernächtig, mager und hohläugig aus, und Kerlchen hatte sich während unserer langen Unterredung nicht gerührt, sondern totenähnlich geschlafen.

Nur einmal warf es sich ungestüm zur Seite, und da verließ Hans-Hugo das Zimmer, um nicht dabei zu sein, wenn das Mädchen erwache.

So saß ich still und allein vor ihm, und ein Glücksgefühl ohnegleichen zog durch mein Herz.

Wieder mein, mein Enkelkind, mein erstes, Roses Kerlchen.

Dann nahten sich leise, schlürfende Schritte, und Maria stand neben mir mit der geflüsterten Versicherung, vollständig erfrischt und ausgeruht zu sein, »das Herzenskind« solle nicht aufwachen, ohne ein Gesicht aus der Heimat bei sich zu sehen.

»Heimat« nannte die Alte jenes schreckliche Land, das mir mein Kind genommen, und ich war eine Fremde für jenes süß schlummernde Wesen, dem beinahe jeder Schlag meines Herzens gehörte.

Erregt schritt ich auf und ab und hörte zu, wie Maria mir in ihrem seltsamen Deutsch von dem wunderbaren Leben erzählte, das sie geführt, und meine Tränen strömten unaufhaltsam bei der Schilderung des Leidens und des Todes meiner Kinder, der beiden treuen Pioniere einer guten Sache.

Mir war's, als würden sie mir noch einmal genommen.

Aber im Grunde hatte ich schon damals das gleiche durch gemacht im Geiste, als mir mein junges Kind vertraute, daß es sich Johannes Christiani verlobt.

Auch einen Brief überreichte mir Maria, er war von dem ersten Geistlichen jener weltfremden Station geschrieben, die mir auch den Tod meiner Kinder damals meldete.

Es klang eine tiefe Bestürzung durch die Zeilen, daß man mir seinerzeit mit so fester Bestimmtheit geschrieben, auch das kleine Mädchen sei ums Leben gekommen, – aber der ausgesetzte Posten, den Dr. Christiani sich selbst gewählt, sei durch die furchtbare Seuche vollständig abgesperrt gewesen, und spätere Nachforschungen wären vollständig ergebnislos verlaufen, Franz Körbs hätte sich eben mit dem Kinde weit ins Innere gerettet, wohin die Krankheit nicht drang.

Ich las und las, und wieder stieg heißer Dank in mir empor, daß ich vor eine vollendete Tatsache gestellt worden war.

Die Kunde, mein Enkelchen sei verschwunden und der Aufenthalt völlig unbekannt, hätte ich wohl kaum zu ertragen vermocht.

Als ich den Brief sinken ließ, sah ich in zwei leuchtend blaue Augen, echte Schlieden-Augen, die aber unter dicht und finster gefalteten dunklen Brauen auf mich schauten.

O, wie ist doch die Wirklichkeit immer so anders, als die Romanwelt!

Ein Dichter würde mein Enkelchen sofort an mein Herz haben fliegen lassen, und es hätte »Großmutter« gestammelt und sich von mir halbtot küssen lassen.

Hier war alles anders, und eben weil die Wirklichkeit so hart und erbarmungslos ist, hatte ich viele, viele Zeit, mich zu besinnen, und kann jetzt alles sachlich und überlegt niederschreiben. Als ich in die Blauaugen sah, die mich so eigen anmuteten, als sei es ein Spiegel, der im Kinderzimmer in unserer alten Villa in Schwarzhausen hing, in dem ich mich selbst erblickte, ließ ich den Brief auf den Boden gleiten und wartete in atemloser Spannung, was nun geschehen würde. Daß mir diese scheue Wildkatze nicht um den Hals fliegen würde, wußte ich auf den ersten Blick.

Das war keine Christiani und keine Rumohr, – das war eine echte Schlieden.

Ich verwandte keinen Blick von Kerlchen, und es schien mich ebenso auf Herz und Nieren zu prüfen.

Bis es sich plötzlich umsah in dem fremden, großen, durch den rosa Lampenschleier eigenartig beleuchteten Raum und auf einmal als hilfloses Kleinchen da saß, das in schmerzlichen Herzenslauten hervorstieß:

»Väterchen und Muusch sind tot, Franz Körbs auch.«

O diese altbekannten Namen und das reine, köstliche Deutsch, das ich da hörte, – es stieg mir heiß im Hals herauf, und meine Augen brannten.

Aber ich nahm Kerlchen nicht an mein Herz, ich wendete mich stumm zum Fenster, wo ich meinen Kopf an die Scheiben lehnte.

Von selbst sollte es zu mir kommen, das scheue Geschöpf – mußte es kommen.

Und es kam.

Wie hingeweht stand die leichte Gestalt neben mir, und zwei kleine braune, sehnige Hände umspannten meinen Arm.

»Bist du meine Großmuusch?« fragte Kerlchen mit halberstickter Stimme. »Ich will bei dir bleiben, Großmuusch, nimm mich mit dir.«

Ich nickte. Sprechen konnte ich nicht, aber ich zog Kerlchen näher an mich heran – – glücklich war ich – ohne Maßen glücklich. – Und ich bin es noch, werde es täglich mehr.

Die kleinen Mißhelligkeiten im täglichen Leben dünken mich keine Schatten mehr, – ich habe ja Rosens Kind, größerer Ärger im Getriebe des Gutes verliert seine Heftigkeit, – Kerlchens Lächeln, das meiner Rose gleicht, scheucht ihn fort, alles was ich noch zu durchleben haben werde, ehe ich für immer ausruhen darf an der Seite meines Einziggeliebten, ist verklärt durch das Leben und Atmen und Wiederfinden meines ersten Enkelkindes, meines Kerlchens.

Gott im Himmel hab' Dank, heißen Dank für dieses Gnadengeschenk!

 

Spät in der Nacht kamen wir nach Rotbach zurück.

Diesmal fuhr uns Hans-Hugo Eulried, und er tat mir so unendlich leid, denn das Kind hatte entschieden nicht einen Funken Verständnis für das, was er für uns, für Kerlchen selbst, getan.

Finster und schweigend saß es da, in einen schwarzen Mantel gewickelt, und hatte eine schreckliche Wollmütze tief über die Ohren und den ganzen Lockenkopf gezogen.

Als wir an »Goethes Gartenhaus« vorbeifuhren, faßte ich Kerlchens Hand und sagte: »Hier wohnt mein einziger Bruder, der dich sehr lieb haben wird,« aber das Kind rührte sich nicht, und ich konnte in der Dunkelheit nicht sehen, ob es überhaupt nach dem Häuschen blickte. Ein gedämpftes Licht schimmerte noch in seinem Arbeitszimmer, Hans-Hugo grüßte mit dem Peitschenstiel hinüber, und auch ich hob leicht die Hand zum Gruße.

In ziemlich niedergedrückter Stimmung kam ich nach Rotbach.

Das ganze Herrenhaus schien im tiefsten Schlummer zu liegen, aber auf der Freitreppe stand Erni mit unserm alten Kutscher und meiner Jungfer Dora, die mit etwas scheuen Blicken der braunen Maria aus dem Wagen half.

Gleich hinterher sprang Kerlchen mit einem Riesensatz von oben hinunter und versteckte sich hinter Marias Mantel, als Erni die Laterne etwas erhob, um es zu beleuchten.

Auch meine Vorstellung: »Dies ist Onkel Erni, der älteste Bruder deiner Mutter, sieh', er ist aufgeblieben, um dich in Tannenruh willkommen zu heißen,« machte weiter keinen Eindruck, und da sich inzwischen Maria und Dora in Bewegung gesetzt hatten, um ins Haus hineinzugehen, rannte und sprang Kerlchen mit einem wilden Satz hinterher, ohne auch nur einmal ihre Hand in die Ernis gelegt oder ein Wort des Dankes für Hans-Hugo Eulried gehabt zu haben. Der begrüßte sich freundlichst mit Erni.

Die alte Freundschaft zwischen diesen beiden Edelmenschen hatte sich bewährt, gefestigt und vertieft, es war immer eine hohe Freude, ihnen zuzuschauen und zuzuhören, wenn sie einmal wieder beisammen waren.

Ich ergriff Abschied nehmend Hans-Hugos Hand und schüttelte sie energisch nach alter Kerlchenweise.

Richtig mit Worten danken konnte ich nicht, dazu war ich zu bewegt und – zu müde.

Aber Hans-Hugo und ich verstanden uns ohnedem.

Dann ging ich zu Kerlchen und Maria, brachte beide, die sich durchaus nicht trennen wollten, in einem Zimmer zur Ruhe, und als ich mich über Kerlchen neigte, nachdem es sehr lieblich ein Kindergebet gesprochen, raunte es mir wieder trotzig zu:

»Er hat mich in seiner Stube hängen, aber das soll er nicht.«

Doch als ich fragte, was es damit meine, legte es sich auf die andere Seite und schloß die Augen.

Da suchte auch ich die Ruhe auf, fand sie aber nicht. Immer, wenn ich nach kurzem Schlaf erwachte, sah ich aus dem Fremdenzimmer, darin Erni wohnte, das Licht schimmern und wußte nun, daß die beiden Freunde immer noch zusammen waren, um über das seltsame Mädchen zu beraten.

 

»Wo ist Kerlchen?«

Diese Frage ertönte in Rotbach, ungefähr in Bausch und Bogen berechnet, sechsunddreißigmal täglich.

Das Oberhaupt der Familie, Erni von Rumohr, hatte schon in sehr berechtigtem Ärger den Vorschlag gemacht, man solle einmal einen ganzen Tag lang nicht fragen, so sei man den ewigen Ärger und die Angst um dieses wunderbare, quecksilberige Lebewesen los.

Er hatte aber nicht mit einem Großmutterherzen und auch nicht mit Freund Krones weichem Gemüt gerechnet, denn, als seine Parole ausgegeben und infolgedessen das Kerlchen einen ganzen Tag lang nicht sichtbar war, hing Großmuusch nur noch »in den Gräten«, und Rat Krone glich einem Schemen, so hatte die Sorge um »das Wurm« die beiden zugerichtet.

Und als es dann spät am Abend aus dem Walde kam, schmutzig, zerrissen, durchgeregnet, erschöpft, denn es war mit einem jungen Reh beladen, welches von einem Unhold waidwund geschossen war, hoben die beiden das eingeführte Verfahren sofort auf, und seitdem stand die Frage: »Wo ist Kerlchen?« wieder auf der Tagesordnung.

Wenn die junge Felicitas genau nach dem Sprichwort »Viel Feind, viel Ehr«' beurteilt werden mußte, so könnte man es sicher das ehrenreichste Geschöpf in der ganzen Gegend bezeichnen, aber es tat niemand dergleichen, und Kerlchen selbst kannte das Sprichwort nicht.

Was kannte das Mädel überhaupt von zivilisierten Dingen?

Auch diese letzte Frage wurde täglich aufgeworfen, und man fahndete nach einer Erzieherin, die dem »unbeschreiblichen Mädchen« die elementarsten Grundsätze einer deutschen Jungfrau beibringen sollte.

Aber dem widersetzten sich Kerlchen senior und Kerlchen junior.

Großmuusch erklärte, Kerlchen selbst zu einem braven Menschenkinde erziehen zu wollen, nur solle man ihr nicht immer drein reden, da schon seit Menschengedenken zu viele Köche den Brei verdarben, und Kerlchen machte ganz hocherstaunte Augen, als man von einer »Gouvernante« sprach, die sich rasch in finstere, trotzige verwandelten beim Anhören der Erklärung, wozu eine solche nötig sei.

Schließlich meinte selbst Onkel Erni, er stehe von seinem Vorschlag ab, denn als Mitglied des Tierschutzvereins könne er erst recht nicht dulden, daß ein Mensch auf dem Rumohrschen Stammgute zu Tode gemartert werde.

»Kerlchen wird verwöhnt, und die Großmama bindet sich eine Rute auf,« so hieß es beinahe überall, und Frau Felicitas hörte es, teils ins Gesicht, teils durch Zuträgereien, und sie lachte dazu.

Sie hatte auch das Recht, zu lachen, denn die kurzsichtigen Leute sahen nicht, wie sie das Mädchen erzog, wie sie die wilden Schößlinge sorgfältig beschnitt, – sehr, sehr sorgfältig, damit Gutes und Schönes an dem lieben Geschöpf nicht auch der Schere anheimfiel.

Und keiner merkte es so recht, daß das Kerlchen der Großmutter doch aufs Wort gehorchte, freilich sah man deutlich den Kampf auf dem offenen Antlitz, aber die Großmuusch blieb doch Siegerin, und Kerlchen auch, – über sich selbst.

Und keiner kannte die köstlichen Stunden, in denen die zwei zusammensaßen, – Großmuusch auf dem altmodischen Thüringer »Tritt« am Fenster, zu ihren Füßen das Enkelkind, das die beiden Hände gefaltet um die Knie geschlungen hat und mit ein paar großen Augen hinaufschaut zu der lieben, lieben Scheherezade.

Glückselige Großmuusch, die dieses Kerlchen in die Wunder der Märchenwelt einführen kann!

Sechzehn Jahre ist das Kerlchen alt, und es hat eine Menge gelesen und gut verdaut, wie Großmuusch merkt, es kennt eine große Anzahl guter englischer Romane und Erzählungen, es kennt die Reiseberichte der großen Forscher und erzählt sie in fließendem Englisch und wiederholt sie in gutem, dialektfreiem Deutsch, – sie kennt auch Fritz Reuter von »Ur to Enn« und liest ihn vor, als sei sie »'n Mecklenbörger ut Steinhagen«, aber sie kennt nicht den »kleinen Klaus und den großen Klaus«, und Frau Kerlchen senior empfindet das beinahe als persönliche Beleidigung.

»Du Erzgeneraldümmsert! Was haben sie dir alles in deinen kleinen Schädel gepackt – und das Schönste vergessen – –«

»Erzähl' weiter, Großmuusch!«

»Na, ja. Und da schlug der große Klaus alle seine sieben Pferde tot und zog die Haut ab und trug sie durch die Straßen und rief: ›Wer kauft Pferdehäute?‹ – ›Was wollt' Ihr dafür haben?' fragte der Apotheker. – ›Für eine jede einen Scheffel Geld.‹ Da verprügelte der Apotheker den großen Klaus, und er lief zornig nach Hause.«

Kerlchen krümmte sich vor Lachen. – Wie würde es nun kommen? Würde der dumme große Klaus noch mehr verrücktes Zeug anstellen? Das war eine ganz neue Welt, die sich vor dem Kerlchen auftat.

»Erzähl' weiter, Großmuusch!«

 

Niemand kannte diese entzückende Stunde zwischen »Dämmerung und Siehstmichnit«; wie wäre sonst wohl gespöttelt worden!

Und dann, nach dem letzten: »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch,« atmete das junge Kerlchen immer tief und schmerzlich auf, daß all das Schöne nun vorbei sei, und ganz kindlich schlang es dann den Arm um die Großmuusch und ließ sich »ins Bett bringen«, das gab doch noch ein halbes Stündchen, welches den »entsetzlichen« Menschen abgeknapst wurde.

Ja, – es muß eingestanden werden, – Kerlchen besaß vorläufig nicht einen Funken von Nächstenliebe; unter »entsetzlichen Menschen« verstand es eigentlich das ganze Gut, samt dem Dorf, den Eingeborenen und den Gästen. Großmuusch schüttelte oft den Kopf, wenn sie an sich selbst dachte und das ungeheure Wohlwollen, mit dem sie in ferner Kinderzeit Gerechte und Ungerechte überschüttet hatte, – freilich nur –, wenn es erwidert wurde. Kerlchen dagegen ging völlig ungerührt seinen Weg; der einzige Mensch, an dem es mit wahrhaft leidenschaftlicher Zärtlichkeit hing, war Großmuusch, in ihr verkörperten sich auch die heimgegangenen Eltern.

Und ferner war die Erinnerung an Franz Körbs ungeheuer lebendig in ihm. Stundenlang konnte Kerlchen von ihm und seinen hervorragenden Eigenschaften erzählen. Er mußte seinen, Kerlchens, Eltern alles gewesen sein, sich für sie täglich und stündlich aufgeopfert haben, und wenn auch Kerlchen eine anschauliche Sammlung merkwürdiger Untugenden besaß, zwei Tugenden hatte es jedenfalls: »Unerschrockene Wahrheitsliebe und tiefe Dankbarkeit.« Diese Wahrheitsliebe war oft recht unbequem. Großmuusch sah gewöhnlich mit gelindem Schauder dem gemeinschaftlichen Mittag- und Abendessen, sowie den sogenannten »traulichen« Kaffeestündchen entgegen, die beinahe immer mit Krakeel endeten, wenn Kerlchen »in Stimmung« war.

»Der Disziplin fehlt, das Drill fehlt dir,« meinte Rat Krone oft ärgerlich, denn so sehr er Kerlchen liebte und zornrot werden konnte, wenn er merkte, daß sie ihm das Kind peinigten, so imponierte ihm doch die hochmütige Ruhe etwas, mit der die Frau Baronin Terlan-Olzen aus dem Hause Krien das Kerlchen durch die Lorgnette beobachtete; eine unheimlich langgestielte Lorgnette, die aber nur Kerlchens Neugierde, nicht etwa Unbehaglichkeit hervorrief, was doch eigentlich der Zweck war.

Rat Krone ärgerte sich, wenn die Musterung durch diese langgestielte Lorgnette ungünstig ausfiel, aber er ärgerte sich ebenso, daß es berechtigt war, und ärgerte sich noch mehr, daß Kerlchen nicht einen einzigen Tadel auf sich sitzen ließ.

»Kein Drill hast du, keinen Disziplin!!!«

»Was ist das, Onkel Krone?«

»Himmel nochmal, fragt ›Es‹ dumm!«

»Aber wenn ich's doch nicht weiß?«

»Das ist's ja ebend! Ruhig sein sollst du, wenn verständige Leute reden.«

»Wer ist denn ein verständiges Leut?«

»Siehst du, Kerlchen, wenn du nicht so gute Augen hätt'st, so liebe Augen, die mich akkrat so ansehen, wie dunnemals deine Großmuusch, wie sie noch 'n Kerlchen war, dann würd' ich dir jetzt die Leviten lesen, bis du schwarz würdest. Dein Urgroßvater selig, der hatte 'n lateinischen Spruch, der hieß: ›mulier taceat in ecclesia‹, den sagte er in solchen Fällen, denn er war auch nicht sehr vor Frauenzimmer.«

»Was heißt das Lateinische, Onkel Krone?«

»Das heißt, daß die Weibsen nich so viel Gär machen sollen. Nimm gleich's erste Wort: ›mulier‹, = Maul halten. Ich bin kein Lateiner, aber das versteht 'n Kind.«

Kerlchen nickte.

Es hatte in der kurzen Zeit, die es hier auf dem Stammsitz der Rumohre lebte, doch schon begriffen, daß eine große Macht von einem Toten ausging, dessen Bild drinnen in Großmuuschs Zimmer hing.

Kerlchen saß so gern davor und sah in die wunderbar sprechenden Augen, die dem Beschauer überall hin folgten, – sah so gern auf den Mund, der gerade eben ein Scherzwort gesprochen zu haben schien, betrachtete so gern das geistvolle Gesicht, in dem Güte und Humor in wunderbarer Mischung vereint waren.

»Väterchen!« sagte Großmuusch zu dem Bilde, und Kerlchen hatte ja auch zu seinem eigenen Vater »Väterchen« gesagt, aber der Ausdruck, mit dem Großmuusch diese drei Silben aussprach, der war nicht wiederzugeben, der war einzig und barg eine ganze Welt von Liebe und Verehrung.

Die Bilder in jeglicher Form und Art waren überhaupt etwas, das Kerlchen ungemein interessierte.

Es hatte ja solange keine Gelegenheit gehabt, wirkliche Bilder, richtige Kunstwerke zu sehen!

Denn die es zuletzt immer vor Augen gehabt, waren Christus- oder auch Lutherbilder gewesen, wie man sie in großen Mengen an Schulen oder Anstalten verschickt und wie sie auch im einsamen Missionshause in Indien hingen.

Aber Dr. Johannes Christiani hatte eine Mappe besessen, über der er und seine Frau Rose an stillen Sonntagnachmittagen ganz verzückt saßen und immer wieder Blatt um Blatt emporhoben und betrachteten. Daran erinnerte sich Kerlchen mit großer Gedächtnistreue.

»Meine Niederländer«, nannte Dr. Christiani die Mappe, und das kleine Kerlchen schob den Lockenkopf zwischen Vater und Mutter und sah gleichfalls auf die ernsthaften, dunklen Herren und Damen und horchte hoch auf, wenn Dr. Christiani mit seiner weichen, klangvollen Stimme die Linien und die Farbenstimmung pries.

Aber damals hatte Kerlchen noch nichts Schönes an diesen dunklen Blättern herausfinden können, wenn es auch Rembrandt, van Dyck und Frans Hals richtig auseinander zu halten wußte und mit jubelnder Freude den immer wiederkehrenden Schimmel Philipp Wouvermans begrüßte, – nur wenn das letzte Bild kam, dann wurde Kerlchen ganz ernst und betrachtete es wieder und wieder, diese großen, redenden Augen, die das kleine Mädchen verfolgten, auch wenn es von Vater und Mutter fort in seinen Spielwinkel kroch.

Dann hatte Kerlchen die Arme um Vaters Hals geschlungen und gefragt. »Warum sieht er mich so an?«

Und die Antwort war gewesen:

»Weil du ein Strolch bist!«

Dann hatten die Eltern das Kerlchen geküßt und fröhlich dazu gelacht, und jedes hatte ihm leise ins Ohr gesagt: »Mein Einziges! «

Die Mappe mit den Niederländern war fort und verschwunden, Kerlchen hatte sie nie wieder gesehen. Die Flammen, aus denen der mutige Franz Körbs das kleine Kerlchen sicher hinausgetragen, hatten wohl die papierne Beute dafür eingetauscht, und Kerlchen war nichts geblieben, als die Erinnerung, die immer neu belebt wurde durch Urgroßvater Schliedens Bild, das auch so liebe, gute, kluge, sprechende Augen hatte, wie der alte Niederländer.

 

»Wo ist Kerlchen?«

Großmuusch fragte es, denn alle waren um den Abendbrottisch versammelt, und das Mädel fehlte, – wie immer.

Frau von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien warf die Augen gen Himmel, als wollte sie ihn zum Zeugen anrufen für die unstete Art des Rumohr-Enkelkindes, das allzeit die Hausordnung störte.

Aber laut sagte sie nichts, denn sie waren jetzt »vier Mann hoch« zu Gast bei Rumohrs, – ihr Sohn, »der böse, liebe Botho«, verlebte seinen Urlaub in Rotbach.

Der hübsche, leichtsinnige Leutnant drehte an seinem Schnurrbart und lachte heimlich über alle die ärgerlichen Gesichter.

Es war doch ein Teufelsmädel, diese kleine Felicitas Christiani, und eine bessere Abwechslung im ewigen Einerlei des Landlebens konnte man sich gar nicht denken.

Wie langweilig seine eigenen Schwestern dagegen waren, und seine Mama mit ihren überlebten Adelsvorurteilen!

Die einzig Vernünftige beinahe noch die Schloßherrin selbst, Kerlchen senior, – nur waren ihre Blauaugen gar zu unbequem, wenn sie sich so auf ihn richteten, forschend, fragend, als wollten sie sagen: »Menschenkind, wie kann man nur so ein Drohnenleben führen!«

»Ja – hat denn niemand das Kerlchen gesehen im Laufe des Nachmittags? Von der Erde verschwunden kann es doch nicht sein?«

»Ich sah es gleich nach Tisch unter meinem Fenster hin durch den Hof nach dem Stall gehen,« berichtete Frau Geheimrat Schirmer, »und da ich weiß, daß dieser Quirlefitsch immer zu der Zeit gymnastische Übungen vornimmt, in der andere ehrliche Christenmenschen verdauen, so vermutete ich, daß Kerlchen eins seiner berühmten Hindernisrennen vorhabe.«

»Ich sah es auch an ›Goethes Gartenhaus‹ vorbeijagen,« bestätigte Oberst Erich.

»Das kann nicht stimmen, mit Respekt zu sagen,« warf Rat Krone ein. »Gleich nach dem Mittagessen war's nämlich bei mir in meinem Zimmer, brachte mir liebreich ein Täßchen Kaffee, stopfte mein Pfeifchen und las mir 'n Stückchen Zeitung vor.«

»Den Botenhannes hat es ausgelümmelt,« lächelte Erni von Rumohr, »das habe ich selbst gehört, er hatte Geflügel nach der Stadt getragen, aber nicht vorschriftsmäßig nach Kerlchens tierschutzlichen Begriffen – –«

»Das Herz hat es doch auf dem rechten Fleck,« raunte Bümi der Großmuusch zu, und diese nickte lebhaft.

»Freilich, freilich! Wo es nur schwach eine Tierquälerei wittert, ist es blitzgeschwind zur Stelle, sie fürchten sich alle von seinen scharfen Augen.«

»Von wem es die wohl hat?« schmunzelte Rat Krone, und sein altes, runzliges Gesicht bekam noch ein paar Schelmenfalten dazu, und die kleinen Augen schauten blinzelnd zu Kerlchen senior hinüber. »Auf und ab die Großmutter, – da beißt die Maus keinen Faden ab.«

»Die arme Maus.«

»Ach, was da!« Frau von Terlan war sehr ärgerlich, denn sie glaubte, der letzte Ausruf sei ein bedauerndes Kosewort für Kerlchen gewesen. »Deine Enkelin, liebste Rumohr, muß einmal ordentlich bestraft werden. Und nun meine ich, wir essen!«

»Aber natürlich,« beeilte sich Kerlchen senior zu sagen, dem man es deutlich ansah, daß ihm die Angst um Kerlchen in allen Gliedern steckte. »Es muß ja jeden Augenblick erscheinen.«

»Mir haben gnädiges Fräulein gar nichts vom Ausreiten gesagt,« fing jetzt Leutnant Botho an, dem es entschieden Spaß machte, die Situation noch etwas zu verwirren. »Gnädiges Fräulein saßen auf dem Apfelbaum vor dem Apollotempel und aßen, – es war gleich nach Tisch, – ich weiß es zufällig genau, denn ich saß unter dem Apfelbaum und bekam die Stiele und die Kernhäuser auf den Kopf.«

Frau von Terlan warf wieder die Augen gen Himmel, und der Herr Rat Krone strahlte über das ganze Gesicht.

»So was kann auch nur unser Kerlchen fertig bringen, zur selben Zeit an vier verschiedenen Orten zu sein, – ganz die Großmutter, – Kerlchens Ebenbild,« schmunzelte er, hob das Weinglas mit etwas zitternder Hand und trank es seinem Kerlchen zu.

Frau von Terlan sah es und verschluckte sich beinahe an einem Rebhuhnknöchelchen.

»Bei dieser beschönigenden Auffassung jeglicher Streiche dieses unberechenbaren Mädchens muß es ja glauben, immer im Rechte zu sein,« sagte sie endlich mit schwerem Atem, nachdem sie sich notdürftig von ihrem Stickhusten erholt und in höchster Not selbst das Rückenklopfen durch Schlachter Krone angenommen hatte. – »Natürlich haben Sie sich alle in der Zeit geirrt, und Felicitas Christiani wird nur auf dem Apfelbaum gesessen haben, um ihrer abscheulichen Gewohnheit zu frönen, andere Leute zu ärgern.«

»O, – es hat mich nicht geärgert,« warf Botho ein, und eine leise Röte stieg ihm ins Gesicht. »Fräulein Felicitas wußte ja gar nicht, daß ich unten saß, und ich hütete mich wohl, es ihr zu verraten, sie ist ja so scheu und wäre gewiß sofort entflohen.«

Kerlchen senior sah den Sprecher dankbar an und legte ihm gleich noch ein halbes Rebhuhn auf den Teller, während Rat Krone im stillen beschloß, diesen jungen Menschen, der eben ritterlich für das Kerlchen eingetreten war, auch für die Folgezeit über Wasser zu halten, bis er sich die Hörner abgelaufen habe, und Leutnant Botho ahnte gar nicht, während er das Rebhühnchen eifrig bearbeitete, wie hoch ihm zwei gute Menschen seine paar ehrlichen Worte anrechneten.

Frau von Terlan tat sich einmal wieder »ein Gütchen«, auf einem mißliebigen Thema möglichst lange herumzureiten.

»War es nicht ein für allemal von dir verboten worden, liebste Rumohr, den Apollo-Apfelbaum zu besteigen, der eure beste Sorte liefert?« fragte sie angelegentlich.

Kerlchen senior zuckte die Achseln und sah etwas hilflos aus.

Rat Krone kam ihr zu; Hilfe, er ließ sein altes Kerlchen niemals im Stich.

»Das hatte der liebe Gott schon von Urbeginn verboten,« sagte er bedächtig, – »und die Eva hat's doch getan.«

»Das paßt nicht hierher,« gebot Frau von Terlan streng.

»Aber freilich, Frau Baronin!«

Rat Krone wurde ganz eifrig.

»Das Kerlchen ist doch erblich belastet und darf nicht bestraft werden, na, und viel wird's sowieso nicht vertilgt haben, es ißt ja wie 'n Vögelchen. Der Herr Leutnant hat vielleicht aufgepaßt, wie viel Gehäuse ihm auf den Kopf gefallen sind.«

»Hier sind sie,« lachte Botho verschmitzt und holte vorsichtig aus seiner Rocktasche eine stattliche Anzahl »Krebse« hervor, die er ungeniert vor einem jetzt lustig auflachenden Auditorium ausbreitete.

»Aber, Botho!« rief Frau von Terlan schrill. »Shoking!«

»Elf Stück!« rief Kerlchen senior ärgerlich. »Es ist die Möglichkeit! Meine besten Äpfel! Na, es soll mir nur kommen!«

Rat Krone kratzte sich hinter den Ohren. Wenn schon Großmuusch ärgerlich wurde, dann stand es bös um die Aktien seines Lieblings.

Er suchte deshalb den Fall abzuschwächen, was sehr schwer war, da der Indizienbeweis gar zu deutlich sprach.

»Die hat's nicht alleine gefuttert,« sagte er endlich kläglich, »da hat's gewiß dem Apoll und den neun Frauenzimmern drumrum jedem einen abgegeben.«

Kerlchen senior beugte sich liebreich über den Achtzigjährigen:

»Guter Freund Krone! Wenn wir Sie nicht hätten, den immer Gütigen!«

Das sagte Frau von Rumohr laut, – aber leise, nur Krone vernehmlich, setzte sie hinzu:

»Mir quillt jeder Bissen im Halse, ich will jetzt auskundschaften, wo es steckt. Gute Nacht, Vater Krone. Wenn ich's gefunden hab', sage ich Bescheid.«

Frau von Rumohr stand auf. Man war ohnedies schon beim Nachtisch, so konnte sie, ohne die Pflichten der Wirtin allzu gröblich zu verletzen, ihrem sorgenvollen Herzen nachgeben und das herzige, liebe, nie zu findende »Es« suchen.

Großmuusch begab sich direkt in Kerlchens Zimmer, das, geradezu genial eingerichtet, in seiner trotzdem puritanischen Einfachheit sehr an »Felicitas Schliedens Bude« in Schwarzhausen erinnerte.

Es stieß an einen anderen Raum, den Kerlchen senior für Kerlchen junior eingerichtet, in der irrigen Meinung, das Enkelkind eines »Kerlchens« brauchte nicht selbst ein »Kerlchen« zu sein, sondern könnte sich, ein modernes junges Mädchen, in diesem rosa-seidenen Himmel mit Chiffonwölkchen behaglich fühlen.

Das »Zigeunerlein« hatte sich in dem Rosagemach umgesehen, tief aufgeseufzt und gefragt:

»Kann ich nicht noch eins kriegen?«

Und Großmuusch hatte den großen Nachbarraum aufgeschlossen, und als das Kerlchen die vier kahlen, gemütlich runden Wände (das Stübchen lag im efeuumrankten Turm) gesehen hatte, war es der Großmuusch jubelnd um den Hals gefallen.

Seitdem stand der »Himmel« leer oder blieb wenigstens unbewohnt, aber Kerlchen hatte sich keineswegs eine »Hölle« eingerichtet.

Es war ein ganz urgemütliches Heim, in dem aber das einzig »Weiche« ein schönes, großes Tigerfell war, das Franz Körbs ursprünglich als Geschenk für Frau von Rumohr bestimmt hatte, und das diese nun dem Kerlchen zum Andenken an den toten Freund schenkte.

Das schmale Feldbett war hart, es war Großmuuschs eigenes aus seliger Schwarzhausener Kinderzeit, und der Waschtisch von unglaublicher Einfachheit, denn an ihm wurden nur tagsüber die vom Klettern und Obstessen und Blumenpflücken nicht einwandfreien Hände gewaschen.

Kerlchen war Frühaufsteher, wie seine Großmuusch, und gleich aus dem harten Feldbett schlüpfte es in das Bad, das die braune Maria für den Liebling schon zurecht gemacht, und auf das Bad folgte die kalte Übergießung, und auf diese wieder ein scharfer Ritt in taufrischer Morgenluft.

Die Möbel des Turmzimmers waren auch gerade keine weichen Pfühle zu nennen, wenn auch das eigentliche Runkssofa mit seinen versteinerten Kalbshaaren in dem Besitz von Kerlchen senior verblieben war.

Da waren ein Bambussofa, ein Bambustisch und vier Stühle dieser indischen Holzart, und als Teppiche dienten einige bunte, indische Matten.

Franz Körbs hatte das Kerlchen nicht ganz als Bettlerin in das Vaterhaus einziehen lassen wollen, und Hans-Hugo Eulried ließ damals das Eigentum des jungen Mädchens mit seinem Gepäck zusammen verstauen, – so konnte nun das Kerlchenheim sich wirklich sehen lassen, auch ohne daß aus dem »Himmel« die zierlichen Schränke, das breite englische Bett und die weichen, seidenen Polstermöbel hinübergeschafft wurden.

Nur Bilder besaß das Kerlchen nicht, Bilder, die es doch so sehr liebte.

Eine ganz verblaßte Photographie des toten Mütterchens trug es freilich immer bei sich, aber da waren die lieben Züge gar nicht mehr darauf zu erkennen, tausend Kindertränen, heiß und ätzend, hatten das schöne Gesicht verwischt.

Großmuusch sah mit tiefer Rührung, daß das Bild der Mutter jeden Abend in Kerlchens Händen ruhte, wenn sie sich zum Gebet falteten, und daß es darauf unter das kleine Kopfkissen wanderte, unter das schmale »Kerlchenkissen«.

Und da hingen eines Abends, als Kerlchen sich, von einem seiner anstrengenden Streifzüge heimkehrend, zur Ruhe begeben wollte, zwei herrliche, große Ölgemälde an der Längswand des Turmzimmers, gerade über Kerlchens Schreibtisch, der nie zum Schreiben benutzt wurde.

Kerlchen hatte immer nur daran gesessen, beide Ohren mit den Zeigefingern verstopft, damit das von draußen hereinklingende Getriebe des großen Gutes nicht störend in die unbekannte, herrliche Märchenwelt dringe. Es hatte deutsche Märchen gelesen, – nein, verschlungen. Auch jetzt saß es oft stundenlang vor dem Schreibtisch, las aber nicht, sondern schaute und schaute in die beiden klugen, guten, sanften Gesichter da oben, – »Johannes und Rose Christiani.«

Kerlchen kannte die Bilder, sie hatten ja in Großmuuschs liebem Stübchen gehangen, gleichsam als Umrahmung von Urgroßvater Schliedens großem Ölbild mit den »redenden Augen«, und nun hatte das liebe Großmuusch sich von dem Kleinod getrennt, um ihm, dem Kerlchen, eine Freude, ach, eine so große Herzensfreude zu bereiten.

 

Als heute Frau von Rumohr Kerlchens Zimmer betrat, erschrak sie wie vor etwas Unfaßlichem, denn ihre Gedanken hatten die Enkelin irgendwo weit draußen im Walde vermutet, und nun saß Kerlchen da scheinbar seelenruhig in einem Bambussessel und blickte auf ein großes Ölbild im Goldrahmen, das an dem Feldbett lehnte.

Als die Tür mit einem knarrenden Laut ins Schloß fiel, fuhr das ganz versunkene Kerlchen auf und wollte mit einem Jubelruf die Großmuusch umarmen, sank aber sogleich mit einem leisen Schmerzenslaut wieder in den Sessel.

Frau von Rumohr trat erschrocken näher, und der Ausruf: »Wo in aller Welt steckst du denn?« wurde unterdrückt, als sie das völlig erschöpfte Mädchen näher betrachtete.

Das Kleid war zerdrückt und teilweise zerrissen, das Gesicht glühte von großer, körperlicher Anstrengung und trug außerdem verschiedene Schmutzspuren, als hätten bestaubte Hände über die schweißbedeckte Haut gewischt.

Die Augen des Mädchens hingen wieder an dem Bild.

Frau von Rumohr schüttelte ratlos den Kopf und sah bald das Bild, bald die Enkelin an.

»Wie kommt das hierher?« fragte sie endlich.

Kerlchen zog trotzig die dunkeln Augenbrauen zusammen, so daß sie wie ein schwarzer Strich über dem feingeformten Näschen standen.

»Ich, - ich wollte durchaus nicht, daß es länger in seinem Zimmer hing,« war die unverständliche Antwort, »ich bin schon lange, – ach beinahe jeden Tag um sein altes Schloß herumgestrolcht, aber ich konnte nie hinein – bis heute. – Da ist's! Gottlob! – Aber schwer war's! Schwer!«

Kerlchen reckte seine Arme hoch auf, ließ sie aber gleich wieder kraftlos niedersinken.

Dann stellte es sich ungeduldig – trotzig vor das Bild und betastete und betrachtete es prüfend, während Frau von Rumohr mit den widerstreitendsten Gedanken in Kopf und Herz dabei stand und ihre Blicke von dem Mädchen zum Bilde und wieder zurück gleiten ließ.

»Als ich im Walde ausruhte, besah ich zum ersten Male das Bild genauer, denn in Eulried hatte ich ja gar keine Zeit dazu,« erzählte Kerlchen. »Großmuusch, wann ist das Bild gemacht? Ich weiß ja gar nichts davon? Und ich finde es nicht sehr ähnlich in der Nähe, ich habe nie so sanft ausgesehen – und das Kleid – ich kenne das Kleid gar nicht –«

»Kerlchen!« rief Frau von Rumohr laut und nahm seine Hand und sah ihm angstvoll in die finsteren Blauaugen, »du willst mir doch nicht sagen, daß du – – heimlich in Schloß Eulried warst, – daß du dies Bild – gestohlen hast?«

Großmuusch war jetzt leichenblaß, Kerlchen sah es voll Angst, aber ungemessenes Erstaunen gewann doch erst mal die Oberhand.

»Gestohlen, Großmuusch? Mein Bild? Wer gab es ihm denn? Ich nicht! Es ist noch gar nicht alt, und doch weiß ich nichts davon. Er muß es selbst gestohlen haben, – aber woher?«

Frau von Rumohr nahm jetzt Kerlchen bei beiden Schultern und zog es ganz nahe zu sich heran, sie schien von dem zornig erstaunten Ausbruch ihres Enkelkindes kaum etwas gehört zu haben.

»Und dieses schwere Bild hast du sieben Kilometer weit geschleppt? Wie kamst du überhaupt hinein nach Eulried? Wer hob dir das Bild vom Nagel, es hing sehr hoch, – ich weiß es – sprich – –«

Die Worte überstürzten sich, – so hastig wurden sie hervorgestoßen.

»Ich! Alles ich!« triumphierte Kerlchen. »Nur die Leiter hielt Berthold.«

»Berthold? Der alte Berthold?«

»Ja!«

»Sagtest du ihm, daß du es mitnehmen wolltest?«

»Freilich!«

»Und er?«

»Er tut alles, was ich will.«

»Woher kennst du ihn?«

»Ach – schon lange – so auf meinen Ritten – und dann – im Eulrieder Park.«

»Warst du denn – – sehr oft – mehr als einmal – dort?«

»Aber Großmuusch, – hundertmal! Das kannst du dir doch denken. Ich mußte doch erst alles auskundschaften, wie ich hinein könnte, ›er‹ durfte doch nicht da sein und – das übrige Gesindel auch nicht – –«

»Kerlchen!«

»Na ja! Und da zog ich den alten Berthold ins Vertrauen, der hat Mutti gekannt und erkannte mich an der Ähnlichkeit und weinte vor Freuden. Mutti muß ja furchtbar gut gewesen sein – und du auch.«

Kerlchen wollte sich anschmiegen, aber Frau von Rumohr streckte abwehrend beide Hände aus.»Unverantwortlich hast du dich benommen, ganz und gar unverantwortlich!« sagte sie mit vor Aufregung beinahe tonloser Stimme. »Gestohlen hast du, ganz einfach gestohlen –«

»Es ist nicht wahr«, brach Kerlchen leidenschaftlich los, – »es ist mein Bild, er wird's gestohlen haben – –«

»Schweig! Es ist nicht dein Bild! Die Ähnlichkeit ist groß, fast verblüffend, aber wenn du zornig und häßlich bist, wie eben jetzt, dann sieht man es, so war meine Rose nie, nie!«

Kerlchen sah mit großen, erschrockenen Augen die Großmuusch an, aber das war nur einen Augenblick, dann kniete es vor dem Bilde und forschte und suchte mit den Augen angstvoll nach einer Bestätigung seiner eigenen irrigen Meinung. Nicht sein eigenes Bild? Nicht Kerlchen? Es konnte ja nicht möglich sein!

»Daß du es nicht gleich gemerkt hast,« fuhr Frau von Rumohr mit derselben bebenden Stimme fort. »Deine Mutti ist's, deine seelengute, zarte Mutti, und sie würde viele heiße Tränen weinen, wenn sie wüßte, wie Hans-Hugo Eulried heute gekränkt worden ist.«

Kerlchen hatte sich langsam von seinen Knien erhoben, und nun wendete es der Großmuusch sein bis in die Lippen erblaßtes Gesicht zu.

Es setzte zum Sprechen an, aber kein Laut wurde hörbar.

Dann warf es den Lockenkopf zurück, hob mit starken Armen das schwere Bild auf seinen Kopf und wollte damit zur Türe hinaus.

»Aber Kerlchen, um Gottes willen, was tust du nun?«

»Wieder hintragen!«

Frau von Rumohr war mit einem Satz bei ihm und hielt das Mädchen mit kräftiger Hand zurück.

»Eine Torheit nach der andern! Setz' das Bild nieder! Im Augenblick! O, Kerlchen!«

Das Mädchen gehorchte, und dann standen sich Großmutter und Enkelin wieder gegenüber.

Wie sie sich ähnlich waren! Selbst äußerlich – die Greisin und das kaum erblühte junge Geschöpf!

Und wie sie sich anschauten, beide mit denselben Augen, die lagen aber nicht in dem Antlitz des jungen Mädchens, das dort im Bilde gemalt war, es waren Urgroßvaters Schlieden Augen.

»Kerlchen!«

Die Stimme der Großmuusch klang mit einem Male weich, und da lag auch schon das Kerlchen an ihrer Brust.

 

Lange, lange wurde an jenem Abend zwischen den beiden gesprochen und erzählt, und wieder war es eine neue Welt, die dem jungen Kerlchen aufging. Es hörte von einer heißen, treuen Liebe, die jemand zu ihrer »Muusch« gehegt, unausgesprochen, Jahre, Jahrzehnte hindurch.

Von einer Liebe, die alles duldete und alles trug, die nicht das Ihre gesucht, und die das Herz, welches sie hegte, zu den größten Entbehrungen gestählt und zu den größten Opfern begeistert hatte.

Hans-Hugo Eulried. – –

Und diesem Manne hatte das Kerlchen heute den Streich gespielt, diesen unglaublich dummen, kindischen und doch so wohl überlegten Streich – – er hatte das tote Mütterchen lieb gehabt und hielt sein Andenken hoch in Ehren, – und ihm wurde das Kleinod entwendet – –

»Großmuusch, – ach, laß uns beide doch jetzt hinlaufen, es ist ja nicht weit –«

»Ich danke. Sieben Kilometer.«

»Aber er geht gewiß zu Bett – –«

»Das hoffe ich.«

»Können wir nicht wenigstens schreiben?«

» Wir? Du mußt dieses bitt're Süppchen ganz allein auslöffeln, lieb Kerlchen. Und nun gehst du ganz still und lieb zu Bett, hörst du, ich will dich unten entschuldigen, – ach Kerlchen, wie oft hab' ich das schon getan, – könntest du doch ein neues Leben anfangen! – –«

»Das will ich, Großmuusch, das will ich!« Kerlchen küßte beide Hände der Gütigen. »Wir wollen den ganzen Tag beisammen sein, hörst du, Großmuusch? Und den ganzen Abend und die ganze Nacht! Ich wollte, ich könnte alle die anderen totschlagen –«

»Gute Nacht, Kerlchen! Es ist die höchste Zeit, daß du zur Ruhe kommst. Denk' über gar nichts mehr nach; deine Begriffe von einem »neuen Leben« sind fürchterlich. Aber bei dir sein, – unermüdlich, das will ich – gute Nacht, mein liebes, liebes Kerlchen!«

»Gute Nacht, süße Großmuusch! Komm' noch einmal wieder, ja? Ich hab' dich so lieb!«

 

Es war schon Mitternacht, als Frau von Rumohr Wort halten konnte und sich in Kerlchens Turmzimmer schlich.

Sie erschrak, als sie noch Licht durch das Schlüsselloch schimmern sah.

Ein flackerndes Wachsstümpfchen stand, tief herabgebrannt, auf dem Armleuchter, und dieser wieder auf dem Tisch. Rings um den Armleuchter lagen verschiedene angefangene Briefe, die teils durchgestrichen, teils zerrissen waren. Frau von Rumohr überflog sie alle. – »Sehr geehrter – –« – »Hochwohlgeborener Herr von Eulried!« – »Herr Eulried! Bitte entschuldigen Sie –«

Auf dem unbequemen Bambussofa saß Kerlchen mit tief auf die Brust geneigtem Köpfchen und schlief.

Die Feder war ihm aus der Hand gefallen und lag auf der Matte; aber in der linken Hand hielt es einen andern Brief, und darauf stand mit großen, ungefügen Krakelfüßen, die Kerlchen senior seltsam vertraut anmuteten:

 

»Lieber Hans-Hugo Eulried!

Es war sehr schlecht von mir. Ich dachte, es wäre ich. Ich danke dir vielmals für deine große Liebe. Es war sehr schwer, vom Nagel runterzukriegen. Bitte verzeihe mir, ich habe alles allein gemacht. Bestrafe bitte den Berthold nicht, er hat nur die Leiter gehalten. Wenn du ihn aber fortjagst, dann schicke ihn nur zu mir.

Deine dankbare Felicitas Christiani.«

 

Sachte nahm Frau von Rumohr den Brief an sich, rief dann leise den alten Diener, der draußen die Runde machte, ob auch alles im Schlosse in Ordnung und zur Ruhe sei, und beide trugen unter großer Mühe und manchem Gepolter das müde Kerlchen ins Bett.

Nicht ein einziges Mal schlug es die Augen auf, es hatte heute gar zu viel geleistet und – »Dummheit greift an«, sagte der alte Diener.

Frau von Rumohr ging nicht in ihr Zimmer; sie klinkte die Tür zum »Himmel« auf und lag dann noch stundenlang wach im rosaseidenen Gemach. Lange, lange Zwiesprache hielt sie mit dem allgütigen Herrgott.

Aber endlich fielen auch ihre treuen Augen zu, – drüben regte sich ja nichts im Turmstübchen, und so schliefen Großmuusch und Kerlchen traumlos und fest in den hellen Morgen hinein.

*

Aus Frau von Rumohrs Tagebuch.

Es sind wunderbar schöne, stille Spätherbsttage, die ich jetzt durchlebe; unser lieber Thüringer Wald glüht und leuchtet wie ein goldiges Riesenlicht zum Preise und zur Ehre unseres Herrgotts.

Zwischen all diesem Leuchten und Prangen die dunklen Tannen, sich wunderbar abhebend von der Farbenpracht der Laubbäume, und wieder die schönsten von den schönen, grünen Tannen des gesamten Thüringer Waldes sind meine Tannen von Tannenruh.

Ach, darunter einst ein Plätzchen zu haben, um auszuruhen von Erdenlust und Erdenleid und doch nicht unnützer, toter Staub zu sein, sondern den lieben Tannen neue Kraft zu geben, damit sie wachsen und sich dehnen, den Enkeln tiefen Schatten und erquickende Ruhe spenden können, und dem lieben, alten Rumohrhause Schutz und Schirm bleiben, bis in fernste Zeiten.

Mein Tannenruh!

Ein ganz merkwürdig stiller Herbst.

Sonst hatte die Manövereinquartierung immer etwas mehr Leben gebracht; diesmal hatten wir einen unendlich ernsten Oberst bei uns, der sich vom ersten Augenblick an zu meinem Erich-Bruder dermaßen hingezogen fühlte, daß er kaum aus »Goethes Gartenhäuschen« fortzubringen war. Der Hauptmann war jung verheiratet und schrieb in seiner freien Zeit unermüdlich Briefe an seine Frau, und die beiden Leutnants sah ich nur am ersten Abend dauernd; sie hatten von Botho erfahren, daß es hier ein ganz besonderes Edelwild zu pürschen gab, aber Kerlchen, das sich äußerlich ganz entzückend entwickelt, war so kalt wie ein Hundeschnäuzlein, abgesehen von seinem regen Interesse für Krieg und alles, was damit zusammenhängt.

Als es dieses Thema gründlich aus den Leutnants herausgefragt hatte, und sie sonst Interessantes nicht hergaben, sagte es »Gute Nacht« und verschwand, und am andern Tage kam es überhaupt nicht zum Vorschein. Es hatte ein paar kranke Kinder im Dorf und außerdem einen durch Steinwürfe verwundeten Hund, und diesem Trio hätte es auch der interessanteste Mensch auf dem ganzen Erdenrund nicht abwendig gemacht.

Mit einer alten Frau aber wußten die Herren Leutnants nichts anzufangen und empfahlen sich wortreich, und ich wäre wohl mutterseelenallein geblieben, wenn nicht Hans-Hugo Eulried durch Funkentelegraphie meine Einsamkeit geahnt hätte und sich plötzlich melden ließ.

Das heißt, Telegraphie ohne Draht war es nicht, Hans-Hugo war bei Erich-Bruder gewesen und von dem Vielbeschäftigten zu mir dirigiert worden.

Weshalb ich diesen Abend erwähne?

Weil ich da zum erstenmal etwas sehr Trauriges wahrnahm, nämlich, daß Hans-Hugo recht hart über Kerlchen urteilt, das ihm das gerade Gegenteil meiner Rose zu sein scheint, womit er ja recht hat.

Und doch auch wieder nicht. Ach, Kerlchen ist nicht jemand, den man so mit zwei Worten abtut, – ein verzwickteres Geschöpfchen gab es wohl kaum jemals. Der Raub des Bildes schien Eulried weiter nicht angefochten zu haben, er schwieg sich darüber wenigstens gänzlich aus.

Aber eine tiefe Falte zwischen seinen Brauen, die nicht weichen und wanken wollte, während ich darüber sprach, gab mir doch zu denken. Das Briefchen von Kerlchen, das ich ihm am andern Tage durch besondern Boten schickte, erwähnte er gleichfalls nicht, nahm nur Veranlassung, von der entzückend feinen Handschrift zu sprechen, die meine Rose schon in jungen Jahren besessen, ohne zu bedenken, daß Rosel doch in ganz normalen Verhältnissen groß geworden war und nicht in den Urwäldern Australiens und Indiens.

Jedenfalls gefiel mir Hans-Hugo an diesem stillen Herbstabend ganz und gar nicht, – er war so steifleinen und philisterhaft und betrachtete die Welt so von oben herab mit überhebender Ruhe, daß sogar ich mir jünger vorkam, als er, wie viel mehr Kerlchen, das mit einem Male wie hingeweht vor uns stand.

Dann griff es gleich nach Hans-Hugos Hand und hätte sie wohl bei dem Kerlchentemperament voll Dankbarkeit geküßt, eingedenk meiner damaligen Mahnpredigt; aber Eulried zog sie blitzgeschwind fort und sagte dann, rasch und scheu über Kerlchen hinsehend:

»Ja, ja, schon gut, – Sie haben nichts zu danken, Felicitas!«

Dann schüttelte er mir heftig die Hand und war zur Tür hinaus; kurze Augenblicke darauf galoppierte er aus dem Hoftor.

Kerlchen sah ihm traurig, zornig und erstaunt nach.

»Sagt man in Deutschland ›Sie‹, wenn man bös auf 'nander ist?« fragte es.

»Ich weiß nicht, Kerlchen, – jedenfalls wollen wir zwei es beim Alten lassen, denn sonst müßte ich wohl meistens ›Sie‹ zu dir sagen.«

Dann lachten wir beide, aber es kam mir nicht ganz von Herzen.

 

Von meinem Erich-Bruder habe ich auch recht wenig, und daran ist seine unerhörte Gastfreundschaft schuld.

Er selbst, der arg Verwöhnte, hat schon wenig genug Platz in »Goethes Gartenhaus«, nun hat er sich noch einen jüngeren Regimentskameraden eingeladen, einen Hauptmann a. D., der, plötzlich durch Erbschaft reich geworden, sich nach einem hübschen Gute umsehen wollte und dazu Erichs Rat anging, der doch von Landwirtschaft gar nichts versteht.

Und ich, die »geborene« Landwirtin, kann kaum mit ihm verhandeln, denn er ist so unglaublich schüchtern, daß ich gar nicht begreife, wie man ihn überhaupt hat zum Hauptmann machen können.

Er ist auch vor Jahren in kurzer Ehe mit einem Drachen, einer wahrhaftigen Xantippe verheiratet gewesen; also auch auf diesem Gebiete nicht Haupt-, sondern Nebenmann, und infolge dieser Ehe von jedem weiblichen Wesen innerlich entzückt, das nicht gleich mit Nägeln und Zähnen auf ihn losgeht. Jedenfalls ist Hauptmann von Grau ein »guter Kerl«, was viel und wenig bedeuten kann, Mitte der Vierzig, und gut zu leiden, aber ich vergebe es ihm nicht, daß mein Erich-Bruder jetzt bis in die Nächte hinein arbeiten muß, weil er tagsüber mit ihm auf den verschiedenen Gütern umherklabastert.

Ein wahres Glück ist's, daß ich meine Bümi Schirmer den ganzen Winter über bei mir behalte, denn Franz, ihr Geheimer Ober-Medizinalrat, ist mit dem Prinzen W. auf Reisen und kommt nur, »wenn Not am Mann« ist, auf Stunden nach Berlin, und solch dauernde Strohwitwenschaft war gar zu langweilig für die fidele Bümi. Sie ist die einzige von den drei Schwestern, die ganz und gar »walkürenmäßig« geblieben ist. Munke ist bequem und dick geworden; Luttewete ein wenig arg spießbürgerlich in der kleinen Stadt, trotz ihres künstlerischen Gatten, dessen Orgelkompositionen und Arien jeden entzücken, der Sinn für eine Musik hat, die in die Tiefe des Menschenherzens geht. Luttewete ist eigentlich ein »Provinzmädel« erst geworden, nicht eins, worauf man stolz ist, sondern eins aus den »Fliegenden Blättern«.

Bümi erzählte, daß Luttewete in Berlin beim Übergang zum Café Josty laut: »Mama« geschrien hat, und ihr ganzes Benehmen soll überhaupt eine Humoreske gewesen sein.

Nachdem sie ihr dann dreimal von einem Schutzmann ins Haus gebracht worden ist, haben Munke und Bümi ihr das Ausgehen überhaupt verboten, und unsere gute, brave Luttewete ist zornrot und beleidigt abgereist und erzählt jetzt in S. wahre Schandtaten, die alle das schreckliche Babel Berlin auf dem Kerbholz hat.

Freund Krone ist natürlich auch noch da; aber seine Kathrine haben wir mit schlauen Gründen nach Schwarzhausen zurückgeschickt, ebenso wie zuerst Agathe, – Erichs Drachen.

O wie atmeten wir auf, als sie endlich, endlich aus dem Hause war, und wie bewunderten wir Erich, der es zwanzig Jahre bereits mit ihr aushielt.

Aber siehe da, – am dritten Tage erschien Agathe wieder, – schluchzend, – auf der Bildfläche.

Ihr hätte »geträumt, Herr Oberst wären an vergifteten Pilzen elend zugrunde gegangen.«

Dieser Traum war ein Hieb auf mich, die ich meinen Erich-Bruder, trotz Agathens heftiger Gegenwehr, zu einem »Thüringer Pilztischel« aus Steinpilzen, Champignons, Reizkern, Birkenpilzen und Butterschwämmen eingeladen hatte, der uns sämtlich vorzüglich bekam.

Nur Agathen nicht, – sie bekam in derselben Nacht, aus lauter Angst um den Herrn Oberst, einen »Anfall«, der sie in ein besseres Perpetuum mobile verwandelte, trotzdem sie vom Pilztischel auch nicht einen Happen gekostet hatte.

Nun – und Erich-Bruder war es, wie er uns dann eingestand, doch recht einsam ohne sein Hauskreuz gewesen, und er wäre womöglich auch bald abgereist, – so sind die alten Junggesellen.

Frau von Terlan beglückt uns augenblicklich nicht, sie hat eine »liebe Jugendfreundin« ausbaldowert, die zwar »Meyer« heißt, aber unendlich viel Mammon besitzt.

Dagegen sind Eva und Adelheid noch bei uns, und ich finde, sie sind »ohne Muttern im Hintergrunde« recht genießbar.

Außerdem trägt ihre große Ähnlichkeit sehr zur Erheiterung bei; Freund Krone z. B. vermag sie überhaupt nicht zu unterscheiden und redet schon aus diesem Grunde keinen Ton mit ihnen, um keine zu bevorzugen.

Mir ist ihr Hiersein tatsächlich eine Stütze, schon aus dem Grunde, weil sie den »lieben, bösen Botho« etwas im Zaume halten, der von seiner nahen Garnison alle Nasen lang zu uns herüberflitzt, und teils Kerlchen, teils mir den Kopf zu verdrehen sucht.

Es gelingt ihm bei beiden vorbei, das heißt, bei mir nicht ganz, denn ich entlasse ihn selten ohne ein Goldstückchen, das dem Bengel um so wohler tut, als es bedingungslos, ohne endlose Ermahnungen, gegeben wird.

Ich bringe bei seinen vielen Untugenden immer die gänzlich verkehrte Erziehung in Anrechnung und sage öfters » armer Junge«, wo andere Leute kein gutes Haar an ihm lassen.

Kerlchen gibt sich nicht viel mit ihm ab, und ihm ist, glaube ich, Kerlchens Art, sich mit ihm zu unterhalten, etwas unbequem.

Mit kühnem Satze springt er aus verfänglichen Fragen, wie z. B.:

»Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag, Botho von Terlan?« auf ihre Persönlichkeit über, und ich lache oft innerlich, wie das Kerlchen ganz unbewußt pariert, und sehe, daß es keine Ahnung von Eitelkeit hat, ja, überhaupt keinen Schimmer, wie reich es auch äußerlich die gütige Natur ausgestattet hat.

Man sagt, – Großmutterliebe gehe noch über Mutterliebe; das ist wohl nicht richtig.

Aber eine Großmutter kann von ihrem Enkelkinde viel eher sagen: »Es ist ein entzückendes Geschöpf,« als von ihrer eigenen Tochter.

Und so stehe ich nicht an, von Kerlchen zu sagen, daß es ein ganz wunderschönes, zierliches, goldiges, liebes Mädel ist, mit ein paar Blauaugen, die tatsächlich an leuchtende Vergißmeinnichts gemahnen, mit schwarzen Augenbrauen und Wimpern, dunkelblondem Lockenhaar, einem klassisch feinen Näschen, und einem süßen Mund, der beim Lachen zwei Reihen weißer, tadelloser Zähnchen zeigt.

Vor einigen Tagen stand ich auf der offenen Veranda und hörte zu, wie Kerlchen Geige spielte.

Das hab ich noch gar nicht erwähnt, daß Felicitas sehr, sehr musikalisch ist, wie ich überhaupt so selten von der Musik spreche, – vielleicht, weil sie jetzt mein Alles ist, seit mein Fritz von mir ging.

Kerlchen brachte aus Indien eine kleine Geige mit, eine Dreiviertel-Geige, und spielte doch mit so tiefem Verständnis auf diesem wirklich kläglichen Wimmerholze.

Da sah es eines Tages die Amati meines Fritz, und das entzückte Aufleuchten in Kerlchens Augen, die ehrfurchtsvolle Scheu, mit der es das Kleinod betastete, ließ mich die Geige in seine Arme legen.

Freilich übermannte mich dabei der Schmerz um den Verlorenen vollständig, aber auch hier zeigte sich Kerlchen wieder ganz einzig.

Es legte ganz still das Instrument in den Kasten zurück und sagte leise:

»Ich will sie nicht spielen, meine süße Großmuusch, ich bin es nicht wert.«

Aber da sprang ich auf und bat es selbst darum und saß dann ganz still im dämmrigen Zimmer und lauschte.

Meine Augen hingen an der schlanken, biegsamen Gestalt, und ich sah das edelgeformte Köpfchen und die sprechenden Augen darin, sah, wie es mit Leib und Seele bei der Sache war und die wundervollen Töne des unvergleichlichen Instrumentes buchstäblich in sich hinein trank.

Als es den Bogen endlich sinken ließ, – da ging ich hin und zog Kerlchen an mein Herz.

Von dem Tage an durfte es die Amati spielen, und Herr Lehrer Renking aus Dorf Rotbach ist sein Lehrer.

Ein feinsinniger Lehrer und ein prächtiger Mensch dazu, der mich an meinen alten Johannsen erinnert, trotzdem Renking jung ist, kaum Mitte der Dreißig, ein Charakter, der einem immer wieder zu denken gibt, sobald man mit ihm zusammen gewesen ist.

Man muß ihn sehen, den einfachen, schlichten Menschen, wenn er die Geige im Arm hält, – er wird dann ein völlig anderer, der Bauernsohn wird zum König, zum Herrscher über das Reich der Töne und – über die Herzen der Hörer.

Ich fragte ihn, warum er nicht Künstler von Beruf geworden sei, und er antwortete schlicht:

»Man verstand mich nicht daheim, – niemand.«

An all dies dachte ich, während ich Kerlchens Spiel lauschte, und dachte auch an den elenden Mammon, der doch so viel Gutes und Schönes stiften konnte, wenn eine gütige Fee ihn in den Schoß des jungen Volksschullehrers Renking gelegt hätte, und der so verderblich wirkte in den Händen eines Botho von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien.

Und da kam dieser junge Kriegsgott auch schon die Verandastufen herauf, ich sah, wie sein schweißbedecktes Pferd sorglich von unserem Reitknecht auf und ab geführt wurde.

Botho kam auf den Zehen geschlichen, um die Geigerin nicht zu stören, nickte mir nur grüßend zu und setzte sich gleich ins Musikzimmer auf einen Sessel, bis das Stück zu Ende war.

Es war eine Romanze von Svendsen.

»Verteufelter Knopp, dieser Svendsen,« hörte ich Botho sagen, »aber Sie haben ihn klein gekriegt, gnädiges Fräulein.«

»Guten Tag, Botho von Terlan,« entgegnete Kerlchen, zu dessen Eigenheiten es gehört, immer den ganzen Namen dessen zu nennen, den es anredet, und zwar ohne Herr oder Frau oder Fräulein davor.

»Ah pardon! Gnädiges Fräulein waren so versunken in dem Tonmeer – –«

»Worin?«

»Im Meere der Töne.«

»Ach so! Sie müssen viel deutlicher sprechen, Botho von Terlan.«

»Köstlich sind Sie, wenn Sie mich so zurechtweisen.«

»Das ist Blödsinn. Wenn jemand mit mir zankt, finde ich das doch nicht köstlich!«

»Zwischen jemand und jemand ist auch ein großer Unterschied. Aber Sie sind jedenfalls augenblicklich ein süßer, kleiner Schulmeister.«

»Ich habe noch nie einen süßen, kleinen Schulmeister gesehen.«

Kerlchen war ganz ernst, und Botho strahlte über das ganze Gesicht.

Dann blieb es eine Weile still.

Endlich fragte Botho: »Woran denken Sie?«

»Ich denke dran, weshalb Sie hergekommen sind?«

»Möchten Sie es sehr gern wissen?«

»Ach nein, es ist mir eigentlich gleichgültig.«

»Hm! – Aber uneigentlich?«

»Was heißt das?«

»Nun, – wenn es Ihnen gleichgültig wäre, dann würden Sie doch nicht darüber nachdenken, weshalb ich hier bin.«

»Das ist auch wahr. Da haben Sie ganz recht. Also, es ist mir auch nicht ganz gleichgültig – –«

»Ah – Fräulein Fee – –«

»Nämlich, Sie bleiben immer so lange, und dann kann ich nie richtig üben, und alles, was Sie mir erzählen, ist so langweilig.«

Jetzt sprang Botho – wahrscheinlich tief gekränkt – auf.

»Allerdings – wenn gnädiges Fräulein mit so schwerem Geschütz anfahren – –«

»Bitte, – bin ich ungezogen gewesen?« fragte Kerlchen freundlich, »ich will das immer nicht, aber es kommt von selbst. Also bleiben Sie nur ruhig ein bißchen da, Botho von Terlan.«

Er war sofort versöhnt, ich sah es durch die Fensterscheiben an der Beflissenheit, mit der er wieder Platz nahm.

»Es klingt berauschend, wenn Sie ›Botho‹ sagen, gnädiges Fräulein,« fing er wieder an, und ich räusperte mich vernehmlich, damit der Windhund meine Gegenwart nicht gänzlich vergessen sollte.

»Nun Sie heißen doch so, Botho von Terlan, und alle Menschen nennen Sie so.«

»Alle doch wohl nicht, Fräulein Fee, die Fernstehenden sagen: ›Herr Leutnant‹.«

»Das will ich denn auch tun. Großmuusch sagt, richtig verwandt wären wir nicht miteinander. –«

»Um Gottes willen nicht! Gnädiges Fräulein haben mich gänzlich mißverstanden. – Ich, – ich, ich wollte im Gegenteil – ich meine, die Verwandtschaft ist nahe genug, daß – daß, – schließlich bin ich doch Ihr Vetter – –«

»Haben Sie was Dummes gemacht, Botho von Terlan, daß Sie so auf dem Stuhl herumrücken und verlegen sind? Sagen Sie es mir ganz ruhig, ich petze niemals und kann Ihnen vielleicht helfen.«

»Sie sind ein Engel, Fräulein Fee, Ihr Name deutet es schon an, aber ich bin nur verlegen, weil ich Sie bitten wollte – –«

»Na, raus damit! Ich soll Ihnen gewiß Geld pumpen. Großmuusch sagt, Sie brauchen ewig welches.«

»Ohh! Aber Fräulein Felicitas! Sie stürzen mich aus allen Himmeln! So unpoetisch! Ich sollte von Ihnen Geld leihen?«

»Nicht wahr, es wäre ja auch Blödsinn, ich habe ja selbst nie welches, Sie glauben nicht, wie viel Elend es in der Welt gibt, ach hier ganz nahe bei, im Dorf – so viel auch meine Großmuusch schon gelindert hat, immer kommt neues hinzu – –«

Kerlchen war unbeschreiblich lieblich in diesem Augenblick, als sie dem Leutnant so beweglich das alles schilderte; ich war ihnen ganz nahe, – aber sie gewahrten mich gar nicht.

Botho war ganz ernst geworden. Er sah aus, als reuten ihn zum erstenmal die Summen, die er schon für »Kartenspiel und Würfellust«, für Sekt und Schlemmerei ausgegeben, er hätte sie jetzt wohl zur Stelle haben mögen, um sie dem süßen Samariterchen zu Füßen zu legen.

»Ja ja, – ich weiß – das heißt, ich kann mir's denken,« sagte er endlich halb verlegen, »aber wenn Sie doch mit den Fremden so barmherzig verfahren, so könnten Sie mir armem Bettler auch gnädig sein; – ich verlange ja nicht viel, Fee, – nur die Erlaubnis, als Ihr richtiger Vetter angesehen zu werden, mit dem Rechte, Sie ›Du‹ zu nennen.«

»Oh nein! Das geht nicht!« rief Kerlchen höchst erschrocken aus. »›Du‹ nennen? – Das ist doch rasend, ganz toll viel verlangt von Ihnen, Botho von Terlan. ›Du‹ sagt man doch nur zu Menschen, die ganz, ganz nahe verwandt sind, oder die man furchtbar lieb hat, oder die man heiratet –«

»Nun? – Und?«

»Aber da ist doch gar nichts davon bei uns beiden. Wir sind kaum verwandt und lieb habe ich Sie nicht die Bohne, kein bißchen, nicht mal so sehr gern, das heißt, – Sie müssen nicht böse sein – –«

»I behüte! Gott bewahre!« stieß Botho höhnisch und zornig zugleich heraus. »Sie machen mir ja reizende Enthüllungen, gnädiges Fräulein, und ich kann mich ja nun wohl empfehlen.«

Damit stürmte Botho an mir vorbei, die Verandastufen hinunter, schnauzte unten den Reitknecht an, der kein Gedankenleser war und sich gerade mit dem Gaul etwas entfernt von der Veranda befand, und war auf und davon, ehe wir uns versahen.

»Ich glaube, er hat mir doch was übelgenommen!« meinte Kerlchen mit einem so köstlich zweifelnden Gesichtchen, daß ich laut auflachte.

»Ja, Kerlchen, das glaube ich auch,« versicherte ich. »Da geht er hin und singt nicht mehr.«

Und ich zeigte auf die Staubwolke draußen auf der Landstraße nach E. zu.

Innerlich aber war ich reichlich wütend auf den Windhund und reichlich stolz auf Kerlchen.

Nein, ich brauchte mich nicht zu sorgen, das ging schon seinen Weg.

 

Wir haben vor einigen Tagen ein reizend liebes Fest gefeiert, Freund Krones achtzigsten Geburtstag. Zwar hatte ich mir es immer schon unendlich schön und bis in die kleinste Einzelheit hinein ausgedacht, wie ich den Bravsten aller Braven an diesem Tage ehren wollte, aber nun übertraf die schlichte, schöne Feier meine kühnsten Erwartungen.

Freilich, wer besitzt auch wohl auf dem Erdenrund so treue Freunde, wie ich?

Am vierten Oktober war schon früh um fünf Uhr alles lebendig, nur das liebe, alte Geburtstagskind schlief seinen gewohnten, tiefen, köstlichen Schlaf, der wohl die Hauptursache seines Jungbleibens ist.

Und die Dorfjugend mit ihren von Lehrer Renking so vorzüglich geschulten Stimmen setzte ganz zart und leise die Motette ein: »Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, Seinen heiligen Namen«, so daß der liebe Freund ganz allmählich erwachte und, ohne zu erschrecken, mit gefalteten Händen den schönen Klängen lauschte.

So fand ich ihn, als ich mit einem Strauße von Rosen, den ich im Gewächshaus gehütet, an sein Bett trat.

Kerlchen – und die alte Kathrine begleiteten mich. Ich hatte das treue Mädchen zu Freund Krones Ehrentag wieder nach Rotbach gerufen, und die treue Seele fand vor Aufregung keine Dank- und keine Glückwunschworte, alles ging unter in einem Strom von Tränen.

Krone blieb ziemlich gefaßt – ich wunderte mich eigentlich darüber, – nur als ich mich zu ihm niederbeugte und ihm einen herzlichen Kuß gab, und Kerlchen das gleiche tat, da zuckte es mächtig in dem alten, runzligen Gesicht.

»Kerlchen, Kerlchen, Gott segne dich! Was haben wir nicht alles zusammen erlebt in den achtzig Jahren, und wie warst du immer gut zu mir!« sagte er schwer atmend, und ich nickte, weil ich vor Bewegung nicht sprechen konnte, und hatte in diesem Augenblicke zwei sonderbare, ganz entgegengesetzte Empfindungen. Die eine war, als sei ich wirklich gleichfalls achtzig Jahr heute und nach den vielen Erlebnissen recht, recht ruhebedürftig, und die andere, – als sei ich plötzlich wieder das kleine Schwarzhausener Kerlchen, das vom Schlachter Krone mit zärtlich-traulichem »Du« angeredet werde.

Aber die Rührung dauerte bei ihm nicht allzulange, dann verwies er uns ziemlich barsch aus seinem Zimmer, denn »er wollte seine ›Schäne‹ behalten, bis er mal nackt und bloß vorm lieben Herrgott stünde.«

Um 7 Uhr kam die vereinigte Dorfkapelle zum Ständchen.

Die paukte schon besser drauf los, denn da hatte der kunstsinnige Renking nichts damit zu tun, die leitete der Schmied von Rotbach, der nicht nur dirigierte, sondern auch die Pauke schlug und zwar mit einer Vehemenz, als gälte es Eisen zu schmieden.

Vater Krone versprach der ganzen Kapelle Freibier, und zwar »mit Kind und Kegel«, und mit einem »Hoch« auf den Jubilar zog die Schar ab. Um neun Uhr fuhren unsere Wagen leer zur Bahn und kamen voll wieder mit den Herren Kirchenvorständen aus Schwarzhausen, die als Deputation mit einer Dankadresse erschienen.

Etwas später kam der Herr Landrat von Hohmeißner mit einem Orden, den der Fürst schickte, und wieder etwas später die Arbeiterdeputation und die Waisenkinder von Rotbach, jedes mit einem Sträußchen.

Und der alte Schlachter Krone stand wie aus Erz gegossen, und keine Miene seines Gesichtes veränderte sich, aber es war, als sei er mit seinen Gedanken völlig in der Vergangenheit, und einmal raunte er mir zu: »Ich wollte, Kerlchen, dein Väterchen und dein Fritz wären dabei.«

Dann aber dankte er allen mit schönen, wohlgesetzten Worten, und eine herzliche Freude leuchtete ihm aus den guten Augen.

Ehe wir alle zu Tisch gingen, ruhte er noch ein wenig, und als er dann ganz hochfeierlich im Frack mit seinem Orden erschien, sah er mit seinem weißen, vollen Haar, seinen markigen Zügen, die durch keinen Bart verdeckt wurden, aus, wie ein alter Professor und hochgelahrtes Haus.

»Kinder, mich hungert,« rief er, um seine Rührung zu verbergen, als er das ganze Dorf um das Herrenhaus versammelt sah, aber nun wurde er ausgelacht und ihm bedeutet, er möge seinen Gurt etwas fester anziehen, denn er müsse noch einen Spaziergang machen.

Darauf wurde ihm sein Pelz umgelegt, und wir marschierten ein Stückchen durchs Dorf und bogen dann rechts ab auf den freien Platz vor der Bismarckeiche.

Da war ein Bauplatz gerichtet, und die Schuljugend stand wieder im Kreise und sang mit glockenhellen Kinderstimmen: »Wir treten zum Beten vor Gott den Allmächt'gen,« – erst leise und zart, und mit dem letzten Vers anschwellend, – daß uns allen die Herzen groß und weit wurden.

Freund Krone sah sich ratlos und unsicher um.

Die bisher ihm erwiesenen Ehrungen hatte er sich am Ende schon vorher in seinen Jubiläumskopf und -herzen zurecht legen können, aber was jetzt kam, das war ihm etwas »nicht in den Kram Gehöriges«. Als Hans-Hugo Eulried den mit Girlanden und Tannenreis geschmückten Platz überschritt und glückwünschend auf Freund Krone zutrat, da arbeitete es mächtig im Gesicht des Gefeierten. Eulried war sein Liebling von Anbeginn ihrer Bekanntschaft gewesen, die sich zu einer Freundschaft entwickelt hatte, deren segensreiche Wirkung die Dörfer Eulried und Rotbach tagtäglich spürten.

Hans-Hugo sprach jetzt mit weithallender Stimme.

Der sonst so wartkarge, ernste, zurückhaltende Mann zeigte sich als glänzender Redner, der in zündenden Worten die Verdienste unseres Krone pries.

Und diese Worte fanden reinsten Widerhall.

Nicht in lauten Kundgebungen, – dazu ist der Thüringer Mann zu scheu und bescheiden, – aber sie rückten alle ein wenig näher zur »Herrschaft«, die den Greis so sorglich am Arme führte, und der Jubilar konnte heute dankbare Freudentränen in den Augen sehen, die früher von trüber Sorge rot geweint waren.

»Treusorgender Vater von Rotbach!«

Das war der richtige Ehrentitel, den jetzt Hans-Hugo Eulried dem Geburtstagskinde gab. Und dann hielt Rat Krone plötzlich einen kleinen Hammer in der Hand und wurde zu einem bekränzten Stein geführt und hörte zu, wie Eulried eine Urkunde verlas, die dann in den Stein gemauert wurde, und er hörte das Wort »Kronestiftung« und sah auf die großen und kleinen Waisen des Dorfes und Kreises Rotbach, die bald ihn, bald den Stein betrachteten, welcher ihr neues Zufluchtshaus tragen sollte.

Freund Krone tat die ersten Hammerschläge, aber seine rechte Hand zitterte, und die linke umklammerte meinen Arm.

»Nur fein bei mir bleiben, gelle, Kerlichen?« raunte er mir ganz hilflos vor Rührung zu.

Dann traten all die anderen Herren heran, der Landrat, der Bürgermeister, alle taten ihre Hammerschläge und der Pfarrer sprach ein kurzes Gebet und zugleich seine Herzensfreude aus, in einer solchen Gemeinde wirken zu dürfen.

Mein alter Freund Krone ging wieder an meinem Arm zurück, und mir war's, als sähe er nur undeutlich den doch allbekannten Weg.

Aber ich hielt ihn fest, ihn, der in früheren, trüben Zeiten meinen Fritz und mich so fest gestützt.

Und dann kam das Festessen mit vielen Gängen und vielen und guten Weinen, (das Beste war mir gerade gut genug für Meister Krone) geredet und getoastet wurde in allen Tonarten. Auch der Jubilar hielt eine Dankrede, die bei Adam anfing und sicherlich in ferner Zukunft enden sollte; er verhedderte sich aber gleich zu Anfang gründlich und schloß höchst unmotiviert: »Mein Kerlchen, unsere hochgeborene Baronin, es lebe hoch!«

Unter dem brausenden Hurra, das hierauf erscholl, verschwanden meine Verlegenheit, seine Rührung und das herzliche Lachen unserer Gäste.

Dann sollte Kerlchen unser Geschenk überreichen, das wir Rumohrs alle gemeinsam gestiftet, einen Ring, über den sich Krone geradezu wie ein Kind freute, und ich hatte Kerlchen ein Gedicht dazu gemacht, das mich zwei schlaflose Nächte gekostet, – aber wie das Mädel dem Alten in die nassen Augen sah, da hatte es plötzlich alles vergessen, flog ihm um den Hals, küßte ihn ungestüm und rief: »Rat Krone, ich hab' dich lieb!«

Das war mein »schlafloses« Gedicht, – na, aber seine Wirkung tat's auch, – selbst Hans-Hugo Eulried lächelte ein ganz klein wenig.

Am Abend hatte ich noch ein stilles Stündchen mit Krone und unserm neuen Seelsorger Bauer zusammen, der zugleich mit Kantor Rensefeld und Lehrer Renking unser Gast gewesen war.

Und da machte mir Freund Krone eine unendlich wichtige Mitteilung – er hat unser Kerlchen zu seiner Universalerbin eingesetzt.

Das Kind ahnt noch nichts davon; ich will es erst ganz langsam, nach und nach, darauf vorbereiten; wenn ich weiß, daß es reif genug ist, ein großes Vermögen zum eigenen Wohle und zum Segen anderer zu verwalten.

Liebes, kleines Kerlchen!

Wieder, wie vor Jahren, stehe ich vor einer undurchdringlichen, fest geschlossenen Pforte deiner Zukunft.

Wer wird mein Enkelchen ans Herz nehmen, wenn ich meine alten Augen einst schließe?

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Aus Kerlchens Tagebuch.

Das ist eine merkwürdige Sache.

Ich soll ein Tagebuch haben.

Großmuusch fand neulich von mir im Turmzimmer, meinem Zimmer, wo ich auch jetzt sitze, ein paar Blätter, auf die hatte ich mein Herz geschrieben, wie es so inwendig drin aussieht. Und Großmuusch sagte, das erinnert sie an die Zeit, wie sie selbst jung und dumm war.

Man kann sich das gar nicht denken.

Großmuusch weiß alles und kann alles, und sie ist so wahrhaftig, und wenn sie mir sagt, sie ist früher auch mal dumm gewesen, dann war sie es auch.

Aber ein Tagebuch möchte ich doch nicht so gern haben, ich schriebe lieber auf lose Zettelchen, wenn mir's gerade einfällt, und wichtige Sachen erzähle ich ja doch nur meinem Baum.

Der steht auf der Höhe, das heißt auf der höchsten Stelle zwischen den beiden kleinen Waldungen Pulverbek und Sauerkrug, und ist eine Buche, eine ganz, ganz liebe Buche, die jedes Wort versteht, das ich zu ihr sage.

Wenn aber Großmuusch befiehlt, daß ich schreiben soll, dann – –

Nein, sie befiehlt nicht, sie bittet mich nur, und wenn Großmuusch bittet – –

Süße Großmuusch!

Alle anderen Menschen sind arm, die nicht meine Großmuusch haben, sie ist so herzensgut, ich habe Angst, der liebe Gott holt sie mal rasch zu sich, weil sie da oben hin gut paßt.

Aber was fang' ich dann an? Ich muß schnell nachsterben und passe doch gar zu gut hier unten hin, wo die anderen Leute auch dummes Zeug machen.

Großmuusch hat sich mit mir ganz ernsthaft über mein zukünftiges Tagebuch unterhalten und mir gesagt, ich solle nicht in den Fehler fallen, wie sie selbst. Sie habe in ihrem dickleibigen Buche kaum eine Person äußerlich von A bis Z geschildert, – man könne sich nur aus einigen geringfügigen Anmerkungen ein Bild von den einzelnen machen.

Jetzt fange ich einen neuen Bogen an und will gleich mal photographieren, aber nur mit dem Kopf, und mein Federhalter hält das Bild fest.

1. Großmuusch. Mittelgroß, mehr groß, als mittel, nicht schlank und auch nicht dick, – furchtbar behaglich.

Man kann sich einmuscheln bei ihr, und es tut nicht weh, wenn sie einen umarmt, wie bei Großonkel Erichs alter Agathe. Ihr Haar ist kurz und lockig wie bei mir und noch ziemlich dunkelblond, nur quer über den Kopf zieht sich ein dichter, weißer Streifen, so daß sie dem Bild vom Urgroßvater gar so ähnlich sieht.

Die Augen sind richtig blau und die Augenbrauen dunkel, der Mund groß und die Nase gerade eben recht, und die Zähne gesund und weiß und nicht zum Herausnehmen.

Sie trägt Alltag und Sonntag schwarze Kleider.

Alltags hat sie weiße Leinenkragen und Manschetten dazu und schwarzseidene Schürzen, am Sonntag trägt sie einen feinen Spitzenstoff über Seide mit einer Schleppe und ohne Schürze.

Nur eine große Brosche schließt den Kragen, da ist Tannenruh drauf gemalt, und drinnen ist das Bild vom Großvater Fritz von Rumohr. Und viele, viele Steine aus den Familiendiamanten umrahmen die Brosche.

Ehe Großmuusch sie anlegt, streicht sie immer sacht darüber mit ihrer weichen Hand.

2. Dann ist da Rat Krone.

Er ist beinahe so gut wie Großmuusch, aber seltsamer. Er hat ganz weißes, dünnes Haar und keinen Bart, kleine Schweinsäuglein, die verkriechen sich ganz, wenn er lacht.

Dafür ist die Nase groß und dick; die kann sich nicht verkriechen, sie guckt noch rechts und links neben dem Taschentuche vor, wenn er sich schnaubt.

Sein Gesicht ist rot und großmütig.

3. Frau von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien.

Sie ist klein und mager und hat große Augen. Man möchte auf ihnen Schlittschuh laufen, sie sind wie ein Spiegelglas, und man bekommt so eine rubblige Frierhaut, wenn man 'neinguckt. Die Nase ist lang und sieht aus, als hätte sie immer recht. Der Mund ist klein und hat ganz schmale Lippen, die sind gelblich. Die Zähne sind prachtvoll und sehr praktisch eingerichtet.

An ihren schmalen, langen Fingern hat sie vierzehn Ringe, die flimmern alle durcheinander.

Großmuusch hat nur drei Ringe.

An der rechten Hand zwei schmale, abgenutzte Trauringe und auf der linken einen ganz einfachen goldenen Reif mit einem weißen Steinchen, das ist mein erster Zahn gewesen. Wenn ich manchmal eklig bin, sagt sie:

»Au, Kerlchen, mein Ring beißt.«

Dann schäme ich mich und gebe ihr gleich einen lieben Kuß auf die Stelle, wo der böse Kerl gebissen hat.

4. Adelheid von Terlan-Olzen. Klein, schlank, rötlich-blond, keine Augenbrauen, feine Stumpfnase, blaß, feine dünne Hände, die nie schmutzig sind, lange Nägel wie Grabschaufeln, die nie Hoftrauer haben, wie Großmuusch das nennt.

5. Eva von Terlan-Olzen. Ganz genau ebenso, nur manchmal in 'ner andern Farbe.

6. Botho von Terlan-Olzen. Nicht klein und nicht groß, so halblang. Er hat einen Schnurrbart. Manchmal hat er einen kurzen Rock mit 'ner Schärpe an und manchmal einen langen und manchmal eine Litewka. Wenn er die an hat, dann bleibt er lange und hat Urlaub.

7. Frau Geheimrat Schirmer, Bümi-Großtante. Die ist ungeheuer lieb und nett. Man kann ihr alles erzählen, man kann auf Bäumen rumklettern und ganz zerrissen heimkommen, das versteht sie alles, sie hat es vor hundert Jahren genau ebenso gemacht.

Auch einregnen kann man mit seinem besten Zeug und alles vergessen, was einem aufgetragen ist, Bümi-Großtante hat dann schon gleich ihrer Jungfer Bescheid gesagt, und die plättet alles zurecht. Die Dienstboten haben mich alle lieb, trotzdem ich ihnen so viel Mühe mache.

Großmuusch sieht immer wie aus dem Ei gepellt aus, nicht ein Fädchen findet man auf ihrem schwarzen Kleid, trotzdem sie so fleißig ist und überall nach dem Rechten sieht.

Ich weiß nicht, wie sie es macht.

Neulich fragte ich sie, wie alle dabei waren:

»Ach, Großmuusch, du warst gewiß auch früher als Kind so ein Musterknabe ?«

Da schrieen sie alle laut, und Großmuusch hatte einen ganz heißen, roten Kopf, und Großtante Bümi erstickte beinahe – – ich erschrak ordentlich, weil ich oft so tapsig bin.

Als sich Bümitante erholt hatte, sagte sie: »Kerlchen, du mußt in der Folge wenigstens gut thüringisch dein Großmuusch vorbereiten. »Daß ich emol dumm frage«.

Aber dann meinte sie ganz ernst, Großmuusch hätte schon als Kind in einem Trappistenkloster den Schleier nehmen wollen, weil sie immer Anlage zur schwarzen Melancholie gehabt hätte, aber Bümitante hätte es nicht gelitten. Aber schon zu ihrem zwölften Geburtstage hätte Großmuusch vom Papste die Tugendrose bekommen, und eine Hofdame, Tante Emerenzia, hätte sie ihr persönlich überreicht.

Ich hätte natürlich gern mehr darüber gehört, aber Großmuusch erlaubte nicht, daß Bümitante weiter sprach, und da sagte diese: »Großmuusch wäre zu bescheiden und würde nicht gern an diese ehrenvolle Zeit erinnert.«

Nun will ich Großtantchen noch vollends beschreiben; sie ist sehr rund und hat im gemeinsamen Eßzimmer ihren bestimmten Sessel, der nur für sie paßt, wir andern versinken drin.

Auch im Walde hat sie bei Picknicks ihren bestimmten Baumstamm, auf den andern kippelt sie und balanziert zum Totlachen.

Ihre Augen sind blau und fröhlich, ihre Nase groß und vergnügt, ihr Mund riesig offen und heiter.

Ihr ganzer Körper ist überhaupt ungeheuer groß, deshalb hießen sie und ihre Schwestern die Walküren, und sie erzählte mir, ihre ganze weite und enge Familie wären so Übermenschen, und eine Tante hätten sie mal zu Besuch gehabt, die wäre für eine aus 'ner Menagerie ausgebrochene Riesendame gehalten worden, – aber Geld hätten sie nie damit verdient.

Wir lachen immer tüchtig, wenn Großtante Bümi erzählt; Großmuusch sagt, Lachen wäre ebenso gesund wie Buttermilch.

8. Hans-Hugo, Edler Herr von Eulried.

Sehr ernst und groß und schrecklich.

 

Rat Krone und Frau Geheimrat Bümi Schirmer saßen bei einem Täßchen Mokka auf der Veranda.

»Ich begreife gar nicht, wo Kerlchen senior steckt,« meinte Bümi, »sie ist doch sonst immer als Anstandsdame auf dem Posten gewesen, aber heute setzt sie uns zwei seit einer halben Stunde dem Geschwätz der Dienstboten aus. Zwei junge Leute wie wir – –«

»Spotten Sie nich, Frau Geheimräten! In diesem punkto bin ich kitzlich. Aber Sie sind glücklich verheiratet – –«

»Seit vierzig Jahren,« schaltete Bümi ein.

»Und ich bin ein unweigerlicher Witwer.«

»Na, Onkel Krone. Verschwören Sie nichts. Wollen Sie wirklich die nächsten achtzig Jahre so allein bleiben?«

»Ums Himmels willen, es hat doch niemand Absichten? Frau Baronin von Terlan?«

»Bscht! Nein, nein, ruhig Blut, es war nur Scherz.«

»Richtig erschrocken bin ich. Wenn Sie sich bloß diese gefährlichen Späßchen abgewöhnen könnten, Frau Geheimräten, wo einen der Angstschweiß bei ausbricht.«

»Na, es geht alles vorüber,« sagt der Türke. ›Buda getscher‹. Und nun Scherz in 'n Tischkasten, ich möchte wirklich wissen, wo Base Rumohr steckt.«

»Frau Geheimräten, mir ist es ganz lieb, daß unsere Gastfreundin heute 'mal streikt, – ich habe mit Ihnen zu reden.«

»Das klingt ja ganz gefährlich.«

»Wie's klingt, is eingal, wenn's nur nicht wird.«

»Aber was denn?«

»Mit das kleine Kerlchen, meinem Augapfel, und – und – und mit – –«

»Himmel nochmal, sagen Sie's, mir wird ganz angst.«

»Und mit – mit –«

»Mit 'n Schah von Persien?«

»Ach, wenn's der bloß wäre! Mit dem Leutnant!«

»Mit dem Botho von Terlan? Aber bester, liebster Kronenrat, – nein, – da kennen Sie denn doch Kerlchen schlecht.«

»Frau Geheimräten, Ihr Wort in Ehren, aber Sie reden da Dummheiten. Ein Kerlchen ist doch, mit Respekt zu sagen, auch nur 'n Fraunzimmer, und so 'n gutes und reines und liebes Frauenzimmerchen ist doch noch hundertmal leichter betört, als 'n gewieftes.

Und es ist 'ne alte Geschichte, daß die Windhunds leichteres Spiel haben wie 'n solider Mensch mit ehrlichen Absichten, – das heißt, dem Leutnant seine scheinen auch gar zu ehrlich zu sein, – ich hab' meine Augen offen, er will Kerlchen heiraten.«

»Herr Krone! Seit wann denn?«

»Ja seh'n Sie, da liegt der Haken! Ich will nichts Schlechtes von meinen Nebenmenschen denken, aber neulich abends, wie ich mit Herrn Pfarrer Bauer und der Kerlchenbaronin noch rumgesessen und geschwatzt habe auf der Veranda, da hat uns was belauscht; es hörte sich an wie barfüß'ge Mannsfüße, aber Frau Kerlichen meinte, es wär' der Wind. Und das stimmt, es hat an dem Abend 'n gewisser Jemand Wind bekommen, wie der Hase läuft.«

»Sie sprechen in Rätseln, Herr Krone.«

»Das ist sonst nicht meine Art, Frau Geheimräten, aber ich bin jetzt so entsetzlich fürchnich und argwöhnsch geworden und möchte seit der Zeit niemanden mehr anvertrauen, daß Kerlchen 'mal mein ganzes Geld bekommt, – – – na, nu hab' ich's ja doch rausgebeppert –«

»Ah!« sagte Bümi und sah mit einemmal aus wie eine elektrische Bogenlampe. »Na, so ein Filou! Das könnte ihm passen, dem Monsieur Botho! Aber da sind wir doch auch noch da, Meister Krone!«

»Ach – das hat sich was mit ›da sein‹. Wir sind alle zwei beiden keine heurigen Hasen mehr, Frau Geheimräten, und um bei jungen Liebesleuten aufzupassen, muß man früh aufstehen – Aber ich mach's besser! Ich gehe überhaupt nicht mehr schlafen, und weiche gar nicht mehr von dem kleinen Kerlchen – –«

»Ich glaube immer noch, Herr Rat, Sie sehen zu schwarz – –«

»Nee, nee, – ich bin trotz meiner achtzig noch hellsichtig; ich sehe noch mehr.«

» Noch mehr?«

»Freilich. In Liebessachen bin ich Ihnen doch über, Frau Geheimräten. – Die Zwillinge sind verliebt.«

»Was Sie sagen! Alle beide?«

»I wo doch! Eine!«

»Welche denn?«

»Als ob ich das sagen könnte. Eva oder Adelheid, ich kenne sie nicht aus'nander.«

»Aber bei welcher haben Sie denn Anzeichen bemerkt –«

»Den Namen kann ich Ihnen warrafftig nicht sagen, möglich auch, daß es beide sind, wenn mir auch scheint, die eine möchte lieber mit mir nach Schwarzhausen.«

»Welche denn?«

»Ja, das is es ja ebend! 'ne fatale Sache! Zwillinge ohne Unterscheidungsvermögen dürften überhaupt nicht geboren werden, und nur jemand wie diese Frau von Terlan-Olzen kann sich so 'ne Bosheit aushecken.«

»Und wen, meinen Sie, Herr Rat, will der andere Zwilling beglücken?«

»Den Hauptmann Ade, Herrn von Grau.« (Der gute Krone gebrauchte das »a. D.«, welches auf des Hauptmanns Visitenkarte stand, auch bei der Anrede mit, so daß es immer klang, als sage er ihm Lebewohl.)

»Ist es möglich?« rief Bümi. »Das wäre aber sehr erfreulich. Der Hauptmann ist solch ein biederer Mensch.«

»Das ist er! Eigentlich zu schade für so 'ne Terlansche.«

»Aber Herr Rat! So etwas müssen Sie gar nicht sagen. Unser Erni hat doch auch eine Terlan.«

»Das ist was anderes. Unser Erni ist ein Rumohr, und bei denen gedeiht alles. Das ist so 'ne warme Art – –«

»Nun, ich weiß nicht, Hauptmann von Grau hat auch etwas von einem soliden Kachelofen an sich, an dem man wintertags gut aufgehoben ist. – Mich sollte es freuen, wenn Eva die Erkorene wäre.«

»Das wird dem Hauptmann Ade wohl einerlei sein, ob Eva oder Adelheid.«

»Na, das hoffe ich doch nicht.«

»Der ist doch viel zu schüchtern, um näher nachzusehen, welches die eine oder die andere ist.«

»Beide kann er sich doch aber nicht nehmen.«

»Das ist's ja ebend. Es wird 'ne schreckliche Sache, passen Sie auf, Frau Geheimräten. Mir selbst ist's eingal. Ich habe genug um Kerlchen zu sorgen, der Windhund soll es nicht haben.«

»Und wird es auch nicht.«

»Gott geb's! – Aber gucken Sie da, – geht da nicht Kerlchen mit dem Leutnant; hat ihn der Deubel schon wieder hergefegt? Und wie angelegentlich sie reden, – na, ich bin hellsichtig, das Kerlchen ist ganz aufgeregt.«

»Heda, ihr zwei!« Bümis helle Stimme rief die beiden heran; Kerlchen folgte in raschen Sprüngen; etwas langsamer und offenbar ärgerlich der »liebe, böse Botho«.

» Schon wieder da, lieber Terlan?« fragte Bümi, die noch nie aus ihrem Herzen eine Mördergrube gemacht hatte. »Sie haben viel Urlaub dünkt mich.«

»Finden Sie, gnädige Frau? Ich finde, wir reiben uns geradezu auf im Königlichen Dienste. Denn zu diesen Ausflügen benutze ich die kargen Freistunden, und mein armer Gaul weiß ein Lied davon zu singen.«

»Aber warum schonen Sie das arme Tier nicht und gehen zu Fuß?« warf Kerlchen entrüstet ein.

»Um alles in der Welt, nur nicht noch einen Vortrag über den Tierschutz, Fräulein Felicitas, – ich habe heute schon genug. Im übrigen – können Sie sich doch denken, daß, wenn ich zu Fuß ginge, ich todmüde hier ankäme und allerhöchstens eine halbe Stunde für meinen Aufenthalt hätte.«

»O – in einer halben Stunde kann man sich schon viel zanken.«

»Tatet Ihr das?« fragte Bümi.

»Freilich!« erwiderte Kerlchen. »Botho von Terlans Hero hat Junge, und er will sie ersäufen. Gräßlich! Kommen Sie rasch, ich zeige Ihnen den Stall, wo ich sie alle unterbringen kann.«

Kerlchen nahm den Leutnant bei der Hand und zog ihn einfach mit sich fort.

»Sind Sie dieser Dame mit dem kategorischen Imperativ jegliche Auskunft über Ihr Tun und Lassen schuldig?« fragte Botho, als sie außer Hörweite waren.

»Sie reden wieder ganz undeutlich, Botho von Terlan, kein Huhn kann Sie verstehn.«

»Ich habe Sie auch nie zu diesen Haustieren gerechnet, Fräulein Fee, abgesehen davon, daß Sie ein ganz süßes Hühnchen sind.«

»Ich glaube, Sie dürfen so was nicht zu mir sagen,« meinte Kerlchen mit einem ernsthaften Gesichtchen. »Großmuusch sagt – –«

Botho stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf.

»Ich finde, Ihre Großmama sagt entsetzlich viel – –« .

Jäh drehte sich Kerlchen zu ihm um; es hatte eben noch an der Stalltür herumgeschlossen, jetzt riß es den Schlüssel heraus und steckte ihn energisch in die Tasche.

»Nun, was soll's?« fragte er belustigt.

»O, da gibt es gar nichts zu lachen. Sie können heimreiten. Jawohl! Ich zeige Ihnen den Stall nicht. Die armen Hundchen lasse ich holen. Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben, Botho von Terlan!«

Mit einem kühnen Satz war Kerlchen aus seinem Bereich, und da lief es auch schon wieder die Verandastufen hinauf.

»Sentimentalitäten und kein Ende,« knurrte der Leutnant und kaute ärgerlich an seinen Bartspitzen, »diese Wildkatze ist zum Tollwerden. Und dabei steht mir das Wasser bis an den Hals.«

Er drehte sich auf dem Absatz herum, sah nach der Uhr und ging dann dem Stalle zu. »Zwanzig Minuten vor sechs; um sechs kann ich, wenn ich scharf reite, noch zu Hirsch. Prolongieren muß er. Übermorgen ist vielleicht die Sache hier günstiger. Mädchenlaunen. – Avanti.«

Wenige Minuten darauf saß er im Sattel.

Kerlchen war ohne Aufenthalt zu Großmuusch gelaufen, – die saß im Großmutterstübchen, sehr behaglich, und schrieb in ein dickleibiges Buch.

Kerlchen flog stürmisch auf sie zu.

»Was gibt's, Kleinchen?«

»Ach, ich wollte dich nur mal streicheln. Du bist mein ganz Liebes, meine Wonnegroßmuusch. Flieg' nur nicht 'mal fort, Engelsgroßmuusch.«

»I wo werd' ich. Da müßte mir der liebe Gott schon 'n Luftballon schicken, gewöhnliche Flügel reichen für meine hundertfünfzig Pfund nicht aus.«

»Na, das ist denn auch gut, Großmuusch.«

»Weshalb kamst du denn eigentlich her – so ungestüm – Kerlelein?«

»Weshalb ? Oh – – nur aus Heimweh nach dir.«

»So so. – War jemand da?«

»Nur der Botho von Terlan-Olzen.«

»Schon wieder?«

»Ich hab' ihn denn auch weggejagt.«

»Es lebe die Gastfreundschaft, Kerlchen!«

Dann lachten sie beide, – ein liebes Duett, her glockentiefe Alt von Großmuusch und das Silberstimmchen von Kerlchen.

»Und was wolltest du jetzt tun?«

»Erst dem Reitknecht Bescheid sagen, daß er nach E. fährt oder jemand Zuverlässiges schickt, nämlich zu Botho von Terlan.«

»Kerlchen, Kerlchen, ich würde mir mit dem Fludribus am liebsten gar nichts zu schaffen machen.«

»Tu' ich auch nicht, Großmuusch. Nur hat er so süße junge Hunde gekriegt, die will ich holen lassen.«

»Das ist denn etwas Anderes. Hol' sie dir; mehr als zehn sind's hoffentlich nicht.«

»Nur fünf, Großmuusch. – Und dann will ich einen tüchtigen Ritt machen.«

»Waghalsig, Kerlchen?«

»Nein, – einen ordentlichen, ehrlichen Ritt, mit ein paar winzigen Hindernissen vielleicht, – ›Sturmwind‹ wird ja ganz steifbeinig und bequem; Onkel Erich hat mir schon vorgeschlagen, ich sollte ihn ›Rentier‹ oder ›Philister‹ taufen.«

»Erich-Bruder ist mir der Rechte.

Dem ist kein Gaul temperamentvoll genug. Aber ich bin eine Großmutter und sehe dich lieber mit 'm ›Philister‹, als mit 'm ›Sturmwind‹ zusammen.«

»Wie hießen denn deine Pferde früher, Großmuusch? Herr von Reymerstal hat mir mal erzählt, du hättest immer wie der Leibhaftige geritten und herrliche, feurige Pferde gehabt, – na, wie hießen sie?«

»So, das hat er dir erzählt, der große Pädagoge? – Er wird alt, Kerlchen, und besinnt sich nicht mehr so; – meine Rösser waren zahme Rosinanten –«

»Warum siehst du mich nicht an, Großmuusch, und warum machst du ein Gesicht?«

»Mach' ich eins?«

»Wie hießen sie? Na?«

»›Donner‹ und ›Doria‹!«

Ein lustiges, schallendes, herzhaftes Lachen, dann war Kerlchen zur Tür hinaus.

Frau von Rumohr sah ihm mit guten, warmen Blicken nach. »Gott behüt' dich, du Wildes! Sturmwind! – Großmuusch – es hilft dir nichts, – dein Ebenbild ist's!«

 

Kerlchen war nach dem Stall geeilt, wurde aber unterwegs abgefangen.

Herr von Grau kam von »Goethes Gartenhaus« her geschlendert und schien hocherfreut, dem Kerlchen zu begegnen.

Er hatte das frische Kind, das zugleich Großnichte und erklärter Liebling seines Freundes Erich Schlieden war, gern. Dem Kerlchen gegenüber war er auch nicht schüchtern, das wollte nicht damenhaft unterhalten sein, kannte weder Hohn, noch Ironie, ja war selbst in der Neckerei nicht sehr bewandert, sprach dagegen riesig verständig von Pferden, was auch sein, des Hauptmanns, Lieblingsthema war.

Auch heute erkundigte sich Kerlchen gleich nach »Blaustrumpf«, des Hauptmanns brauner Stute, nachdem sie dem Besitzer erst kordial die Hand geschüttelt und dann noch nachträglich einen tiefen, windschiefen Knicks hingesetzt hatte, den sie immer für »alte Herren« in Bereitschaft hielt. »Ach lassen wir heute die Gäule, Fräulein Felicitas, ich möchte wohl mal was Verständiges mit Ihnen besprechen.«

»Gibt es denn noch was Verständigeres?« fragte Kerlchen erstaunt, ging aber dann sehr ergeben neben Herrn von Grau in den herbstlichen Park hinein.

Es mochte ihn auch ganz gut leiden, das »Grauchen«, wie Großonkel Erich ihn nannte, nur wurde Grauchen so sehr weitschweifig, wenn er die erste Schüchternheit überwunden, und stieß außerdem mit der Zunge an. – Kerlchen bekam deshalb leicht »das Lachen« und ärgerte sich dann über sich selbst, denn es wollte natürlich den »alten Herrn« nicht beleidigen.

»Wissen Sie vielleicht, wo Fräulein von Terlan ist?« fragte Grauchen.

»Welches denn?«

»Ach so! – Hm. Ich meine Fräulein Eva.«

»Die ist vorhin in den Wald gegangen, sie nahm ein Buch mit.«

»So? Wissen Sie vielleicht, welches Buch?«

Kerlchen sah ihn erstaunt au. »Ich glaube, die Fliegenden Blätter.«

»Ach – sehr gut!« Hauptmann von Grau hatte selbst immer viel in den »Fliegenden« gelesen und seinen Bedarf an Humor daraus gedeckt, im Gegensatz zu seiner ersten Frau, die nur Kriminalromane las und fast jeder Schwurgerichtssitzung beiwohnte.

»Also die Fliegenden! Sehr gut, sehr gut!

Und was hat – die Dame, – ich meine Fräulein Eva von Terlan, sonst noch für Liebhabereien?«

»Schöne Handarbeiten! – Ach, die kann sie fein sticken!« rief Kerlchen arglos. »Und kochen tut sie gern, denken Sie sich bloß – kochen. Sie kann einen Mandelpudding machen!«

Diese Künste schienen für Kerlchen etwas Überwältigendes zu haben, wahrscheinlich, weil sie ihm selbst durchaus fremd waren, denn es schlug beide Hände bewundernd zusammen, und Hauptmann von Grau sah freundlich und glücklich in das strahlende Gesichtchen.

»Sehr schön, sehr schön!« frohlockte er. Er konnte die Frauen nicht leiden, die Leitartikel in den Zeitungen lasen und womöglich verstanden, und welche ihre eigenen und des Gatten Strümpfe fertig kauften und dann wieder zum »Anstricken« fortgaben.

»Fräulein Eva scheint mir auch ein ruhiges Gemüt zu haben,« fragte er so ganz obenhin.

»Na, es geht,« sagte Kerlchen ehrlich. »Sie wird ja auch manchmal furchtbar von Adelheid ›gezercht‹, aber außer (neulich mal) der Haarbürste hat sie ihr noch nie was an den Kopf geworfen.«

Hauptmann von Grau blieb stehen und rieb sich in unbehaglicher Stimmung das Kinn.

Das war sehr fatal. Harte Gegenstände hatte er genugsam in seiner ersten Ehe fliegen sehen, es gelüstete ihn nicht ein zweitesmal danach, – er hatte es sich – im Gegenteil sehr mollig gedacht, von einer feinen, weichen, aristokratischen Hand gestreichelt zu werden – – die letzten Jahre eines beschaulichen Lebens hindurch.

» Nur!« rief er unbehaglich und entrüstet. »Wie können Sie › nur‹ sagen? Ist das nicht ganz entsetzlich, wenn ein junges, schönes, vornehmes Mädchen einem anderen Mädchen eine Haarbürste an den Kopf wirft?«

»Es war nicht die neue, die Großmuusch ihr geschenkt hat,« verteidigte Kerlchen, »na, und überhaupt Adelheid, die hätte ich längst totgeschlagen.«

Hauptmann von Grau blieb wieder stehen und sah völlig sprachlos auf das reizende Geschöpfchen da vor ihm, das vorgab, so blutdürstig zu sein.

»Ach, – lassen Sie sich nur mal alles fortnehmen,« plauderte Kerlchen eifrig weiter, »Haarnadeln und Schleifen und Strumpfbänder und alles, und neulich sogar den falschen Zopf – gerade wie Sie unten warteten, um mit uns auszureiten. Da wurde denn auch richtig das Evchen nicht fertig, und Sie mußten mit der greulichen Adelheid allein abziehen.«

Kerlchens Begleiter machte in diesem Augenblicke ein sehr dummes Gesicht, denn er entsann sich, daß er gerade bei diesem Spazierritt sicher gemeint, Eva an seiner Seite zu haben, und ihr deshalb einige zart verblümte Andeutungen verabreicht hätte. – – Wie ungeheuer fatal!

»Ritt denn Fräulein Eva nicht mit?« fragte er zur Vorsicht noch einmal.

»Bewahre, – ich blieb ja bei ihr. Sie kriegte ja 'n Weinkrampf.«

Hauptmann von Grau überlief es kalt.

Weinkrämpfe waren auch etwas, das er nicht vertragen konnte, aber daß Eva ihn seinetwegen bekommen hatte, beruhigte ihn etwas. In diesem Augenblick tauchte Evas weißes Kleid zwischen den Tannen des an den Park unmittelbar angrenzenden Waldes auf.

»Da ist ja die Eva!« rief Kerlchen.

»Pst! Nicht so laut! Wissen Sie es denn genau?«

»Aber freilich! Eva hat doch etwas helleres Haar, und wenn sie 'n Hut aufhat, trägt sie nie einen Schleier, und in der Kragenweite hat sie 36 und Adelheid nur 35 und ihre Taschentücher sind mit E. v. T. gezeichnet.«

»Das sind ja dumme Merkmale, was soll ich mit denen anfangen?«

»Das weiß ich ja nicht, aber ich finde es furchtbar dumm, daß Ihr alle die Zwillinge nicht kennt, – ich kenne sie.«

»Ja, es ist furchtbar,« bestätigte der Hauptmann. »Aber ich bin kurzsichtig – deshalb konnt' ich ja auch kein Feldartillerist bleiben. Und nun ade, Fräulein Fee, Sie sind wirklich eine gute, kleine, liebe Fee; ich werde 'mal jetzt zu Fräulein Eva hingehen und – und fragen, wie es ihr geht. Und nicht wahr, Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß es Fräulein Eva ist?«

»Mein Ehrenwort!« entgegnete Kerlchen stolz.

 

Wie spät es schon geworden war!

Kerlchen ging oder lief vielmehr durch den ganzen Park zurück nach dem Stall, sattelte rasch den »Sturmwind« selbst und flog dann in kurzem, scharfem Galopp die Landstraße entlang.

»Sturmwind« war ein wundervolles, edles Tier, aber freilich doch kein »Cassim«, den das Kerlchen unter heißen Abschiedstränen in Indien zurückgelassen hatte. Aber hier in Deutschland hatte es auch noch niemals wieder solche tollkühnen Ritte unternommen, wie in dem fernen Märchenlande, nach dem es eine schmerzliche Sehnsucht im Herzen trug. Im tiefen Walde fühlte es dies Heimweh nicht so arg, – es war ein gar liebes Stellchen, auf dem Kerlchens »Baum« stand, mit dem es so oft wunderliche Zwiesprache hielt.

Kerlchen bog von der Landstraße ab und ritt nach rechts auf dem moosigen Waldpfade nach Pulverbek und Sauerkrug zu.

Es hatte das Galoppieren aufgegeben und erlaubte sogar »Sturmwind«, der ganz zahm geworden war, ein wenig Leckermaul zu sein und unter den dicht gefallenen welken Buchenblättern nach etwas Besserem zu wühlen, während Kerlchen die Zügel locker hielt und – »in die Wicken horchte«.

Plötzlich erschrak es und zog die Zügel so heftig an sich, daß Sturmwind einen großen Satz machte, der Kerlchen beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.

Noch ein Augenblickchen lugte es scharf hin auf das, worüber es sich so erschrocken, dann sprang es vom Pferd, warf die Schleppe des Reitkleides über den Arm, zog einen dicken Strick aus der Tasche und band »Sturmwind«, der betrübt ob seines jetzt so wenig passenden Namens dastand, an »Kerlchens Baum«.

Dann lief es, – wenige Schritte nur – und nun richtete sich der Mann halb auf, der da längelang unter der Tanne lag.

»Hans-Hugo Eulried!«

»Ja, Felicitas, Sie kommen gerade recht. – Eine ganz dumme Verstauchung – oder ein Bruch – ich komme nicht hoch – Sie müssen rasch nach Rumohr oder Eulried und Leute holen, – ich – ich – – –«

Kerlchen sah, wie er erblaßte, und beugte sich zu ihm herunter.

»Kann ich denn vorher gar nichts tun, Hans-Hugo Eulried?«

Er antwortete nicht, aber eine immer tiefere Blässe verbreitete sich über das ganze Gesicht.

Kerlchen sah nun auch, daß vom Hinterkopf ein Blutbächlein in den weißen, schon ganz blutdurchtränkten Kragen rieselte.

Hastig zog es sein Taschentuch hervor und drückte es sacht auf die Wunde. – Eulried seufzte schmerzlich auf.

»Gleich – gleich bin ich wieder da,« rief Kerlchen, und dann war »Sturmwind« im Nu frei, – Kerlchen auf seinem Rücken, ein scharfes Schnalzen – – wahrlich, er machte seinem Namen Ehre. Bis nach Eulried brauchte es nicht zu reiten, schon auf dem Viertelswege begegnete es dem Reitknecht, der mit Hans-Hugos prächtigem Pferd »Klingsor« nach Pulverbek-Sauerkrug ritt, wohin er von seinem Herrn bestellt war.

Kerlchen jagte ihn mit der Botschaft von der Verwundung des Gutsherrn sofort nach Schloß Eulried zurück; es selbst aber wendete »Sturmwind« und flog wieder zu »seinem Baum«.

Hans-Hugo Eulried lag noch genau so, wie es ihn verlassen hatte, und Kerlchen sah sich ratlos um, nachdem es »Sturmwind« aufs neue angebunden.

Es wußte, weit und breit war kein Wasser zu haben, was jetzt doch wohl das nötigste gewesen wäre, und die paar Brombeeren, die es eben jetzt an einem halb entblätterten Strauche fand, konnte es dem Kranken nicht reichen, weil er nicht hörte, wenn es ihn anrief.

Kerlchen ließ sich auf beide Knie nieder und versuchte, Hans-Hugo Eulried in eine etwas bequemere Lage zu bringen, nachdem es schon gleich zuerst den spitzen Stein, der die Kopfwunde verursacht, voll Entsetzen weit fortgeschleudert hatte, – aber ein leises Stöhnen zeigte ihm sofort, daß mit der Veränderung große Schmerzen verknüpft seien, und so schob es nur sacht seinen Arm unter Hans-Hugos Kopf.

Wie blaß er war!

Kerlchen hätte am liebsten laut aufgeweint. Ganz leise rief es seinen Namen, und als das gar keinen Erfolg hatte, fing es an, mit dem Verwundeten zu reden, wie es so oft mit »Kerlchens Baum«, Kerlchens Stellchen, Zwiesprach gehalten hatte.

»Hans-Hugo Eulried, bist du mir noch bös? Sei es doch nicht! Du mußt auch nicht blaß sein und sterben. Ich hab doch gar nicht gewußt, daß du mein süßes Mütterchen so lieb gehabt hast, als es noch ein ganz jungs war, – nichts habe ich gewußt.

Undankbar bin ich doch nicht, Hans-Hugo Eulried. Du mußt das ja nicht denken, das tut mir ja weh.

Und du mußt nicht so greulich zu mir sein, – ich tu' dir ja gar nichts. Das Bild hast du ja auch wieder, alles ist doch in schönster Ordnung, warum nennst du mich denn ›Sie‹?«

Die letzte Frage war wohl besonders eindringlich gewesen, denn der Verwundete schlug die Augen groß auf, schloß sie aber gleich wieder.

Der Schimmer eines Lächelns flog über sein Gesicht, – es mochte ihm wohl wie ein süßer Traum vorkommen, daß sich ein paar tiefe, gute Augen über ihn neigten, und eine liebe, weiche Stimme so sanft mit ihm sprach, wie es niemand getan, seit ferner, ferner Kinderzeit.

Dann bog ein Wagen in raschem Lauf um die Waldecke und hielt an der Stelle, wo Kerlchen mit dem Kranken saß.

Oberst Erich stieg hastig mit den beiden Dienern aus, die ihn, an »Goethes Gartenhaus« vorüberfahrend, mitgenommen hatten, und sah sehr erstaunt auf seine Großnichte.

»Brav, Kerlchen,« war alles, was er ihm zuraunte, dann holte er erst mal eine Feldflasche mit frischem Wasser hervor, das er dem Verwundeten einträufelte, während der erfahrene alte Diener eine kalte Kompresse auf die Stirn legte.

Kerlchen konnte nun seinen Arm, der ganz und gar eingeschlafen war, hervorziehen, und es schauderte leicht, als es jetzt fühlte, wie blutdurchtränkt sein Kleid war.

Onkel Erich nahm die grüne Jagdpelerine vom Boden auf, wohin sie Hans-Hugo wohl beim jähen Fall geschleudert, und warf sie Kerlchen über, da er für den Kranken genügend Decken mitgenommen hatte.

»Reite rasch heim,« redete er Kerlchen zu, – aber das stand doch vorerst wie angenagelt an seinem Platze und sah auf den Bewußtlosen, dessen Fuß man sorgfältig geschient, und den man nun forttrug und langsam auf die weichen Polster des bequemen Wagens hob.

Erst als auch die andern Männer wieder eingestiegen waren, und der Wagen sich langsam in Bewegung setzte, ging Kerlchen auch zu »Sturmwind«.

Der feuchte Ärmel, der jetzt kalt und schwer den Arm umschloß, ließ es zusammenschauern, – einen Augenblick lehnte es sich, leise aufschluchzend, an »Sturmwind« an, dann schloß es die Pelerine fest um seine schlanke Gestalt, schlüpfte mit den Händen durch die Ärmellöcher, an welche sich sonst ein Jagdmuff schloß, faßte Zügel und Steigbügel und schwang sich in den Sattel.

Aber es nahm jetzt seinen Weg quer durch den Wald, es mochte den langsamen Wagen nicht noch einmal sehen mit dem blassen Manne darin.

Als es »Sturmwind« in den Stall gebracht und der Obhut und Pflege des erfahrenen Reitknechtes übergeben hatte – denn Kerlchen selbst war müde und erschöpft, – begegnete ihm Eva von Terlan, die es mit einem Jubelruf in die Arme schloß.

»Kleines Kerlchen, ich habe dich wie eine Stecknadel gesucht,« rief sie fröhlich, »endlich bist du da! Aber was ist dir, du siehst so blaß und erschrocken aus? Ist dir etwas begegnet? Hast du dich überanstrengt? Du solltest nicht so weite Ausflüge machen, Kerlchen, es ist unrecht.«

Kerlchen war heute wortkarg, sonst pflegte es immer trotz aller Erschöpfung noch heiter zu plaudern, heute antwortete es gar nicht und hielt den rechten Arm merkwürdig ungeschickt und fest an sich gedrückt.

»Kerlchen, – bist du verwundet? So sprich doch ein Wort!«

»Ich möchte Großmuusch haben,« sagte Kerlchen leise, und dann war es davongelaufen, und Eva sah ihm kopfschüttelnd nach.

Aber drinnen im Großmutterstübchen, da löste sich die Spannung und große Aufregung der letzten Stunden.

Kerlchen wurde zu Bett gebracht, nachdem es ein erquickendes Bad genommen hatte, und dann saß das liebe Großmuusch am Bette der Enkelin und hörte verständnisvoll eine lange, aufgeregte Geschichte mit an und hörte auch noch das kindliche Gebet, in dem der Verwundete unserm Herrgott recht eindringlich ans Herz gelegt wurde.

»Gute Nacht, Kerlchen!«

»Gute Nacht, Großmuusch! – Und grüß doch auch Hans-Hugo Eulried.«

»Das will ich tun, Kerlchen.« – Nach fünf Minuten schlief Kerlchen traumlos und fest, und Frau von Rumohr fuhr in raschem Trabe nach Schloß Eulried.

 

Am andern Morgen, als Kerlchen erwachte und sich mit ziemlich müdem, schwerem Kopf auf das Vergangene besann, saß Eva von Terlan schon an seinem Bett und schien ungeduldig das Erwachen abgewartet zu haben.

»Endlich, du Murmeltierchen,« rief sie und riß die Vorhänge zurück, daß die goldene Herbstsonne breit in die großen Fenster flutete. »Aber du siehst noch etwas düsig aus, Fee, ist dir nicht gut?«

»Es geht – etwas matt bin ich. Wovon, weiß ich freilich nicht, und geschlafen habe ich brillant. Himmel, es ist schon 7 Uhr. Das geht doch über Kreid' und Rotstein.«

»Tante Rumohr hat mir gestern noch alles erzählt,« berichtete Eva. »Und heute um 6 Uhr kam schon ein reitender Bote. Es steht nicht gut in Eulried, – Tante Felicitas hat sich verschiedene Sachen kommen lassen, denn sie will vorläufig dort bleiben und gemeinsam mit einer Diakonissin die Pflege übernehmen. Der Eulried hat ja den rechten Fuß zweimal gebrochen und die Hand bös verstaucht, ein tiefes Loch im Hinterkopf hat ihm außerdem eine Menge Blut fortgenommen. Nun, das kann dem Hitzkopf am Ende nichts schaden.«

»Ist er denn ein Hitzkopf?« fragte Kerlchen ganz mechanisch. Es besann sich jetzt erst ordentlich wieder auf alles, und sein Herz tat ihm sonderbar weh.

»Freilich ist er ein Hitzkopf, man erzählt sich allerlei von ihm,« entgegnete Eva eifrig, »und dann weißt du, so stille Wasser sind immer tief, da findet man oft ganz Unvermutetes auf dem Grunde. Armes Kerlchen, du hast dich gewiß gestern sehr gefürchtet mit deinem Feinde so allein im Walde.«

»Meinem Feinde?«

»Nun ja, – Herr von Eulried kann dich doch nicht ausstehen, Kleines, du brauchst nicht so rot zu werden, sieh, das wissen wir ja alle. Damals, als er dich von Indien hergebracht, hat er eine Schilderung von dir entworfen, daß wir glaubten, wir bekämen eine kleine, wilde, gelbe Katze als Hausgenossin, – aber gottlob, du warst doch nachher ganz menschlich.«

Eva lachte und strich zärtlich über Kerlchens Haar.

»Wem hat er die Schilderung entworfen?« fragte Kerlchen finster.

»Ja, wenn ich das noch wüßte! Ich glaube, es ist auf Umwegen zu uns gelangt. Deiner Großmuusch hat er's wohl voll Zorn erzählt und die Stimme dabei sehr erhoben, und die Stubenjungfer hat gehorcht und alles mit angehört und hat es dem Diener erzählt, dem jungen Albert weißt du, und der ist verlobt mit Mamas Minna.«

Kerlchen war sehr blaß geworden, blaß und kalt.

Wie erbärmlich das doch alles war. Wäre es doch in Indien! Könnte es wieder, wie ehemals, nach einem heißen, anstrengenden Ritte in der Hängematte auf der Veranda des kleinen Bungalow liegen, von Maria mit dem großen Punkah gefächelt und Franz Körbs lauschend, wie er mit tiefer, wohlklingender Stimme von den Eltern erzählte! Die hatten das Kerlchen lieb gehabt, ach – so lieb, und hatten es doch allein gelassen und hatten geduldet, daß es in das kalte Deutschland kam, wo es niemand kannte und niemand liebte.

Niemand? Und Großmuusch?

Freilich, die war seelensgut und hatte es lieb, aber sie hatte den Hans-Hugo Eulried auch lieb und war bei ihm und pflegte ihn.

Siedendheiß stieg die Scham in Kerlchen empor.

Es hatte gut sein und glücklich machen wollen, – Hans-Hugo Eulried hatte ja sein Mütterchen lieb gehabt, – und nun war das Gutsein gar nicht verlangt worden, und Hans-Hugo fand es vielleicht wieder ganz und gar unweiblich, daß es solange im Walde bei ihm Wache gehalten hatte.

»Geh jetzt fort,« bat Kerlchen leise, – denn Evas Gegenwart war ihm jetzt ganz unerträglich. »So geh doch,« setzte es zornig hinzu, als sah, daß Eva gar keine Miene machte, aufzustehen, »kann ich denn niemals allein sein?«

»Bist du aber ein Feuerteufel,« meinte Eva gekränkt, »ich wollte dir doch nur Gutes tun, weil Tante Felicitas nicht da ist, die doch sonst immer früh in dein Zimmer kommt.«

Kerlchen sah sie feindselig an.

»Was machst du für ein Gesicht? Du denkst gewiß, ich kann Herrn von Eulried leiden und will dich aushorchen. Nein, mein Kerlchen, er ist mir ebenso greulich wie dir, und Mama kann sich auf den Kopf stellen, ich heirate ihn nicht. Meinst du, ich möchte einen Mann haben, der einen so durch und durch ansieht und so entsetzlich klug ist und sieben Sprachen spricht und gewiß alles besser wissen will, und der so alt und häßlich ist? – – Das heißt, alt ist er ja gar nicht, erst vierzig, das ist nicht schlimm,« fuhr Eva plötzlich sehr rot in gänzlich verändertem Ton fort, »ach Kerlchen, ich mag so junge, freche Dachse gar nicht leiden, – man muß doch zum Manne in die Höhe sehen können, nicht wahr, Kerlchen, – am besten ist eigentlich jemand, der schon mal verheiratet war, – der kennt das Leben dann – – ach, Kerlchen, ich bin wahnsinnig glücklich!«

Dieser letzte Ausruf veranlaßte Kerlchen denn doch, nach Eva von Terlan hinzusehen, bis jetzt hatte es immer auf einen Punkt gestarrt in einem Zustande von ohnmächtigem Schmerz, Zorn und dem kaum bezähmbaren Verlangen, etwas gegen die Wand zu schmettern.

Aber der wirklich glückselige Ausdruck in Evas Gesicht, die Freudentränen in ihren Augen wirkten heilend, Kerlchen freute sich gar zu gern mit andern.

»Was ist denn los?« fragte es. »Sag' mir's schnell und dann geh. Ich will aufstehen.«

»Aber so steh doch auf! Ich schwatze derweilen.«

»Nein, ich mag niemand im Zimmer haben, wenn ich mich ankleide.«

»Du Närrisches! – Aber so in fünf Minuten kann ich dir meine Erlebnisse nicht erzählen. Kerlchen, ich bin furchtbar glücklich.«

»Ja, und furchtbar langweilig,« stieß Kerlchen zornig hervor, »gehst du nun oder gehst du nicht?«

»Ich bin ja schon draußen,« rief Eva lachend, »aber in einer Stunde spätestens bin ich wieder da, und dazwischen schreibe ich einen Brief, Kerlchen, einen lieben, wonnigen Brief.«

Als Eva endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, war Kerlchen mit einem Satz aus dem Bett und verriegelte alles.

Dann zog es sich in fliegender Hast an und wies die braune Maria ungeduldig fort, die ihm meldete, daß das Bad bereit sei.

»Jetzt nicht! Später! Ich will ausreiten, einen langen Ritt machen!« rief Kerlchen durch die geschlossene Tür, und Marias Schritte entfernten sich.

»Vielleicht komme ich gar nicht wieder,« stieß Kerlchen im Selbstgespräch hervor, »was soll ich eigentlich hier?«

Es war sich gar nicht klar über die Berechtigung seines Zornes, es war aber einmal da, dieses Erbteil seit Generationen. Ob Rumohr, ob Schlieden, jähzornig waren sie alle gewesen, die in langer Ahnenreihe drunten im großen Saale hingen.

Und dann suchte es sein Reitkleid und fand es nicht und dachte nun erst daran, daß es blutbeschmutzt war, und daß die sorgliche Großmuusch es gestern mit fortgenommen hatte.

Aber die grüne, verschossene, alte Jagdpelerine lag über dem Sessel, und Kerlchen hob sie auf, betrachtete sie ein Weilchen, drückte dann plötzlich sein Kindergesicht tief, tief in den dicken, weichen Stoff und fing bitterlich an zu weinen.

 

»So willst du doch unmöglich ausreiten?« fragte eine Stunde später Eva von Terlan, als Kerlchen vorsichtig zum Stall schlich, aber doch seinem Schicksal, abgefangen zu werden, nicht entging. »Ich meine, in dem Aufzug, Kerlchen.«

Es sah allerdings sonderbar genug aus, das Gnomchen, in einem kurzen, fadenscheinigen, schwarzen Rock, unter dem die eleganten Lackreitstiefel mit den silbernen Sporen ordentlich aufdringlich hervorguckten. Über diesem schwarzen Rock trug es eine verschossene, grüne Jagdpelerine, die offenbar niemals für eine Dame gearbeitet worden war, und die Kapuze dieser Pelerine hatte es sich über den Kopf gezogen, – das braune Gesichtchen mit den dunkelblonden Locken und den leuchtend blauen Augen schaute unendlich lieblich daraus hervor.

»Es ist nichts anderes da, laß mich,« knurrte Kerlchen.

»Du willst doch damit nicht sagen, daß ich eine Stunde umsonst auf dich gewartet habe? Unsinn, jetzt hab' ich dich 'mal, und nun mußt du mich anhören.«

Eva zog Kerlchen ohne weiteres in den Stall, in dem »Sturmwind« schon ungeduldig scharrte, und drückte es auf die große Futterkiste, als sei dieses Möbel vom Geschicke schon dafür bestimmt, Zeuge großer Geheimnisse zu sein.

»Kerlchen, du bist das einzige Wesen in Europa, dem man ein Geheimnis anvertrauen kann,« flüsterte Eva. – »Es drückt mir beinahe das Herz ab. Kerlchen, ich hab' jemand lieb, und er mich.«

»Das ist schön,« sagte Kerlchen.

»Ach, du Eiszapfen! Das nennst du bloß schön? – Überwältigend ist es, – einfach rasend, himmlisch!«

»Wie du aussiehst, Eva von Terlan! Ganz anders als sonst! – Du warst doch sonst immer so vornehm, daß ich mich richtig vor euch allen gefürchtet habe, und jetzt siehst du aus wie'n gewöhnlicher Mensch, bloß döller.«

»Du bist ein kleines Schaf, Kerlchen. Aber nun tu mir die einzige Liebe und frage, wer es ist?«

»Wer denn?«

»O, Kerlchen, bist du nicht rasend gespannt?«

»Nein, nicht so sehr, aber ich freu' mich doch. Sag' es nun!«

»Hauptmann von Grau.«

»Hm! Das ist nett. Wann willst du ihn denn heiraten ?«

»Pst, Kerlchen, nicht so laut! Wer spricht denn davon. Das kommt doch erst ganz, ganz zuletzt.«

»So? Aber er ist doch schon alt und kann bald sterben.«

»Kerlchen, er ist achtundvierzig, nur acht Jahr älter als Eulried.«

»Soo? Na ja, mag sein, er sieht aber aus, als wär' er sein Vater; vielleicht weil er so klein und dick ist.«

»Du bist nicht sehr höflich, Kerlchen,« meinte Eva gekränkt.

»O – war ich wieder eklig? Wie mir das leid tut! Weißt du, es ist so einerlei, wie jemand aussieht, und dein Hauptmann von Grau ist so furchtbar nett und gut inwendig, und ich will auch nie mehr lachen, wenn er mit der Zunge anstößt.«

Eva zog das reumütige Kerlchen an ihr Herz und war auch über die letzte Bemerkung gar nicht empfindlich.

»Nein, mein Kerlchen, ich finde es ja selbst furchtbar komisch und habe mich richtig auf die Lippen beißen müssen, als er mir gestern sagte: .Die Liebe i–st eine Himmel–smacht'.«

Beide Mädchen lachten jetzt schallend.

»Nein, nein, das ist alles äußerlicher Kram,« lenkte Eva erschrocken ein, »ich hab' ihn sehr lieb und kann's ihm vielleicht noch abgewöhnen. Denk' an Demosthenes!«

»Habt ihr euch schon geküßt?«

»Ach Gott,« sagte Eva errötend, »so weit sind wir noch gar nicht. Das kommt wahrscheinlich heute. Ich soll bestimmen, wo wir uns treffen wollen, weil doch Mama erst morgen kommt. Und nun ist nicht 'mal deine Großmuusch da. Ich habe ihm vorhin geschrieben, daß es am besten im Pavillon im Obstgarten geht.«

»Ja, da geht's,« bestätigte Kerlchen mit einer Sachverständigkeit, die Eva erstaunt aufhorchen ließ. »Ich war nämlich mit dabei, wie der Radmacher die neue Bank zimmerte und anstrich. Weißt du, die alte hatte Onkel Paul beim Verloben zusammen gesessen. Aber die neue ist dauerhaft, sagt Radmacher Pilz.«

Eva gab Kerlchen einen Kuß mitten auf den Plaudermund, und dann wollte sie das liebe Thema, was »Er« gesagt, und was »Sie« gesagt, noch weiter ausspinnen, aber Kerlchen sprang energisch auf.

»Laß mich jetzt, Eva, – gelt, du läßt mich? Ich bin ja so froh mit dir und wünsche dir viel Glück mit dem Herrn Hauptmann von Grau.«

»Wenn du bloß nicht so laut reden wolltest, Kerlchen.«

»Ach, – ›Sturmwind‹ sagt's keinem wieder,« rief Kerlchen, und dann hielt es seinem lieben Kameraden schon ein Stück Zucker hin, das dieser wohlig mahlend verzehrte, und dann war's auch in kurzer Zeit draußen und im Sattel.

Da ritt es hin, das wunderliche Gnomchen, und Eva schritt nachdenklich ins Haus.

Heute erschrak Kerlchen nicht, als es an seinen »Baum« kam und wieder etwas Fremdes dort erblickte, – es war Adelheid von Terlan, die an dem schönen Herbsttage mit Staffelei und Palette und Feldstuhl bewaffnet den Baum malte, – Kerlchens Baum.

»Was tun Sie denn da, Adelheid von Terlan?« fragte es unwirsch, nachdem es abgestiegen.

Keuchen hielt nur Eva des verwandtschaftlichen »Du« für würdig.

»Wie Sie sehen!« war Adelheids ruhige Antwort, ohne daß sie merklich von ihrer Staffelei aufsah.

»Das ist nämlich mein Baum,« erklärte Kerlchen.

Adelheid lachte.

Schon an dem Lachen mußte man die Zwillinge unterscheiden können.

Adelheid lachte selten und dann spitz und hoch, wie Frau von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien; Eva hatte ein gutmütiges, sonores Lachen, dem das von Botho noch am ähnlichsten war, nur hatte sich der Leutnant ein schneidig sein sollendes, aber ziemlich unschönes Meckern dazu angewöhnt.

»Warum lachen Sie?« fragte Kerlchen entrüstet. »Es ist mein Baum, Großmuusch hat ihn mir geschenkt, Sie mußten mich fragen, wenn Sie ihn malen wollten.«

»Das ist ja eben das Lächerliche,« erklärte Adelheid gelassen. »Aber ich möchte mich jetzt nicht mit Ihnen zanken, Kleine. Sind neuere Nachrichten von Schloß Eulried da?«

Kerlchen schüttelte den Kopf.

»Es ist recht fatal. Herr von Eulried fing an, geselliger zu werden, man konnte erwarten, ihn diesen Winter öfters zu sehen, und nun bricht er sich den Fuß.«

Kerlchen stand schweigend da.

»Nun, so reden Sie doch auch etwas. Sie wissen das Nähere, Sie waren ja ganz romantisch die gütige Fee, die ihn fand. Es muß ja zum Totlachen gewesen sein. Wie benahm sich Ihr Widersacher? Und Sie selbst? Sagen Sie nur hübsch die Wahrheit, und beschönigen Sie nichts; ich weiß selbst, daß Schadenfreude die reinste Freude ist.«

Als hätte Adelheid chaldäisch gesprochen, so blickte Kerlchen sie an.

»Übrigens wenn Sie Trappist geworden sind, – mir ist's egal, und für die Umgebung wird's eine Erholung sein,« fing Adelheid wieder an, »aber eine Frage wünsche ich doch von Ihnen beantwortet zu haben: ›Seit wann machen Sie längere Spaziergänge mit Hauptmann von Grau‹?«

»Seit gestern.«

»So, und wie lange bis in den Winter hinein gedenken Sie diese gewiß interessanten Ausflüge fortzusetzen?«

»Gar nicht.«

»Ihre Antworten zeugen von großem Geist; nun, was hat er denn gestern so angelegentlich mit Ihnen besprochen?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Sie sind ein abscheuliches Mädchen,« rief Adelheid und sprang auf, während »Kerlchens Baum« samt Pinsel und Palette auf den Moosplatz fiel. »Jawohl, ein unerzogenes und abscheuliches Mädchen, ich wiederhole es trotz Ihrer wütenden Augen.«

»Meinetwegen, es ist mir – hundeegal.« Kerlchen erfand das Wort in raschem Zornanflug und besann sich auf noch andere, noch deutlichere Schimpfwörter, um recht ihre Selbständigkeit und gänzliche Mißachtung von Adelheids Ansichten über Erziehung zu beweisen. Aber es fand nichts Passendes, oder vielmehr Unpassendes und beschloß daher, kurzweg davon zu reiten.

Adelheid legte mit großer Energie die Hand an »Sturmwinds« Zügel.

»Sie reiten nicht eher fort, Felicitas Christiani, ehe Sie mir meine Frage beantwortet haben. Was hat Hauptmann von Grau mit Ihnen gesprochen?«

»Phhh! Lassen Sie ›Sturmwind‹ los! Ich sag's nicht. Ich will nicht. Lassen Sie ›Sturmwind‹ los, – oder – –«

Kerlchen sah unheimlich entschlossen aus, und da Adelheid rasch überlegte, daß sie als »vornehme Dame« bei diesem »unerzogenen, ungebildeten, frechen Geschöpf« nur den Kürzeren ziehen konnte, so trat sie sofort einen Schritt zurück.

»Gut!« nickte sie hochmütig. »Ich werde meinen Bräutigam selbst fragen.«

Kerlchen ließ »Sturmwind« sofort los und packte Adelheid am Handgelenk.

»Wen?« fragte es heftig erschrocken.

Adelheid riß sich los.

»Was fällt Ihnen ein? Meinen Bräutigam, Hauptmann von Grau.«

»Das ist nicht wahr,« stammelte Kerlchen, und sah so blaß und erschrocken aus, daß in Fräulein von Terlan plötzlich der schwarze Gedanke aufstieg, der scheinbar so schüchterne Hauptmann habe ein falsches Spiel gespielt und diesem kleinen, dummen Mädchen Raupen in den Kopf gesetzt.

»Nicht wahr, Sie haben nur einen albernen, dummen Scherz gemacht, Adelheid von Terlan,« bat Kerlchen ganz de- und wehmütig, »es kann ja gar nicht wahr sein, was Sie da sagen. Sie denken gewiß, Sie wollen mich ärgern, aber wirklich, Sie tun das nicht – bitte, bitte, sagen Sie mir doch die Wahrheit.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen,« entgegnete Adelheid spitz. »Sie müssen einen Sonnenstich haben, trotz Spätherbst und Schatten, – aber ich kann's Ihnen ja wiederholen, Hauptmann von Grau ist mein Verlobter.«

»Seit wann denn?« fragte Kerlchen mit versagender Stimme.

»Seit gestern nachmittag.«

»Aber da ging er doch mit mir – – – und dann mit Eva – – –«

»Jawohl, mit Eva, und dann mit mir, und da haben wir uns verlobt.«

Hui – – Kerlchen hatte sich blitzgeschwind in den Sattel geschwungen und sauste davon. Adelheid war verblüfft und ärgerlich. Sie hatte sich hinreißen lassen, diesem wilden Ding ihr Geheimnis anzuvertrauen, und dieses Geheimnis war mehr als merkwürdig aufgenommen worden. Konnte es nur möglich sein, daß der würdige Hauptmann von Grau diesem Schulmädel den Hof gemacht haben sollte?

Und Kerlchen? Alle hielten es für ein Kind, und doch – wie blaß und tödlich erschrocken war es über die Mitteilung von Adelheids Verlobung geworden?

Adelheid versank in Nachdenken, während sie langsam mit den Malutensilien den Heimweg antrat.

Es war eine merkwürdige Verlobung gewesen, – gestern in den tiefen Schatten des dämmrigen Herbstwaldes. Zuerst war sie planlos im Park herumgestreift, hatte dabei wahrgenommen, daß Eva mit Buch und Hängematte in den Wald ging und nach einiger Zeit Hauptmann von Grau und Felicitas gleichfalls im Park lustwandelten, dann hatte sie den Hauptmann allein an Evas Hängematte stehen und mit ihr plaudern sehen, war dann im Walde herumgestiegen, hatte sich sogar ein wenig verlaufen und war schließlich im Halbdunkel heimwärts geschritten. Da war ihr, noch im Parke, Hauptmann von Grau begegnet, der gleichfalls auf dem Heimweg nach »Goethes Gartenhaus« begriffen war. Er hatte noch bedeutungsvoller als sonst gegrüßt und ihr strahlend zugenickt, sie hatte gefühlt, daß er, als sie vorbeigeschritten war, stehen blieb und ihr nachblickte, und plötzlich, an der tiefniederhängenden »Verlobungstanne« hatte er sie sanft umfaßt, sie unter die dichten Zweige gezogen, und sie hatte in sein tieferregtes Gesicht gesehen.

»Sie sind noch hier?« war seine Frage gewesen. »Glückseliger Zufall! Ich bin planlos umher gerannt, aber wozu überlegen, immer und immer überlegen, ich bekomme doch kein anderes Resultat, als daß ich Sie liebe, Fräulein von Terlan.«

»O, Herr Hauptmann! So plötzlich! So rasch!«

»Ach was plötzlich! Ich wollt' es Ihnen schon vor einer Stunde sagen, nur die leidige ›Überlegung‹ hielt mich zurück. Aber Sie müssen es doch gemerkt haben, warum ich heute in den Wald lief. Und nun schreiben Sie mir – wo wir uns noch einmal treffen können, bis ich bei Ihrer verehrten Mutter um Sie anhalten darf, und sagen Sie mir jetzt rasch – ob Sie die Meine sein wollen.«

»Ja, Engelbert.«

Und da war's geschehen, – sein zaghaft ausgesprochener Vorname hatte ihm wohl noch nie so süß geklungen, kurz, er hatte Adelheid in seine Arme gerissen und ihr einen Kuß gegeben, dann waren sie beide zu verschiedenen Seiten aus der schützenden Tanne hinausgeflohen. Gottlob! Adelheid von Terlan war Braut. Sie hatte Hauptmann von Grau heute morgen geschrieben, daß sie ihn gleich nach Tisch in dem Pavillon im Gemüsegarten erwarte, und nun wollte sie heim, sich recht vorteilhaft anziehen und den stürmischen Werber dann mit all seinen Wünschen an Mama verweisen, die morgen eintreffen sollte.

Adelheid von Terlan war eine kühle, durchaus berechnende Natur. Sie liebte den ältlichen Hauptmann von Grau nicht – bewahre, aber sie hatte ihn gern. Er war reich, unabhängig, vornehm und würde sicher ein sehr bequemer Gatte werden. Sie würden im Sommer auf einem hübschen Gute und im Winter in Berlin leben, – solch' ein ewiges Sorgen um das Gedeihen der Landwirtschaft, wie Tante Felicitas Rumohr es hatte, würde es bei ihr nicht geben.

Adelheid hätte Hans-Hugo Eulried lieber genommen, das war klar. Er war jünger an Jahren als Grau, von älterem Adel, noch weit größerem, ja märchenhaftem Vermögen, überhaupt in jeder Beziehung vorzuziehen, aber er machte absolut keine Anstalten, sich ihr zu nähern, und der vierundzwanzigste Geburtstag der Zwillinge rückte unheimlich schnell heran.

Außerdem aber – die Armut drückte niemand härter, als Adelheid von Terlan.

Sie besaß nicht die Fähigkeit ihrer Zwillingsschwester, sich in kleine Verhältnisse einzugewöhnen, – ebenso wenig, wie sie es vermocht haben würde, jemals eine »Stellung« anzunehmen.

Adelheid von Terlan war ein Treibhauspflänzchen, nie aus der Kleinstadt herausgekommen, aber auch kein echtes Provinzmädel, das den kleinen Kreis, in den es der Herrgott gestellt, mit gesunden Sinnen beherrscht.

Außerdem war Adelheid selbstsüchtig in hohem Maße, eine Egoistin vom reinsten Wasser. Nicht einen Augenblick dachte sie daran, während sie in tiefem Sinnen jetzt heimwärts schritt, daß sie nach ihrer Verheiratung mit einem reichen, unabhängigen Gutsbesitzer ihrer alten Mama ein warmes Nest, ihren Geschwistern einen freundlichen Zufluchtsort schaffen könnte, – sie dachte nur an sich, – nicht einmal besonders freundlich an Engelbert von Grau, – nur an sich.

Und Kerlchen ritt zur selben Zeit auf der Landstraße entlang und zerbrach und zergrübelte sich den kleinen Kopf, wie es möglich sei, die beiden Gespräche heute mit den Schwestern Terlan, das auf der Futterkiste und das im Walde, miteinander in Einklang zu bringen.

Aber trotz seiner völligen Weltunklugheit war Kerlchen ja nicht »auf den Kopf gefallen«, und ehe es auf den Gedanken kam, dem kreuzbraven Hauptmann von Grau eine Schlechtigkeit zuzutrauen, merkte es, daß die Zwillinge von dem Ahnungslosen verwechselt worden waren.

Und in Kerlchens tiefer Betrübnis und Ratlosigkeit, wie man dem armen, glücklichen Evchen dies beibringen oder verbergen könne, war es auf die Eulrieder Chaussee gekommen und sah das verwunschene Schlößchen durch die grüne Wildnis ganz nahe schimmern.

Es wendete in der ersten Betroffenheit so jäh das Pferd, daß »Sturmwind« im Begriff war, es äußerst übel zu nehmen und entweder bockig zu werden, oder mit seiner leichten Last durchzugehen, aber Kerlchens feste und doch weiche Hand klopfte ihm unablässig begütigend den Hals, und dann besann sich das junge Persönchen eines Besseren, – ritt ganz nahe an Schloß Eulried heran, grüßte den alten Berthold, der sich vor dem Portal auf einer mächtigen Bank sonnte und nun eilfertig herbeigehumpelt kam, und hörte auf seine diplomatische Frage: wie es Großmuusch gehe, daß die Frau Baronin sich hingelegt hätten, da der Herr von Eulried ganz prächtig schlafe, und das Fieber sich wunderschön gleichfalls gelegt hätte.

Der alte Berthold erhielt für seine vortreffliche Auskunft einen kräftigen Händedruck, einen Gruß für »Großmuusch« und ein sonniges Lächeln als Dreingabe, und dann ging »Sturmwind« wirklich mit Kerlchen durch. Sie flogen nur so dahin, denn Kerlchen war ja schier federleicht geworden, ein großer Zentnerstein war ihm vom Herzen gefallen und lag im Schloßgraben von Eulried.

*

Oberst Erich Schlieden saß am gedeckten Mittagstisch und erwartete seinen Hausfreund.

Ein leiser Duft von Wachholder und gebratenem Speck wehte ins Eßzimmer hinein, wenn Agathe die Tür öffnete und mit grimmer Miene fragte, ob der Herr Hauptmann noch nicht da seien; die Rebhühner zerfielen nächstens.

»Ich weiß nicht, wo er bleibt,« kopfschüttelte der Oberst, – »vor einer Stunde ging er ja schon hinauf.«

Endlich, endlich – kamen langsame, zögernde Schritte herab, und langsam wurde die Tür geöffnet, und Hauptmann von Grau schritt auf seinen gewohnten Platz zu.

»Mensch, was fehlt Ihnen,« rief Erich nur und sah voll Mitgefühl in das kummervolle, ganz verfärbte Gesicht seines Freundes.

»Lesen Sie, lieber Schlieden, – lesen Sie! Ich weiß mir keinen Rat mehr.«

Er schob dem Oberst zwei zierliche rosa Briefchen hin, und als die alte Agathe mit der Suppe hereintrat, hatte sie das unglaubliche Schauspiel, daß sie, anstatt freudig begrüßt zu werden, gar nicht beachtet wurde, nur ihre Suppe niedersetzen und auf einen ungeduldigen Wink ihres Herrn hin wieder verschwinden mußte.

Oberst Schlieden setzte sich erst sehr umständlich seinen Klemmer auf, denn er war weitsichtig, dann lächelte er.

»Rosa Briefchen! In meinem Leben habe ich keine bekommen, Grauchen, Sie sind ein Schwerenöter.«

Der »Schwerenöter« rang verzweiflungsvoll die Hände.

»Um Gottes willen, tun Sie mir die Liebe, und lesen Sie!«

»Also Nr. I:

»Der Pavillon im Gemüsegarten ist wohl der ruhigste Platz zu unserer Unterredung.
Ich erwarte Sie dort nachmittags 3 Uhr.
Treuen Gruß! Eva.«

Erich Schlieden sah über den Klemmer hinweg nach dem Freunde hin.

»Aber Grauchen – da gratuliere ich – –«

»Weiter, weiter – – um Gottes willen den zweiten!«

»Liebster! – – – (der Oberst räusperte sich heftig)

Also am besten nachmittags 3 Uhr im Pavillon des Gemüsegartens. Sei pünktlich!
Deine Adelheid.«

Oberst Schlieden sprang auf, und Herr von Grau tat desgleichen, hoch aufgerichtet standen sich beide Männer gegenüber.

»Für einen Mormonen hatte ich Sie eigentlich bis jetzt nicht gehalten – Grau.«

»Machen Sie mich nicht wahnsinnig, Schlieden,« rief der Hauptmann, und dann sank er in einen Sessel und erzählte mit vor Aufregung heiserer Stimme seinem Freunde von A bis Z die Erlebnisse des gestrigen Tages.

Und Agathe brachte die Rebhühnchen herein und trug sie dann beinahe unberührt wieder hinaus und brachte wütend den Braten und die Nachspeise, aber noch beim Mokka waren die Herren zu keinem befriedigenden Abschluß gekommen.

Und um die drei Uhr-Nachmittagsstunde saßen die Zwillinge mit einer Handarbeit im Pavillon und wünschten sich beide heimlich nach dem Pfefferland, besonders als der rasche Schritt eines Dritten sich näherte.

Aber dieser Dritte war nur das Kerlchen, das beschlossen hatte, nicht von den Beiden zu weichen, damit Adelheid das arme Evchen nicht aufklärte; das mußte Großmuusch tun, sobald sie einmal von Eulried kam, um in Tannenruh nach dem Rechten zu sehen, Großmuusch hatte eine liebe, sanfte Art, Wunden zu verbinden.

Und so saß das Kerlchen, völlig taub gegen deutliche Anspielungen, wie angenagelt auf der Bank, die trotz ihrer Neuheit ihren Zweck so gründlich verfehlte und sehr im Nachteil gegen das alte, zusammengesessene Möbel war, – bis dann um dreiviertel nach drei Uhr Oberst Erich Schlieden langsam durch den Gemüsegarten schlenderte, – an den Bäumen hochschaute, wo früher 'mal Äpfel dran gesessen hatten und dann wie zufällig an den Pavillon kam.

Wie erstaunt die vier Menschenkinder nun taten!

Und Oberst Schlieden erzählte von allem Möglichen und auch so nebenbei, daß sein alter Freund Grau sich habe hinlegen müssen, – plötzlicher Schwindel – – –

Dann gingen sie alle vier ins Herrenhaus zurück, und der Oberst verabschiedete sich, – aber nur Eva zeigte ein trauriges, erschrockenes Gesicht und trug ihm »herzliche Grüße« und gute Besserung auf.

*

Aus Kerlchens Tagebuch.

Gottlob, Großmuusch ist da – es geht ja Herrn Hans-Hugo, Edlem von Eulried, schon viel besser. Ich erfuhr das nur so im Fluge von Großmuusch, erkundigen mußte ich mich aber doch schließlich nach ihm, wenn er auch ein fremder Mann ist, der mich nicht ausstehen kann. In meinem ganzen Leben hat mir aber doch noch nichts so weh getan wie das. Manchmal ist es mir, als hätte der liebe Gott alles Licht ausgepustet, und wir säßen und gingen im Dunkeln.

Großmuusch ging von Eulried gleich nach »Goethes Gartenhaus« und dann zu Eva.

Dann fuhr sie mit Adelheid allein nach Rotbach zum Bahnhof und holte die Baronin Mutter ab; die kam aber gar nicht hierher, sondern brachte Adelheid gleich weiter zu Verwandten in der Nähe rum, die dringend nach ihrem Besuch verlangten.

Und Evchen weinte schier den ganzen Tag, und ich war immer bei ihr und sprach und erzählte viel dummes Zeug, und wir beide dachten an ganz etwas anderes. Zwischendurch schrieb sie Briefe; jeden Tag drei Dutzend. Heute kam ein dickes Paket aus E., und Eva, die sonst jeden Bindfaden stundenlang aufknüppelt, schnitt heute alles heftig durch, und dann erdrosselte sie mich beinahe vor Entzücken und hielt mir dickes, weißes Papier hin, darauf stand:

Die Verlobung ihrer Tochter Eva mit Herrn Engelbert von Grau, Hauptmann a. D. und Rittergutsbesitzer auf Schloß Wiluburg in Thüringen, beehrt sich ergebenst anzuzeigen

Heloise, Baronin von Terlan-Olzen
aus dem Hause Krien.

Ich machte natürlich ein dummes Gesicht und war doch so sehr froh mit Eva, und dann kam der Hauptmann, der sah aus, als wäre er plötzlich zwanzig Jahre alt, und er umarmte uns alle der Reihe nach, was nicht sehr schön war; ich sagte es ihm auch.

Dann fuhr das Brautpaar nach dem Bahnhof und holte Mutter Terlan, – so sagte der Hauptmann zuerst immer, aber jetzt darf er das nicht mehr. Er sagt »Mama« und küßt ihr die Hand.

Und sie sagt: »Mein lieber von Grau!«

Als Großonkel Erich das zum erstenmal von ihr hörte, fragte er sie ganz unmotiviert: »Sonst geht's Ihnen aber gut?«

Und sie lächelte sehr verbindlich über seine Aufmerksamkeit.

 

Botho von Terlan ist noch gar nicht wieder hier gewesen; es ist eigentlich schade. Er ist ja oft sehr langweilig, aber man konnte ihn doch eine Menge Gutes lehren, wenigstens sagte er mir immer, er wäre schon bedeutend besser geworden, seit ich ihm »Moralpauken« gehalten hätte.

Das habe ich natürlich nie getan, ich weiß gar nicht, was es ist, und fragen mag ich nicht; Großmuusch hat mir's vor langer Zeit ein für allemal untersagt, Botho nach Wörtern und Sachen zu fragen, die ich nicht verstehe.

Und Botho spielt schön Klavier. Alles vom Blatt. Er ist ein Notenfresser, und man kann so gut neue Sachen mit ihm kennen lernen. Nur Beethoven und Bach, die spielt er wie ein Nachtwächter. Er kann die »alten Herren« nicht leiden, und dabei zanken wir uns jedesmal.

Aber jetzt habe ich reineweg niemand – – aber ich brauche auch niemand. Nur meine Großmuusch, meine süße, die muß mal wieder Beethoven mit mir spielen, das kann sie einzig und allein. Aber sie hat so furchtbar viel um die Ohren. Neun Kinder sind eine riesige Menge, denn für mein Mütterchen hat sie doch jetzt mich. Und die anderen, die alten Leute, bekommen immer wieder neue, kleine Kinder, es hört gar nicht auf.

Großonkel Fritz hat auch geschrieben, den kenne ich noch gar nicht; er war in Patagonien oder da so rum und ist riesig fidel. Jetzt kommt er bald her; sein Brief kam aus Sizilien.

Onkel Kronenrat meint, man müßte ein Drama schreiben und es aufführen, wenn er herkommt, und ich fände ein Drama auch furchtbar lustig, aber Großmuusch hat abgewinkt.

Sie sagt, das ganze Leben wär 'n Drama, und wir brauchten nicht noch eins zu schreiben. Ich glaube aber, sie traut es dem lieben Rat Krone nicht zu, er will's nämlich alleine machen.

Großonkel Fritz von Rumohr ist sehr, sehr musikalisch; ach, und das ist zu schön, und deshalb freue ich mich so auf ihn. Dann hab' ich doch wieder einen Menschen, der mich sechzig Konzerte hintereinander begleitet. Meinen lieben Herrn Lehrer Renking hab' ich ja auch verloren – und kann's gar nicht so recht begreifen. Wie der spielt! Wie ein Engel im Himmel. Wenigstens denke ich mir die so. Und ich hab' es ihm auch immer gesagt, und nie, nie war er unzufrieden mit mir, ich hatte ja immer so geübt. – Ach, was waren das für schöne Stunden! Und mit einem Male will er mir keine mehr geben. Er hätte zu viel zu tun, – will studieren – und hat sich sogar von Rotbach weggemeldet.

Er war lange bei Großmuusch und hat ihr wohl alles erzählt, – sie kam so ernst zu mir.

Aber ich habe ihr gleich erklärt, einen andern Lehrer will und will und will ich nicht. So wie Renking spielt doch niemand.

Und nun ist er fort von Rotbach – und hat mir nicht 'mal Lebewohl gesagt.

 

Wenn ich Geige spiele im großen Musiksaal und ganz versunken bin in die Meister, dann öffnet sich manchmal die Tür, und meine Großmuusch kommt herein, die daneben ihr Arbeitszimmer hat, und dann nimmt sie mich an ihr Herz und kann so froh aussehen und auch wieder so bitterlich weinen.

»Wie du spielst, mein liebes Kerlchen! Ach, ich denke so oft, wenn dein Großvater Fritz noch lebte! Dann hättest du eine Künstlerin werden müssen, eine gottbegnadete.«

So ein Ausspruch von Großmuusch macht mich sehr stolz. Und so froh und glücklich!

Aber wenn Eva zuhört, dann dauert es gewöhnlich nur eine Viertelstunde, dann sagt sie: »Schön – nun können m'rsch, nun komm' und hör, was Engelbert schreibt.«

Engelbert von Grau ist nämlich jetzt auf Wiluburg und richtet das Schloß für Eva ein, In sechs Wochen ist ihre Hochzeit, und ich soll Brautjungfer sein.

Ich weiß nicht die Bohne, wie ich mich da benehmen muß; ich kenne nur indische Hochzeiten, aber die sind noch komischer.

Eva braucht sich auch nicht mit verbrennen zu lassen wenn der alte Herr Grau 'mal stirbt, das sagte ich ihr auch, aber sie schrie fürchterlich auf und zeterte, ich wäre herzlos.

Seitdem hat sie noch nicht wieder zugehört, wenn ich spiele.

Jetzt sitzt immer mein allerbester Onkel Krone bei mir im Saal.

Er findet mein Spiel wunder-wunderschön.

Beim Adagio schläft er gewöhnlich, aber beim dritten Satz, da ist er ganz glücklich und horcht wie ein Heftelmacher, er sagt, eine ganze Welt von schöner Erinnerung ströme auf ihn, wenn ich spiele.

»Kerlichen, Kerlichen, das klingt ja geradeso, als wie ich noch mein Geschäft hatte und saß dann so gemütlich nach Ladenschluß, und nebenan zersägte mein Newö Bähr die Rindsknochen.«

Ich spiele ihm auch sehr gern vor. Er ist immer so gut mit mir. Oft wollte er schon abreisen, aber wir leiden es nicht, denn die Reise greift ihn doch an, und er soll wenigstens so lange bleiben, bis das neue Waisenhaus, die Krone-Stiftung, fertig gebaut ist.

Er kann jetzt so wenig spazieren gehen, der Onkel Krone, und langweilt sich oft. Wie wird es erst im langen Winter werden? Aber freilich, da hat Großmuusch dann auch wieder mehr Zeit. Ich habe aber Onkel Krone gesagt, er soll es machen wie Großmuusch und ich und ein Tagebuch anfangen, – erst wollte er nicht recht, aber dann sagte er: »Kerlichen, wenn ich meine Erinnerungen und Erlebnisse und inwendige Gedanken aufschreibe, dann könnten sich alle Schriftsetzer gute Nacht sagen.«

Und das glaube ich auch, denn wenn auch Onkel Krone manchmal komisch ist, er hat doch sehr viel gelernt und sehr viel gelesen und soll eine wunderschöne Bibliothek haben. Aber wenn er so vom »berühmten Schriftsetzer Goethe« spricht, dann lachen natürlich die andern.

Jetzt liest er nur »Luthers Tischreden« und trägt sie immer mit sich rum. Manchmal sagt er: » Fein! Kerlichen, der Mann is mein Mann, der spricht deutsch

Und so g u t wie Rat Krone ist auch niemand auf der Welt.

Herrn von Eulried geht es befriedigend.

*

Aus Rat Krones Tagebuch.

Schon die alten Griechen und Römer kannten diese Einrichtung nicht. Natürlich war es Kerlchen, was mich drauf brachte. Es war mir erst schenant, denn ich bin mit achtzig Jahren kein Backfisch mehr, aber es ist wahr, etwas muß der Mensch haben, um sich drauf zu entladen.

Das Kerlchen hat mir von seinem sauren Taschengeld ein höchst eigenhändiges Buch unten beim Krämer in Rotbach gekauft, miserabligtes Papier, woran man die Liebe sieht, mit der das Kind an mir hängt.

Manchmal meine ich, ich fange doch an, alt zu werden, denn die Gedanken rennen ineinander, und ich denke oft, dies junge Kerlchen ist eigentlich mein altes Kerlchen, oder das umgekehrte findet statt. – Sie sehen sich ja auch so ähnlich, die zwei, nicht mit das Äußere geradezu, denn die Kerlchenbaronin sind siebenundfünfzig nach meiner Schätzung und das kleine Kerlchen ist siebzehn, und die teure Frau von Rumohr sind mit weißen Haar beheftet und das Kleine mit 'n dunkelblonden Ruschelkopf, aber die Augen sind akkrat dieselben, und die tuns.

Und die Herzen sind dieselben, – Gott, was haben die zwei für seelensgute und verläßliche Herzen!

Klug sind sie auch alle beide, nur natürlich das kleine Kerlchen noch sehr dumm.

Kommt aber mehr auf die mangelhafte Erfahrung und grenzenlosen Unverstand heraus.

Und schön! Alle beide! Kerlchen mehr 'ne wirkliche Klassenschönheit, wie auch ein richtiger lebendiger Maler von ihm sagte, der letzthin das Haus frisch anstrich; aber meine Kerlchenbaronin wäre auch eine »herrliche Frau, wenn sie auch keine gerade Nase hätte und einen großen Mund mit viel Gemüt und Prachtszähnen«.

Ich hab' das natürlich all' lang selbst gewußt, aber man bespricht es doch gern 'mal mit 'n Mann vom Fach. – – Aber wenn ich die inwendigen Schönheiten von meine zwei Kerlchen beschildern wollte, – nee, da reichte der ganze Krämer von hinten und vorn nicht dazu aus.

Sie sind natürliche Wohltäter.

Das Waisenhaus, was sie unten bauen, heißt Kronestiftung.

Und warum?

Weil ich das elende L....geld dazu gab; aber die beiden geben täglich ihre Herzchen an die armen Waischen, und das ist mehr.

Und deshalb müßte es »Kerlchenhaus« heißen.

In der Welt ist eben alles Menkenke.

Sprechen tun natürlich die beiden nie von so was, selbst das kleine Kerlichen nicht, dem doch das rote Schnäbelchen alleweile wie 'n Dreckschleuderchen geht.

Die rechte Hand weiß ebend nicht, was die linke tut, das soll wohl wahr sein bei die beidens, und es sind so rechte Menschlein nach dem Herzen Gottes.

Und feine Damens sind es dabei, vornehm wie sonst was, aber wenn wo Unrecht geschieht, dann können sie auch schimpfen, von beiden Lebern frisch weg. Natürlich nicht so, wie mein Luther, dafür sind es eben Damens.

Ich hab' mir auch schon wieder viel von diesem ehrlichen Manne abgewöhnen müssen, weil es meine Kerlchenbaronin stark schenierte, und ich will auch in diesem, meinem vorliegenden Tagebuch all so was vermeiden, was mit natürlichen Gegenständen zusammenhängt.

 

Wir haben jetzt bald 'ne Hochzeit hier, die Menschen können sich das nicht abgewöhnen.

Herr von Grau und ein Zwilling. Er glaubt, es ist Eva, und ich will ihn auch nicht kopfscheu machen. Aber es ist 'ne riskante Sache, und wenn am Hochzeitstage der zweite Zwilling beiwohnt, dann würde ich mich noch dreimal besinnen ehe ich mit einer abreiste.

Na, manche sind dadrin nicht heikel, aber ich war in langer, glücklicher Ehe verheiratet und würde es mir heute noch nicht vergeben, wenn ich die Unrechte erwischt hätt'.

Botho von Terlan läßt sich hier nicht sehen.

Nicht mal zur fröhlichen Verlobung seiner Schwester. Aber der Bengel weiß wohl, warum.

Was ich mit dem für Not habe! Ein Kamerad von ihm, mit dem ich schriftwechselte, schrieb mir, Terlan hätte ein »Schenie« fürs Geldausgeben, womit er wohl meinte, daß Terlan sich nicht »schenierte«, mein Geld zu verplempern.

Aber so lange der Junge nicht bei die Wucherer ist und nicht wieder spielt, – da geht's. Ich halte es noch 'ne Weile aus und von meinem Kerlchen seinem Gelde geht's ja nicht, – ne, das steht bombensicher, und das ist noch die größte Freude, die ich nach meinem Tode haben werde.

Aber natürlich, wenn es mir noch zu meinen Lebzeiten einen kreuzbraven, anständigen Kerl bringt, und der elende Halunke, Gauner und Dieb macht das Engelchen glücklich, dann kriegt es jetzt schon alles, – versteht sich.

Krone, Krone, dann tanzt du noch Seil auf deine alten Tage und gehst aufs Eis tanzen wie 'n alter Esel im Märchenbuch, und faltest deine runzligen Hände trotz Zipperlein und sprichst mit deinem Herrgott wie 'n Schuljunge, der 'n gutes Zeugnis gekriegt hat:

»Gelt, lieber Herrgott, das hab' ich doch recht gemacht, und sag's nur dem alten Herrn Oberst droben, es wär alles in Ordnung, und er sollt sich nur gedulden, ich erzählt' ihm dann schon alles haarklein von seinen Kerlchens, wenn ich 'mal 'naufmachte.

 

Der Herr von Eulried gefällt mir nicht.

Ein Prachtsmensch! Gut, klug, tüchtig in den Sielen, mit 'n Schloß wie 'n eingeborener Ferscht, und vierzig Jahr auf 'n Puckel und denn nöckert er so rum.

Hat die Rose lieb gehabt, unser seliges Engelchen und könnte doch weiß Gott das Kerlchen lieb haben in allen Ehren als Freund und Kupferstecher oder Onkel und Pate, denn das ist er.

Und sollte sogar Vormund werden, wenn nicht die Abmachung in adlige Familiens wäre, daß immer der älteste Sohn Vormund ist, und das ist Erni.

Aber er will nicht und sollte doch dran denken, so'n vernünftiger, alter Kerl, daß das kleine Kerlchen in Beziehung auf seine mütterlichen Gefühle wie neugeboren ist, was auf deutsch heißt, daß es nicht dafür kann, wenn er die Mutter vor achtzehn Jahren geliebt hat, und sie einen anderen nahm.

Und nun reden sie allenthalben, er könnt' das Kerlchen nicht leiden.

Unser Kerlchen, meinem Kerlchen sein Ebenbild!

Er hat's gewiß noch nie recht angesehen, was es für ein Herziges ist, oder der Fall neulich auf dem spitzen Stein hat ihm doch 'ne Menge geschadet.

Mit Frau von Rumohr, der allerbesten Großmutter auf Gottes Erdboden, hab' ich natürlich schon drüber geredet; mit der Frau kann man eben alles besprechen, – nee, alles doch nicht. Denn wie ich zuletzt ins Plänemachen und Luftschlösserbauen kam, da legte sie mir die Hand auf den Mund und rief: »Krone, Krone, liebster und bester Freund, um Gottes willen, pfuschen Sie unserm Herrgott nicht ins Handwerk!«

Und ging fort, und ich kopfschüttelte hinter ihr her.

Krone, Krone, sagte ich dann selbst zu mir, – Krone halt's Maul!

*

Aus Kerlchens Tagebuch.

Morgen ist Evas Hochzeit. Heute war der Polterabend, und ich sitze nun mitten in der Nacht und in meinem Turmzimmerchen, bin aufgeregt und kann wirklich nicht einschlafen, wirklich nicht, wenn du mir auch » Gute Nacht gesagt hast, – Du! – – –

Dabei habe ich kein Gläschen Wein getrunken, habe nichts, nichts gehabt von dem ganzen Polterabend – – –

Man muß so was richtig erzählen, sonst versteht es kein Mensch, wie mir zu Mute ist. Adelheid kam gestern wieder hierher, – ich guckte sehr, als sie sich mit Grauchen begrüßte, er war so gräßlich verlegen und schüchtern. Aber sie gar nicht, sie gab ihm die Hand, tat, als ob er schon Jahre lang ihr Schwager sei und war sehr höflich zu ihm und zu Eva sehr nett, und zu mir gräßlich wie immer.

Dann fragte sie sofort, wie es Herrn von Eulried ginge, und erzählte, daß die Leute, wo sie war, sehr befreundet mit ihm seien, und sie hätte ihm geschrieben, und er hätte ihr geschrieben – reizend.

Und dann tuschelte sie heimlich mit Frau von Terlan, was ich nicht ausstehen kann, und erzählte dann hohnlachend, sie hätte sich auch nach mir bei ihm erkundigt, und er hätte kurz geschrieben, von Felicitas wüßte er gar nichts, und wie sie zu der merkwürdigen Frage käme. »Also immer noch Montecchi und Capuletti, Kleine?« Und dann streichelte sie mich, und ich schlug sie und zerbrach eine sehr kostbare Glasschale, ein Hochzeitsgeschenk, das ich gerade auspackte.

Darauf sollte ich ins Bett gehen (um 10 Uhr Vormittag!), ging natürlich nicht.

Abends zog ich mein neues Kleid an, sehr hübsch. Großmuusch war einzig gut, als sie mich damit schmückte. Von ihr hab' ich's auch bekommen, und Gerson in Berlin schickte es mir. Es ist ganz mattblau und von oben bis unten in Fältchen gepreßt; das nennen die Leute »plissiert«. Es ist viel leichter und weiter als mein dickes Schwarzes und fliegt nur so um mich rum.

Dazu hatte mir Großmuusch eine blauseidene Schürze umgeknüpft und ganz leichte, weiße Stiefelchen angezogen, und zu allem trug ich eine goldene Kette mit einem herrlichen alten Schmuckstück daran, das mein liebes, totes Mütterchen einst zur Konfirmation bekommen hatte. –

Im Saal war eine Bühne aufgeschlagen, und von nah und fern waren Leute zu Besuch gekommen; Grauchens ganze Verwandtschaft, und Terlans geradezu schockweise, auch der Botho wird endlich morgen erwartet. Es liegt ein Ruhetag zwischen Polterabend und Hochzeit, und der ist heute.

Gerade wie wir gestern in den Saal wollen, kommt ein Bote vom Pfarrer Bauer, ob nicht »Jemand« zu Familie Hellers gehen könnte auf ein Stündchen. Er selbst, der Pfarrer, habe einen Hexenschuß und könne sich nicht rühren; Großmutter Hellers sei ganz allein, und nun habe sich der Enkel Josi das Bein gebrochen und sei eben vom Doktor in Rotbach geschient worden; der Vater Hellers aber sei über Land und wisse noch gar nichts von dem Unglück. Er würde aber so um zehn Uhr heimkommen.

Natürlich war der »Jemand«, der hinlief, ich, denn ich kannte doch meine alte, blinde Großmutter Hellers, die gewiß ganz untröstlich über ihren Liebling, den Josi, war, und mit ihren blinden Augen kaum sich und noch weniger dem Josi helfen konnte. Ich tat also nur meinen großen Mantel um und sagte Großmuusch Bescheid, die küßte mich und wäre so gern mitgegangen, aber sie muß Honneurs machen, und das brauche ich nicht. Sie gab mir Meta mit, das Stubenmädchen, und die machte uns gleich einen guten Kaffee bei Großmutter Hellers, und Hochzeitskuchen hatten wir einen ganzen Sack mitgenommen.

Aber dann machte Meta so 'n sonderbares Gesicht, und ich wußte gleich, was ihr fehlte; sie wollte gern mit beim Polterabend zusehen, und deshalb schickte ich sie ruhig nach Hause und sagte, Vater Hellers würde mich nachher bringen.

Großmutter Hellers war glückselig, daß ich da war, sie streichelte mich und befühlte meinen Kleiderstoff, und Josi sagte, ich sähe wie 'ne richtige Fee aus, bloß nicht so schön.

Auf einmal kamen tüchtige Schritte, und Josi rief: »Vater«, und ich sprang sehr freudig auf, und dann sagte jemand: »Junge, was machst du für Geschichten,« und dann war's gar nicht Vater Hellers, sondern Hans-Hugo Eulried.

Da bin ich wohl sehr blaß geworden, denn er sagte: »Haben Sie denn immer noch Angst vor mir?«

Und ich sagte: »Bloß weil Sie ›Sie‹ sagen.«

Da biß er sich etwas auf die Lippen und sagte gar nichts.

Dann erzählte Großmutter Hellers von dem Unglücksfall und wischte mit ihrer Schürze einen Stuhl ab, auf den setzte sich Herr von Eulried. Und dann redete sie erst 'ne halbe Stunde, wie gut ich sei und wie hilfreich, und daß ich das Fest im Schlosse um Josis willen im Stich ließ; er hörte geduldig zu und lächelte auch einmal, da fragte ich:

»Gehen Sie denn nicht zum Polterabend, Hans-Hugo Eulried?«

»Wollen Sie mich los sein?« fragte er.

»O Himmel nein, – ich gebe Ihnen auch Kaffee. Und hier ist Kuchen, Stopfkuchen und solcher, wovon man immer mehr will und doch nicht satt wird.«

»Dann nehme ich mir Stopfkuchen,« sagte er, und wir lachten alle.

Als er fertig war, sagte ich: »Jetzt müssen Sie doch lieber gehen, sie freuen sich alle so auf Sie, ich weiß es von Adelheid und Großmuusch, und es ist schrecklich, wenn einer, auf den man wartet, dann nicht kommt.«

Da guckte er mich scharf an, zog sich dann gemütlich den großen Mantel aus, setzte sich erst recht fest hin und sagte: »Hier ist's ja urgemütlich, Mutter Hellers, – ich leiste Ihnen Gesellschaft.«

»Muß ich dann gehen, Hans-Hugo Eulried?« fragte ich zaghaft, denn ich hatte Angst, er würde »ja« sagen, aber er meinte: »Das muß das barmherzige Samariterchen selbst wissen.«

Da blieb ich.

Ach. – war das schön!

Zum erstenmal war ich mit Hans-Hugo Eulried richtig allein, das heißt so richtig mit Besinnung, denn damals war er doch ohnmächtig.

Und nun erzählte ich so alles, was ich wußte und dachte und meinte, es war eine furchtbare Menge.

Und mittendrin unterbrach er mich und rief: » Sie waren bei mir – damals, kleine Felicitas?«

»Aber freilich!« versicherte ich ihm. Mein Reitkleid ist doch immer noch bei Spindler mit dem vielen Blut, aber die grüne Pelerine, die hab' ich noch. Sie haben gewiß geglaubt, es hätte sie jemand gemaust, aber Großonkel Erich hat sie mir selbst gegeben – – muß ich sie Ihnen nun wiedergeben?«

»Plauderkerlchen,« sagte er ganz leise, aber eine Antwort gab er mir nicht, und deshalb glaube ich, er hat noch mehr Pelerinen.

Nachher bei irgend einer Gelegenheit sprach ich sehr viel von den Terlans und auch von Botho, und da wurde er sehr nachdenklich, und dann erzählte ich von der gräßlichen Adelheid und schimpfte mächtig, und er wurde sehr ernst, und als ich glaubte, er würde nun auch schimpfen, sagte er, »es sei häßlich, hinter dem Rücken anderer ihre Schwächen zu geißeln«.

Ich wurde gleich puterrot und warf meinen Teelöffel aus Versehen mit Willen auf die Erde, und da sah er mich sehr streng an. Da schämte ich mich.

Dann kam Vater Hellers, und ich mußte heim.

Hans-Hugo Eulried tat mir meinen Mantel um und sagte ruhig: »Ich werde Fräulein Fee im Herrenhaus abliefern.« Dann ließ er noch einen blauen Papierschein für Josis Pflege da, und sie dankten ihm ganz furchtbar.

Unterwegs war es stickenduster, und er nahm ganz ruhig meinen Arm und führte mich sehr sorgfältig, und ich erzählte ihm noch viel von Indien und von hier und von Mütterchen und von ihm selbst, und als wir vor dem Schloßportal standen, sagte er: »Ich kann nicht mit hinein in all den Trubel, – muß heute allein sein. › GuteNacht, kleiner, lieber, sonniger Kerl!‹«

Ja, – das hat er gesagt, Hans-Hugo Eulried.

Warum hab' ich nun doch nicht geschlafen?

 

Ob wohl alle Hochzeiten so schrecklich sind, wie die von Eva? Ich bin so froh, daß sie vorbei ist, und ich nun still im Turmzimmer sitzen kann. Eva und ihr Mann sind in Italien, sie sind närrisch glücklich, und Evchen hat drum gar nicht gemerkt, wie mir zu Mute war.

Als ich vom Polterabend heimkam, lief ich natürlich gleich zu Großmuusch, und sie war von vielen Leuten umgeben, und denen sagte sie, wer ich wäre, und sie waren lieb und gut zu mir, manche flüsterten auch leise über mich. Sie fragten, wo ich so lange gesteckt hätte, und ich sagte, bei Mutter Hellers, da lachten sie und wunderten sich.

Aber um zwölf Uhr war noch immer ein Trubel; da lief ich in mein Stübchen und tat weiter nichts, sondern erzählte nur so in Gedanken dem Herrn von Eulried weiter, was ich ihm noch alles hatte sagen wollen, und dann schrieb ich es in mein Tagebuch.

Aber vorgestern vormittag, als ich die Rosen auf mein Hochzeitskleid heftete, kam Adelheid von Terlan zu mir, und ich wußte es schon, sie kam nur, um mit mir zu schelten. »Es sei so furchtbar unpassend, daß ich zu nachtschlafender Zeit aus dem Dorfe hergelaufen sei,« sagte sie – und solches Zeugs noch mehr.

Da erzählte ich trotzig, daß Herr von Eulried selbst mich sehr sicher hergebracht habe.

Ach – da wurde sie schrecklich.

Und ich weiß nun, wie sehr, sehr Unrecht ich getan habe, ach, und ich habe solches Heimweh nach Indien. Da war immer alles gut, was ich tat, oder es machte nichts, wenn Franz Körbs und Maria schalten; aber jetzt?

Mir tut das Herz so weh.

Ich hätte das unbedingt ablehnen müssen, daß Herr von Eulried mich in der Nacht herbrachte, sagte Adelheid, und er fände das selbst höchst unweiblich und greulich von mir. Aber weil ich's nun mal nicht wüßte, was sich schickte, und er so viel Verpflichtungen gegen unsere Familie hätte, da hätte er mich nicht in schlimmere Hände fallen lassen wollen. Ach, ich verstand so wenig, was sie alles sagte, – ich war ganz erstarrt. Und da holte sie auch noch ihre Mutter herbei, und alle beide fielen über mich her, bis ich sie zuletzt anschrie, ich glaubte ihnen kein Wörtchen, denn Herr von Eulried sei noch zuletzt ganz reizend mit mir gewesen. Ohhh, und da haben sie mir etwas ganz Greuliches drauf erwidert und mir gesagt, ich müsse eigentlich von Rechts wegen eingesperrt werden.

Da lief ich zu Großmuusch, – ach, und die war krank, und Minna läßt mich gar nicht zu ihr, sie wolle etwas schlafen. Da schlich ich ganz traurig zurück und lief in den Park, und in den Wald, aber froh konnte ich nirgends werden. Als ich endlich abends zu Großmuusch kam, da war sie noch ganz matt von der häßlichen Migräne und sah so blaß aus. Sie nahm mich gleich ans gute, liebe Großmutterherz, aber erzählen mochte ich ihr doch nichts.

Gestern am Hochzeitstag schien die Sonne wie im Juni, und Großmuusch war gesund, und ich atmete auch ein bißchen auf und fing wieder an, mich auf den Tag zu freuen.

Großmuusch hatte mir gesagt: »Denk dir, der gute Hans-Hugo Eulried will meinem Kerlchen von seinen schönen Rosen schicken, wir haben ja alles ausgeplündert für die andern Brautjungfern; er schreibt, er möchte dir so gern eine Freude machen.«

Und richtig, um 10 Uhr kam sein Reitknecht und brachte einen wonnigen Strauß, aber wie ich seine Karte las, die daran steckte: »Tausend liebe Grüße«, da riß mir Adelheid den Strauß aus der Hand, (der Reitknecht war schon fort) und rief: »Vorlautes Ding, was kümmerst du dich um meine Angelegenheiten? Ich bin Herrn von Eulrieds Brautjungfer, und mir gehört der Strauß.«

Das war ja etwas richtig, aber ich wußte es doch besser und folgte ihr ins Haus, und heiß und zornig war mir zu Sinn. Ganz weiße Rosen waren es, und nur ein wenig Grün war dazwischen, ach so ein schöner Strauch gerade wie mein Kleid sah er aus. Großmuusch war mit dem Brautpaar und Onkel Erni beim Bürgermeister, wo es getraut wurde.

Ich lief in den Saal und holte den rosa Strauß, der zu Adelheids rosa seidenem Kleid gemacht war und hielt ihn ihr bittend hin. Da rief sie: »Behalten Sie den nur, mir ist dieser lieber.«

Aber da wurde ich maßlos heftig und riß ihr den weißen Strauß fort, und da rief sie mir zu: »Schämst du dich nicht, von jemand Blumen zu nehmen, der dich nicht ausstehen kann und nur aus bestimmten Gründen so handelt? Hast du gar keinen Stolz?«

Da kannte ich mich selbst nicht mehr und warf den Strauß in hohem Bogen zu dem großen Fenster hinaus, und die armen Rosen flogen auf den Vorplatz.

Und gerade in diesem Augenblicke kam der Eulrieder Wagen angefahren und fuhr quer über den Strauß herüber, und Hans-Hugo stieg aus und sah ihn liegen und seine ganz beschmutzte Karte daran.

Da bückte er sich und steckte sie ab und nahm sie an sich und ging ins Haus, ohne mit der Wimper zu zucken. Als er zu uns trat, rannte ich wie besessen in mein Zimmer hinaus, aber ich hörte noch deutlich, wie Frau von Terlan zu ihm sagte: »Das abscheuliche Kind! Ihr schöner Strauß! Es verdient wirklich Ihre Güte nicht!«

 

Und nun ist die Hochzeit vorbei.

Hans-Hugo Eulried hat kein Wörtchen mit mir gesprochen. Nicht eins. Wirklich nicht. Nicht Guten Tag oder Gute Nacht, gar nichts.

Luft war ich für ihn. O wie schrecklich war das alles! Großmuusch war zum erstenmal in ihrem Leben auch nicht gut mit mir, aber als sie sich mal in ihr Zimmer zurückzog, da lief ich zu ihr und schlang meinen Arm um ihren Hals.

Aber sie wies mich von sich und war so traurig und sagte: »Kerlchen, wie weh tut mir dein Wesen.«

Da wurde ich gänzlich verbittert und vertrotzt und lief fort und ließ mich stundenlang nicht sehen.

Als ich wiederkam, war Hans-Hugo Eulried schon fort, und Adelheid lag in einem Sessel und sprach leise mit ihrer Mutter. Sie sah strahlend aus.

Ich habe die Blumen, die armen toten Blumen vom Vorplatz heraufgeholt und hab sie in mein Zimmerchen getragen und weich in die grüne Pelerine gewickelt und hab alles unter mein Kopfkissen gelegt.

Lieber Gott, ich würde mich sehr freuen, wenn du so freundlich wärst und mich sterben ließest.

*

Aus Rat Krones Tagebuch.

Man soll doch nicht sagen, was 'ne Sache ist.

Ich entlade mich täglich mindestens zweimal, und es ist mir wohl dabei.

Dieses Kerlchen ist Gold wert mit ihrer Tagebuchidee. Jetzt kann ich immer kaum die Zeit erwarten, bis ich zum Schreiben komme und habe mir eine Gänsefeder selbst geschnitten und 'ne Flasche pikfeine Kaisertinte holen lassen. Aber trotzdem gefällt mir das Kerlchen nicht, nein partu nicht, und zum erstenmal gefällt mir meine Kerlchen-Baronin auch nicht und das ist ein schlimmes Zeichen. Das junge Kerlchen setzt ein Gesicht auf, als trüge es alles Elend in der Welt allein, – wird mager, hohläugig und spricht mit so 'ner kurzen, rostigen Stimme. Nimmt auch keine Geige mehr in den Arm, was sonst immer ein Herzenstrost in Leibesnöten ist.

Und wie ich das der Frau Baronin Rumohr pflichtschuldigst vermelde, da sagt sie: »Krone, ich freue mich darüber!«

Da schlag doch einer lang hin.

'ne geborene Großmutter, die ich für 'n Engel Gottes hielt, freut sich, wenn ihr leibeigenes Enkelkind vergeht, wie'n – na wie'n Hauch.

»Krone, es is 'ne Krisis,« sagte die Kerlchenbaronin noch, »und ich muß fest bleiben, sonst bringt der unsägliche Trotz dieses Mädchens noch großes Elend über uns. Kerlchen muß zu mir und zu Adelheid und zu Herrn von Eulried gehen und alle um Verzeihung bitten.«

Es ist 'ne ganz verf – – – verfahrene Geschichte, mein ich. Das Kerlchen mag ja groß unrecht haben, aber Großmütter sind auch nicht mit 'n bürgerlichen Gesetzbuch zusammen auf die Welt gekommen, daß sie haarklein wissen könnten, wo Hase lauft.

Und noch dazu, wenn so 'ne ausgemachte Blocksbergdame, wie diese Frau Baronin von, auf und zu, dahinter her hetzt. O, ich möcht' manchmal 'n Besen nehmen und reinen Tisch machen. Aber ich bin ja nur der ›Schlachter Krone‹ und diese Schwiegermutter sieht nur auf den Namen und nicht aufs Herz.

Und es wäre am End 'ne unedle Rache von mir, wenn sie erfahren täte, daß ihr Sohn, der geborene Windhund, ganz von dem verachteten, alten, ungebildeten Krone lebt, den sie nicht mal zu der hochgeborenen Hochzeit einluden.

Da hat doch der Botho noch mehr Ehrgefühl im Leib, – der hat's wohl erfahren und noch in letzter Stunde für sich abgesagt.

Aber das Kerlchen gefällt mir wirklich am allerwenigsten, ach du lieber Gott, hab' nur fein acht auf das Kind und laß meine Mission nicht zu schanden werden, damit ich mich vor dem alten Herrn Oberst da oben bei dir sehen lassen kann. Und gib doch meiner Kerlchenbaronin, die doch wahrhaftig ein Meisterstück von dir ist, in 'ner stillen Stunde was ein, damit sie erkennt, daß das kleine Kerlchen akkrat den Schliedenschen Dickkopf hat wie sie selbst und der hochselige Herr Oberst und daß das Kerlchen noch außerdem jetzt ein Gesichtchen macht, – so ein wehes Gesichtchen, daß ich laut heulen möcht' auf meine alten Tage, denn es war mein Augentrost.

Und 'ne Dummheit macht es, das weiß ich, 'ne schreckliche Dummheit – ich seh's und ahn's. Wenn man achtzig alt ist, hört man's Gras wachsen.

Eine schreckliche Dummheit!!!

*

Aus Kerlchens Tagebuch.

Ich bin Botho von Terlans Braut.

Ich zittere jetzt gar nicht mehr so schrecklich, wenn ich das vor mich hinsetze und weine auch nicht mehr so schmerzlich.

Es ist doch nun mal nicht anders, und ich will gut sein und glücklich machen, – ich kann ja so viel Gutes stiften. Ich kann's gar nicht vergessen, wie ich heute Mittag in den Wald ging, so – – zum Sterben traurig, weil mich kein Mensch mehr lieb hat, aber auch keiner. Und abbitten kann ich nicht, weil ich doch nichts Böses tat.

Ich saß auf dem Baumstamm gegenüber von meinem Baum und starrte vor mich hin, und dachte daran, daß kein Menschenkind so elend ist wie ich, und daß die Mädchen heute unter meinem Fenster davon sprachen, daß Herr von Eulried die Adelheid Terlan heiraten wolle.

Und wie ich so sitze, stürmt der Botho durch den Wald, ohne Hut – in Zivil, und liegt auf einmal auf den Knien vor mir und – – und – er hätte mich lieb, und ich wäre seine einzige Rettung, er müßte sich das Leben nehmen, wenn ich nicht seine Braut würde.

Ich war furchtbar erschrocken, aber er ließ mich gar nicht zu Wort kommen und erzählte, wie schrecklich Mutter und Adelheid zu ihm seien, und er hätte keinen Freund auf der ganzen Welt und keinen Kameraden als mich. Und ich solle ihm helfen, und er wolle mich dafür lieb haben und gegen die ganze Welt beschützen.

Da sagte ich rasch: »Ja, ich will!« und gab ihm meine Hand. Da wurde er ganz blaß und atmete tief auf, und dann jauchzte er laut und wollte gleich mit mir zum Onkel Krone gehn und dann ein Telegramm fortschicken, ein sehr, sehr wichtiges. Aber das verstand ich alles nicht. Da riß er mich auf einmal an sich und wollte mich küssen, ich schrie aber gellend laut, da ließ er mich erschrocken los.

»Unterstehn Sie sich!« schrie ich ihn an. »Ich will Ihnen gern helfen und Ihre Frau werden, aber küssen tu ich Sie nie!«

Da stampfte er mit dem Fuß auf, aber sagte nichts mehr davon, und ich zitterte so sehr und konnte keinen Fuß vor den andern setzen. Da haben wir denn im Walde beraten, daß er nicht telegraphiert, sondern gleich selbst nach E. zurückreist und die wichtige Nachricht, ich weiß aber nicht welche, selbst nach dort bringt, und ich sollte mich ins Bett legen und ganz, ganz ruhig werden. Morgen will er dann kommen und bei Großmuusch um mich anhalten. Botho hat mich nochmal beschworen, fest und stark zu sein, denn wenn ich ihm nicht hülfe –

Oh, er brauchte das Schreckliche gar nicht zu wiederholen – ich halte schon Wort.

So kann ich doch wenigstens etwas Nützliches auf dieser Welt tun, und Frau von Terlan hat mir gestern noch nachgerufen, ich sei das unnützeste Wesen auf Gottes weiter Welt.

Aber das Wort tut ihr dann gewiß leid, wenn ich ihren Botho rette, und sie sieht dann, daß ich kein schlechtes Mädchen bin.

Lieber Gott, hilf mir!

*

Aus Rat Krones Tagebuch.

Hab ich es nicht gesagt! Eine grenzenlose Dummheit? Eine haarsträubende Dummheit!

Aber so was greift an.

Und ich bin achtzig Jahr, und oft kann ich so was nicht nochmal erleben.

Der Botho von Terlan und das Kerlchen.

Freilich, da standen sie vor mir in meinem schmucken Zimmer, das mir meine Kerlchenbaronin so lieb eingerichtet hat, und der Leutnant war im Waffenrock mit Schärpe und Helm, als ob er da mehr vorstellte – – alter Krone, – du lachtest still in dich hinein.

Und da kam's.

Sie seien Brautleute – – Botho von Terlan und weshalb kamst du zu mir? Ich bin nicht der Vater und nicht der Vormund, bin nur der Schlachter Krone – – Dann kam noch jemand herein, die alte Mutter des Leutnants, die Frau Baronin von Terlan-Olzen aus dem Hause Krien.

Hei, wie das Namen- und Titelwerk von ihr abfiel. Wie sie elend war, verfallen, hager und vergrämt.

Botho von Terlan, was soll deine blitzende Uniform? Du hast dem ehrlichen Namen deines Vaters Schande gemacht.

Und meinst du Wicht, ich gebe mein gutes, mühsam erworbenes Geld dazu her, meinen Kaiser zu betrügen? Das Eiserne Kreuz hab ich, – hörst du's? Und einer, der das Eiserne Kreuz hat, der kann nur zu dir sagen: »Runter mit der Uniform.«

Himmel, so hatte ich wohl gesprochen und noch viel mehr und hatte gar nicht darauf geachtet, wie blaß und still das Kerlchen geworden war, so arg blaß.

Da stand es mit weit ausgespreizten Fingern und schüttelte sich vor Grauen; weil es zum erstenmal Einblick tat in die Abgründe von einem menschlichen Herzen.

Dann schlich es sich still hinaus, und ich hörte, wie es langsam zu dem Turmzimmerchen aufstieg.

Armes Kerlchen!

Jetzt konnte ich noch recht deutlich mit dem Leutnant reden, – aber dann schickte ich die alte Mutter fort, die dauerte mich, und ich litt es nicht, daß die völlig gebrochene Frau meine Hand küßte, die abgearbeitete, häßliche Arbeitshand, denn was ich tat, tat ich nur um meines Kerlchens willen.

Dann schrieb ich die ganze Geschichte an Herrn von Eulried, denn dessen Rat mußte ich haben.

Oberst Erich Schließen war mit Erni von Rumohr nach Rumohr gereist, – ich hatte niemand sonst. Den Leutnant behielt ich bei mir, bis Hans-Hugo kam.

Und nun ist alles geregelt und abgetan. Hab Dank, alter Herrgott, daß du mir die Kraft dazu gabst, und hab fein acht auf den jungen Menschen drüben im Ausland, in Krieg, Not und Gefahr.

Gib ihm ein neues Leben, oder einen ehrenhaften Tod.

 

Draußen im herbstlichen Wald steht Kerlchens Baum. Es ist die einzige Eiche unter all den dichten, grünen Tannen, die das einsame Menschenkind, das an dem Baumstamm lehnt, so liebevoll vor neugierigen Blicken verbergen.

Kerlchen sucht täglich dieses Stellchen auf, – die Tannen und die welken Blätter strömen so kräftigen, stärkenden Duft aus.

Es ist ernst und blaß in der letzten Zeit geworden, und es trägt ein tiefes Herzeleid mit sich herum, trotz der großen Liebe, mit der Großmuusch das verstörte Kind an ihr Herz nahm, und trotz der seelenguten Worte des Schlachters Krone.

Und uralt und müde kommt sich das Kerlchen vor, es ist heute achtzehn Jahr alt geworden und hat schon so viel Böses erlebt – meint es. Und es wundert sich über gar nichts mehr, wundert sich auch jetzt nicht, als ein brauner Hühnerhund an der Waldecke hervorkommt, ruhig stehen bleibt und schweifwedelnd mit treuherzigen Augen auf das einsame Menschenkind hinschaut.

Es wundert sich auch nicht, als der Herr des Hundes diesem folgt mit Jagdgewehr und Tasche, grüßend die Mütze zieht und sich dicht vor Kerlchen hinstellt.

Einmal mußte es ja doch geschehen, daß sie sich sprachen, die beiden »Todfeinde«.

Der ernste Mann mit dem schon leicht ergrauten Haar sah das junge Mädchen an und erschrak, wie tief die Schatten unter den lieben, leuchtenden Kinderaugen waren. Er dachte an den Abend, da er nach Tannenruh geritten war wie der Böse – – – in schier sinnloser Angst, daß es wirklich jemand geben könne, der das Kind für sich fortholen wolle, – – sein Kleinod. Und wie die Lösung dann so ganz anders war und er den ganzen Abend rechnete mit dem unvergleichlichen alten Meister Krone, Briefe schrieb, Geld siegelte und den verblendeten, jungen Menschen am andern Morgen selbst nach Bremen brachte.

Als er wieder kam, war das junge Kerlchen da vor ihm krank.

Er sah's, – hart mußte das Fieber zugepackt haben.

Aber nun röteten sich doch die schmalen Bäckchen wieder in der guten, frischen Thüringer Luft.

»Das ist des deutschen Waldes Kraft,
Daß er kein Siechtum leidet
Und alles, was gebrestenhaft,
Aus Leid und Seele scheidet.«

Beide sahen sich an, – lange.

»Kleines Kerli, warum tatest du das alles?« fragt der Manu mit tiefer, guter Stimme.

Da weinte es heiß und schmerzlich auf.

»Weil ich so furchtbar einsam bin!«

Da riß er es an sich.

»Und ich, Kerli? Und ich? Bin ich nicht auch einsam? Darf ich dich denn lieb haben? Willst du denn mein sein?«

Beide Arme schlang Kerlchen um seinen Hals, der junge Mund kam ihm entgegen.

»Ja, Hans-Hugo, Edler von Eulried, – ach ja, hab' mich lieb!«

 

Sie standen vor »Kerlchens Baum«, und Kerlchen streichelte die rauhe Rinde. –

Da zog Hans-Hugo Eulried übermütig wie ein Schuljunge das große Jagdmesser heraus und rief: »Das muß mir dein Baum heut' erlauben!«

Mit dem linken Arm hielt er sein Kerlchen fest an sich gedrückt, mit der Rechten schnitt er ein Herz in den Baum und ein »K« hinein.

Und Kerlchen nestelte eifrig an ihrer Tasche und holte ein winziges Federmesserchen hervor und schnitt krumme, wunderliche Buchstaben, man konnte aber doch sehen, daß es ein »H-H« sein sollte. – »Schau nur, Hans-Hugo Eulried – ›H-H!‹ – Es klingt so fröhlich!« – Und fröhlich – glückselig schritten sie in den goldenen Herbstwald hinein.

*

Es ist Weihnachten im Thüringer Land.

Die Glocken des Dörfleins hallen über das verschneite Tannenruh.

Drinnen ist's gar still.

Großmuusch sitzt ganz allein unter dem knisternden, duftenden Tannenbaum, an dem die Lichter eben verlöschen wollen.

Aber sie ist doch nicht allein. Viele, viele Gedanken sind in der letzten Stunde zu ihr zu Besuch gekommen, da die Wagentür der alten Eulrieder Kutsche zufiel, die das junge Kerlchen, Felicitas Eulried, und ihren Gatten in das neue, in das eigene Heim führte.

Großmuusch denkt an die vielen Weihnachtsabende, die sie durchlebt, die ihr reiche Gaben brachten und reiches Glück nahmen, – – wie Gott es schickte. An ihre eigene Hochzeit dachte sie, an ihren Fritz, der schon so lange den ewigen Schlaf schlief, und der das Glück nicht mehr gesehen hatte, das heute so leuchtend, so unsagbar lieblich unter dem Weihnachtsbaum geblüht hatte.

Kleines Kerlchen, Gott behüte dich! Du hast eine liebe, traute, warme, dauernde Heimat gefunden, wie sie deine Großmuusch einst fand.

Großmuusch träumt weiter.

In unabsehbarer Reihe ziehen die Gestalten an ihrem Geiste vorüber, treten auf und verschwinden. Einige nicken vertraut und weilen länger bei ihr, andere wieder sind kaum noch dem Herzen erkennbar, durch die lange Trennung, die das Leben schuf. Wieder andere setzen sich zu ihr unter den Weihnachtsbaum und fragen: »Weißt du noch, Kerlchen?« Und erzählen ihr eine lange, lange, köstliche Geschichte, die gar nicht enden will, eine Geschichte voll Liebe und Leid, voll Hoffnung und Entsagung.

»Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

 

Und eine Gestalt ist da, beinahe ebenso deutlich wie Väterchen und Muttchen und ihr Fritz, das ist Erni, ihr lieber Ältester, und an ihn schließt sich die ganze, traute Kegelreihe. Auch Rose ist wieder da, Rose, ihr Liebling.

Und eine andere helle Gestalt löst sich aus der Reihe, – o, so deutlich.

Es muß Bümi sein, das liebe, liebe Bümi, trotzdem Großmuusch so genau weiß, daß es jetzt in Berlin sitzt und seinem Franz gar liebevoll von Tannenruh erzählt.

Aber jetzt! Wer kommt denn da?

Guten Abend, Meister Krone, du Treuester aller Getreuen, du lieber guter, verehrter Freund, den Ehrenplatz sollst du haben in der Erinnerung. –

 

Leise verlöscht das letzte Lichtchen.

Großmuusch erschrickt und blickt um sich.

Die Tür ist sachte aufgegangen, und der gute Rat Krone tritt herein.

»Meine liebe Kerlchenbaronin, – sehen Sie nur Ihren dunklen Baum an. Aber draußen hat der Herrgott dafür Millionen Lichtchen angesteckt und den lieben Mond dazu. Kommen Sie nur mal heraus, – es ist eine Pracht!«

Da stehen nun die beiden »ältesten Freunde« in Tannenruh auf der Veranda und schauen auf das unvergleichliche Bild.

Sachte fallen die Schneeflocken, und der Silberschein des Mondes liegt ruhig und mild auf Feld und Flur und auf Kerlchens lieber Tannenruh-Heimat.

Sie streichelt die harte, abgearbeitete Hand des Greises an ihrer Seite, dem ihr Haus soviel verdankt, und sie schaut in sein gütiges, altes Gesicht, das jetzt vom Mond so hell beleuchtet ist, und in dem sich Güte und Humor paart.

»Gucken Sie nur, liebes Kerlchen,« flüstert der Alte, »,wie schön der Stern da oben funkelt. Am meisten von allen! Wie 'n paar gute Schlieden-Augen. Ich hab's, ich hab's! Das ist mein Herr Oberst, Kerlchens Väterchen! Der nickt mir zu. Nun will ich schlafen gehen.«

Leise verhallten die Glocken.

 

Ende.


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