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Bilder aus den vier Wänden.

Eine sogenannte ›Vernunftehe‹ hatten die beiden nicht geschlossen. Aber sie paßten ganz gut zusammen; ›er‹ war ein junger Beamter und ›sie‹ hatte auch nichts. Nur eine schöne Aussteuer, schön nach den Begriffen der jungen, anspruchslosen Frau, denn die Freundinnen rümpften ein wenig die Nasen, daß Geheimrats Jüngste ›nicht mal'n Büfett mitkriegte‹. Und nur drei Zimmer und Küche; und nichts, aber auch gar nichts ›stilvoll‹.

Sie hatten ganz recht, die Freundinnen, sie sahen eben das ganze Nestchen mit ihren Augen an und sahen deshalb nicht das ›Glück‹, das aus jedem Winkelchen der hellen, freundlichen Wohnung lachte. Und wie hatte ›Muttchen Geheimrat‹ gesorgt und gerechnet, damit ihre kleine Lise eben diese drei Zimmer ›mitbekommen‹ konnte und eine gute Wäscheaussteuer dazu. Fünf Kinder als Beamtenwitwe durchzudringen, sie zu tüchtigen Menschen zu erziehen, ist nicht so leicht. – Aber nun waren sie alle versorgt, die Söhne in geachteten Lebensstellungen, die beiden älteren Töchter gut, ja reich verheiratet und das Lebensschifflein der Lise, der übermütigen Jüngsten, die so ganz ihrem Vater glich und ihren Kopf für sich hatte, war vor einigen Tagen aus dem stillen Hafen des Elternhauses in die Welt gesteuert.

»Gott gebe seinen Segen! Jung ist sie noch sehr, noch nicht ganz neunzehn, – ach, wenn ›er‹ nur Geduld hat – – – –«

Eine Hochzeitsreise wollten sie beide nicht, sie fuhren gleich in die neue Heimat und ›richteten ein‹. Natürlich hatte Lise sämtliche Schlüssel vergessen und ihre erste Flasche Wein im neuen Haushalt trank das junge Paar mit dem Schlosser zusammen, der die Schränke aufbrach.

»Wie interessant!« rief fröhlich die junge Frau. »Das darf nicht wieder vorkommen,« meinte der junge Ehemann mit einer gewissen ernsten Würde, die ihn sehr gut kleidete.

Und nun war man eingerichtet und der erste lange Brief ging an ›Muttchen‹ ab, die sich bis dahin mit Postkarten begnügt hatte.

*

Liebstes Muttchen!

Die Welt ist doch wunder-wunderschön! Ich sitze im Wohnstübchen, welches so klein ist, daß nur zwei Menschen drin wohnen können, die sich furchtbar lieb haben. Na, das haben wir ja. Hans ist im Bureau, der Urlaub zu Ende. Der erste Abschied war natürlich sehr schmerzlich und ich winkte mit dem Taschentuch, bis Hans um die nächste Straßenecke verschwand. Dann wurde mir sehr sonderbar zumute, und ich bekam Heimweh nach Dir, mein Mutti! Da hab' ich eine halbe Stunde gesessen und bin mir recht unglücklich vorgekommen. Schließlich habe ich in meinen Mädchensachen herumgekramt; ich hatte auf die Kiste: › Tabu‹ geschrieben, und Hans hat sie infolgedessen nicht angerührt. Zu unterst lag meine alte Puppe Emmy (lach' mich tüchtig aus), ich habe sie aus- und angezogen, und da wurde ich wieder vergnügt. Heute soll ich zum erstenmal kochen, mir graut, – ich glaube, Hans auch. Bis jetzt aßen wir im Speisehaus und mir schmeckte es prachtvoll, aber Hans sagte, er hätte alles schon ›über‹, besonders die Saucen. Es gibt heute Fleischbrühe bei uns, dann Wiener Würstchen und Kartoffelsalat. Zur ›Fleischbrühe‹ habe ich mir ein Pfund Markknochen holen lassen, sie kochen schon lange, aber als ich vorhin kostete, schmeckte es nach nichts, man kann ebensogut die Zunge zum Fenster heraushängen.

Kommt denn da noch was dran? Meine Minna versteht ebensowenig vom Kochen wie ich, sie ist erst sechzehn Jahr, aber sehr willig und nett ist sie; vorhin haben wir einen kleinen Walzer zusammen getanzt.

Ich hätte so gern einen Braten heute gemacht, aber ich hatte so Angst. Wiener Würstchen müssen ja mal weich werden, aber ein Braten – – –

Liebstes Muttchen, die Fantasie impromptue von Chopin kann ich jetzt perlend, auch nicht ein Fehler läuft mehr unter; ich will sie Hans nach der Suppe vorspielen, damit er wieder vergnügt wird. Tante Emmy ist doch ein Engel, daß sie uns das schöne Klavier geschenkt hat; jetzt sparen wir zu einem Flügel, fünfzehn Pfennig hab' ich schon; gestern schenkte mir Hans zehn, und heute fand ich fünf Pfennige unter dem Teppich. Die grünen Sessel machen sich prachtvoll im Salon, aber wir dürfen bloß Leute darauf sitzen lassen, die unsere ärgsten Feinde sind; sie sind schauderhaft unbequem und man spürt sein Kreuz tagelang, wenn man bloß fünf Minuten darauf gesessen hat.

Ich wollte doch, ich hätte die Sessel bei Dir auf dem Boden stehen lassen, wo sie seit Generationen standen, nachdem schon unsere Urahne damit reingefallen war. Aber äußerlich sind sie, wie gesagt, stilvoll. Vor ein paar Tagen kam Assessor G. und besuchte uns. Wir können ihn beide ja nicht ausstehen und fanden es taktlos, daß er uns jetzt schon überfiel. Deshalb nötigte Hans ihn auch gleich in den einen Sessel, wo er sich zuerst, wie es jedermann geht, sehr behaglich vorkam. Nach zehn Minuten empfahl er sich plötzlich, Hans behauptet, er habe sich direkt ins Krankenhaus fahren lassen. – Liebste Mutter, mein Hans ist furchtbar nobel, denk mal, er gibt mir 75 Mark Wirtschaftsgeld monatlich, ich weiß gar nicht, wie ich das klein kriegen soll und denke, den Flügel habe ich bald erspart.

Könnte ich doch besser kochen! Unsere Marie, die alte, gute Seele ist dran schuld. Immer sollte ›gnädiges Fräulein‹ geschont werden, und nun stehe ich vor meinem Herd und sage ›Bäh‹. Hans nennt mich sehr zart: ›Mein Lämmchen‹; wenn er bloß im Innern nicht ›Schaf‹ denkt!

Wovor ich mich so sehr fürchte, das sind die Besuche, die wir demnächst doch machen müssen; ich wollte, wir brauchten gar keine neuen Menschen kennen zu lernen und ich bliebe immer bei Hans und Hans bei mir. Für das Kneipenlaufen ist er ja gottlob gar nicht, er hat einen Kegelabend in der Woche mit den Kollegen, das soll so gesund sein, sagt Hans. Nächste Woche will er zum ersten Male als ›Ehemann‹ hin und muß dann gleich ein Faß Bier zum besten geben. Denk nur, ein ganzes Faß! Das kann doch nicht gesund sein! Aber ich sage nicht ein Tönchen, denn ich habe mir fest vorgenommen, meinen Mann niemals seinen Freunden abwendig zu machen, – staune über Deine verständige Tochter! Hans ist ja auch sonst ein Idealmensch, er spielt nicht, trinkt nicht, ›he schnieft nich un pieft nich‹. Aber nun ade, ich will jetzt die Würstchen ansetzen, es ist 10 Uhr, um ½ 2 Uhr kommt Hans, ich denke, dann werden sie gar sein.

Grüße die gute, alte Marie!
Dein glückliches Kind.

*

Nachschrift. 4 Uhr nachmittags.

Liebe Mama!

Lise und ich kommen soeben aus dem Speisehause, wo wir ausnahmsweise gut gegessen haben, weshalb ich sehr friedlich bin. Lisel ist ein süßes Geschöpf, aber ihr Debüt konnte einen Hund jammern. Die Fleischbrühe war als ›Vorspieglung falscher Tatsachen‹ schon an sich strafbar, dann bekam ich wieder eine Suppe mit Fleischkrümeln und Stücken Haut darin, Lisel behauptet weinend, es wären ›Wiener Würstchen‹. Den Kartoffelsalat habe ich nicht erst angerührt, weil ich mein junges Leben nicht hinmorden und dem Staat eine tüchtige Kraft erhalten wollte. Beunruhige Dich aber nicht, liebste Mutter, ich wußte ja, daß mein holder Liebling ›Lilie auf dem Felde war‹; sie wird alles nachlernen bei ihrem festen, guten Willen und ihrer großen Jugend. Mutter, ich bin sehr, sehr glücklich!

Dein dankbarer Sohn Hans.

*

Liebes Muttchen!

Weißt Du noch, wie Du früher immer sagtest: »Reinlichkeit ist das halbe Leben, aber man braucht deshalb nicht in seinem Wäscheschrank herumzuwüsten?«

Jetzt denke ich so oft an Deinen Ausspruch, dessen Tragweite ich damals nie recht überlegte. Ich ›wüstete‹ tatsächlich im Anfange unserer Ehe im Wäscheschrank herum, fand es so reizend, immer frische Tischtücher mit neuen Mustern herauszunehmen, besonders da Hans ein Meister in Ungeschicklichkeit ist, und Sauce und Kompott sich vor seinem Teller auf dem weißen Damast immer ein anmutiges Stelldichein geben. Nun, und auf schöne und frische Leibwäsche gab ich ja allezeit mehr, als auf Kleiderkrimskrams. Wie wurde mir aber zumute, als schon nach drei Wochen der Korb mit der schmutzigen Wäsche überquoll! (Verzeih Mutti, ich konnte mich nicht entschließen, sie geordnet auf dem Boden aufzuhängen, und Mäuse haben wir hier auch Gott sei Dank nicht.) Also er quoll über und Minna sagte mit kritischem Blick: »Na nu wird das Zeit mit die Wäsche, sonst versaufen wir drin.« Wäsche! Hu, wie greulich! Unsere alte Marie machte das doch bei uns so geräuschlos als möglich mit der ›Kiesewettern‹, so daß ich eigentlich nie etwas vom Wäschetag merkte. Nur das eine Mal ließest Du mich kochen, weil Hans zu Tisch kam und das Hausmädchen krank war, und ich machte ihm sein Leibessen: ›Thüringer Kartoffelpuffer‹, vergaß aber die Kartoffeln abzuwaschen, weshalb sie sandig waren. Hans fiel mir aber doch nach Tisch dankbar um den Hals und sagte, alles Unrechte wäre mit diesem Gericht aus seinem Magen herausgescheuert worden, und das sei nicht zu unterschätzen.

Aber ich wollte Dir von der Wäsche erzählen. Minna besorgte also eine Waschfrau, die ›bei ihrer Freundin ihrer Schwägerin ihrer Cousine‹ wusch und sehr tüchtig sein sollte. Ach, es war keine freundliche Frau Kiesewettern aus Thüringen, die immer so gemütlich des Morgens grüßte: »Dienerchen, Dienerchen, Frau Räten,« und des Abends: »Na machen Se scheene atje, Frau Räten,« nein, es war ein Drache, Teufels Großmutter in Person. Um 5 Uhr früh weckte uns ein ganz unvernünftiges Sturmläuten an unserer Haustür. Das heißt, es weckte mich, denn Hans rührte sich nicht und Minna könnte man nachts fortschleppen, ohne daß sie es merkte. Ich kleidete mich zitternd und notdürftig an und fragte durch die Sicherheitskette: »Wer ist das?«

»So 'ne Frage! Ik bin dat! De Helfrichen! Ik stehe da, un bimmele mir Brandblasen an de Finger un hab mer de Beine schon 'n Zollener achte ins Leib jestanden.« Ich ließ sie herein und erinnerte mich mit einem Male, daß die Kiesewettern auch immer in aller Herrgottsfrühe kam, freilich hatte ich damals noch keine Pflichten und durfte süß weiterschlummern. Ich weckte nun schleunigst die Minna und wollte mich aufatmend in meine Kemenate zurückziehen, da rief die grobe Stimme wieder:

»Ik darf mir den Kaffee woll in die Küche zu's Jemüte führen?«

Himmel, der Kaffee! Ich hatte gar keinen gekocht, und es würde viel zu lange dauern, wenn ich auf Minna warten wollte. Zum Glück fand sich vom vergangenen Tage noch genügend Stoff vor, ein qualmendes Brikett im Herd erleichterte mir das Feueranzünden und so hatte ich verhältnismäßig rasch den braunen Trank aufgewärmt. Inzwischen schnitt sich Frau Helfrich selbst zwei ordentliche Brotkanten, so richtige ›Runxen‹ ab, bestrich sie zwei Finger dick mit meiner besten Grasbutter, die eigentlich für Hans zum Frühstück bestimmt war und setzte sich beschaulich zum Trinken hin. Freilich ließ sie gleich nach dem ersten Schluck die Tasse sinken, und meinte: »Ik, wat ik bin, pflege mein Spülwasser immer in 'n Ausjuß zu jießen,« und als ich sie empört ansah, blickte sie beinahe tragisch in ihre Tasse und sagte: »Armer Mokka, an dir hat Zuntzen seine selige Witwe keinen Anteil!«

Ich drehte ihr den Rücken zu, um zu zeigen, daß ihre Monologe kein Interesse für mich hätten, aber meine Ohren konnte ich nicht verstopfen. »Na, mein sojenanntes Kaffeeken, wenn du denn ok nich stark bist wie Herkulessen, un nich so schwarz wie die Nacht und nich heiß wie die Hölle, so will ik dir süß wie die Liebe machen – – –«

Mutti, – meine Zuckerdose kann's bezeugen, daß sie es getan hat.

Gott sei Dank kam jetzt Minna, die Frau Helfrichs Ausdrucksweise schon von ›ihrer Freundin ihrer Schwägerin ihrer Cousine‹ her kannte, und ich verließ die Küche. Nach einer halben Stunde wurde die Tür unseres Schlafzimmers geöffnet und Frau Helfrichs Stimme ertönte: »Seefe!«

Ach so – die Seife hatte ich ganz vergessen. Ich kramte im Fache meines Toilettentisches herum, wo ich einen ganzen Kasten feiner Seife, ein Geschenk von Hans, aufbewahrte. Sie war mir natürlich beinahe zu schade für diesen Zweck, aber schließlich nahm ich drei große Stücke Glyzerinseife, die ich am wenigsten gern habe, und ging damit in die Küche. Als ich sie aber auf den Tisch des Hauses niederlegte, traf mich ein Blick, Mutti – ich fühlte, wie ich bis über beide Ohren rot wurde, so viel höhnische Verachtung lag darin. Dann richtete sich Frau Helfrich hoch, nahm ihre knochigen Finger der einen Hand einzeln abzählend in die andere und schrie mich an: »Drei Pfund Soda, drei Pfund Schmierseife, drei Pakete Bleichsoda, ein Pfund Stärke, ein Paket Waschblau, drei Pfund Terpentinseife, for 20 Pfennige Chlor.«

Bebend händigte ich Minna einen Taler ein, und sie stürzte fort.

Der ganze Vormittag war schrecklich. Frau Helfrich beanspruchte Minna ganz für sich, ich mußte alles allein tun, dabei war der Spiritus unter der Kaffeemaschine aufgebrannt, und ich mußte auf dem Herd kochen. Das Feuer wollte aber nicht brennen, und mein armer Hans mußte ohne Kaffee ins Bureau. Er sah mich sehr ernst an, – o Mutti, das tat so weh und ich schluchzte laut, als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Aber für seine Enttäuschung wollte ich ihm auch glänzenden Ersatz schaffen. Ich griff tief in mein Wirtschaftsgeld, holte eigenhändig vom Schlachter ein Pfund Schweinskoteletts, die Hans so gern ißt, bei dem Delikateßhändler holte ich drei Pfund feinste Salatkartöffelchen und eine Flasche bayrisches Bier.

Es schmeckte alles tadellos, aber als ich der Waschfrau und Minna jeder ein Kotelett und Salat gegeben hatte, war der Überrest für Hans und mich kläglich. Ich beschloß also satt zu sein und rief die dienstbaren Geister aus der Waschküche herauf. Das erste, was Frau Helfrich tat, war, daß sie die einzige Flasche bayrisches Bier, die ich für Hans bestimmt, entkorkte, indem sie sagte: »Tantalus war'n Waisenknabe jejen mich.«

Dann aß sie mit großem Behagen, aber ich dachte, mich rührt der Schlag, als sie kauend bemerkte: »Det is vernünftig, det Sie Vorspeisen jeben, wenn och de Portionen noch mal so jroß sin könnten.«

Vorspeise! Kotelett und Kartoffelsalat Vorspeise! Und ich hatte nichts, aber auch nichts weiter im Hause! Ich stürzte hinaus und überließ es Minna, ihr den Tatbestand zu erklären. Das hat sie denn auch getan und erzählte mir nachher, Frau Helfrich habe erst etwas herumgewütet, aber dann gesagt, ich sei ja noch jung und bildungsfähig und wenn ich zum Nachmittagkaffee einen ordentlichen Napfkuchen anfahren ließe, wollte sie mir's noch mal verzeihen.

Ich besorgte denn auch tüchtig Kuchen und Honigsemmeln und ging gegen 3 Uhr mit einer mächtigen Kaffeekanne hinunter, der braune Trank wurde geprobt und für würdig befunden, Madame Helfrich und Fräulein Minna zu laben. Aber nun kam etwas Schreckliches. Ich guckte so von ungefähr in den Wäschezuber und – – lauter fremdes Zeug starrte mir entgegen, starrte in des Wortes verwegenster Bedeutung, Ich nahm dieses Stück hoch und jenes; grobe, schmutzige Wäsche überall, nur in zwei entfernteren Behältern, die nicht einmal mir, sondern der Wirtin gehörten, lag eingeweicht, aber noch nicht gekocht oder gewaschen meine Wäsche. Ich stand angewurzelt auf meinem Platz und sah Frau Helfrich an, ein großer, ehrlicher Zorn hatte mich gepackt, aber ich konnte kein Wort herausbringen. Sie lachte höhnisch und doch unbehaglich.

»Na?« sagte sie endlich herausfordernd. »Man nich so s–tarr un s–tumm vor S–taunen s–tehn! Was is denn los? Reden Se doch en Ton! Jroßer Gott, jejen Sie is ja Lots Weib det reene Perpetuum mobile!« Ich zeigte immer noch stumm auf die fremde Wäsche. – »Na ja doch!« rief sie. »Bei mir heeßt dat: Erst's Jeschäft und dann's Verjnüjen, Ihre Wäsche zu waschen, die kaum en eenzjes Fleckchen hat, is en Verjnüjen, un da wasch ik nu vorher von 'ner andern Familie.«

»Sie sind unverschämt,« rief ich zornig, da kam ich aber böse an. Sie wurde beinahe zur Furie, raste in der Waschküche umher, zog die fremden Stücke wutschnaubend durch die Ringmaschine, warf sie in einen Korb und währenddessen sprudelte sie eine Menge durchaus unparlamentarischer Redensarten heraus. Zuletzt stellte sie sich herausfordernd vor mich hin und schrie: »Na nu, adjes! Die zwei Mark fuffzig, die ik eijentlich von Sie beanspruchen kann, will ik Ihnen schenken, Sie können sich davor 'n verjnügten Dag machen. Aber ik jehe. Ik lasse mir nich ›unverschämt‹ nennen von en Kücken, wovon ik de Urhenne sin könnte.«

Damit zog sie mit dem Wäschekorb ab, und unsern ganzen Kuchen nahm sie mit, Minna und ich starrten ihr schreckensbleich nach.

Da lag nun meine Wäsche, nicht ein Stück war in Angriff genommen. Ich rang die Hände, aber Minna war resolut und sagte: »Nur ruhig Blut, Anton, ich mache frisch Feuer und dann waschen gnä Frau und ich druff los. Was zu doll aussieht, stecken mer in Chlor.«

Na, das geschah, abends um 8 Uhr stand ich noch weinend am Waschfaß, das Blut floß über meine Finger, als Hans aus dem Dienst kam, und an seinem Herzen weinte ich mich dann noch einmal gründlich aus. Eine freundliche Frau aus dem Hinterhause erbot sich, die Wäsche fertig zu machen und sie erlöste auch sofort meine Tischtücher aus der Chlorbrühe, gottlob, – nur zwei waren verbrannt, die aber auch gründlich.

Ach Mutti, ich war so unglücklich über mich selbst und Hans dabei so einzig gut! Er küßte mir die Tränen fort und sagte zu all meinen Selbstanklagen, ich sei ein süßes, gutes, liebes Geschöpfchen und das bin ich doch nicht, ich bin nichts als Dein

dummes, dummes Kind
Lisel.

*

»Hans, wir müssen nun endlich die Liste für die Besuche aufstellen.«

»Hm.«

»Ja, du ›hm'st‹ immer bloß, aber was sollen die Leute denken!«

»Die denken nichts.«

»Hans, sieh mal, die Flitterwochen sind doch vorüber – –«

»So? Schon? Ich dachte, die dauerten länger –«

»Ach, Hans, du weißt ja doch, was ich meine. Wir müssen jetzt unter die Leute. Also hier ist ein Zettel und ein Bleistift. Zuerst dein Chef – –«

»Lisel – – – – «

»Na, was ist? Warum bist du so verlegen?«

»Komm mal her, kleines, liebes, süßes Frauchen. Sag', kannst du wohl einen Puff vertragen?«

»Hans, du ängstigst mich. Was willst du damit sagen?«

»Sieh, Lisel, – du warst bis jetzt ein rechtes Gesellschaftstierchen, du bist unter Staatsuniformen und zweierlei Tuch groß geworden und ich hoffe, dich auch später wieder in die ersten Kreise führen zu können. Vorläufig aber –«

»Hans!!!«

»Da ist nichts zu erschrecken! Sieh, wir könnten ja die Besuche machen – aber – sei nicht traurig, Kleines, die Herrschaften würden uns einfach nicht einladen, ich bin eben erst am Anfang meiner Karriere, wohin sollte das wohl führen, wenn der Chef seine jungen Beamten alle mit den Frauen einladen wollte, – oft sind die Frauen auch gar nicht danach – – –«

»Aber ich, Hans? Papa war doch ›Geheimer Ober-Rat zweiter Klasse.‹

»Ja doch, ja doch! Aber wenn er auch der Erzengel Gabriel gewesen wäre, so bin ich eben nur der simple Soundso, noch nicht mal Rat fünfter Güte, und du bist nichts, – als meine Frau.«

»Hans!!«

»Ist das so schrecklich, Liebling? Sieh, in drei bis vier Jahren hoffe ich soweit zu sein, meinen holden Schatz in die Gesellschaft einführen zu können, der ich sie übrigens gar nicht gönne.«

»In vier Jahren? Da bin ich ja 'ne Greisin.«

»Na, na Lisel! Dreiundzwanzig knapp! Bis dahin leben wir still für uns, suchen uns ein paar nette Spezialkollegen, da ist z.B. der Rödel –«

»Ich danke! Der und nett! Mit dem könnte ich hundert Jahr auf 'ner wüsten Insel leben – –«

»Das wollt' ich mir energisch verbeten haben!«

»Ich meine ja bloß – Hans – – «

»Lisel, sei doch froh, daß wir die Abfütterungen noch nicht mitzumachen brauchen, mein Gehalt ist ja mehr als knapp –«

»Und meine reizenden Kleider, Hans? Wem soll ich sie zeigen? Das mattblaue, das weiße, und dann das mit den süßen Plissees?«

»Ja, den ›süßen Plissees‹ zuliebe können wir die Gesellschaftsordnung nicht umstoßen, aber du kannst sie Sonntagsnachmittags anziehen, und dann stell' ich mich mit dir vor die Haustür – – «

»Hans!!!«

»So heiß' ich.«

»Aber noch eins, Hans! Du hast doch früher bei deinem Chef verkehrt, du warst doch Maître de plaisir, du bist doch Reserveoffizier – –«

»Jaaaa – als Junggeselle – –! Darüber zerbrich dir nicht den Kopf, Kleines, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde – –«

»Und so weiter, und so weiter!«

»Nicht kribbelig sein, Schatz! Wir wollen frohlocken und jauchzen. Zu einer Kochfrau langt's sowieso nicht, und du könntest unseren Gästen doch nicht ›Wassersuppe mit Wiener Würstchenkrümeln‹ – – «

»Du sprichst von Zeiten, die vergangen sind – –«

»Na, na!«

»Im übrigen – Hans, ich glaube, du hast recht! Ich werde in den vier Jahren kochen lernen und – und – und«

»Lisel! Herzensschatz! Du bist eine Perle deines Geschlechts!«

*

Liebstes Muttchen!

Wieder muß ich für mein langes Schweigen um Verzeihung bitten, wir hatten etwas sehr Ärgerliches erlebt, ein Nachspiel mit Frau Helfrich, die, aufgehetzt von anderen und bösartig von eigener Natur, sich umbesonnen hatte und nun doch noch die zwei Mark fünfzig Pfennig Taglohn verlangte, für die sie doch absolut nichts geleistet hatte. Auch über das Essen schimpfte sie laut und machte uns einen ganz greulichen Auftritt, so daß Hans sie schließlich hinauswarf. Ich habe ihn noch nie so böse gesehen und zitterte vor Angst, – ach, wenn ich dächte, er könnte zu mir einmal so sein! Ich will mir furchtbare Mühe geben, daß ich so etwas nie, nie verdiene.

Aber wie zur Entschädigung kam auf den Schreck etwas ganz Herrliches. Ich habe einen großen Ball mitgemacht, den ersten in meinem ganzen Leben. Unsere Verwaltung hat einen Verein ihrer Mitglieder gegründet und diesen Verein besuchten wir neulich. Fein bescheidentlich saß ich neben Hans am untersten Ende der Tafel, an meiner anderen Seite hatte ich ›Kollege Rödel‹, der mich mit ›Fliegenden Blätterwitzen‹ anödete. Er hatte sie alle auf einen langen Zettel aufgeschrieben und lachte zu jedem Witz dröhnend, so daß sich die Leute nach uns umsahen. Dabei stammten die Sachen von Methusalems Großmutter her.

An der Quertafel, weit, in nebelgrauer Ferne thronte der Chef von Hans. Ich warf ab und zu einen Blick hin zu ihm und seiner liebenswürdigen Gattin, die so ein gutes Gesicht hat und Dir ähnlich sieht, mein Mütterchen. Und nun höre und staune: Zwischen dem Eis und dem Käse, nach einem Toast auf die Kollegialität, erhob sich der Chef, stieß mit den Umsitzenden an und kam plötzlich auf unsere bescheidene Ecke zu, tippte Hans an und sagte: »Wollen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin vorstellen?« Ich versank in einem tiefen Knicks und er nahm meine Hand und sagte, er habe eben erfahren, ich sei eine geborene S. und er habe meinen lieben Vater hochverehrt. O, wie glücklich war ich über dies Wort! Die Tränen kamen mir in die Augen, – ich habe ja so oft unsern herrlichen Vater rühmen hören, vor allem seine wahrhafte Herzensgüte. Über das Grab hinaus bin ich ihm dankbar für dies Erbteil, was er uns hinterlassen hat, wertvoller als Geld und Gut. – Viel und lange plauderte der Chef mit mir, ich redete schließlich ganz zutraulich, wie mir der Schnabel gewachsen war; ein paarmal hatte ich gewiß 'was Dummes gesagt, denn er lachte laut, und Hans kniff mich auf der andern Seite braun und blau. Nachher führte mich der Chef zu seiner Gattin und nach kaum einer Viertelstunde schwärmte ich bereits für sie, so reizend ist ihr ganzes Wesen. Nach Aufhebung der Tafel ließen sich mit einem Male alle Herren mir vorstellen und ich tanzte dann ununterbrochen wie ein Wasserfall. Hans benahm sich etwas sonderbar und stand die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn an einem Eckpfeiler, er war aber nicht etwa eifersüchtig, – du lieber Himmel, – was sind auch alle Männer der Welt gegen ihn! – Greuliche, langweilige Nullen, nuller wie null!

»Mei Hans is mei alles,
Mei Glück un mei Lebe,
An bessern wie Hans is.
Den kann's gar nit gebe.
Ob's regnet, ob's schneit,
Ob's donnert, ob's blitzt,
I fürchte mi gar nit.
Wenn mei Hans bei m'r sitzt.
Holdrihohü!!!«

Aber Hans erzählte mir nachher, das liebenswürdige Vorgehen des Chefs hätte ihm natürlich sofort Neider zugezogen und Kollege Rödel sagte schon den ganzen Abend spöttisch ›Exzellenz‹ zu Hans. Nun, Kollege Rödel ist zwar ein Greuel, aber ich selbst bin der Ansicht, daß Hans eine prächtige Exzellenz abgeben wird, das sagte ich ihm auch, aber er blieb verstimmt. Trotzdem hat er gleich am andern Tage mit mir beim Chef Besuch gemacht, denn dieser hatte uns direkt dazu aufgefordert, und heute ist eine Einladung zum Ball gekommen und wir mußten sie natürlich annehmen. Hans kopfschüttelt: »Wohin soll das führen, was werden die Kollegen sagen?« Ich habe ihn aber beruhigt. Die ganze Sache wird zu einer kleinen netten Abendgesellschaft führen, womit wir uns ›rippeln‹, und wenn die Kollegen uns ärgern, bleibe ich bei dem nächsten Toast auf die Kollegialität sitzen. Über den Ball beim Chef berichte ich Dir später ausführlich; ich werde wohl einen ganzen Abend zum Briefschreiben Zeit haben, denn Hans hat tags darauf Kegelabend mit ›Wegessen‹ eines Kollegen, er kommt dann erst ›früh‹ heim, wie er mir schonend mitteilte. Ich finde das zwar schrecklich, aber – – Du weißt, was ich mir vorgenommen habe.

Dein sehr, sehr glückliches Kind.

*

Liebste Mutter!

Der erste Abend, den ich ohne Hans verlebe! Ich habe ganz schreckliche Sehnsucht nach ihm und unser Abschied war herzbrechend. Beinahe hätte er alles im Stich gelassen und wäre bei mir geblieben; aber er hatte mir vorher erzählt, die Kollegen hätten ihn gefragt, ob er auch kommen › dürfe‹, und diese alberne Junggesellenfrage wurmt ja jeden Ehemann. So bat ich ihn denn selbst höchst heroisch, zu dem Feste zu gehen und er tat es mit erleichtertem Aufatmen. Jetzt ist es zwei Uhr nachts. Schilt nur nicht mit mir, daß ich nicht schon längst mein Lager aufgesucht habe, – ich graulte mich, allein zu schlafen und wir haben es uns recht gemütlich gemacht, Minna sitzt neben mir und häkelt eine schwarze Spitze. Wie sie das fertig bringt mit weißem Garn, das wissen nur die Götter und ihre Finger, Ich selbst habe eine wundervolle Decke angefangen für Hans' Geburtstag, sie ist riesengroß und bedarf vieler Mühe. O, meine Mutti, nun kommt aber die Hauptsache, wie war der Ball beim Chef schön! Wie haben mich alle verwöhnt! Ganz beschämt war ich und doch sehr glücklich, denn Hans, mein einziger Hans.

*

Eine Stunde später.

Ich bin wie zerschlagen, Mutter! Wer hätte das gedacht! Minna fleht mich an. Dir alles zu schreiben, aber mir zittert die Hand. Wer hätte das von Hans gedacht, von meinem herrlichen, angebeteten Mann!

Ach – vorbei, vorbei! Ob ich morgen schon zu Dir komme mit Sack und Pack? Ach, mir ist der Kopf ganz wirr und das Herz tut so weh – aber Du sollst alles wissen! Wir hörten vor ungefähr einer Stunde ein fürchterliches Poltern und Rummeln auf der Treppe, dazu laute Stimmen, Minna und ich klammerten uns ängstlich aneinander an. Mit einem Male wird die Tür aufgeschlossen, ich schreie um die Wette mit Minna, da steht Hans in der Tür, neben ihm unser Wirt lachend über das ganze Gesicht, auf der andern Seite ›Kollege Rödel‹. Beide hielten meinen Hans, ja – sie hielten ihn, Muttchen, denn er – war – er war be – – nein – ich kann es Dir nicht sagen. »Man keene Bange nich,« rief mir unser Wirt zu, »jefährlich is er nich, aber schleunigst rin in die Klappe mit ihm, sonst stehe ich for nischt.«

Kollege Rödel machte mir ein paar stumme Verbeugungen und hatte so viel Takt, sich gleich zu empfehlen, der Wirt ging auch und nun balancierte Hans auf mich zu, nachdem er vergebens versucht hatte, den beiden Herren zum Abschied einen Kuß zu geben. Ich entfloh schreiend und verschanzte mich hinter den Tisch, da nahm er Minna an der Hand und tanzte und sang: »Minna, du bist meine Freuiiide, ja Freuiiide!«

Minna wußte gar nicht, wie ihr geschah, sie fing auch an zu schreien, und kündigte uns den Dienst. Ich hielt Hans eine ganze lange Rede, die er mit blödem Lächeln anhörte. Als ich fertig war, sagte er nur: »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!«

Nachdem ich noch glücklich verhindert, daß er sich auf den guten Teppich legte, begab er sich unaufhörlich singend in das Schlafzimmer, aus dem jetzt entsetzliche Töne dringen. Und er hat doch sonst nie geschnarcht.

Minna und ich wachen, wir halten uns fest bei der Hand und Minna tröstet mich auf ihre Weise. »Das sind die besten Menschen, die viel trinken,« sagt sie, »un sie können nischt davor, Suff is erblich.«

Ach Mutter! – – – – – – – – – – –

Schreibe mir, wann Dein unglückliches Kind zu Dir heimkehren darf, ich kann doch nach dem Vorgefallenen unmöglich bei Hans bleiben!

*

Mittags 12 Uhr.

Liebste Mutter, ich bleibe doch bei Hans, er ist sehr krank. Den ganzen Morgen hat er geweint, es ist schrecklich anzusehen, wie er leidet. Mich nennt er nur: ›unglückseliges Weib‹ und mit Minna ist er auch rührend gut und redet sie mit ›edles Wesen‹ an; aber dann weint er immerzu. Ich rief heute den Arzt, welcher ›akute Alkoholvergiftung‹ feststellte. Wie schrecklich! Kann das schlimm werden? Hans hat ein ganzes Fäßchen saurer Heringe neben sich stehen und schon mehrere Seidel Bier getrunken.

Der Doktor scheint die Sache sehr leicht zu nehmen, er ist noch jung und hat das ganze Gesicht voller Schmisse.

Ein Rezept wollte er nicht schreiben.

»Legen Sie nur Hundehaare auf, gnädigste Frau,« sagte er.

Aber wo nehme ich die her?

Jetzt schläft Hans und ich will mich auch etwas hinlegen.

*

Abends.

Gottlob, Hans ist wieder gesund, aber sehr gnittrich und verstimmt, Minna und ich gehen in großem Bogen um ihn herum. Ich habe ihm erzählt, was er alles in seiner Krankheit getan hat und nun ist er entsetzlich wild geworden, am meisten aber hat er gescholten, daß ich den Arzt geholt habe. Man kann es den Männern selten recht machen. Zu dieser Weisheit habe ich mich schon aufgeschwungen. Leb' wohl, liebste Mutter! Ängstige Dich nicht weiter um uns.

Dein Lisel.

*

Liebstes Muttchen!

Das hättest Du doch wohl nie geahnt, daß Dein unschuldiges Kind einmal würde vor Gericht erscheinen müssen. Einmal, und hoffentlich nie, nie wieder! Mir schlagen noch immer die Zähne im Fieberfrost zusammen, wenn ich an den ›Termin‹ denke, während Hans die Geschichte bereits lachend seinen Kollegen erzählt hat. Sehr zart besaitet ist er nicht. Also es klingelte eines Tages sehr stark und dann kam Minna herein, blaß und aufgeregt und sagte: »Gnä Frau, ein Polizist sind draußen, ich bin aber unschuldig.«

Ich ging zagend hinaus (ein Polizist ist immer etwas Unheimliches), und da stand er auch da, groß und breitschultrig wie ein geborner Herrscher. Auf seinem Gesicht las ich deutlich: »Noch so jung, und schon dem Gericht verfallen'!« Er fragte nach Hans, und da dieser im Bureau war, schob er unverrichteter Sache wieder ab.

Minna erging sich in den kühnsten und schrecklichsten Vermutungen, was wohl den Mann des Gesetzes zu uns geführt haben könnte; es kam aber zuerst nichts danach, bis nach acht Tagen der Briefträger mir einen Bogen brachte, den ich mit Herzklopfen las, während der Bote extra auf ein Blatt schrieb, daß er die Vorladung dem Adressaten selbst abgeliefert hätte. Ach, ich armer Adressat! Ich sollte Dienstag den soundsovielten, vormittags 11 Uhr im Gerichtsgebäude als Zeugin in Sachen Helfrich kontra Bitterlich vernommen werden.

Ich war starr. Frau Helfrich kannte ich ja, es war meine verflossene Waschfrau schlimmen Angedenkens, aber Frau Bitterlich – –

Wenn der liebe Gott sie nicht besser kannte, als ich –

»Frau Bitterlich ist die dicke Rentiöse von vorne eine Treppe hoch,« sagte Minna. »Sie hat 'n elenden Krach mit die Helfrichen gehabt und da hab' ich ihr erzählt, daß gnä Frau auch uff'n Kriegsfuß mit das Waschweib ständen.«

»Das war sehr überflüssig, Minna,« erwiderte ich. »Nun vertrödeln wir einen ganzen Vormittag mit dieser unangenehmen Sache und Sie müssen gewiß auch mit, denn Sie sind auch Zeugin von Frau Helfrichs Unverschämtheit gewesen.«

»Ik jehe nich,« sagte Minna bestimmt, »Solche Leute wie mir sperren se gleich in. Von gnä Frau nehmen se en Lösegeld, ik kenn mich aus mit die Gerichten.«

Zitternd vor Angst begab ich mich also am Dienstag vormittag 11 Uhr in das Gerichtsgebäude und Hans, der mich begleitete, konnte es sich nicht versagen, auf eine der vergitterten Zellen zu deuten mit dem Bemerken: »Denke nur nicht an Flucht, die Dinger sind viel zu hoch!«

Wie zerschlagen saß ich auf der Zeugenbank. Von 11 Uhr Vormittag bis 2 Uhr Nachmittag warteten wir erst mal, dann begann unser Termin. Als der Richter mir den Eid vorsprach, wurde mir ganz schwach, und wie ich die rechte Hand hob, ach – da sprach ich nicht nur in vorgeschriebener Formel, da gelobte ich innerlich recht, recht gut zu werden, nie mehr meinen Hans anzufahren, nie mit dem Fuße zu stampfen, recht schön kochen zu lernen, überhaupt eine ganz mustergültige Hausfrau zu werden. Dann sollte ich erzählen von dem Wäschetag bei uns und ich war schon mitten drin, da schrie ein Mann mich an: »Ich ersuche die Zeugin lauter zu sprechen!« Es war der Verteidiger von der Frau Helfrich. Nun fing ich an zu weinen, und da verstand man erst recht nichts. Dann erzählte Frau Helfrich von der Wäsche bei uns, natürlich furchtbar übertrieben, und als sie die Verpflegung schilderte und den Geschmack des Kaffees, da lachte der ganze Zuschauerraum schallend, und ich wäre am liebsten in den Erdboden gesunken! Der Vorsitzende wurde aber böse und drohte den Zuschauerraum räumen zu lassen; da war's denn still und schließlich wurde Frau Helfrich verdonnert und gleich in Haft genommen, wegen ›ungebührlichen Betragens vor Gerichts‹.

Sie folgte dem Polizisten mit erhobenem Kopf und triumphierendem Lächeln, ich dagegen schlich ganz geknickt hinaus und Hans erzählte mir, eine Frau aus dem Volke, die wohl nicht viel von der ganzen Verhandlung verstanden, hätte von mir geäußert: »Das arme, junge, blasse Wurm, das hält ja 's Sitzen gar nicht aus.«

Hans nahm vor der Tür zartfühlend eine Droschke, und ich konnte ungestört heulen wie ein Schloßhund. Minna weinte auch, als ich nach Hause kam, es ist doch eine treue Seele. Sie schüttelte mir beinahe die Hand ab vor Freude, daß ich wieder da war. Das versöhnte mich mit ihrer Dummheit, denn denke Dir, sie hatte einen Kranz an die Tür gehängt mit der Inschrift »Wilkomen aus den Gefänknies!«

Gottlob, es war während der Zeit niemand die Treppen herauf und hinunter gegangen. Frau Bitterlich von ›vorne, eine Treppe hoch‹ lud mich noch zu einer Tasse Kaffee ein, um das freudige Ereignis zu begießen; aber ich lehnte ab, ich legte mich schachmatt gleich ins Bett. Hans lacht mich aus; aber ich möchte am liebsten gar nicht mehr auf die Straße gehen. Gestern grüßte mich schon ein Polizist.

Leb' wohl, geliebtes Muttchen.

Dein sehr trauriges Kind.

*

Geliebte Mutter!

Unsere erste Gesellschaft haben wir glücklich hinter uns. Der Ausdruck ist aber schlecht gewählt, ›unglücklich‹ paßte eher. Böse Mächte müssen sich an dem Tage gegen uns verschworen haben. Meine Speisekarte lautete:

›Bouillon in Tassen,
Grüne Erbsen mit Schinken,
Kalbsbraten mit Kartoffeln, Kompott, Salat,
Pudding.
Butter und Käse‹

Eingeladen hatten wir den Chef mit seiner Gattin und Tante, einer alten, strengen Dame, die sehr gefürchtet ist. Dann den unvermeidlichen Kollegen Rödel, ferner Assessor G., der uns erzählte, er hätte nach dem ersten Besuch bei uns wochenlang an Hexenschuß gelitten, worauf wir uns verständnisvoll ansahen, da wir ja wissen, daß die Sessel schuld haben.

Ich hatte die Bouillon schon einen Tag vorher sehr langsam und liebevoll gekocht, schön abgefettet und auf den Herd gestellt. Als ich sie um 7 Uhr heiß machen wollte, war sie fort – Minna hatte sie (Hans behauptet, ›in einem Anfall von Wahnsinn‹) in den Ausguß geschüttet. Auf mein Händeringen sah mich Minna bloß furchtbar dämlich an (sie steht der Erfindung des Pulvers weltfremd gegenüber) und entschuldigte sich: ›die Suppe roch nicht‹. Das ist natürlich böswillige Entstellung der Tatsachen, denn was an Fleisch fehlte, hatte ich reichlich mit Sellerie, Porree und Petersilienwurzel ergänzt, sie muß gerochen haben. Mein Schlachter brachte mir zum Glück noch Fleisch, das im Galopp gekocht und mit ›Liebig‹ aufgemuntert wurde; aber natürlich war nicht viel Saft und Kraft drin. Ich sah wohl, wie der Chef nach jedem Schluck zuschmeckte, als sollte nun erst das ›Eigentliche‹ kommen; es kam aber nicht. Beim Heißmachen der Pasteten ließ Minna fünf dieser appetitlichen Dinger im Feuer aufgehen, so daß Hans und ich keine bekamen und außerdem nicht zweimal angeboten werden konnte. Es sah jammervoll aus. Die grünen Erbsen waren etwas mehlig schon, sättigten aber dafür prachtvoll und der Schinken war ausgezeichnet. Der Kalbsbraten – liebste Mutter – so schlecht war er wirklich nicht, wie Hans ihn darstellt, er behauptet, ›eine Kuh sei dazu kurz vor ihrer goldenen Hochzeit geschlachtet worden‹. Dagegen muß ich vom Pudding selbst sagen, daß er sehr nach Gelatine schmeckte; ich hatte die doppelte Menge genommen, aus Angst, daß er sich nicht stürzen ließe. Von Butter und Käse wurde wieder viel gegessen, Minna mußte dreimal herumreichen, es ist das eigentlich noch auf keiner Gesellschaft der Fall gewesen.

Beim ›Mahlzeitsagen‹ meinte der Chef, so ein junges Paar brauchte sich gar nicht zu revanchieren, man sähe so liebe Menschen immer so gern bei sich, ohne ans Wiederhingehen zu denken. – Ich fand das reizend gedacht, während Hans meint, der Wink mit dem Zaunpfahl sei deutlich genug, daß der Chef nicht beabsichtige, sich bei uns den Magen öfter als einmal an ›Wassersuppe, alten Kühen und Gelatine‹ zu verrenken.

Nach Tisch lotsten wir den Chef aufs Sofa, wo er behaglich bei einer guten Zigarre saß; unglücklicherweise kam die Tante aus eigener Schuld auf einen Sessel, weshalb sie bis jetzt bettlägerig ist. Wir bringen heute die Sessel auf den Boden. Hans behauptet, sie seien die ›Mörder seiner Karriere‹. Jedenfalls ist es für lange Zeit unsere letzte ›Gesellschaft‹ gewesen; sie hat ein großes Loch in mein Wirtschaftsgeld gerissen, so daß ich meinen ›Flügel‹ wieder in nebelgraue Ferne gerückt sehe.

Leb' wohl, leb' wohl!

*

Liebste Mutter!

Vielen Dank für Deine herzlichen Wünsche und reizenden Gaben zu Hans' Geburtstag. Du hast Dir so viel Mühe und Ausgaben gemacht, Herzensmutter und – alles umsonst. Laß mich Dir den schrecklichen und doch schönen Geburtstag schildern, den ersten, den wir in unserem lieben Nestchen feierten. Ich hatte alles geschmackvoll aufgebaut. In der Mitte prangte der wundervolle Makartstrauß, daneben die großen Lichter und auf der Geburtstagsbrezel, die ich eigenhändig mit viel Liebe gebacken (sie war deshalb auch glitschig geworden), 28 Lichtchen, so richtige bunte Geburtstagslichtchen. Dann kam die wunderschöne Decke von mir und der zarte Tischläufer von Dir nebst Portemonnaie und Schlipsen; Olga und Karl hatten sich mit einem feudalen Tafelaufsatz losgelassen, der uns immer noch fehlte. Schwester Paula, die liebe, unermüdlich Fleißige, hatte vier Paar Strümpfe gestrickt; Minna hatte ihm Topflappen gehäkelt für die Küche, ein wirklich schönes, praktisches Geschenk, worüber aber Hans natürlich Lachkrämpfe bekam. – Ich stecke also die Lichter an, gehe zu Hans und Minna ins Wohnzimmer, wo eben die feierliche Überreichung der Topflappen stattgefunden hatte und spiele den Geburtstagschoral. Als ich fertig war, schloß mich Hans tiefgerührt an sein Herz, ich schlang meine Arme um seinen Hals und dünkte mich das glücklichste Geschöpf auf Gottes Erdboden, Minna heulte wie ein Schloßhund, und dann führte ich Hans nach dreimaligem Klingeln ins Geburtstagszimmer.

Mutti – – ein Flammenmeer erwartete uns. Alles brannte, Kuchen, Geschenke, Tischdecke, und das Makartbukett schickte wahre Funkengarben auf Sofa und Sessel. So blickte Lots Weib auf Sodom und Gomorrha! Dann versuchten wir zu retten – aber vergeblich. Minna goß planlos einen Eimer Wasser nach dem anderen auf den Geburtstagtisch, sie goß noch, als alles schon ein rauchender Trümmerhaufen war und hörte nicht auf, bis Hans sie fragte, ob sie eine Schwimmanstalt einrichten wollte. O, wie das Zimmer aussah! Noch jetzt bekommen wir den strengen Brandgeruch nicht heraus. Und alles verdorben, verbrannt, verwüstet, mit Ausnahme der Sessel, dieser Unglückstiere, die aus dem Funkenregen unversehrt hervorgegangen sind. Ich weinte natürlich ganze Bäche, Hans suchte mich zu trösten und faßte die Sache humoristisch auf. »Ach der wunderbare Tischläufer!« sagte er zu einem Endchen verkohlten Zeug, »dieser wonnige Stoff, diese Farbenpracht!« »Der Kuchen soll auch nicht umkommen,« meinte er dann, schnitt das Prachtstück an und versuchte davon zu essen, gab es aber schleunigst wieder auf, denn die Lichte waren in den Teig hineingeflossen. Minna holte vom nächsten Bäcker noch etwas Kuchen, der aber nicht frisch war und ich brachte das trockene Zeug nur durch reichliche Anfeuchtung mit meinen Tränen hinunter. Nachher ging Hans in den Dienst, nachdem wir noch schnell die verbrannten Sachen weggeschlossen, um sie dem Versicherungsbeamten zu zeigen; wir hoffen ja, sie ersetzt zu bekommen. Freilich die Liebe, die Du hineingearbeitet, geht uns verloren, aber wir küssen Dir beide die fleißigen, sorgenden Hände. Als Hans fort war und Minna und ich Ordnung schafften, besah mich Minna mit kritischen und sorgenvollen Blicken und sagte plötzlich: »Wenn gnädige Frau man nich sitzen müssen!«

»Was soll das heißen,« fragte ich streng, aber ein Schauer kroch mir über Leib und Leben.

»Na,« erwiderte sie gedehnt – »Brandstiftung – un ich kann un kann denn nich bei die Herrschaft bleiben, so weh mich das tut, aber ich bin allmeindag ein ehrliches Mädchen gewesen – –« sie schluchzte herzbrechend.

»Minna,« versetzte ich empört, »wie können Sie bloß solchen Unsinn schwatzen, das ist doch keine Brandstiftung?«

»Achott, Achott,« wimmerte sie, und setzte sich auf unser Plüschsofa, »ich hab' bei'n Gefangenaufseher gedient, und da hab' ich 'ne Brandstiftersche gesehn, die hatte auch man bloß een brennendes Licht in een Heuschober gesteckt, und kriegte zwei Jahr – – ach, unser armer Herr!« Liebste Mutter, ich war ganz außer mir über diese verdrehte Auffassung; aber Minna ließ sich nicht davon abbringen und schließlich bekam ich's auch mit der Angst und heulte mit Minna um die Wette. Zuletzt siegte bei ihr das Mitleid und sie tröstete mich auf ihre Weise. »Ich bleib' beim Herrn und seh' nach dem Rechten,« sagte sie, »und wenn de Pollezei Sie holen kommt, man bloß ruhig mitgehen, sonst kriegen Se Handschellen!«

Ich war ganz krank und elend, als Hans wiederkam, und er schalt uns beide tüchtig aus. In der folgenden Nacht habe ich natürlich nur von Feuer geträumt: ich lag in einem Flammenmeer und schrie so, daß Hans beinahe zum Arzt geschickt hätte. Minna sah andern Tages gleich in ihrem Traumbuch nach, was »Feuer« für mich bedeute, aber da kam natürlich nur Unsinn heraus, den die Minna nun auf sich bezieht:

»Siehst du nächtlich ein Feuermeer,
Sehnt sich ein Mann nach dir sehr
Und die Hochzeit kommt gegangen,
Dich liebend zu umfangen.«

Sonst ist aber das Traumbuch wirklich ganz nett, Minna schwört darauf. Neulich träumte Hans, er hätte sich in den Finger geschnitten, gleich sahen Minna und ich nach, da stand:

»So viel Tropfen Blut du mußt lassen,
So viel Taler fließen in deine Kassen,«

Und richtig, am Ersten bekam Hans hundert Mark Zulage. Er lachte natürlich und behauptete, die hätte er auch ohne seinen Traum bekommen, weil er ›dran‹ war; aber Hans ist entschieden freigeistig.

*

Geliebte Mutter!

Es ist so unendlich lieb und gut von Dir, daß Du uns die ›Stütze‹ besorgt hast und obendrein das Taschengeld von Fräulein Berta selbst bestreiten willst. Ich könnte mir auch sonst die Hilfe gar nicht leisten, doch wird sie mir recht wohl tun, da mir der Arzt etwas Ruhe und Schonung anempfohlen hat. Ängstige Dich aber nicht. Dein Lisel ist ja kerngesund, nur hat mich die Influenza etwas heruntergebracht und dann – Du weißt ja – ach Mutterchen, – ich kann mir noch gar nicht das Glück, das namenlos süße kommende Glück recht vorstellen. Um dieses Glückes willen nehme ich ja gern alle Leiden und kleinen Unbequemlichkeiten ruhig hin, zumal mein Hans so himmlisch gut mit mir ist, noch ›guter‹ als je zuvor. Nur eins tut mir so leid, nämlich seine tiefe Abneigung gegen ›Stützen‹. Ach, und ich habe solches Mitleid mit diesen armen Mädeln, denen ein hartes Geschick den eigenen, trauten Herd vorenthielt, und die nun mit Anspannung aller ihrer Kräfte einer vielleicht harten, ungerechten, oft gar ungebildeten Herrin dienen müssen, die sich einleben müssen in fremdes Leid und fremde Freude unter Verleugnung ihrer eigenen Leiden und Freuden. Hans sagt, meine Phantasie sei viel zu lebhaft und ich sähe in Fräulein Berta bereits die Erzengelin Gabriele; aber dem ist gar nicht so, ich habe mir nur fest vorgenommen, daß ich ihr keine strenge Herrin, sondern eine gute, muntere Freundin werden will. Denke Dir, sie ist aus ›bester Familie‹, wie die Mutter selbst schreibt und durch ›Schicksalstücke‹ verarmt. Das muß schrecklich sein! »Hüten Sie mir meine Berta, sehr geehrte Dame,« schreibt Frau Aurelia Strengel, »sie weiß noch von nichts Bösem, seien Sie ihr eine zweite Mutter!«

Das kann ich nun zwar nicht, denn Fräulein Berta ist zwei Jahre älter als ich; aber ich habe mir schon einen reizenden Plan ausgedacht, nach dem wir unser Zusammenleben einrichten wollen, – – – – – – – – – – – – – – – –

Fräulein Berta ist da; aber – –ach – ich will lieber noch kein vorschnelles, liebloses Urteil fällen, – sie ist nur so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Viel größer, viel älter, viel reifer als Dein armes Lisel, auf das sie in den 24 Stunden, die sie bei uns weilt, schon herabzusehen glaubt. Ich bin etwas abgespannt heute, denn ich habe das kleine Fremdenstübchen, welches ich der Stütze eingerichtet, wieder ausgeräumt, weil es ihr viel, viel zu klein war und sie ein schier entsetztes Gesicht machte, als sie das Zimmerchen sah. Ich fand es sehr traulich und nett mit den schneeweißen Gardinen, dem hübschen Teppich aus meinem ehemaligen Mädchenstübchen und all den lieben Bildern, Nun habe ich Fräulein Berta in die Schrank- und Plättstube einquartiert, die ja sehr geräumig ist; aber es bedurfte sehr vieler Mühe, sie wohnlich zu machen, und weil Hans so schalt und alles unnötig fand, habe ich es allein besorgt mit Minna, denn Fräulein Berta hatte Migräne, da habe ich mich wohl etwas übernommen. Darüber ist Hans nun wieder ganz außer sich, er ist so zärtlich besorgt um mich, mein Herzensmann!

*

Liebe Mama!

Lisel hat sich ein bißchen hingelegt, sie ist ganz schachmatt, meine kleine, süße Frau. Und daran ist nur diese verdrehte Schraube, Fräulein Berta schuld, der ich alle unparlamentarischen Ausdrücke der Welt beilegen möchte. O dieses – dieses!!! Liebe Mutter, dieser Brief ist drei Tage liegen geblieben und in diesen drei Tagen haben wir zur Genüge erfahren, daß wir gründlich mit der ›Stütze‹ reingefallen sind. Die Retterinnen des Kapitols hatten wahrhaftig mehr Grips in der Schwimmhaut ihres rechten Fußes, als diese Jungfrau in ihrem ganzen Korpus. Sie hat in diesen fünf Tagen unser trautes Nestchen völlig umgekrempelt, Minna hat bereits dreimal gekündigt und unsere sonst so forsche Lisel ist zu einer Tränenweide geworden. Ich hätte ja längst Tabula rasa gemacht; aber Lisel bat und flehte um Frieden, und Fräulein Berta schien meine mehr als deutlichen Anspielungen, daß es besser sei, wenn sie ihre heimischen Penaten wieder aufsuche, absolut nicht zu verstehen. Dabei ist sie sonst so empfindlich, daß man sich höllisch in acht nehmen muß, um nicht bei der geringsten Kleinigkeit einen Tränenstrom zu entfesseln, und ich habe mir schon um Lisels willen, die ein Kampf mit der Stütze sehr angreift, ein neues Wörterbuch mit zarten Umschreibungen angelegt. So sagte ich z.B. gestern nicht: »Fräulein, Sie sind faul wie die Sünde,« sondern: »Fräulein, ich glaube, Sie kennen den Segen der Arbeit noch nicht,« worauf sie mit einem lieblichen Lächeln antwortete, so daß ich annehme, sie hat's als Schmeichelei aufgefaßt. Wie manche Leute ihre Kinder erziehen, ist eben unglaublich! Wenn ich denke, wie geschickt mein Lisel in Handarbeiten ist, wie oberfein sie mir die Knöpfe annäht, ordentlich zuletzt so mit 'n Wupptich und einem ordentlichen Knoten, was die Berufsschneider sogar oft vergessen. Die Stütze wollte mir nicht mal einen Fleck aus der Weste entfernen und schlug so albern die Augen nieder und wieder hoch, daß ich dachte: »Schaf!« Dagegen hat Minna einen Band Zola unter Fräuleins Kopfkissen hervorgeholt und der Inhalt war nicht von Pappe. Ich übergab ihn ihr heimlich, damit mein Lisel nicht hineingucken sollte, und sah Fräulein teils väterlich streng, teils ermahnend an. Sie errötete aber diesmal nicht, sondern ich bekam einen Blick zurück – – – Mutterchen – Du weißt, ich gehöre nicht zu den Fatzkes, die da glauben, jedes Mädel und jede Frau sei verliebt in sie, aber die gestochenen Kalbsaugen von Fräulein Berta haben mir doch zu denken gegeben.

Jeden Tag geht eine Kiste an Mutter Strengel ab, Minna schimpft, weil sie immer zur Post muß, und was glaubst Du wohl, was Fräulein Berta ihrer Mutter schickt? Jedes zerrissene Stück ihrer Garderobe, sei es auch nur ein Rock, an dem fünf Zentimeter Stoßband abgetreten sind. Sie kann nichts nähen – nichts, nichts!

Nun habe ich Dir von dieser albernen Jungfrau so viel geschrieben und nichts von meinem Lisel und dem schier atembeklemmenden Glück, das uns erwartet. Und das ist mir viel zu heilig, zu wonnig, zu lieb, als daß ich es in diesen Stützenbrief bringen will. Mutter, Dein alter Schwiegersohn ist schier unvernünftig glücklich und mein Lisel ein Prachtskerlchen. Hab' Dank, Du geliebtes Muttchen, für dies Prachtskerlchen!

Dein Hans.

*

Geliebtes Muttchen!

Sie ist fort! Und ich bin so froh, so froh, ich fühle mich eigentlich ganz gesund und mordsfidel. Ich kann Dir nicht mal sagen, weshalb sie so plötzlich flog, denn Hans meint, ich würde mich furchtbar drüber aufregen und das sei das Geschöpf nicht wert. Sie muß riesig frech zu Hans gewesen sein, denn Minna, die im Nebenzimmer von der Debatte etwas erlauscht hat (ich vermute, sie hat regelrecht an der Tür gehorcht), sagte mir: »Ei du grundgütige Neune, das is 'ne Geriebene! Man gut, daß die Luft rein wird, und nanu bleib' ich auch hier!« – Ich war selbst sehr glücklich, fand es aber trotzdem häßlich von Minna, daß sie der Scheidenden nachrief: »Leben Sie wohlriechend, und ich wünsch' Ihnen 'ne dümmere Herrschaft, als meine is!«

Nun sind Minna und ich beschäftigt, alles, was Fräulein Berta ›verbumfiedelt‹ hat (wie Hans sich ausdrückt), ins rechte Geleise zu bringen. Ich habe alle Stützengedanken aufgegeben und denke mich allein zurechtzufinden. Die Hauptsache ist nur, daß Du kommen willst, Du einziges Muttchen, sobald wir Nachricht schicken. Ich darf aber nur ganz stillsitzen und zusehen, Hans laßt es sich nicht nehmen, Dein Stübchen selbst einzuräumen, es heißt aber nun nicht mehr Fremdenzimmer, sondern Großmutterstübchen. Von Tante Emmy kam gestern ein wundervolles Himmelbettchen an, sie ist und bleibt lieb und fürsorglich. Hans und ich können immerfort das Bettchen ansehen und werden's nicht müd. Und neulich brachte er mir ein altdeutsches Lied mit, das singt er nun immer leise mit seiner schönen Tenorstimme: »Joseph, liebster Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein.«

Mutter, kann nur ein Menschenherz so viel Glück tragen? Aber nicht wahr, laß es mich einmal aussprechen, sieh – sollte der liebe Gott mich zu sich nehmen, – gelt, Du kommst zu Hans – ach Mutter – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nur über eins können wir nicht einig werden, über den Namen. Ich möchte ihn so gern ›Horst‹ oder ›Rolf‹ nennen, aber Hans findet das gesucht und schlägt ›Otto‹ vor, nach unserm großen Kanzler, Gewiß, das ist ja sehr schön, ich denke aber bei ›Otto‹ nie an Bismarck, sondern bloß an:

»Vorne rund, hinten rund,
In der Mitte wie ein Pfund.«

Am einigsten sind wir uns noch bei ›Helmut‹. Das ist ein schöner und seltener Name und außerdem: ›Moltke!‹ Hans sagt zwar: »Wenn ›er‹ nach der Mutter artet, wird er niemals Moltke;« aber Hans neckt ja immer und ich rede doch wahrhaftig nicht mehr, als andere Frauen. Auch über den künftigen Beruf unseres Jungen liegen wir uns täglich in den Haaren. Nach Hans soll er Jura studieren:

»Es kann in Deutschland werden
Nur Großes ein Jurist,
Weil ihm des Blickes Weite
Ja angeboren ist.«

Ich bin gegen diese trockene Wissenschaft. Ich habe die Idee mit dem Flügel aufgegeben und will unserem Jungen nach bestandenem Abiturium ein Rittergut kaufen; Hans und ich fahren dann Sonnabends immer hinaus und bleiben bis Montag, und Du kommst auch, Herzensmutter. Dabei fällt mir Deine Frage ein, wann Du zu uns kommen sollst? Ich denke, so in drei Wochen machst Du Dich auf, Du willst ja wohl noch Station bei Karl und Olga halten, ach, herzliebste Mutter, wie sehne ich mich nach Dir! Gott behüte Dich und Hans und mich und – – unsern Jungen!

*

Telegramm.

Ein prächtiges Mädchen! Alles wohl! Komm bald!

Hans und Lisel.

*

Liebste Mutter!

Wie jammerschade, daß wir nicht immer in einer Stadt wohnen können, daß Du nur immer auf so kurze Zeit uns aufsuchen kannst. Du hast gar zu wenig von Deinem Enkelchen. Und daß Du zur Taufe nicht kommen konntest, war geradezu schrecklich für mich. Hoffentlich bist Du wieder ganz auf dem Damm, Dein lieber Brief mit seinen treuen Segenswünschen für das Wohl unseres Lieblings war mir das schönste Festgeschenk. Tante Emerenzia, welche wir zur Patin gebeten hatten, aus dem greulichen, unvernünftigen Grunde, weil sie es ›sonst furchtbar übelnehmen würde‹, kam nicht nur nicht zur Taufe, sondern schickte auch nicht die Bohne, was wir natürlich sehr schofel fanden. Dabei schrieb sie pikiert, ›wir hätten ja das Kind nicht einmal nach ihr benannt‹. Ich bitte Dich – ›Emerenzia!‹ Natürlich nennt nun Hans aus Ulk unsere süße Hilde ›Emerenzia‹, ich hab' es ihm aber strengstens untersagt. Hans teilte am Tauftage die Briefe der Verwandten in poetische und unpoetische ein. Bei Tante Emmys Brief aus Hamfelde war er ganz gerührt, zerdrückte eine Krokodilträne und seufzte: »O, wie poetisch!« Dabei hielt er mir einen Hundertmarkschein hin, den sie hineingelegt hatte. Ich weiß nun, was Hans unter Poesie versteht. Der uns gänzlich unbekannte Pfarrer hielt eine furchtbar traurige Rede, die ich überhaupt gar nicht in Zusammenhang mit der Taufe unseres Kleinchens bringen konnte, Hans meint, der Pastor hätte sie mit der Leichenrede verwechselt, die er eine halbe Stunde später halten sollte. Wir atmeten alle auf, als er endlich fertig war, Hans sogar hörbar, was recht peinlich wirkte.

Das Taufessen schmeckte allen sehr gut, nur Onkel Franz war bald knüll, weil er unsern netten Graacher Tischwein stehen ließ mit der Begründung, ›Mosel‹ mache ihm ›Säure‹, dafür den Extrawein auspichelte, den wir nur glasweise geben wollten. Infolgedessen hielt er nachher eine Tischrede, in deren Anfang er Hans Vorwürfe machte, weil er sich noch gar nicht entschuldigt habe, daß ›der Erstling unsrer Herde‹ nur ein Mädel sei. Fortsetzung und Schluß der Rede waren so, daß ich am liebsten unter den Tisch gekrochen wäre, dann ließ er unsere ›Schwiegersöhne und -töchter‹ leben. Ältere Herren können grauenhaft sein.

Als Nachtisch wurde Hilde herumgereicht; aber natürlich hatte niemand außer ein paar netten Frauen Verständnis für das süße, entzückende Wesen. »Kleine Kinder sehen sich alle gleich,« sagte Kollege Rödel weisheitsvoll, bekam aber einen so strafenden Blick von mir, daß er ganz rot wurde und sich in die äußerste Ecke zurückzog. – Junggesellen dürften nach meiner Meinung überhaupt nicht mitreden, wo es sich um etwas so Heiliges, Wonnevolles handelt, von dem sie doch absolut nichts verstehen. Frau Major Schönfeldt fand das Kind auch überraschend klug für seine fünf Monate und die Ähnlichkeit mit Dir geradezu verblüffend. Es ist eine sehr verständige Dame, auch ungeheuer liebenswürdig, ich bin sehr froh, daß wir Schönfeldts hier haben, als einzige, nähere Freunde von Dir und Vater. –

Gerade als wir in einer recht anregenden Debatte über Kindererziehung waren (jeder hatte eine andere Auffassung der Sachlage), hörten wir in dem Zimmer, worin die Herren saßen und rauchten, so lautes Reden, daß wir Damen ganz erschrocken aufstanden und nach der Tür liefen. Richtig, sie hatten sich beinahe an den Haaren. Der Major ist ja trotz seiner Jahre noch sehr aufgeregt, er schlug mit der Faust auf den Tisch und wollte Onkel Franz von irgend etwas überzeugen, dieser überschrie ihn aber noch. Von Darwin und Häckel und Vererbung und Affen redeten sie; ist das wohl ein Thema, das man am Tauftage seiner Erstgeborenen aufkommen läßt? Hans war auch sehr laut und schien ganz vergessen zu haben, daß er Wirt war und Kollege Rödel saß am Ofen in der dunkelsten Ecke und weinte. Ich war furchtbar erschrocken, denn ab und zu stöhnte er: »Sie verachtet mich! Die Gattin meines besten Freundes verachtet mich!«

Ich wollte zu ihm hin, um ihm zu sagen, daß ich ihn nicht verachte, sondern nur unsagbar greulich fände; aber Hans ließ es nicht zu, sondern meinte, das ginge schon wieder vorüber, dabei legte er ihm von neuem einen vollgesogenen Schwamm auf, von welchem ich mich mit einem Blick überzeugte, daß es mein eigener, heilig gehüteter Badeschwamm war. Wir gingen sehr geknickt wieder hinaus, da wir keine Möglichkeit vor Augen sahen, die Streitenden auseinander zu bringen, deren Disput immer heftiger wurde.

Dann brachte uns Minna Kaffee herein und bemerkte mit bezeichnender Daumenbewegung zum Herrenzimmer hinüber: »Was die Kochfrau is, sagt: ›Wenn ihr Mann mit seinen Freunden zu laut würde, un es wär' schon spät, denn drehte sie den Haupthahn von dem Jase zu, denn würd' mancher vor Schreck un Dunkelheit wieder nüchtern.‹«

Ich erschrak vor diesem Gewaltmittel; aber die Majorin stimmte der Kochfrau zu, und da der Tumult immer größer wurde, gab ich endlich Minna die Erlaubnis, das Manöver auszuführen. Ich suchte mir zwei Leuchter und Streichhölzer, um sie im kritischen Augenblick zur Hand zu haben. Richtig, nach knapp acht Minuten saßen wir im Dunkeln und waren schon solche Schauspieler geworden, daß wir aufschrien, als käm's uns unerwartet. Drüben tönte Hansens ärgerliche Stimme: »Zum Donnerwetter, was ist denn los?«; aber als ich mit Licht kam, hatte Onkel Franz doch den Uniformknopf des Majors losgelassen, an dem er ihn schon eine halbe Stunde lang hin und her zerrte, und Kollege Rödel hörte mit Weinen auf, lachte aber dafür blöde und unmotiviert. »Meine gnädigste Frau,« sagte der Major ganz sanft und ruhig, als ich jetzt mit Licht kam, »es wird die höchste Zeit, daß wir aufbrechen, das Schicksal selbst scheint es so zu wollen.«

Und richtig, sie gingen alle, und ich segnete im stillen meine Kochfrau und den Gashahn.

Minna brachte die Herrschaften herunter, und als sie wiederkam, erzählte sie, Herr Rödel habe sie ›umgekriegt‹ und angesungen: »Entflieh mit mir und sei mein Weib.« Sie hätte ihm aber gesagt, sie wollte nicht über ihren Stand heiraten. Nun habe er ihr aber zehn Mark Trinkgeld gegeben und das sei doch sicher ein Irrtum. Die ehrliche Seele legte das Geldstück auf den Tisch des Hauses nieder, »der Herr möchte es nur seinem Freunde wiedergeben.« Hans war aber schon ins Schlafzimmer gegangen und schnarchte in allen Tonarten, als ich mich endlich auch hinlegen konnte.

Am andern Tage nahm Hans die zehn Mark mit nach dem Bureau und gab sie dem Kollegen Rödel, der ihn dafür stürmisch umarmte. Es waren die ›Letzten der Mohikaner‹ gewesen, mit denen er noch 25 Tage auskommen sollte. Er händigte nun Hans zehn Pfennige dafür ein, dieser legte neunzig dazu, und so bekam Minna ihre Mark Trinkgeld, die sie redlich verdiente für all die Arbeit, welche ihr der Tauftag gebracht.

Als wir nach Tisch gemütlich auf dem Sofa saßen, machte ich Hans noch ein klein bißchen Vorwürfe, daß er sich mit den Herren ins Rauchzimmer zurückgezogen hatte; daher war all der Trubel gekommen, denn wenn Damen dabei sind, nehmen sich die Männer immer mehr in acht. Hans sagte aber, schon in der Bibel stünde, die Böcke sollten zur Linken und die Schafe zur Rechten stehen!

Sobald nun Hans mit der Bibel kommt, bin ich still, denn er hat mal Theologie studieren wollen, oder vielmehr sollen und weiß gut Bescheid.

»Im übrigen,« sagte Hans, »finde ich, daß ›Taufen‹ eine sehr anstrengende Beschäftigung ist.«

Damit legte er sich zum Nachmittagsschläfchen nieder.

Ade, meine Mutti!

Dein treues Lisel.

*

Liebstes Muttchen!

Oft, wenn ich jetzt so unter den Kindern sitze, mit ihnen arbeite oder spiele, dann muß ich an den Tag denken, an dem unsere Hilde geboren wurde, die absolut ein ›Helmut‹ sein sollte. Ich sehe dann deutlich das verblüffte Gesicht von Hans vor mir, mit dem er ausrief: »Es ist ja nicht möglich.« Und wie er Frau Scholz fragte: »Sie haben sich doch nicht geirrt?« und sie ihm antwortete: »Irren is nich.«

Als Mutter findet man sich ja sofort mit der veränderten Situation ab, Du weißt am besten, wie über alle Begriffe glückselig ich über mein Mädel war, und Hans benahm sich auch tadellos damals, aber die rauschende Freude, der grenzenlose Jubel, mit dem er Ottos Geburt begrüßte, war doch so ganz anders. Ich glaube, wenn ich verlangt hätte, das Kind solle ›Nebukadnezar‹ heißen, er hätte es zugegeben, um mir keinen Wunsch abzuschlagen. Er fand es damals geradezu engelhaft von mir, daß ich nichts gegen den Namen ›Otto‹ einzuwenden hatte. ›Name ist Schall und Rauch!‹ Aber jetzt wollte ich oft, wir hätten einen einfachen ›Peter‹, ›Hans‹ oder ›Stoffel‹ aus ihm gemacht, anstatt Vergleiche mit seinem großen Namensvetter herauszufordern; ich fürchte, Otto wird nichts weniger als ein Bismarck. Hilde ist entschieden begabt, ein helles Mädel, dazu strahlend lustig, unseres ganzen Hauses Sonnenschein. Otto lernt schwer, er braucht zwei Stunden zu etwas, was Hilde in einer Viertelstunde kapiert hat; aber ich behaupte, es sitzt dann auch fest bei ihm. Hans wird aber so leicht ungeduldig und heftig, wenn er mit dem Jungen arbeitet, ich zittere schon immer, wenn die Stunde kommt. Und ist sie vorbei, dann geht der Junge so scheu und gedrückt umher, und Hans ist verstimmt und behauptet: »Aus Otto wird nichts.« Sage ich dann ein gutes Wort zu dem Jungen, dann bekomme ich wohl zu hören: »Du wirst ihn noch in Grund und Boden verziehen.« Doch das werde ich nie, Mutter, und das alles sind auch nur ganz leise Schatten, die über unser Glück huschen, doch möcht' ich auch diese gern bannen. Die Hauptschuld an Ottos Zerstreutheit trägt wohl hauptsächlich seine Geige. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wir hätten ihm das Erbstück nie in die Hand gegeben. Aber er lebt und webt ja in der Musik, sein Lehrer ist entzückt von seiner Begabung, und ich wünschte nichts sehnlicher, als Du könntest ihn hören, wie er die ›Elegie von Ernst‹ spielt, mit welcher Zartheit und Innigkeit, und welcher Ausdruck dabei in seinen dunkeln Augen liegt.

Und nun komme ich zu unserm Nestkücken, dem Felix-Fritzel, ein Staatsbengel, Mutti, ein Staatsbengel! Er gleicht meinem Hans auf ein Haar, während Hilde und Otto mehr mir ähnlich sehen, vor allem mit dem S.'schen ›Quadratschnäuzchen‹ begabt sind. Felix-Fritz ist die Schönheit der Familie und gleichfalls musikalisch – von seinem blonden Lockenköpfchen an, bis zu der winzig kleinen Zehe. Du solltest ihn singen hören mit seinen zwei Jahren, glockenhell und rein das schwere Lied: »O Täler weit, o Höhen«, freilich im Texte nach seinem noch etwas mangelhaften Sprachvermögen umgewandelt:

»O Täle weit, o Höte
O ßöner gröner Wald
Du meine Luttewete
Andässer Aufelhalt.«

Wie süß das klingt und wie andächtig er singt, – zu schildern ist es nicht. So halte ich ihn des Abends auf dem Schoß, Otto an der einen Seite, Hilde an ihren Vater geschmiegt und mein Hans umfängt mit seiner großen, starken Männerhand das kleine Kinderhändchen, das ganz darin verschwindet, und ich schaue auf die lieben Köpfe ringsum – Mutter, ich bin namenlos glücklich! Sind dann die kleinen Krabaten alle zur Ruhe, dann kommen noch die köstlichen Musik-, Plauder- oder Lesestündchen mit Hans allein, wir besprechen die Ereignisse des Tages, gleichen etwaige abweichende Meinungen in der Kindererziehung aus: und dann machen wir wohl auch ein bissel Unsinn und tollen umher, bis wir uns besinnen, daß wir gesetzte, würdige Personen sind.

Hans ist ja so wenig bei mir, seine Reisen nehmen beinahe 23 Tage von jedem Monat fort und ich kann auch singen:

»Ja, der Kopf is für'n Kaiser,
Doch das Herz, das ist mein!«

Da ist mir manchmal bang, wenn ich daran denke, wie die Erziehung unserer ›Drei‹ beinahe ganz auf meinen Schultern liegt; aber dann denke ich an Dich, Geliebtes, und wie Du auch früher so viel allein warst, unter viel schwierigeren Verhältnissen als ich, wenn man in Betracht zieht, daß unser Väterchen drei Feldzüge mitgemacht hat. Und Deine Kinder, meine Mutti, sind doch alles prächtige Menschen – – ach – Scherz beiseite – Gott schenke mir Kraft, meinen Kindern allzeit eine gute Mutter sein zu können!

Und sowie die Hilde aus der Schule ist, also in ungefähr neun Jahren, soll sie kochen lernen, daß die Welt nur so staunt, Pfordte in Hamburg soll ein Waisenknabe dagegen sein. Es ist ja nun einmal eine traurige, aber unbestrittene Tatsache, daß die Liebe des Mannes durch den Magen geht. In den ersten drei Wochen unserer Ehe, als Hans so über die Maßen zärtlich war, fragte ich ihn manchmal, ob er im Falle des Verhungerns lieber ein Beefsteak oder einen Kuß von mir nähme, worauf er unter tausend Beteuerungen den Kuß begehrte und entschieden vorzog. Ein Jahr darauf antwortete er schon sehr gedehnt: »Weißt du Lisel – ein saftiges Beefsteak, und denn so mit braune Zwiebelchens – – –«

Und heute erklärte er mir, freilich mit lustigem Augenzwinkern: »Ich hätte schon vor Jahren ein Beefsteak vorgezogen, aber du konntest ja damals noch nicht kochen – –«

So sind die Männer! Trotz alledem habe ich noch immer den besten erwischt, wenn auch Schwester Olga ihren Karl dafür ausgibt; freilich Hans behauptet:

Jede Frau hat den besten Mann, die klügsten Kinder, die schlechtesten Dienstboten und – nichts anzuziehn.

Dein Lisel.

*

Liebstes Muttchen!

Ich soll Dir von unserer Sommerfrische erzählen? Nun, ich will's tun, aber schon der Ausdruck ›Sommerfrische‹ kann mich in Wut bringen in Anbetracht, daß ich bei 27 Grad Reaumur im Schatten bis jetzt nur geschmort, gebraten, gedörrt worden bin. Wenn ich denke, wie reizend unsere früheren Sommerfrischen in Kammerberg waren, wo der Thüringer Wind durch den Thüringer Wald fegte, und uns den Sommer so frisch machte, daß Vater abends einen tüchtigen Grog brauen ließ.

Schon früh am Kaffeetisch ist es hier unerträglich heiß, man sitzt sich mit blödem Lächeln gegenüber und denkt an nichts; nur Leute, die es absolut ohne geistige Arbeit nicht aushalten können, zählen die Fliegen. Der Name des Bades: ›Finsterwalden‹ ist geradezu ein Hohn auf die ungefähr zwanzig Fichten, die in einiger Entfernung vom Strand trübselig umherstehen; man müßte die Badedirektion ob dieses Namens verklagen, denn er besticht die vernünftigsten Leute. Hans war auch sehr für ›Finsterwalden‹, da die volle Pension nur drei Mark beträgt, für Kinder eine Mark und fünfzig Pfennige. Natürlich konnte Hans in letzter Stunde nicht mitkommen, weil der Urlaub sich verschoben hatte; irgendein unausstehlicher Kollege mußte notwendig eine große Reise machen, trotzdem er Junggeselle ist und auf die Schulferien keine Rücksicht zu nehmen hat.

Otto nahm noch eine Tracht Prügel von seinem Vater mit, weil er im Zeugnis zwanzigster von 27 Schülern geworden war, vorher war er achtzehnter. Ich hasse die Zeugnisse vor den großen Ferien, sie können einem die ganze Reise verderben. Hilde war auch heruntergekommen, die Sache wurde aber nicht so tragisch genommen. »Wenn sie nur kochen lernt und später nicht sitzen bleibt, meint Hans, jetzt kann sie's noch.«

Hilde ist infolgedessen lange nicht so geduckt, wie sie es eigentlich sein sollte, und mein sonst so frischer Junge sitzt immer noch mit einer Zornesfalte zwischen seinen Blauaugen da. Im Anfange hat er nicht mal gebadet, weil man die Prügel noch ›sah‹. Für Felix-Fritz habe ich Minna mitgenommen, er ist noch gar so »unbedarwt« und ich hätte sonst nicht einmal baden können. Hans blieb in guter Obhut von Köchin Dorette, die, wie sie sagt: »den Herrn kocht und wäscht.«

Minna hat sich aber hier leider einen Schatz angeschafft, sie singt den ganzen Tag: »denn für die Buben hab' i die Dirndl g'macht,« eine Tatsache, die in diesem Falle recht ärgerlich für mich ist. ›August‹ ist der Hausknecht zum ›blutigen Knochen‹, welchen geschmackvollen Namen das Dorfwirtshaus zu Finsterwalden führt. Er ist ein Riese und mit einer wahren Donnerstimme begabt. Wenn er leise und sanft zu meinem kleinen Felix ›Guten Tag, mein Jungchen‹ sagt, so brüllt das Kind vor Angst und Grauen.

Leider scheint es keine vorübergehende ›Kommißneigung‹ zu sein, sondern eine ernsthafte Liebe mit darauffolgender Hochzeit, weshalb ich die nächste Aussicht habe, meine gute, tüchtige Minna zu verlieren. Gottlob, Dorette bleibt mir, sie hat sich das Heiraten verschworen, nachdem sie neulich ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert und ausgerufen hat: »Was die Männer sind, taugen alle weniger wie nischt.«

Wir essen hier alle gemeinsam. Sobald die ›Fütterung‹ angesagt wird, was durch ohrzerreißendes Getute auf einem Kuhhorn geschieht, rast jeder auf seinen Platz, denn serviert wird nicht, sondern jeder nimmt sich selbst, wobei der Frechste am besten wegkommt.

Neben mir sitzt links eine ältere Dame, sie hat schon den dritten Mann begraben, weshalb sie eine gewisse Fertigkeit darin bekommen hat, und mit Vorliebe von der praktischen Ausführung von Leichenbegängnissen spricht. Ihre Männer, von ihr ›mein Paul selig‹, ›mein Konrad selig‹ und ›mein August selig‹ genannt, sind an fürchterlichen Leiden gestorben, deren Einzelheiten mir immer morgens nüchtern verabreicht werden.

Ich habe mir deshalb einen kleinen Kümmel angewöhnt, schäme mich aber jedesmal, wenn der Kellner ihn bringt. Gegenüber sitzt eine Mutter mit zwei unausstehlichen Kindern; mir zuckt es immer in den Fingern, den Gören einen Klaps zu verabfolgen, wenn sie die Anwesenden mit Wein- oder Bierpfropfen werfen, oder laut schreiend die Annahme des Gemüses verweigern, dagegen vom Pudding sich so viel aufladen, daß unsere Ecke beinahe nichts bekommt. Allen Unarten setzt aber die Mama nur ein phlegmatisches: »Aber Lenchen! Aber Fränzchen« entgegen.

Gestern spuckte ›Fränzchen‹ auf seinen Teller und ›Lenchen‹ machte es ihm umgehend nach, worauf die Mutter lächelnd mit dem Finger drohte.

»Verdienen nicht jetzt die beiden einen Klaps?« wagte ich bescheiden zu bemerken.

Die Mutter sah mich hoheitsvoll an.

»Ich schlage meine Kinder nie,« sagte sie, »selbst bei den größten Unarten nicht.«

»Das merkt man.«

»Eigentliche Unarten besitzen meine Kinder überhaupt nicht,« fuhr sie fort, »es sind das nur kleine, selbständige, amüsante Regungen einer unverfälschten Kindesseele, die man nicht unterdrücken darf. Schlagen ist barbarisch, eine verwerfliche Sitte, mit der man den zarten Hauch von den Kinderseelen streift.«

Ich neigte stumm das Haupt über meinen Teller, auf dem ein zähes Beefsteak lag und wünschte dem Rindfleisch so viel Hiebe, wie ›Lenchen‹ und ›Fränzchen‹ nicht bekommen hatten. Von meinem Jungen aber fing ich einen vorwurfsvollen Blick auf, welcher sagte: » Mein Seelenhauch ist längst weg!«

Meine größte Abneigung aber, und der Schrecken der ganzen Badegesellschaft ist der ›Erfinder‹.

Wenn das ›Erfinden‹ unliebenswürdig macht, dann müssen Edison und Marconi wahre Greuels sein. Der Erfinder sitzt an meiner rechten Seite und heißt ›Meyer‹, was eigentlich auf einen friedlichen Lebenswandel hindeutet. Er ist aber noch friedloser, als der ewige Jude, der vielleicht auch ›Meyer‹ mit Nachnamen hieß. Hätte ich geahnt, wen mir das Schicksal zum Nachbar geben würde, hätte ich lieber Otto oder Hilde neben mir sitzen lassen, anstatt die Kinder mit Minna an den Katzentisch zu verdammen. Ehe sich der ›Erfinder‹ neben mir niederläßt, betrachtet er fünf Minuten lang tiefsinnig seinen Stuhl, an dem er durchaus eine Verbesserung erfinden will, anstatt einzusehen, daß das Rohr durchgesessen ist und der Stuhl zum Korbmacher gebracht werden muß. Gestern brachte er uns um die ganze Bratensauce, weil er urplötzlich das Gefäß umdrehte, um auf der Rückseite etwas zu sehen. Als die Bescherung auf dem Tische lag und über unsere Kleider floß, sagte er kopfschüttelnd: »Das ist ja furchtbar unpraktisch, dem muß abgeholfen werden.« Und er begann auf einem Blatt Papier eine Saucenschale aufzuzeichnen mit Schrauben und Hebeln, Sammelvorrichtung und Ausguß, rechts- und linksseitig zu benutzen, ein wahres Ungetüm, das ihm hoffentlich das Patentamt an den Kopf wirft. Na, überhaupt das Patentamt! Ich höre nichts als die gröbsten Verbalinjurien gegen dieses Institut. Es schickt Herrn Meyer seine besten Erfindungen zurück, wie beispielsweise gestern sein ›Exzelsiorfett‹ (Herr M. ist von Natur Chemiker), das, ›auf Reisen geradezu unentbehrlich‹, die schmackhafteste Naturbutter ersetzt, gleichzeitig ein vollendetes Haaröl darstellt, ebenso eine tadellose Wichse für helle Schuhe und last not least ein Zug-, Heil- und Wundpflaster für alle ›Weh-Wehs‹. Um Herrn Meyers Wut über den ›Patentfritzen‹ etwas zu besänftigen, habe ich mich verleiten lassen, meine schönen neuen Strandschuhe mit seinem Mittel einzufetten, ebenso den widerspenstigen Haarzopf unserer Hilde: beide, Schuhe und Zopf haben eine greuliche Farbe bekommen und nun weigere ich mich entschieden, meine Frühstückssemmel mit Exzelsiorfett zu bestreichen.

Herr Meyer findet, daß ich noch nicht auf der Höhe der Situation stehe. Er ist jetzt ein paar Tage lang nicht zum Essen gekommen und haust einsam auf seiner Bude. Bei uns im Gasthaus darf er nicht wohnen, denn bei seinem vorigen Wirt ist er schon einmal explodiert, natürlich nicht Herr Meyer selbst, aber so alles drum und dran in seinem Laboratorium. Herr Meyer hat bei dieser Geschichte ein Auge, ein Ohrläppchen und drei Finger eingebüßt, was ihn nicht gerade verschönt. Ich fragte ihn, was seine neueste Erfindung sei; aber er schwieg geheimnisvoll. Nun sagte mir Otto, ›Herr Paul‹ habe ihm verraten, es sei eine ›Chaiselongue, die man zugleich als Federmesser in die Westentasche stecken könne‹.

Damit komme ich zu ›Herrn Paul‹. Wie er mit Zunamen heißt, weiß ich nicht, es kümmert mich auch nicht, er wird von jung und alt ›Herr Paul‹ genannt. Herr Paul hat sich freiwillig an den Katzentisch zur Kinderschar gesetzt, und hier verdreht er meiner Minna, trotz ihres Verlöbnisses mit dem blutigen Knochen, den Kopf und lehrt die Kinder die schrecklichsten Dummheiten. Herr Paul kann alles und deshalb schwören sie blindlings auf ihn. Er frißt Feuer und Tranchiermesser, er hat eine Zunge so lang wie ein Zentimetermaß, mit der er überall hinkommen kann, er zaubert den Kindern Pfennige aus der Nase, die er ihnen dann schenkt, er steht unheimlich lang auf dem Kopfe, bis ihm die Augen wie auf Draht gesteckt hervorquellen. Alles das versuchen Hilde und Otto nachzumachen, und so bin ich nach Tisch in einer ewigen Hetzjagd nach den Kindern, um entweder Hilde das Tranchiermesser zu entreißen oder Otto das brennende Streichholz auszupusten, das er eben in den Hals stecken will. Das kann man doch keine Erholung nennen!

Nun habe ich Herrn Paul eidlich verpflichtet, daß er den Kindern keine Dummheiten mehr beibringen will, und so erzählt er ihnen jetzt Märchen, die er dann gleich dramatisch aufführt, was belehrend und erheiternd wirkt. So sahen wir gestern am Strande Schillers ›Taucher‹. Herr Paul hatte sich seine Badelaken malerisch umgeschlungen, da er wohl selbst noch nie einen König in Schwimmhosen gesehen hatte, und schrie sein Gefolge an: »Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?« Natürlich war Otto derjenige, welcher; – natürlich tauchte er unvernünftig lange und Minna, die neben mir stand, sagte: »Neulich is mal einer im Wasser geplatzt, wie er auch zu lange getüchtert hat.« Aber nein, Otto kam ungeplatzt hoch, und dann erlaubte ich nicht, daß er das zweite- und drittemal hinabging, um Ring und Jungfrau zu gewinnen. Letztere wimmerte in Gestalt eines dicken, kleinen Mädchens neben dem Könige im nassen Sande herum. Augenblicklich studiert Herr Paul ›Frau Holle‹ mit den Kindern ein, ich selbst habe ihm das reizende Märchen vorgeschlagen. Er hat nun die ganze Kinderschar mit in den ›Wald‹ genommen (siehe die zwanzig Fichten), eine wonnige Ruhe liegt über der ganzen Umgebung, Minna und Klein-Felix sind zum Zusehen mitgegangen; so kann ich endlich einmal ungestört an meinem Schreibtisch sitzen.

*

Liebste Mutti!

Da bin ich wieder daheim. Ach, und in welch greulicher Verfassung habe ich abreisen müssen von Finsterwalden. Es war nach dem oben geschilderten friedlichen Nachmittag. Der Friede hielt mehrere Stunden an, dann kamen die Kinder jubelnd heim, Frau Holle erfüllte ihre ganze Phantasie, sie erzählten ganz allerliebst, und wir Eltern schüttelten Herrn Paul dankbar die Hand für seine Mühewaltung. Dann sagten wir den Kindern, daß sie einstweilen schön weiterspielen möchten, während wir uns nach Herrn Meyers Laboratorium begaben, wo er uns eine Menge Erfindungen und Experimente vorführte, bis wir es vor üblem Geruch nicht mehr aushalten konnten. Am nettesten gefiel mir noch eine Meyersche Kaffeemühle, D.R.P. Nr. 22498, welche beim Mahlen ›Ach du lieber Augustin‹ und den ›Pilgerchor aus dem Tannhäuser‹ spielt.

Als ich recht vergnügt und erholt zurückkomme, und in unser Schlafzimmer trete, muß ich gleich mit der Hand in der Luft herumfuchteln, denn die ganze Stube ist voll Federn, immer mehr kommen, immer mehr und in seinem Bettchen sitzt Felix, schneidet mit der Schere kreuz und quer durch Kissen und Oberbett und lacht mich strahlend an:

»Wir spielen Frau Holle, Felitz sneidet allens putt.«

Das sah ich, auch mein Bett war bereits ›putt‹.

»Wo ist Minna?« schrie ich.

Ja, wo war Minna? Aus dem Nebenzimmer kam fröhlich Otto gelaufen, erschrak aber, als er das Federgewimmel entdeckte. Hinter ihm kam, – doch nicht Hilde, mein blondlockiges Mädel? Ja, ihr Kleid hatte das schwarze häßliche Geschöpf an, was da vor mir stand, und – als ich entsetzt es näher betrachtete, da erkannte ich an den strahlenden Blauaugen mein eigen Fleisch und Blut.

»Ums Himmels willen, was macht ihr da?«

»Ich bin die Pechmarie,« sagte Hilde seelenruhig und vergnügt.

Da sah ich denn das Unheil in seiner ganzen Größe. Otto hielt einen ordentlichen Teerquast in der Hand, eine Bütte mit Teer stand im Wohnzimmer und hatte ihren schwarzen Inhalt über Gesicht und Hände meines Kindes ausgeleert. Zum Vergrauen sah Hilde aus. Ich rannte hinaus, laut nach Minna schreiend, und fand sie selig kosend im Pferdestall mit dem Hausknecht vom ›blutigen Knochen‹.

Unbekümmert um ihre Gefühle zerrte ich sie nach oben und nun fetteten wir gemeinsam das Kind mit einem Pfund Margarine, einem Pfund Schweineschmalz und einer Büchse von Herrn Meyers teuerem Exzelsiorfett ein. Aber es nützte nichts.

Da bin ich denn unter mitleidigem Gelächter des Publikums abgereist, nachdem ich dem Wirt zwei Betten ersetzt, eine Ausgabe, die ich noch lange spüren werde. Dann kam ich nach Hause, fiel Hans schluchzend um den Hals, was ihn schon sehr erschreckte und unbehaglich stimmte, und als ›Pechmarie‹ aus der Droschke stieg, schrie Dorette: »Jesses, das Kind hat die Blattern!«

Und nun dies Erklären, diese Verstimmung, diese Heulerei und erneute Fettkur mit Hilde, dem Unglückswurm! Zehn Tage bin ich nicht herausgekommen, zehn Nächte habe ich kaum geschlafen, erst heute machte ich, von heftiger Migräne geplagt, einen kleinen Spaziergang. Da begegnete mir die Majorin Schönfeldt und rief entzückt: »Liebste, wie wohl sehen Sie aus, Sie waren gewiß in der Sommerfrische!«

Ade, liebes Muttchen! Der Brief ist schier ellenlang geworden und woher kommt das? Weil der Mensch mehr Worte findet, wenn er zornig ist, als wenn er im Glücke sitzt. Und mit dieser philosophischen Betrachtung schließt heute

Dein Lisel.

*

Minna und Dorettchen sitzen in der sauber aufgeräumten Küche an dem blitzblank gescheuerten Küchentisch. Dorette strickt an einem soliden Strumpf, einer ist schon fertig und mit riesigen Buchstaben D.B. 10. gezeichnet. Dorette ist die personifizierte Ordnung. Minna häkelt einen ›Zwischensatz‹. Ein ganzer Stoß Zwischensätze liegt schon neben ihr im ›Hamsterkasten‹, wie der Volksmund jene geheimnisvollen Truhen bezeichnet, die dazu bestimmt sind, nach und nach die Aussteuer einer verliebten oder verlobten Jungfrau aufzunehmen.

Dorette brummt.

»Sie brauchen nicht so ›mucksch‹ zu sein, Dorettchen,« sagt Minna und zieht den Faden des Häkelgarns so hastig an sich, daß das Knäuel wie wild durch die ganze Küche rollt. »Es ist meine Ausstattung und ich kann sie so ›elogant‹ machen, wie ich will.«

»Phh, elogant,« ruft Dorette heftig und vergißt sich so weit, derb auszuspucken, »ich möcht' mich bedanken vor Zwischensätze und so 'nen Kram, wo man's Häkelmuster frühmorgens auf die Backe hat.«

»Es is aber so mode,« trumpft Minna.

»Mode! Phh! Mode!« stößt Dorette wieder ärgerlich heraus, »'n solides, einfaches Mädchen braucht keine Moden. Das is for Herrschaften, die nischt anders zu tun haben, als andern Leuten nachzuaffen. Un in der Zeit, wo Sie das schwere Muster zusammenprünen, könnten Sie en ordentlichen Strumpf stricken.«

»Die kauft man jetzt fertig.«

»So! Fertig! Und denn nicht ordentlich zum Stopfen. Un denn mit die Löchers. Oben hui und unten pfui! Und für wen? Für wen sin die Ausgaben? Für'n Mann! Für 'ne gewöhnliche Mannsperson!!!«

»Na 'n Besenstiel kann ich doch nich heiraten!«

»Besser wärsch! Un weniger Ärger wär' in der Welt, wenn's nur Besenstiele un keine Männer gäb.«

Minna und Dorette sind längst aufgesprungen und stehen sich kampfbereit gegenüber. Nun aber muß Minna lachen, wenn sie an die Welt voll Besenstiele und ohne Mannsleute denkt. Ihr Lachen entwaffnet Dorettens Zorn. Sie setzt sich und strickt weiter.

»Dorettchen,« sagt Minna jetzt ganz sanft. »Was hilft das allens? Ich bin dem August doch gut! Und er liebt mir.«

»So? Liebt er Ihnen? Ach, Minnachen, das sagen sie alle.«

»Bei meinem August is das aber auch wahr!«

»Sehn Sie, Minnachen, das sagen auch alle Frauenzimmer. Minnachen, ich red' aus Erfahrung. Ich war auch nich immer fufzig Jahr, ich war auch 'n scheenes Mädchen mal.«

Dorette sieht zum Glück nicht den zweifelnden Blick ihrer Genossin.

»Wie unklug war das Mannsvolk hinter mir her,« fährt Dorette fort. »Ich habe sie alle durchstudiert, denn damals war ich noch bei Regierungsgsrats, un die wurden alle Nase lang mal versetzt. Ich bin mit 'n ›Frankfurt am Mainer‹ gegangen, un das war 'n lustiges Huhn; aber so fidel wie er war, so untreu war er auch, un denn hat ich 'n Erfurter, der war wohl treu, aber er brauchte viel und hat meine Ersparnisse verjuchheit, und dann starb er. Wär' er man vorher gestorben! Un denn hat ich 'n Berliner – na, von dem will ich man gar nich reden, und denn en biedern Schleswig-Holsteiner meerumschlungen, der konnte so timide tun und sein drittes Wort war: ›Up ewig ungedeelt.‹ Ja woll, – jetzt sitzt er in Sleswig an der Slei mit ›'ne Fru un säben Kinner‹, wie er mir schreibt und bei jedem ›Lütten‹ bittet er mich zur Patin, so'n, so'n – –« Dorette spuckt wieder aus. »Und da hab' ich denn das Heiraten verschworen.«

Minna seufzt. Sie zieht aus der Küchentischschublade ein Spiel Karten, was arg zusammenklebt, und legt sich Patience.

Immer heller und glücklicher wird der Ausdruck ihres Gesichtes, je länger sie legt, und schließlich ruft sie froh aufatmend: »Nee, nee Dorettchen, sein Se man keene Unke, er liebt mir!«

Dorette zuckt überlegen die Achsel, und das wurmt Minna, so daß sie mit dem letzten Beweise anrückt. Umständlich, und ohne auf das spöttische Mienenspiel Dorettens zu achten, knöpft sie ihre Taille auf und zieht einen Brief hervor, zerknüllt und von unbestimmter Farbe. Sie streicht liebevoll glättend über das Papier und gibt Doretten einen aufmunternden Puff in die Seite. Dorette legt den Strickstrumpf weg und liest leise nach, was Minna ihr laut vorträgt:

»Geliepteste Mina!«

Mit Freuden ergreiffe ich die Fehder, wo ich eben Mist for den Wirt gefahren habe und hofe, das Du mir liepst in ewiger Treuhe. Das Korn noch nich rein un ein ewiger Regen un Matsch das ein Donnerwedder mecht neinschlagen. Un kann kein Uhrlaup kriechen, wo mich doch der Schinder nich loßläßt. Wenig Lohn un nischt im Magen das so Bauernmanihr. Aber wenn die Ernthe vorbei, dann bin ich Dein Mann, geliepteste Mina und Du bist meine Frau un ich schlag jeden den Schädel ein, der mir hindern will. Womit ich unterschreibe achtungsvoll bis in den schweren Tod

Dein verbleibender August.

Nachschrift: Das Du auch kein ein Mal nach hier machen kannst is schon saudumm.«

»Da is Wahrheit drin!« versetzt Minna voll Überzeugung, »un heiraten is unsere Bestimmung.«

»Schön!« erwidert Dorette und steht mit einem Ruck auf. Der Liebesbrief ist ihr auf die Nerven gefallen. »Gewarnt hab' ich Ihnen,« sagt sie und hebt den Finger gegen Minna auf, »aber Verliebtheit ist doller als Cholera und Pestilenz. Laden Se mir man nich zu Paten, ich habe schon an die Sieben von meinem ›Verflossenen‹ über und über genug.«

Minna wird krebsrot und sieht sehr beleidigt aus, Dorette verläßt mit wuchtigen Schritten die Küche.

Minna häkelt weiter an ihrem ›Zwischensatz‹.

*

Liebstes Muttchen!

Die lange Pause in unserm Briefwechsel ist nur dadurch entstanden, daß ich gar so viel um die Ohren hatte. Auf Minna war so kein rechter Verlaß mehr vor ihrer Hochzeit, wenn sie sich auch im großen ganzen treu und brav bis zuletzt gehalten hat. Deshalb versprach ich ihr auch, ihrer Trauung und dem darauffolgenden Kaffee in ihrem neuen Häuschen beizuwohnen, und mein Hans, der überhaupt sehr für den Ausgleich der sozialen Unterschiede ist, kam auch zur Hochzeit des ›blutigen Knochenhausknechtes‹ mit ›Fräulein Minna Schauerlich‹. Das heißt, er ist nicht mehr Hausknecht, und sie heißt jetzt ›Minna Schmeckpeper‹, hoffentlich schmeckt sie aber nicht mehr › Peper‹ in ihrer Ehe, als es in allen andern Ehen Brauch ist. Ihr Mann ist jetzt Kutscher in einer großen Fabrik, sie haben ihr gutes Auskommen und Dienstwohnung, zwei nette Stuben, geräumige Küche und reichlich Nebengelaß.

Die Trauung in der Jakobikirche war recht feierlich, nur der Pfarrer sprach so lang und so außerordentlich graulich, daß die Schrecken der Hölle und einer liebelosen Ehe uns erschauern machten. Merkwürdigerweise weinte diesmal nicht die Braut, sondern das starke Geschlecht. Der Bräutigam schluchzte zum Gotterbarmen; ihn stieß ordentlich der Bock, er hielt Minnas Hand fest umschlossen, was bei dem Riesen eigentlich erheiternd wirkte, denn die ihm augenscheinlich Schutz gewährende Minna ist noch kleiner als ich. Auf Dorette wirkte des Bräutigams Zerknirschung in überraschender Weise. Sie fing gleichfalls an zu weinen, stieß mich mit dem Ellbogen an und wimmerte: »Ach Gott, ach Gott, ich hab' ihm unrecht getan! Is das ein Mann, is das ein Mann!« Gleich nach der heiligen Handlung rannte sie auf ihn zu und rief schluchzend: »Ich will ja Pate sein, – bei allen! Bei allen!«

Nachmittags gingen wir dann alle zum Kaffee hin, Hans kam wenigstens auf ein Stündchen und hielt einen wundervollen Toast, schloß aber ganz plötzlich mit einer banalen Redensart, weil der junge Ehemann wieder losheulte, was Hans auf den Tod nicht leiden kann. Minna entschuldigte ihren Gatten, indem sie sagte: »Er war früher immer Kutscher bei vornehme Herrschaften, davon hat er die Nervens.«

Leider kamen gegen Abend eine Menge Leute aus der Nachbarschaft, immer wieder mußte ich mit ihnen anstoßen, und noch dazu mit dem süßen ›Samos‹, den ich nicht vertragen kann. Und von diesem Samos hatten sie auch Otto und Hilde eingeschenkt, so daß die beiden Unglückswürmer auf keinem Bein mehr stehen konnten, als wir endlich abschoben. August Schmeckpeper nahm kurz entschlossen auf jeden seiner Riesenarme ein Kind, ich faßte Felix an, und so wanderten wir einträchtig nach Hause. Ich wollte erst um Minnas willen seine Begleitung ablehnen; sie bestand aber darauf, daß er mitging, und er selbst schien es mehr wie gern zu tun, er hastete ordentlich vorwärts, um aus dem Bereich seiner Wohnung zu kommen. Und zu Hause angelangt, wurde ich ihn keineswegs los. Nachdem er in meiner eigenen Wohnung zwei Rohrstühle für sich und mich abgewischt hatte, wie er es wohl vordem öfters im Gasthaus zum blutigen Knochen getan, setzte er sich fest hin, unbekümmert darum, daß mein Hans nicht zu Hause war. Dieser kam nach etwa einer Stunde heim und machte ein wahrhaft klassisches Gesicht, als er mich in der Gesellschaft sah. »Ich sehe gleich mal im ›Bürgerlichen‹ nach, ob dich die Minna nicht wegen böswilliger Entführung ihres Gatten am Hochzeitstage belangen kann,« raunte er mir zu. Aber auch Hans wurde trotz aller angewandten Mittel den neugebackenen Ehemann nicht los, der trotzdem so ängstlich auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als wollte er jeden Augenblick aufspringen.

Schließlich schoben wir ihn nach der Küche ab und Hans ließ sich in einen Sessel fallen und lachte Tränen. Etwa nach einer Stunde kam Dorette mit Hut und Umschlagtuch herein. »Ich hab' ihm nach Haus gebracht,« sagte sie ruhig, »er wollt' nicht allein gehen.«

»Der Riese?« lachte Hans. »Fürchtet er sich?«

»Er is man Riese von Statur, aber 'n Kind von Gemüt,« entgegnete Dorette. »Da is heut ein ›annanimer‹ Brief gekommen von eine frühere Liebste an seine Frau und die Minna hat gesagt, sie wollt' ihm schon die ›Laffetten‹ lesen, wenn se heute abend alleine wären.«

Hans lachte wieder schallend, und ich stimmte ein.

»Fürchtet er sich denn noch?«

»Och nee! Es war auch nich nötig. Wie wir hinkamen, fiel ihm Minna um den Hals und weinte, und eiete ihm und küßte ihm. Ach – – –« Dorette seufzte tief und schmerzlich, »ich glaub', Heiraten is doch ganz schön!«

»Schrecklich ist's, Dorette! Schrecklich!« rief ich beteuernd und der greuliche Hans lachte von neuem.

Nimm meinen Ausspruch nicht ganz wörtlich, geliebte Mutti; aber was soll ich denn anfangen, wenn Dorette auch auf solche Schliche kommt?

Dein glückliches Kind.

*

Liebste Mutter!

Die ›Saison‹ ist im vollen Gang, beinahe jeden Abend finden Abfütterungen statt, beinahe jeden Nachmittag wird eine Kaffeeschlacht geschlagen. Es gibt Damen, die mit dem letzten Tortenstückchen im Munde verschwinden, um sich schnell in die ›Souper-Toilette‹ zu werfen. (Wage es aber niemals, liebe Mutter, dieses letzte Wort in Gegenwart von Hans anzuwenden, er brummt Dir sofort zehn Pfennige auf, da er zum Deutschen Sprachverein gehört.) Ich bin ein erbitterter Feind von ›Kaffees‹, aber beim Aussprechen dieser Tatsache empfing ich so viel scheele Blicke, daß Hans mich beschwor, die schreckliche Sitte nur mitzumachen, um nicht gänzlich ›außen vor‹ zu stehen. Ich warf mich also vorgestern schon um drei Uhr nachmittag in Wichs. Mein helles Tuchkleid, welches sehr schick ist (Hans behauptet, ich sehe ›süß‹ drin aus, na so was hört man ja zu gern), dazu die graue Kostümjacke mit dem Chinchillapelz, den großen Rundhut – Mutti, ich sage Dir ›pieknobel!‹

Natürlich trennte ich mich furchtbar schwer von den Kindern, Felix-Fritzel erzählte mir noch schnell die Geschichte von Schneewittchen, die er sich ganz reizend zurechtgedichtet hat, indem er die böse Königin sehr harmlos fragen läßt: Kaufen Sie vielleicht vergiftete Kämme, vergiftete ›Krosetts‹, vergiftete Äpfel? Dann nahm ich für einen langen Nachmittag Abschied von den Kindern, von Hans, der ungerührt in seinem Schaukelstuhl saß, von meinem Flügel, auf dem ich gerade ›Isoldens Liebestod‹ einübte und raste dem Schlachtfeld zu, das ich natürlich ›zu spät‹ betrat. Ein strafender Blick der Gastgeberin empfing mich, ich verneigte mich und steuerte auf ›meinen‹ Platz zu. Auf ›meinen‹ sage ich, denn hier hat jede Dame ihren festen Sessel, wehe der, die es wagen sollte, die geheiligten Satzungen eines solchen ›Kaffees‹ umzuwerfen. Gleich beim erstenmal machte ich mich schrecklicher Fehler schuldig, ich setzte mich neben Frau X., die ich sehr gern habe, weil sie eine alte Dame und vorzügliche Hausfrau ist, von der man viel lernen kann. Aber sie sah mich ganz verstört an und gab verkehrte Antworten, und so merkte ich bald, daß ich ›höger rup‹ gehörte, dank der schnellen Karriere von Hans, geriet aber wieder zu hoch und wurde endlich von der Wirtin auf die richtige Stelle gelotst. Wie gern hätte ich nun wieder einen Platz höher gesessen, dann wäre ich neben Frau Y. gekommen, mit der ich Anknüpfungspunkte von S. her habe, aber – es ging nicht. Der Gatte meiner Nachbarin links ist schon ›bestätigt‹, Hans noch nicht, und ehe er nicht das Kaiserliche Patent hat, darf ich mich nicht vom Flecke rühren. Es geht streng nach der Anziennität. So sitze ich denn zwischen zwei mir gänzlich gleichgültigen Kollegenfrauen. Ich höre nun Deine liebe, gute Stimme sagen: »Sie sollen Dir aber nicht gleichgültig sein, Lisel, Du kannst gewiß von der einen oder der anderen etwas lernen.«

Nein, Mutti, das kann ich nicht: Sie ›kochten‹ zwar beinahe den ganzen Nachmittag, aber ich habe nicht mal ein neues Rezept erwischt, und mich aufregen darüber, ob zu dem einen Gericht Petersilie gehört oder nicht, das vermag ich nun einmal nicht. Dann sollte musiziert werden – o, Mutti, dieses Zieren, dieses Nötigen, dieses Hinsetzen und Wiederaufstehen, dieses Notensuchen und Beteuern ›nichts auswendig zu können‹, bis dann endlich das ›Gebet der Jungfrau‹'vom Stapel läuft; – mich dünkt, das alles ist kaum zum Aushalten. Und dann erneutes Quälen: »Bitte, bitte, Frau C.; Sie spielen ja auch so reizend!«

Und ich spielte einen Walzer von Chopin, weißt Du, den melancholischen, der wie verhaltene Tränen anmutet, ich träumte mich ganz hinein in diese süßen Melodien, und sah im Geiste den jungen Chopin in dem Salon des Fürsten Radziwill am Flügel sitzen und präludieren, sah die liebreizende Fürstin Elisabeth sich über ihn neigen und schelmisch lächelnd sagen: »Spielen Sie, Frédéric, ich will tanzen.« Und ich fühlte, wie dieser wunderbare Walzer entstanden sein mag, den Chopin unter tiefem Herzweh seinem Liebling spielte, der im Arme eines andern dahinflog – – – – – – – – – – –

Mutter, um mich herum war ein Getöse, als ob ein Bienenschwarm losgelassen wäre, sie hörten gar nicht auf mich, sie schwatzten und debattierten, als gelte es, gerade jetzt die soziale Frage zu lösen: »Sie müssen Querrippe zur Suppe nehmen, mein Mann ißt das auch am liebsten und so hoch wird das Fleisch, so hoch.« »Mein ceriserotes Kleid ist nach dem Färben wie neu geworden, freilich kostet das Meter auch drei Mark fünfundzwanzig – –« »Mit Ei abquirlen?« »Nie!« »Das gerinnt ja!« »I wo!« »Aber Beste!«

Ich stand auf, und sie klatschten alle sehr und sagten, es sei reizend gewesen, nur die eine (es war wohl die ehrlichste) fragte mich, ob ich nicht was Lustigeres könnte, nach diesem Walzer könne man ja nicht tanzen, aber ich sollte mir mal den ›Stiebelwalzer‹ holen lassen – ent – zück – end:

»Nie schönsten Stiebeln auf der Welt
Kauft man bei Spier und Rosenfeld – –«

Ach Mutterli, nicht wahr, ich bin recht töricht, daß mich das alles so verstimmt und quält, ich muß noch viel, viel verständiger werden, muß mich zur inneren Ruhe erziehen. Ich setzte mich ganz still auf meinen Platz, den Klaviersessel nahm sofort Fräulein B. ein, um uns zu versichern mit hoher, dünner Stimme, daß sie ›es‹ gern in alle Rinden einschnitte und in jeden Kieselstein grübe:

Mutti, es war ein verlorener Nachmittag – es müßte polizeilich verboten werden, daß Familienmütter Kaffees besuchen. An diesem Punkt sollte Rheinbaben die Steuerschraube ansetzen. Ob er noch nie daran gedacht hat?

Tausend Grüße! Dein Lisel.

*

Meine liebe Mutti!

Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Kaum habe ich Dir von dem ›Kaffee‹ erzählt, den ich notgedrungen mitmachen mußte, so kamen Hilde und Otto aus der Schule gestürzt und meldeten mir, daß sie eine Gesellschaft geben müßten. Ich sah das natürlich nicht ein, bis mich ein Tränenstrom von Hilde und eine hängende Unterlippe von Otto sofort felsenfest überzeugten.

»Ich bin schon dreimal bei Hellhoffs gewesen,« klagte Hilde, »und Trudchen noch gar nicht bei mir, und Gretel Groth muß ich einladen und Gertrud Weber – und Anna Hansens Mutter hat gesagt, sie fände es ›eigentümlich‹, daß wir uns nicht ›refangschierten‹.

Also, es muß eine Kindergesellschaft gegeben werden, denn, wie kann ich es zugeben, daß Anna Hansens Mutter, die ich zwar nie gesehen habe, irgend etwas ›eigentümlich‹ findet. Hans war auch sehr für die Gesellschaft.

Es ist so dankbares Publikum, meinte er: »Gib ihnen Schokolade und Kuchen, bis sie platzen und stelle abends die Laterna magica auf, du sollst sehen, sie sind entzückt.«

Gestern, an Felix-Fritzels drittem Geburtstag, ging die Sache in Szene. Schokolade durfte ich aber nur für die Mädchen kochen, Otto wünschte für seine Jungens ›Kaffee‹, weil das ›männlicher‹ sei. Sehr schönen Napfkuchen hatte ich eigenhändig gebacken, dann noch eine Schüssel voll brauner Plättchen dazu gestiftet, ohne mich an Hildes: »Die mag Anna Hansen nicht« zu kehren. Sie ›mochte‹ sie aber wirklich nicht, wie ich mich später überzeugte, rümpfte ihre Stumpfnase und sagte: »Das essen nur gewöhnliche Leute.« Daß Anna Hansen ein ›außergewöhnliches Leut‹ war, habe ich allerdings schmerzlich empfunden. Nach dem Kaffee wurden geistreiche Spiele unternommen, zuerst die uralten, allbeliebten ›Teller drehen, Jerusalemreise‹ usf., bis sie mir beinahe eine Klage wegen groben Unfugs zuzogen und der Wirt dreimal heraufschickte. Verdenken konnt' ich's ihm nicht, es war schon mehr ›Radau‹. Dann gaben Wolf von Hochstedten und Anton Misch Zaubervorstellungen. Misch war ein so vorzüglicher Zauberer, daß er von Hochstedten außer der Bezeichnung ›heller Kopp‹ und ›feiner Knopp‹ noch eine Einladung zu ›seiner‹ nächsten Gesellschaft erhielt, die froh errötend angenommen wurde. Hochstedten ist der Sohn unseres Regierungspräsidenten, Mischs Vater ist der Schlachter nebenan, und ich habe wieder einmal gesehen, wie wenig der Standesunterschied bei Knaben in Betracht kommt, während die kleinen Mädchen gleich beim ersten Sehen sich mit der Frage beglücken: »Was ist Dein Vater?« Als die Zeit des Nachhausegehens nahte, brachte ich noch mächtige Schüsseln voll Äpfel und Nüsse herein, sogar von meinen besten Gravensteinern und Melonenäpfeln hatte ich genommen und überhörte dann geflissentlich die Frage, welche Anna Hansen an Hilde richtete: »Gibt's denn keine Torte und Wein bei euch?« Aber als sie sich maulend und naserümpfend der Annahme einiger leckeren Äpfel widersetzte mit der Begründung: »Ich darf kein rohes Obst essen,« da konnte ich mich nicht enthalten zu sagen: »Ja, liebes Kind, wenn dir bei uns nichts recht ist, mußt du Hilde lieber nicht wieder besuchen,« worauf sie in ein gellendes Geschrei ausbrach und das Lokal verließ. Hilde, die überhaupt nahe ans Wasser gebaut hat, stimmte erbärmlich mit ein und die ganze Kinderschar zeigte sich etwas ›bedrippt‹, bis das geniale Freundespaar Misch-Hochstedten wieder Zauberkünste zum besten gab. Den Beschluß des Abends machte das herrliche Spiel: ›Fru Petersen is krank‹, wobei unter schallendem Gelächter das ›scheewe Mul‹, das ›Bewern in dat linke Been‹ und ›dat Plinken mit dat rechte Og‹ täuschend nachgemacht wurde. Beim Aufbruch und Anziehen zankten sich dann noch ein paar kleine Mädchen und wurden sich ›für ewig‹ böse, riefen sich dann aber beim Auseinandergehen fröhlich zu: »Ich hol dich morgen zur Schule ab.« Nach Versicherung sämtlicher Teilnehmer war es ›himmlisch‹ bei uns gewesen, ich heimste viele Dankesworte ein und wollte mich gerade befriedigt und abgespannt zur Ruhe begeben, als ein Brief bei uns abgeliefert wurde. Die ungeübte Handschrift war mir unbekannt, der Inhalt des Briefes folgender:

Geehrte Dame!

Was ich niemahlen geglaubt hätte, wenn man sein Kind bei höhere Beamtens schickt. Das sie denn hinausgeworfen werden un nichts orrnliches Essen kriechen. Un Obst darf sie auch nich, wo sies in Magen un mit'n Leib hat.

Achtungsvoll Frau Hansen. Du siehst, liebste Mutter, es ist heutzutage gar nicht so leicht, Kindergesellschaften zu geben, ach, wie waren wir früher immer bei Milch und Zwieback vergnügt! Und weißt Du noch, wie wir zur Vesperzeit trocknes Brot bekamen, von Deiner lieben Hand selbst gebacken, und Väterchen immer sagte: »Wer kein eigenes Haus hat, soll trocken Brot essen, wer ein Haus hat, darf sich Butter drauf nehmen, wer zwei Häuser hat, kriegt 'n Stück Wurst noch extra.«

Gute Nacht, Mutterchen!
Dein Lisel.

*

Mein liebes Mutti!!

Ein Intermezzo muß ich Dir noch schildern, das uns ein paar Tage zu schaffen machte. Wie du weißt, habe ich seit Minnas Verheiratung nur ein Dienstmädchen gehabt, unser braves Dorettchen genügte mir vollkommen mit ihrer Ehrlichkeit, ihrem Fleiß und ihrer Tüchtigkeit. Aber nun hat uns das erhöhte Gehalt von Hans und vor allen Dingen die kleine Erbschaft von Tante Hermine in den Stand gesetzt, ein zweites Mädchen zu nehmen, die Kinder wachsen heran und da ich alles selbst für sie schneidere, wächst mir manchmal die Arbeit über den Kopf.

Meine Anzeige stand also abends im Blatt, und früh meldete mir Dorette eine ›Dame‹. Ich wunderte mich über den zeitigen Besuch, ging selbst auf den Vorplatz und sah mich einer majestätischen Gestalt im Rembrandthute und großen Straußenfedern gegenüber. Ein Klemmer zierte die spitze Nase und Glacéhandschuhe vervollständigten ihre elegante Straßentoilette. Zuerst tadellose Verneigung, dann ein Wortschwall, den ich vor lauter Staunen nicht zu unterbrechen wagte.

»Gnädige Frau suchen ein Mädchen, wohlan, Frau Schmidt sendet mich, gnädige Frau werden mit mir zufrieden sein. Gnädige Frau sind erstaunt, wie ich sehe, mich so – so – anders zu finden – o ich gebe viel auf ein feines Äußere. Dürfte ich mein Zimmer sehen? Ah! der schöne Flügel! Blüthner, Bechstein, Rönisch? O, wie ich die Musik liebe! Sie erhebt uns über die Misere des Daseins!«

Damit schwebte sie mir voran in die Küchenregionen. »O, das reizende Zimmer!« flötete sie, »ich sehe, gnädige Frau haben ein fühlendes Herz. Muß ich den Raum aber mit einer anderen Jungfrau teilen?«

»Na, ich tu Ihnen nischt,« brummte Dorette grimmig.

»Darf ich dann um den Mietstaler bitten? Meine Sachen stehen unten, der Portier wird sie gleich heraufbringen. Und nicht wahr, vierzehntägige Kündigung? Denn der freie Geist darf nicht auf lange gebunden sein; fühle ich mich unverstanden, dann entfliehe ich gern so rasch als möglich.«

Mutti! Ich hätte so gern etwas erwidert, ich hätte sie gern ersucht, die Tür von draußen zuzumachen, ich gestehe, ich habe mich unverantwortlich dumm benommen; aber ich war wie gelähmt und entnahm mit zitternden Händen meiner Börse den Mietstaler, den sie knicksend empfing.

»Meinen Namen möchten gnädige Frau wissen? Eulalia! Eulalia Müller!«

Mir schauderte. – Unsere Kinder fand sie entzückend, himmlisch, süß, engelhaft! Sie riß Felix-Fritz aus seinem Bettchen und preßte ihn an ihren Busen, so daß er mörderisch zu schreien anfing. Hilde und Otto sahen sie nur von weitem an mit großen, scheuen Augen, rückten aber sofort aus, sobald Eulalia Miene machte, sich ihnen zu nähern.

Am ersten Abend, als ich bei einem guten Buche saß (die Kinder schliefen und Hans war auf einer Dienstreise), kam Dorette sehr kriegerisch herein und sagte: »Na, denn werd' ich man von hier fortgehen.«

»Aber Dorettchen, um Himmels willen, warum denn?«

»Weil die Eulalia die ganze Stube einnimmt, ich soll nicht stricken, sagt sie, das stört ihr und macht ihr ›neffiös‹, un ich röch nicht gut, hat sie gesagt un hat mir mit ›Ottokelonj‹ und ›Eßbukee‹ begossen, das brauch' ich mir nicht zu gefallen zu gelassen, ich hab' noch vor die feinsten Herrschaften gut genug gerochen.«

Ich tröstete die brave Dora nach allen Richtungen hin, und ging dann mit ihr nach der Mädchenstube.

Da stand Eulalia am Fenster, starrte düster hinaus, warf dann die Arme in die Luft und rief: »Eilende Wolken, Segler der Lüfte, wer mit euch wanderte, mit euch schiffte – –«

»Se hat wohl 'n Knacks?« fragte Dorette mit bezeichnender Handbewegung.

Schließlich bekam Eulalia noch eine Art Weinkrampf und bekannte schluchzend, daß sie an Heimweh litte. Dorettes Mitleid war sofort wach, sie brachte die poetische Eulalia ins Bett, und kochte ihr Fliedertee, den sie ihr unermüdlich eintrichterte in der felsenfesten Überzeugung, daß man durch Schwitzen alles herausbekäme, sowohl ›Knacks‹ als auch ›Heimweh‹.

Aber das Mittel hatte doch nicht angeschlagen, Eulalia blieb nach wie vor heimwehkrank und bat mich am dritten Tage um Aufhebung des Vertrags. O, wie gern willfahrte ich ihr! Du weißt, Mutti, ich bin sehr für Poesie, aber Eulalias Art griff die Nerven an, und immer in Hexametern zu sprechen, macht schließlich schachmatt. Unter vielen Tränen verließ mich das im Grunde ganz nette, gutmütige Wesen, verehrte Dorette noch einen Stapel Romane, von welchem: ›Helene, oder das gebrochene Herz der Gräfin Rabenstein‹ noch der am wenigsten schauerliche zu sein scheint, und ich fand abends auf meinem Nähtisch einen Zettel, worauf in zierlicher Schrift stand:

»Man sieht sich, man lernt sich kennen –
Man liebt sich und muß sich trennen!«

Als Eulalia gegangen, sahen Dorette und ich uns lange stumm in die Augen. Dann nahm das alte, gute Wesen meine Hand, und fragte treuherzig: »Woll'n mer nu den Kram nich lieber alleene machen?«

Und so ›machen wir eben den Kram‹. Ich koche nach wir vor selbst, und Hans ist mit mir oberzufrieden, aber daß ich ihn um den Anblick von Eulalia Müller gebracht, findet er ›unverzeihlich‹. Ich sage ›Gott sei Dank‹, denn er wäre imstande gewesen, literarische Abende mit ihr einzurichten.

Ade, lieb Mütterchen
Dein Lisel.

*

Liebste Mutter!

Ein böser Gast ist bei uns eingekehrt, das Scharlachfieber. Zuerst trat es bei Otto ganz leicht, mehr als ›Friesel‹ auf, aber nun liegen alle drei schwer danieder, Hilde besonders hat sehr hohes Fieber. Hans ist nicht bei mir, seine Dienstreise dehnt sich diesmal besonders lange aus. Dabei möchte ich ihm nicht einmal den Sachverhalt rückhaltlos mitteilen, um ihn nicht inmitten seiner verantwortungsreichen Tätigkeit zu beunruhigen. Gottlob, unser Arzt ist sehr zuverlässig, ein anerkannt tüchtiger Kinderarzt.

Zwei Stunden später.

Eben habe ich Dora zu Bett schicken müssen, sie klagte schon seit mehreren Tagen über den Hals, nun liegt sie sehr matt und mit Fieber, essen will sie nichts. Die Frau unseres Hauswartes hilft mir einstweilen, aber ich sehe jetzt erst so recht, was ein tüchtiges Dienstmädchen leistet. Das ist nun die erste, ganz heftige Krankheit, die unser liebes Nestchen befällt, und mir ist recht bang im Herzen. Hoffentlich kommt wenigstens Hans bald wieder, man ist doch nicht so ganz allein und kann seine Sorgen teilen.

Eine Stunde später.

Eben wird Nora mit Wagen ins Krankenhaus geholt.

Nachts.

Welch bange Stunden, geliebte, einzige Mutter! Unsere Kinder leiden furchtbar! Ist es der Würgengel Diphtheritis, der an ihren Bettchen steht? Jedenfalls ist die Halsentzündung so schwer, wie ich sie noch nie durchgemacht habe; der Arzt wollte eine Diakonissin nehmen, aber er war dann doch einverstanden, daß ich die Pflege weiter übernahm. Wer kennt die lieben Geschöpfchen besser als ich? Auf jeden Atemzug höre ich und die Arznei gebe ich pünktlich auf die Minute.

Eine Stunde später.

O, diese endlose Nacht! Neben mir auf dem Sofa schläft die Frau des Hauswartes, ich habe sie mir geholt, damit ich nicht so allein bin. Wie der Sturm heult. Es ist ein Unwetter draußen, Hagel und Schnee schlagen gegen die Fenster. Mutter, ich sehne mich grenzenlos nach Dir! So hast auch Du in schwerer Zeit an meinem Bett gewacht und den lieben Gott um mein Leben angefleht, wie ich jetzt bei meinen Dreien. Was kann ein Mutterherz alles ertragen, und wie bald vergißt man als Kind, als sorgloses, junges Geschöpf die endlosen Opfer, die einem von der Mutter gebracht werden!

Heute möcht ich Dich für jeden Schmerz, den ich dir je bereitet, innig um Verzeihung bitten – Mutter, liebe, liebe Mutter! Wie schwer sie atmen, meine Lieblinge, wie heiß ihre Köpfchen sind! Ach, guter Gott, behüte sie, behüte sie! Gute Nacht, Mutter! Bete für uns! – – – – – – – – – – – – – – – –

Telegramm.

Bitte, komme sofort. Lisel schwer erkrankt.

Hans.

*

Geliebtes, teures Muttchen!

Du siehst, ich bin nun endgültig über den Berg, ich kann wieder Briefe schreiben. Mutterli, was für eine Zeit liegt hinter uns! Erst jetzt erzählt mein Hans mir nach und nach alles aus jenen schrecklichen Tagen. Wie mich die Portiersfrau im schönsten Fieber gefunden und sofort den Arzt geholt hat, wie dieser an Hans telegraphierte, und Hans wieder an Dich, und wie darauf die Schreckensbotschaft kam, daß Du, Geliebte, selbst krank seist.

Ich selbst kann mich nur auf ein liebes, blasses Gesicht im weißen Diakonissenhäubchen besinnen, das sich über mein Bett neigte, mir die fieberheiße Stirn kühlte und wieder mit so unendlich sanfter Stimme zu den Kindern sprach. Dann zog ein süßes Gefühl der Ruhe in mein Herz und ich sagte mir: »Du darfst weiter schlafen, Schwester Marta wacht.«

Und dann, endlich, nach all den bangen Nächten, nach den schier unerträglichen Schmerzen, das wonnevolle Gefühl der Genesung! Wir lagen alle in unserm großen, luftigen Salon gebettet, ich hatte von der Übersiedelung nichts gemerkt. Hans behauptet, ich würde sonst noch aus dem letzten Viertel meiner kranken Luftröhre ein Veto gepiepst haben. Na, das brauchte er nun wirklich nicht zu befürchten, mir war damals nicht nach Krakeel zumute. Es folgte dann unmittelbar auf unsere Genesung eine wunderschöne Zeit. Hans saß an meinem Bett und trank mit mir die Morgenschokolade, Schwester Martha saß bei den Kindern und Dorettchen ging zwischen den Betten hin und her und erzählte aus dem ›Krankenhause‹, wo sie drei Wochen gelegen hatte. Nach ihrer Meinung waren in diesen drei Wochen nur ›Arme und Beine abgeschnitten‹ worden, und sie selbst sei bloß durch schleuniges Ausreißen diesem Schicksal entgangen. Die Frau, die neben ihr ›lag‹, hätte ihr erzählt, die Doktors im Krankenhause ›ampetierten aus lauter Pläsiervergnügen‹, nur um noch klüger zu werden. Wir versuchten alles mögliche, um unserer braven Dora eine bessere Meinung vom Krankenhause beizubringen, sahen aber schließlich ein, daß hier ›selbst Götter vergeblich kämpfen‹.

Dann verließ uns die liebe, sanfte Schwester Martha, von unsern innigsten Segenswünschen begleitet, die drei Kinder durften das Bett verlassen und ich konnte mich an ihrem lieben Geplauder freuen. O, daß sie uns neu geschenkt sind! Daß sie uns erhalten blieben! Wie ist mein Herz voll Dank, wie bin ich namenlos glücklich! Eine leise Mattigkeit spüre ich noch in den Gliedern, aber sie weicht immer mehr, ach, und jede Arbeit dünkt mir jetzt so leicht, ich bin gesund, die Meinen sind um mich, niemand fehlt und die blassen Bäckchen unserer Lieblinge bekommen schon etwas Farbe. Hans ist liebevoller denn je, o, wie hat er um uns gebangt! Und was mich mit tiefer Freude erfüllt, – er ist gütig und zärtlich mit Otto. Die Stunden, da er um das Leben dieses Kindes zitterte, haben viel Gutes hervorgebracht; geduldig und unermüdlich arbeitet er jetzt mit seinem Jungen und dieser vergilt ihm jede mühevolle Stunde durch seinen gewissenhaften Fleiß. Hell lacht die Frühlingssonne auf meinen Nähtisch, auf dem ich zu meiner Herzensfreude einen Stapel zerrissener Kinderstrümpfchen gewahre, welchen Dora mir hingelegt hat. Mit Wonne werde ich sie stopfen, – ich huldige dem Grundsatz: ›Besser zum Schuster, als zum Apotheker‹.

Gott behüte meine Reißteufelchen! Ade, Mutti.

Bald mehr von
Deiner Lise.

*

Liebste Mutter!

Unser Telegramm hat Dir schon das Wichtigste gesagt, Hansens Beförderung und unsere Versetzung. Hans kleidet die neue Würde prachtvoll, zu der er verhältnismäßig so jung gekommen ist, und ich trage meine Stumpfnase um einige Grad höher, so daß ich in einiger Angst schwebe, es könnte mir mal hineinregnen.

Berlin, Berlin! Wie ich mich freue, wieder hinzukommen, es gibt doch nur eine Stadt und die heißt: ›Berlin‹. Lach' mich nicht aus, Herzensmutter, und schilt auch nicht. Ich weiß, ich sollte noch mehr an dem kleinen thüringischen Städtchen hängen, in dem ich erzogen worden bin, aber Du weißt, wie mich seine Mauern immer eingeengt haben und wie mich eigentlich nur zwei liebe, traute Plätze dort hinziehen, Dein Großmütterstübchen mit Dir darin und das teure Grab am Waldessaum, dessen Marmorkreuz mit der leuchtenden Inschrift durch die dunklen Tannen schimmert: ›Sei getreu bis in den Tod!‹

Eine große Sorge macht uns noch das Wohnungsuchen, obgleich wir ja höheren Zuschuß bekommen, da Berlin Servisklasse A ist. Neunhundert Mark! Es klingt berauschend, aber unter zwölfhundert bekommen wir nichts Standesgemäßes. Wir werden wohl wieder › SW.‹ wählen, und die Nähe des Askanischen Gymnasiums, da hat auch gleich das Mädel eine vorzügliche Schule in der Halleschen Straße. Felix soll in die Vorschule des Gymnasiums kommen, das sind lauter wichtige Punkte und mir brummt der Kopf, wenn ich an alles denke. Aber tausendmal schöner trotz aller Unruhe, die sie mit sich bringt, dünkt mich die Zeit, der wir entgegengehen, als die vergangenen Wochen, um nicht zu sagen: ›Monate‹.

Hans war von einer fast erschreckenden Nervosität; der Gedanke, ob er den höheren Grad erreichen oder an der sogenannten Majorsecke scheitern werde, machte ihn ungenießbar für seine Umgebung. Ich habe ihn eigentlich nur einmal in der letzten Zeit herzhaft lachen hören, das war, als ich den Ausdruck gebrauchte: »Wenn ›wir‹ erst Rat sind.« Himmel, er wollte sich ausschütten, und doch ist's 'ne ganz natürliche Wendung, die Frau avanciert doch mit. Und ob! Frau von Dennburg sagte auch neulich: »Wir haben als Referendar geheiratet, und wollten eigentlich Rechtsanwalt werden, sind dann aber doch bei der Verwaltung geblieben.«

Wie gesagt, Hans war kein Mensch mehr, am allerwenigsten Familienvater, ich mußte die Kinder immer schon eine Stunde früher ins Bett schicken, denn jede Kleinigkeit regte ihn auf. Otto lebte nur noch von Ohrfeigen, Hilde wurde angefahren, Felix zitterte, wenn Vaters Stimme nur von weitem tönte und ich litt und duldete nach sanfter Frauenart. Muttchen lach' nicht – leugne nicht, Du lachst, ich kann Dir aber versichern, daß ich geduldet habe, wenn auch nicht ganz sanft und nicht ganz schweigend. Hatte ich abends die Kinder schlafen gelegt, und war ich durch ihre rührenden Gebete, die sie so aus sich heraus dem lieben Gott vortrugen, recht friedlich und feierlich gestimmt; dann empfing mich folgender Monolog von Hans, den ich zur Hälfte erst mal vor der Tür anhörte:

»Der Kriecher, der F.! Der geht über Leichen! Pah, zehnmal steck' ich den in die Tasche! Aber 's könnte ja sein, hahaha, natürlich, warum sollte es nicht sein können? Hat ja zehn Vettern oben und zwanzig Basen; bei jeder einzelnen schlägt er 'n Knoten an –«

»Hans, das muß komisch aussehen!«

»Lise, mach' mich nicht wild!«

»Du bist's ja schon!«

»Kannst du denn niemals ernst sein?«

»Doch, Hans! Aber wenn du wie ein brüllender Löwe einhergehst, auf daß du zusiehst, wen du verschlingest, dann muß ich lachen, – damit ich nicht weine, Hans, so unheimlich wird es jetzt mit dir!«

»Komm mal her, Lisel, ich will dir erklären –«

»Du hast mir schon hundertmal erklärt, Hans, und ich verstehe alles, und ich erkläre dir nun zum hundert und einsten Male, daß alles Hirngespinste von dir sind, daß der Oberchef nicht daran denkt, dir den Hohlkopf F. vorzuziehen, und daß du schon mit deinem epochemachenden Buch – –«

»Das ist's ja eben, dieses Buch, Lise! Man ist aufmerksam auf mich geworden und das freimütige Vorgehen eines noch jungen Beamten kann ja ›oben‹ verschnupft haben – –«

»I wo doch: Du hast ja niemanden angeklagt, bist streng sachlich geblieben, hast auf einige Mängel im Betriebe hingewiesen und gleich Fingerzeige zur gründlichen Abhilfe gegeben, wen soll das verschnupfen?«

»Lise, das verstehst du nicht. Da sind soundsoviele Ohrenbläser, Zwischenträger, wer weiß, ob man an maßgebender Stelle mein Buch gelesen und also aus eigener Anschauung urteilt, kurz – –«

Kurz, liebste Mutti, so wie eben beschrieben, war gewöhnlich die Unterhaltung zwischen Hans und mir und so endigte sie auch gewöhnlich: »Lise, das verstehst du nicht!« Diesmal habe ich aber doch mit meinen anderthalb Lot Gehirn weniger und meinem gesunden Optimismus gesiegt, – Hans ist befördert, nach Berlin berufen, mit schmeichelhaften Worten höhererseits bedacht worden und:

»Kommt ein Vogel geflogen,
Setzt sich nieder auf das – Knopfloch.«

Mutti – beinahe hätt' ich gesagt: ›Wir‹ haben 'n Orden bekommen.

Der unausstehliche Kollege Rödel (wir sind schon wieder mit ihm zusammen und Hans hält viel von ihm), suchte das glückliche Ereignis abzuschwächen, indem er wegwerfend sagte: »'n Piepvogel vierter Jüte,« ich sage stolz: »Mein Gatte hat den roten Adlerorden bekommen.« (Die Klasse ist ja nebensächlich.) Er steht Hans entzückend!

Deine sehr glückliche Lise.

*

Liebste Mutter!

Ehe wir nach Berlin dampfen, will Hans noch acht Wochen auf den ›Hauptmann‹ üben. Ich sagte ihm leise etwas Abratendes, aber da wurde er: »Hu! Noli me tangere

»Meinst du, wenn ich in Zivilstellung Majorsrang habe, werde ich als Oberleutnant rumlaufen?« schnaubte er mich an.

Liebe Mama! Ich schnaube nie! Lisel besitzt eine glühende Phantasie. Herzlichen Gruß!

Dein treuer Hans.

*

›An‹ war mein letztes Wort. Na, da war ich fein still, denn der ›Sommerleutnant‹ ist die Achillesferse meines herzlieben Mannes. Es ist ja wahr, er sieht in seiner Artillerieuniform berückend aus (Artilleristen, aktive und inaktive sind doch überhaupt herrliche Menschen!) aber – ich meine, es könnte nun genug des grausamen Spiels sein. Es ist, als hätten wir die Rollen vertauscht. Früher war Hans gegen alle Ausgaben, selbst wenn sie mir noch so nötig schienen, und jetzt predigt die ›Jungfer Unverstand‹, wie er mich so gern nannte, ihm tagtäglich vor, daß Deutschland wohl nicht aus den Fugen geht, wenn er sich zur Ruhe setzt, Landwehr ist er ja schon.

Liebste Mutti, es ist nur deshalb: die Kinder kosten 'n Heidengeld und vor so einer achtwöchigen Übung kann man nur immer mit Jago sprechen: »Tu Geld in Deinen Beutel.« Aber ich rührte diesmal die Achillesferse nicht an, mit wichtiger Miene nahmen wir beide den Lederkoffer vor, der seine Oberleutnantswürde enthält und wir niesten bei dem Öffnen des Ungetüms gleich sechsunddreißigmal,

Liebe Mama! Siebenmal!
Dein treuer Sohn!

denn das Naphthalin ist abscheulich. Nachdem wir ausgeniest und uns die Tränen aus den Augen gewischt hatten, schlugen wir uns mit den Motten herum, denn das weiß ich schon von früher, daß, wo das Naphthalin am dicksten sitzt, auch die Würmer am besten gedeihen. Aber Hans wollte es so, ich war für stetes Lüften und Klopfen, jedoch – » mulier taceat in ecclesia«. (Hans sagt, schon Mann und Weib bilden eine ›Gemeinde‹.) Auf Deutsch: ›Mien lewer Kuhlmann, holl Du dat Muul man!‹ Nachdem wir eine Mottenfamilie getötet, wurde jedes einzelne Uniformstück unter ›Ach‹ und ›Oh‹ herausgeholt und besichtigt. Der Samt an dem Stehkragen war sehr abgenagt, ebenso an der Binde, und die Stelle, wo Hansens Heldenbrust sich wölben sollte, war besät von kleinen Löchern. Hu, wie er schimpfte! Helm, Schärpe, Bandelier und Kartusche waren unversehrt, die Mütze aber auch voll Würmer, ach, was hab' ich alles hören müssen!

Und dann die Anprobe! Die Unaussprechlichen saßen stramm, als habe man sie ihm mit Gummiarabikum angeklebt, er konnte sich nicht darin rühren, und schimpfte, weil er annahm, ich lachte. Ich lachte aber gar nicht, ich reichte ihm mit ehernem Antlitz die Uniformstücke zu. Der Interimsrock war so eng, daß Hans mit ausgebreiteten Armen stehen mußte und nach Luft schnappte, wie ein Karpfen, der aufs trockene gebracht war; der Waffenrock aber war durch kein Bitten dazu zu bringen, sich überhaupt knöpfen zu lassen. Hansens Gesicht – einfach klassisch! Er hatte ja bis dahin krampfhaft den leisen Beginn eines kleinen Embonpoint geleugnet, aber die Tatsachen redeten eine zu deutliche Sprache. Stumm packten wir die Zeugen seiner Heldenzeit ein,

»nimmer tönen Speer und Schild.« –

Ich hätte gern eine Ehrensalve über den zugeschnallten Koffer und den fest vernagelten Kisten abgeknallt, aber in Anbetracht unsrer Mietwohnung verzichtete ich darauf. »So soll ich also im ›Frack‹ zu Kaisers Geburtstag gehen?« fragte Hans dumpf.

»Besser im Frack als tot,« antwortete ich.

Deine Lise, Oberleutnantin a. D.

*

Meine liebe Mutter!

Ich wollte, der Staat hätte Hans gleich den nächsten Tag nach seiner Beförderung nach Berlin beordert, anstatt uns noch ein Vierteljahr in Xhausen zu lassen, dann wären uns viele Widerwärtigkeiten erspart geblieben. Dabei hänge ich an Xhausen, es ist ein liebes, reizendes Städtchen mit wundervoller Umgebung, die aber zu weit ist, um täglich aufgesucht zu werden, aber, sage selbst, Xhausen hat doch nicht die kleinste Sehenswürdigkeit außer Hans und mir vielleicht. Trotzdem bestand Tante Emerenzia darauf, uns vor unserer Übersiedelung noch einmal zu besuchen, um Xhausen kennen zu lernen. Du kennst ja ihre Schwäche, jedes alte Gerümpel in der Umgegend zu besichtigen und nach Knochen und Totengebein zu suchen; sie besitzt schon eine große Sammlung, und kein Dienstmädchen will hin zu ihr, weil von allen Simsen und Wandbrettchen Totenschädel grinsen. Dabei ist sie selbst doch lebensmutig wie nur eine und soll neulich zu Vetter Fritz, der etwas deutlich auf ihr Ableben und die Erbschaft hingewiesen, gesagt haben: »Gestorben wird, das steht fest, ob Du's aber erlebst, ist noch die Frage.«

Nun, meinetwegen könnte sie Methusala werden, und ihre Papierchen mit ins Grab nehmen (Hans denkt anders), wenn ich das heilige Versprechen von ihr bekäme, daß sie uns nie wieder besuchte. Aber das gibt sie nicht, es hat ihr, o Jammer, zu gut bei uns gefallen.

Also am zwölften kam sie, hatte den schrecklichen ›Daisy‹ bei sich, ohne welchen sie niemals reist, und dieser abscheuliche, fette, asthmatische Mops gab natürlich den Anlaß zum ersten Zwist. Du weißt, ich bin rasch und lebendig in meinen Bewegungen, und so habe ich beim eiligen Hereinkommen das faul im Wege liegende Tier auf sein Stummelschwänzchen getreten; er heulte jämmerlich, wurde auf den Schoß genommen, geküßt, – sage und schreibe ge–küßt und mit den süßesten Schmeichelnamen bedacht. ›Herzpünktchen, Daisylichen, kleiner, süßer, verkannter, mißhandelter Engel.‹

Dabei mußte ich mir gefallen lassen, daß sie in meiner Gegenwart mit dem Hund über mich sprach.

»Hat die böse Tante Lise dich getreten, ei das garstige Geschöpf, beiß sie, beiß sie!«

Bei Tisch mäkelte Tante unaufhörlich an den Speisen herum, obgleich alles tadellos war; sie entwickelte ja auch einen Riesenappetit und meine knusprigen Schweinskotelettchen verschwanden im Umsehen. Nachmittags mußten wir natürlich mit ihr zur ›Ruine‹. Du weißt ja, es ist absolut nichts dran zu sehen, nicht die leiseste Sage knüpft sich an ihr Vorhandensein; Hans behauptet, das Ding sei vielleicht vor 50 Jahren als Aussichtsturm gebaut, aber nicht fertig geworden. Aber Du glaubst nicht, wie wundervoll er lügen kann, wenn's gilt. Eine wahre Schauermär hat er der Tante erzählt und ihre Augen hingen in Spannung und Bewunderung an seinen Lippen.

»Im Jahre 1260.« So fing er an und erließ uns nichts. Von dem grimmen Raubritter sprach er, von der schauerlichen Belagerung des weit ausgedehnten Schlosses, von Hungersnot, Tod und Verzweiflung, und wie sich zuletzt die himmlisch schöne Tochter des Ritters in den Turm hineingestürzt hätte, um der Schande zu entgehen, die ihr vom Ritter Katz von Rabenstein drohte.

Tante war ganz blaß geworden, Hans ließ aber auch seine Augen furchtbar rollen und erzählte mit hohler Grabesstimme.

Zum Glück waren die Kinder nicht mit dabei, die hüteten zu Hause ›Daisy‹ im Verein mit Dorette.

Und dann ging Hans in den Turm, Tante fest anpackend, um die Sache möglichst gefährlich zu machen, ich blieb draußen, hörte ihn aber von drinnen sprechen und von Mord, Tod und Blut faseln. Dann schrie die Tante laut auf und kam nach einer Weile totenblaß, aber strahlend zurück, sie hatte Knochen gefunden, seine Frauenknöchelchen von der zerschmetterten Jungfrau. Ich sah Hans fragend an, und der Bösewicht raunte mir zu: »Es sind die Knochen von den Schweinskoteletten heut mittag.«

Hans hat seit diesem Ausflug einen Stein bei ihr im Brett, mich findet sie nur ›ganz nett‹.

Er ist aber auch ein vollendeter Heuchler; und ich verlasse oft das Lokal, um nicht laut herauszulachen. Da sitzt er dann vor der Tante mit wahren Krokodilsaugen und hält Daisy stundenlang auf dem Schoß, obgleich er den Köter nicht ausstehen kann. Dabei streitet er jede Heuchelei ab, und sagt, er unterhielte sich gern mit Tante, sie sei, abgesehen von ihren vielen Schrullen, gescheiter als alle Frauenzimmer zusammen genommen. Na, da hatte ich's. »Dabei ist sie einsam und liebeleer durchs Leben gegangen,« setzte Hans hinzu, »es ist unsere verd... Pflicht und Schuldigkeit, ihr etwas Liebe und Zärtlichkeit zu geben.«

Na, dafür hat sie ihn beim Abschied aber auch umärmelt und geküßt – o, Mutti! Hans krümmte und wand sich wie ein Aal, aber sie ließ nicht los, heiß brannte ihr Schnurrbart auf seinen Lippen.

Sie hat fürstliche Geschenke hinterlassen. Allen drei Kindern zusammen eine Tafel Schokolade, nach deren Genuß wir zum Arzt schicken mußten, Hans eine Uhrkette von Haaren, vor der ihm graut, Dorette zwanzig Pfennig Trinkgeld und mir – nichts.

»Ich sei ja eine so poetische Natur, die mehr in der Idealwelt lebte.«

Sorge, daß Tante Emerenzia meine Idealwelt nicht so bald wieder heimsucht, geliebtes Muttchen, sie kommt ja jetzt zu Dir auf ihrer Vetternreise. Und bitte, dividiere durch sieben, wenn sie Dir was erzählt, besonders von unsern Kindern. Otto ist nicht so schlecht in der Schule, wie sie Dir vorjammern wird, und Hilde nicht ganz das Musterkind, was Tante in ihr sieht und Felix wird nur stramm erzogen und zu strengem Gehorsam angehalten, nicht aber ›barbarisch behandelt‹. Leb' wohl, Herzensmutter! Von Berlin schreibe ich weiter.

Deine Lise.

*

Liebste Mutter!

Berlin umfängt uns, es war ein Wonnegefühl ohnegleichen, als wir bei Lichterfelde und Südende vorbeisausten und am Anhalter Bahnhof landeten. Wie reizend, daß wir noch bei Dir Station machten, was ursprünglich nicht in unserem Reiseplan stand, wie schön, daß wir noch die wundervolle und doch so gemütlich traute Villa der Geschwister bewundern konnten, die Schwager Karl nach der heiligen Brumsumsula getauft hat.

Unsere Wohnung ist natürlich nicht im entferntesten mit jenem Schlößchen zu vergleichen, aber doch sehr nett und gemütlich. Sechs Zimmer, Badezimmer, große Küche und Mädchenstube, nicht Hängeboden, wie sie sonst hier üblich sind. Ich sah solch eine unwürdige Behausung, als ich Wohnung suchte, stockfinster und eng, man konnte sich nicht rühren darin und auch nicht aufrecht stehen. Wir wohnen drei Treppen und ›'n Bauchaufschwung‹, wie Hans sich zart ausdrückt, Treppensteigen soll sehr gesund sein, jedenfalls billiger, als das Mieten im ersten Stockwerk. Ich bin natürlich noch etwas abgerackert und müde vom Umzug, dazu kamen die verschiedenen kleinen und großen Abschiedsfeiern in Xhausen, die uns aber zeigten, daß die Kollegen uns ungern scheiden sahen. Rödel hatte sogar gedichtet und ein anderer die Bilder dazu geliefert, Hans kam schlecht dabei weg, während ich überhaupt nur als verkörperte Poesie dargestellt war, hoch in Wolken schwebend über dem niederen Erdendasein. Na, es wurde viel gelacht, und ich verzieh dem Rödel diese Licentia poetica. Hier haben wir noch keine Besuche gemacht, obgleich die Gesellschaft regen Schwung zeigt. Dagegen haben wir die Kinder angemeldet und betrübende Entdeckungen gemacht. Otto ist sehr weit zurück und soll eine ganze Klasse tiefer kommen, worüber Hans außer sich ist. Dabei weiß Hans genau, daß die Verba auf mi auch seine schwache Seite waren, und er ist doch ein ganzer Mann geworden. Unsere Stimmung ist recht gedrückt, Otto soll nun Privatstunden bekommen und probeweise nach Untersekunda aufrücken; ich bin nicht dafür, er ist nicht der stärkste mit seiner Gesundheit und wird über Gebühr angestrengt. Warum soll er nur mit aller Gewalt studieren? Hans ist sonst so vernünftig; er holt auch gern meinen Frauenrat ein, wo es ihm dünkt, daß Männerweisheit fehlgehen könne, aber in diesem Punkte will er durchaus allein entscheiden. Gestern war ein geradezu schrecklicher Tag! Hans nahm dem Jungen die Geige fort und schloß sie ein. Ich sah ihn flehend an, – in Gegenwart der Kinder tadele ich ja niemals eine Maßregel, die Hans ergreift, und ich fühlte, daß er schon bereute, was er getan, denn die Strafe war zu hart. Strafe wofür? Weil Otto eine mathematische Formel nicht begriff, die ziemlich einfach war, und die Hans ihm ausdeutschte; er begriff sie aber nun einmal nicht und Hans wurde ganz rasend. Dann schloß er die Geige fort, Ottos Glück und Trost, wenn ihm etwas schief geht. Der Junge erblaßte und dann sagte er rasch und heftig:

»Vater, gib mir die Geige wieder!«

Das war nicht das rechte Wort, ich weiß es; aber Hans schlug den Knaben in jäh ausbrechendem Zorn, o Mutter, ich habe oft unsägliche Angst vor der Zukunft. Wie wird es werden, wenn Otto erwachsen ist, und die harten Köpfe der beiden Männer aneinanderprallen? Otto saß von da ab blaß und stumm da, mit einem qualvollen Ausdruck in seinen Blauaugen, er rührte kein Essen an und ging ohne Gutenachtgruß auf sein Zimmer. Da schlich ich mich nach und hörte ihn bitterlich weinen und schluchzen. Er ist ja noch ein Kind und ein so guter, frischer Junge. Wir saßen dann zusammen wie ein Paar treue Kameraden und auf meinen Zuspruch hin sagte er ganz von selbst: »Ich will Vater um Verzeihung bitten.« Das tat er auch mit raschem Entschluß; und als er wieder bei mir war, kam Hilde und brachte die Geige. Otto war wie närrisch; mit einem Jubelruf riß er das Instrument an sich und dann spielte er – – Mutter, wie kann ein Kind so spielen! Es jubelte und klagte in den Saiten, das war kein totes Stück Holz, eine Seele war darin, ein Menschenherz schlug in jedem Ton, ein Menschenherz klagte sein Leid, mein Junge klagte mir – seiner Mutter. Und ich verstand ihn, meinen Herzensjungen, o, so gut! Lange, lange saßen wir noch zusammen, ich habe einen tiefen Einblick in sein reines, gutes Kinderherz getan; noch gehört er mir ganz, er sagt mir alles, er hängt mit unbeschreiblicher Liebe an mir und sieht in mir nur Klugheit, Reinheit und Güte. Ach, möchte ich ihm doch immer eine gütige Mutter sein, die ihn klug zu führen versteht, auch aus der Ferne, wenn er erst in die Welt zieht – – noch wenige Jahre!

Schließlich fiel er mir um den Hals und flehte, wie ich längst befürchtet hatte:

»Bitte den Vater – laßt mich abgehen – laßt mich Musik studieren!«

Kann man aber bei solch jungem Menschen schon richtig wissen, ob er ein echter, ein ganzer Künstler wird? Diese Empfindung, liebste Mutter, krampfte mir das Herz in Sorgen zusammen.

*

Liebes Muttchen!

Wie kleinmütig und verzagt war ich, als ich Dir das letztemal schrieb, geliebte, teuere Mutter, ich bin eben so gar nicht dafür geschaffen, still zu halten, nicht zu sorgen ›was der morgende Tag bringe‹. Immer will meine schwache Hand mitregieren und das Schicksal meistern. So hatte ich auch nach der Unterredung mit Otto nur den einen Gedanken Tag und Nacht, meinen Hans auf unsere Seite zu bringen, ihm den Plan des Jurastudiums für unseren Jungen auszureden, nach meiner Meinung eine Riesenaufgabe, der ich mich kaum gewachsen fühlte. Otto half mir wacker, indem er die Geige nicht anrührte, dagegen unermüdlich büffelte. (Er sagt ›ochste‹, ich weiß nicht, welches Wort schriftgemäßer ist.) Dafür trug das nächste griechische Extemporale die Nummer ›zwei‹. O, wie waren wir glücklich! Hans ließ seinen Abendschoppen fahren und spielte mit mir und den Kindern ›Fru Petersen is krank‹ mit sämtlichen Gesichtsverrenkungen, die das Spiel mit sich bringt. Tüchtig haben wir gelacht und ich fragte mich manchmal ob meine fünfunddreißig Jahre mir noch diesen Übermut erlauben. Mitten in unserm Jubel, während einer Lachpause, legte Hans auf einmal drei Karten auf den Tisch des Hauses nieder und fragte lächelnd: »Otto, möchtest du wohl mal den Geigerkönig Joachim hören, er gibt morgen ein Konzert in der Singakademie?« Mutter, mit mir drehte sich alles rundum. Otto stand zitternd und mit leuchtenden Augen vor seinem Vater, er vermochte kein Wort vor innerer Bewegung herauszubringen. Am nächsten Abend saßen wir auf prächtigen Parkettplätzen vor Meister Joachim. Du hättest unsern Otto sehen sollen, – mir traten die Tränen in die Augen. Joachim spielte Beethoven, so stand es wenigstens auf dem Zettel gedruckt, mir war's, als hörte ich Töne aus einer andern Welt zu uns herüberdringen; süße Träume führten mich in meine Kinderzeit zurück, und ich hörte Deine liebe Stimme, die mir das Märchen vom Rattenfänger von Hameln erzählte: »Sie mußten alle hinterdrein.« Ich nahm sacht die Hand meines Hans und hielt sie fest, ganz fest.

Ein tosender Beifallsjubel weckte mich aus meinen Träumen, ich sah Otto mit weitaufgerissenen Augen den Geigerkönig anstarren, dann lehnte er sich zurück und seufzte. Da hörte ich Hansens Stimme leise neben mir: »Sieh unsern Jungen! Es nimmt ihn furchtbar mit. Ich will ja sein Glück. Aber den Einjährigen, – den Einjährigen muß er mir machen.«

Mutter, – ich glaub', wir gaben eine närrische Gruppe ab. Ich drückte Hans die Hand zusammen, so daß er heute sagte, er wolle sich lieber für den Rest unserer Ehe in eine Unfallversicherung einkaufen.

Und dann spielte Joachim wieder, wunderbar herzergreifend und eine Sängerin schrie gen Himmel, was mich aber nicht weiter rührte; ich konnte schließlich kaum die Zeit erwarten, bis wir draußen standen unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Angesichts des großen Bären verkündigte ich Otto das unerwartete Glück, und er fiel seinem Vater um den Hals. Ich folgte schleunigst nach, aber sämtliche Leute blieben stehen und sahen sich die Familienszene an, und so verfügten wir uns ins Kastanienwäldchen. Dicht unter den Fenstern, wo Rheinbaben über neue Steuern brütet, tanzte ich Walzer mit meinem Jungen, bis Hans seelenruhig sagte:

»Komm, Lise, drei Polizisten steuern auf dich zu.«

Da ging ich mäuschenstill mit, denn weißt Du, Mutti, seit der Brandstiftung vor Jahren fühle ich mich nicht so ganz unbestraft.

Ach, die Welt ist sonnig, sonnig!

Es ist ja eigentlich nichts Besonderes geschehen, Otto muß angestrengt arbeiten, aber er tut es mit Lust. Joachim selbst, der verehrte Meister, hat ihn geprüft und herrliche, anerkennende Worte gesprochen. Gibt Gott seinen Segen, Mutter, so strahlt unser Junge einst als heller Stern am Himmel der Kunst. Aber bis dahin fließt noch viel Wasser den Berg herunter, – den wir hinauf wollen. Otto wird Ostern mit Hilde zusammen konfirmiert, sie ist schon so ein großes Mädel, freilich noch ein süßes, liebes Kind im Herzen. Felix schreibt bereits ›au, ei und eu‹ auf der Tafel und erfüllt gewiß später sämtliche Hoffnungen seines Vaters, vorläufig will er Droschkenkutscher oder Regierungspräsident werden.

Warten wir's ab.

Deine glückliche Lise.

*

Liebste Mutter!

Die neue Beförderung, das ›erreichte Ziel‹ ist doch längst nicht so in Grund und Boden überwältigend, als man es sich im Anfange der Karriere vorstellt. 's mag sein, daß die Kinder einem so ganz Herz, Seele und Gedanken ausfüllen, daß das Äußerliche mehr verschwindet. Aber doch sah Hans sieghaft aus, als er mir die Verfügung brachte, und selbst der Anfangsort G. schreckte uns nicht. Ich kann's überhaupt nicht begreifen, wie eine Beamtenfrau ›Sperrenzien‹ machen kann, wenn eine Versetzung kommt. Der Ort mag noch so schrecklich sein, schließlich bin ich doch bei Hans und Hans bei mir, die Kinder nehmen wir gesund mit, – was kann da weiter – ist (wie Felix sagt). Also G.! Schöne Dienstwohnung ist vorhanden, zehn Zimmer und Zubehör. Natürlich müssen noch Möbel angeschafft werden. Denn Hansens Vorschlag, nur sechs Zimmer zu möbilieren und ins siebente die Zigarrenschachteln, ins achte einen Stiefelknecht, ins neunte das Vogelbauer und ins zehnte – (nein, Mutti, ich kann Dir's gar nicht sagen, was Hans ins zehnte setzen wollte –) hinzutun – konnte ich unmöglich annehmen.

Wir haben uns also nun das langerstrebte Büfett zugelegt, über dessen Fehlen ja schon die verschiedensten Kollegen die Köpfe geschüttelt haben, dazu zwölf Lederstühle, einen großen Serviertisch und mattfarbenen Teppich. Es macht sich alles recht nett, wenn ich mich auch immer noch nicht mit dem Anblick des Riesenbüfetts befreunden kann, ich liebe nun mal diese Dinger nicht, aber wie es scheint, werden sie als Zeichen der Bildung angesehen. Auch die Tochter meiner Flickfrau hat ein › Biwé‹ mitgekriegt, wie Frau Schnabel erzählte, und zwar bewahrt sie die Vorhemdchen und Manschetten ihres Mannes darin auf. Na ja, einen Zweck muß das teuere Stück doch haben. Dorette ist mit uns gezogen, Gott sei Dank, aber ein neues Mädchen, Hulda, mußten wir uns doch für die große Dienstwohnung zulegen, sie macht sich ganz brav, nennt Felix-Fritz schon ›Sie‹ und ›junger Harr‹ und ›kißt‹ mir nach echt ostpreußischer Sitte ›'s Handchen‹. Dorette ist diese ›Leckerei‹ etwas Unverständliches und deshalb sehr zuwider, ich lasse mir's gefallen, um Hulda nicht kopfscheu zu machen. Besuche haben wir schon gemacht und viel Weizen, aber auch manche Spreu gefunden. Vor allen Dingen hat Hans seine Beamten gebeten, bei den Gesellschaften recht einfach zu verfahren; man kommt ja doch wahrhaftig nicht des Schlemmens wegen zusammen und ich finde es auch zu unvernünftig, großen Auswand zu machen, da einem doch jeder Kollege in die Tasche gucken kann.

Hilde ist sehr tüchtig im Haushalt, seit sie die Schule verlassen hat. Es gab viel Tränen bei ihr, als sie von B. fortgehen, die Konfirmandenstunde bei dem so sehr verehrten Prediger aufgeben mußte, um sich hier in eine fremde, geistliche Obhut zu begeben. Gottlob, wir haben einen prächtigen Pfarrer, einen Pfarrer, wie er im Buche steht, so recht geeignet, junge, reine Mädchenseelen auf den wichtigen Abschnitt ihres Lebens, die Konfirmation, vorzubereiten. Hilde hat auch hier gleich wieder eine ›beste Freundin‹ gefunden, außerdem hat sie ein ›Kränzchen‹ mit der Tochter unseres Obersten, Ada von Westensee, mit dem reizenden Mädel des Postrats Kühren und eben dieser ›besten Freundin‹ Grete Lossow, deren Vater ein Rittergut in der Umgegend besitzt. Ich wollte, man schlösse sich noch ebenso rasch an wie diese ›Backfischchen‹ (Hans sagt: ›Kälber‹), vorläufig bin ich am liebsten mit dem Kränzchen zusammen, das mir die Ehre erweist, für mich zu ›schwärmen‹. Ich fürchte nur, diese Schwärmerei gilt weniger meinen etwaigen, herrlichen Eigenschaften, als vielmehr dem leckeren Zitronenpudding, den ich ihnen zum Kränzchen spendiere.

Unsere Möbel sind gut angekommen, ich habe außer einigen ›Versetzungsschrammen‹ auf die sich leider immer die Dienstboten berufen, nichts gefunden. Gläser und Tassen sind gleichfalls heil, da sie diesmal nicht von einem ›berufenen‹ Packer in Kisten gepackt, sondern von einem ›erfahrenen‹ Bureaudiener meines Hans einfach in Papier gewickelt und kunstgerecht fest in die Vertikows gelegt sind. Endlich mal ein Umzug ohne Scherben! Trotzdem es also diesmal ohne eigentlichen Ärger abging, war ich doch vollständig ›buglahm‹, als endlich alles eingeräumt war, Hans konnte wenig helfen, er war eigentlich immer im Frack, oder, wie er sich ausdrückt: »Er kam nicht mehr aus dem reinen Oberhemd heraus.« Aber nun ist es auch so traut und gemütlich bei uns, trotz der großen Räume, die ich immer noch in ungläubigem Staunen betrachte, ob es wirklich die unsern sind. Welcher Unterschied zwischen unserm ersten Nestbau und diesem! Und doch, kein Unterschied, denn das reine, große Glück blühte auch damals und zog mit hierher. Gott erhalt's!

Deine Lise.

Heute ist ›Kränzchen‹ bei Hilde. Sie ist wirklich ein herziges Ding, wie sie so dasteht im einfachen, weißen Batistkleid, ohne jeden Schmuck, außer der hellblauen Schärpe, die Vater Hans so gern an ihr sieht. Dazu noch eine blauseidene Schleife im dicken Hängezopf, und der bayrische Grenzpfahl ist fertig. Hilde überschaut mit seitwärts geneigtem Kopf und kritischem Blick den zierlich gedeckten Tisch. Das zierliche Decken ist die Hauptsache beim Kränzchen, denn sonst geht es sehr einfach zu; Kaffee und Zwieback, aber es schmeckt prachtvoll. Hinterher ein paar Äpfel, nur bei Hilde gibt's auch manchmal Zitronenpudding, sie hat ein gar zu liebes ›Muusch‹. Der Tisch ist tadellos, auf jedem Gedeck liegt noch ein winziger Strauß selbstgezogener Blumen. Hilde schaut sich nun weiter in ihrem Zimmer um. Es ist wirklich ihr Zimmer, der Traum vieler Jahre ist in Erfüllung gegangen. Am Fenster ein zierlicher Nähtisch, an dem vorläufig noch nicht viel getan wird und das ist gut, so bleiben die Sachen hübsch in Ordnung, wenn Muusch plötzlich Revision ansagt. Dort ist die Kommode. Im obersten Fach liegt die Wäsche, im mittelsten Strümpfe, Zopfbänder und Schärpen, sowie Tändelschürzen, im untersten die Wirtschaftsschürzen, die der damit Bekleideten ein so ›rasend‹ wirtschaftliches Äußere geben, und außerdem eine geheimnisvolle Truhe mit der tiefsinnigen Aufschrift: »Im Falle meines plötzlichen Todes von meinen Erben zu erbrechen.« In der Truhe liegt zu unterst die Lieblingspuppe ›Dagmar‹ im Steckkissen und weißen Häubchen, einfach ›süß‹. Dann ein verwelkter Strauß, den Hilde zu ihrem Geburtstag ›anonym‹ bekommen hat. Wie interessant! Es war ein ›himmlischer‹ Strauß gewesen, und ein ›entzückendes‹ Gedicht hing daran, natürlich mit verstellter Handschrift.

»Warum geschlossen das Visier
An meinem Feste, wirst du fragen?
Ich aber frage, darf ich dir
Den offnen Gruß zu bieten wagen?
Gern würf' ich ab den falschen Schein,
Laut möcht' ich meinen Namen nennen.
Dir schlägt mein Herz, nur dir allein,
Du aber willst es nicht erkennen!!!«

Der letzte Satz war dick unterstrichen und damit hatte der Schreiber recht, Hilde war immer ahnungslos an seiner Liebe vorübergegangen, wie sie überhaupt die Gymnasiasten unter dem Sammelnamen ›grauenhafte Bengels‹ nur als notwendige Übel betrachtete. Ihre von einem tiefen Seufzer begleitete Frage, die sie vor Jahren einmal an ihren Vater richtete: »Papa, wozu sind eigentlich Jungs da?« hatte ihr dieser freilich treffend beantwortet:

Um später für die Frauenzimmer das Brot zu verdienen.

»Ach so!«

Aber das Gedicht kam in die Truhe, Hilde ›ahnte‹ den Verfasser, er hatte außerdem zu Otto gesagt: »Er fühle sich unverstanden, Europa sei ihm zu eng und er wolle in die Kolonien gehen.«

Vorläufig war er aus Gram über Hildes ›Kälte‹ in Obersekunda sitzen geblieben.

Hilde schiebt energisch das Kommodenfach zu.

Dann steht noch der hübsche Kleiderschrank da, mit der leider etwas verwachsenen Garderobe, Hilde soll erst zur Konfirmation neu eingekleidet werden. Das hübsche weiße Kleidchen freilich hat noch Großmuttchen gestiftet, Großmütter sind doch eine herrliche Einrichtung, sie schicken immer so nette Sachen, die jeder bewundert und über die sich selbst die kritteligste ›höhere Tochter‹ nicht zu ›mokieren‹ wagt. Ganz anders Tante Emerenzia! Hu, das ›Greuelkleid‹, das da von ihr gespendet ist! Dicker, dunkellilagestreifter Stoff, für die Ewigkeit gewebt und so ›pumplich‹ und ›altmadamig‹ gemacht; – noch neulich erklärte Ada von Westensee: »Du bist 'n Schafkopp, wenn de dir das anmurxen läßt, verschenk's doch heimlich oder brenn's auf!« Hilde seufzt. Nein, nein, das hätte sie nie gewagt, Papa hatte auch gesagt: »Tante Emerenzia hätte es gut gemeint und vorgesorgt; aus dem Stoffe könnten noch Hildens Urenkel Hosen kriegen.« Ach! – Wieder ein Seufzer! Es ist Hilde so ›Wurscht‹, was ihre Urenkel anziehen. Jetzt klingelt es draußen. Das Emerenziakleid bekommt noch einen derben ›Schubs‹, dann schließt Hilde den Schrank und eilt hinaus. Dorette und Hulda haben die strenge Weisung, an Kränzchentagen in der Küche zu bleiben, gerade die erste Begrüßung an der Haustüre ist so interessant!

»'n Tag, Ada!«

»Moin! Hilde!«

»Himmel, bist du fein, Ada! Das neue rote? In's Kränzchen? Das ist gegen die Satzung.«

»Sei man still, Hilde. Ich wußt' heute, daß ich dem Leutnant Stranz begegnen würde. Ein goldiger Knopp!«

»Aber Ada!« Hilde errötet bis tief unter die klare Kinderstirn, sie steht ganz hilflos verlegen der ›erfahrenen‹ Freundin gegenüber. Gott, wenn nur ›Muusch‹ nichts gehört hat!

»Na, mach' nich so 'n entsetztes Gesicht, Tugendbraten,« bemerkt Ada leichthin, und legt den eleganten Hut ab, indem sie sich aufmunternd über die platt gedrückten Stirnlöckchen fährt.

»Übrigens, was ich dir schon lange sagen wollte, Hilde, deinen Hängezopf mußt du abschaffen. Er sieht, gelinde gesagt, ›albern‹ aus. Du bist ja ein so süßes Geschöpf, aber mit 'n ›Dutt‹ sähst du noch viel süßer aus, meinetwegen benutze die Defreggerfrisur als Übergang.«

»Mama meint – –«

»Ja siehst du, deine Mama meint zu viel, das mußt du ihr abgewöhnen. Ich tue, was ich will, – die Welt schreitet fort.« »Aber Ada!« Hilde ist heute ganz entsetzt über ihre Freundin und es fällt ihr ordentlich ein Stein vom Herzen, als es draußen wieder klingelt, und Grete Lossow nebst Anni Kühren hereinstürmen. Sie haben ein ›entzückendes Abenteuer‹ erlebt und können kaum die Zeit erwarten, es loszuwerden und an den Mann zu bringen.

»Nein, denkt euch bloß mal!«

»Ach bitte Grete laß mich erzählen!«

»Wie kommst du mir vor, Anni, es geht doch mich an.«

»So? Weißt du das genau?«

Grete Lossow wird rot, und nun sprechen beide zu gleicher Zeit.

»Ach Gott, denkt doch bloß! Der Schauspieler Wöllner vom Stadttheater, und der interessante ›Ladenschwungs‹ aus dem Geschäft von Kabumeit am Markt kamen hinter uns her.«

»Wir taten, als ob wir's nicht merkten!«

»Aber wir hielten vor Aufregung den Atem an.«

»Und da sagte Wöllner –«

»Nein, der Kommis –«

»I wo, der Wöllner sagte –«

»Besonders aber die eine!«

»Denkt euch bloß!«

Das zuhörende Kränzchen, Ada und Hilde, lacht schallend.

»Nu, und nun wißt ihr nicht, wer gemeint ist?« Anni und Grete sehen verschmitzt lächelnd auf ihren Teller, jede ist felsenfest überzeugt, daß es ihr gegolten hat. –

»Na, was gibt's sonst Neues?«

»Ich war gestern in ›Don Carlos‹,« sagt Ada.

»War's schön?«

»Grubner als Don Carlos war himmlisch! Aber Mama wollte eigentlich nicht, daß ich hinging, es ist ja auch ein komisches Stück, wißt ihr, Don Carlos liebt doch seine Mutter – –«

»Na ja,« ruft Hilde und ein ganz süßes, erstauntes Gesichtchen hat sie aufgesetzt – »das tun wir doch alle.«

Ada von Westensee beschließt innerlich, ihren Verkehr mit Hilde einzuschränken, da sie doch noch gar zu sehr ›Bählämmchen‹ ist.

Felix-Fritz unterbricht mit seinem Eintritt die etwas peinliche Stille, er sieht nach, ob der Kuchenappetit der jungen Mädchen in soliden Grenzen bleibt und ob für ihn einige Stücke ›loszueisen‹ sind. Die Revision fällt nicht zufriedenstellend aus, er wirft die Tür heftig hinter sich ins Schloß und beklagt sich bei Otto: »Die Marjellen futtern schandbar.« Drinnen ist inzwischen ein weniger verfängliches Thema vorgenommen worden und bald klappert die Mühle so lustig wie noch nie. Der Zitronenpudding unterbricht dann auf angenehme Weise das Geplauder, und man ist beglückt und hochgeehrt, als sich Hildes Mutter ein Weilchen zum Kränzchen setzt. Frau C. ist überhaupt eine ›reizende‹ Frau, aber schrecklich ›philisterhaft‹, denkt Ada von Westensee. So hat ihr Frau C. heute z. B. direkt abgeschlagen, Hilde in Pension zu schicken, obwohl das ganze Kränzchen zum Frühjahr in ein und dieselbe Pension kommt. Und weshalb nur?

»Unser Haus ist das geeignetste Pensionat für Hilde,« erklärte Frau C., »ich getraue mir, meiner Tochter den allerbesten ›Schliff‹ zu geben.«

Das klang so ruhig und ernst, man wagte gar nicht zu widersprechen, und Hilde war merkwürdigerweise nicht verstimmt oder ärgerlich; sie schmiegte sich an die Mutter, und sagte mit strahlendem Lächeln:

»Zu Hause ist's auch am allerschönsten!«

Zum Schlusse des Kränzchens schlug Frau C. noch einige Schreibspiele vor, was sehr lustig und nett war, weiße Zettel wurden verteilt und jeder mußte ein Bild zeichnen, am besten die Illustration zu einem Liede. Dann schrieb man zu u‹nterst auf den Zettel, was die Zeichnung bedeuten solle und knickte dann das Blatt um, es weitergebend an die Nachbarin. Diese besah die Zeichnung und schrieb dann wieder unten hin, was sie sich dabei dachte, so kamen die lustigsten Lösungen zusammen, die zuletzt vorgelesen wurden.

Frau C., welche eine Meisterin in kleinen Handzeichnungen war, hatte den ›Fischer‹ von Goethe aufs Papier geworfen. Einen See, woran ein Mann saß, der sehnsüchtig seine Arme ausstreckte, dazu die Nixe, die ihn lockt. Die Auflösungen waren mannigfaltig. »Hebe dich weg von mir, Satanas,« hatte Grete Lossow geschrieben.

»Du liebliche Forelle,« schrieb Hilde und stellte damit dem Zeichentalente ihrer Mutter nicht gerade das beste Zeugnis aus.

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,« bekannte Anni Kühren und Ada von Westensee meinte gar, es sollte heißen:

»Komm, Karlineken, komm, Karlineken, komm!«

Es war aber wahrhaftig der Fischer von Goethe, das Gegenteil war nicht zu beweisen.

»Himmel, schon acht Uhr!«

»Wollt ihr schon fort?« fragte Hilde bedauernd, während Frau C. leicht aufatmet. Um acht Uhr kommt Vater Hans aus dem Bureau und dann liebt er ›Rein Schiff‹.

Etliche Küsse werden gewechselt, einige windschiefe und ein sehr korrekter Knicks vor Frau C. gemacht, Grete Lossow schmiegt sich einen Augenblick fest an Hilde und flüstert ihr ins Ohr: »Du bist doch meine Allerbeste!« Hilde nickt ihr strahlend zu, sie hat just dasselbe gedacht. Otto, der Obersekundaner, wird beordert, Ada und Anni nach Hause zu bringen, Grete Lossow wird mit dem Wagen abgeholt. – Otto entledigt sich wütend seiner Ritterpflicht, die beiden ›Gänse‹ achten gar nicht auf ihn, sie lassen ihn laufen, ohne ihn auch nur einmal ins Gespräch zu ziehen, das sich natürlich um die verflixten Leutnants dreht. Otto macht kurz entschlossen wieder ›kehrt‹ und stiefelt nach Hause, und das härteste ist, die Mädels merken es nicht einmal. Beim Abendbrot zieht Otto gewaltig über das Kränzchen her und die sonst so gütige ›Muusch‹ sekundiert ihm leider, soweit es ›Ada‹ betrifft. Die Parteien stoßen hart aneinander, und Hilde hat Tränen in den Augen. Da zieht sie der Vater liebevoll zu sich heran: »Laßt mir mein altes Mädel in Ruh, sie ist ein braves Kerlchen, sie hat Korpsgeist.« –

*

Geliebte Mutter!

Wenn der heutige Brief, oder wenigstens die Schrift etwas konfus wird, so kann ich nichts dafür, ich habe eine anstrengende Ballnacht hinter mir und meine Augen sind so klein wie zwei Stecknadelköpfe.

Hildes erster Ball!

Schon die Vorbereitungen machten viel Kopfzerbrechen, es ist ja hier alles anders, als in Berlin, wenn man auch hier hübsche Geschäfte hat, in denen man gut bedient wird. Aber G. ist so klein, jeder weiß, daß Ball im Kasino ist und jeder Ladenjüngling preist mir etwas anderes an, als gerade für den Kasinoball durchaus passend. Von einem mattblauen Seidenstoff behauptete der eine, er sei ›ewig treu und goldecht‹. Trotzdem nahm ich ihn nicht, Hilde sollte noch keine ›Seide‹ tragen, darin waren Hans und ich einig. Freilich die Majorin Eichstedt meinte: »Aber Liebste, in Ihrer Stellung müssen Sie doch Seide nehmen.« Das sah ich aber nicht ein, und bei solchen Dingen muß ich immer an unseren Großpapa denken, der doch Oberst in einem Kavallerieregimente war und dessen fünf Töchter nur einen Hut hatten, – wer ausging, bekam ihn. Wie oft haben mir die Tanten davon erzählt. Freilich: »Tempora mutantur et nos mutamur in illis». (Das lernt jetzt Felix-Fritz, und ich habe es aufgeschnappt.)

Ich war überhaupt nicht dafür, daß wir uns ins Kasino aufnehmen ließen, aber Hans hat sich vom Regimentskommandeur breitschlagen lassen, mit dem er viel zusammen Skat spielt. Nun komme ich nicht aus der zitternden Angst heraus, Hilde könnte sich in einen Leutnant verlieben, und vor Kommißheiraten schaudere ich. Hans lächelt überlegen und tut, als ob für unsere Hilde die reichen Rittergutsbesitzer oder ähnliches nur so am Zaun wüchsen.

Es ist ja wahr, reizend ist unsere Hilde, sie ist schlank und groß mit einem blonden Flechtenkrönchen über der klaren Kinderstirn, dazu tiefblaue Augen mit schwarzen Brauen und Wimpern, – Himmel, wenn Hans das liest! Er ist freilich genau so närrisch wie ich, aber wir verbergen es ängstlich voreinander, schon damit Hilde nicht merkt, daß wir sie ›süß‹ finden. Ich bin ja auch wahrhaftig keine eingebildete Mutter und sehe die Mängel an meinen Kindern klar, (obgleich ich nicht weiß, wo sie bei Hilde stecken sollen) und lasse jedem andern Mädchen sein Recht, aber daß Hilde weitaus hübscher ist als anderer Leute Töchter, sieht jedes Kind.

*

Wir kamen etwas spät ins Kasino, denn von meinem ›Vierknöpfigen‹ sprangen noch die beiden obersten Knöpfe ab, als wir in den Wagen steigen wollten. Das Stubenmädchen Hulda war nicht zur Hand, sondern auf einem Schneiderball im Gasthof zum ›goldenen Bock‹, deshalb mußte Dorette die Knöpfe annähen, was sie mürrisch mit den Worten tat: »Meine Feiste sind vor'sch Grobe und nicht vor'sch Feine.«

Die Polonaise hatte also schon begonnen, was ich mit einem ›Gesellschaftslächeln‹ ansah, innerlich war ich sehr ärgerlich. Natürlich hatten alle schon engagiert und ich sah unsere Hilde bereits als Mauerblümchen, oder, da dies in einem Kasino nicht vorkommt, mit dem jüngsten Fähnrich herumhüpfen. Oberst von Diller begrüßte uns sehr liebenswürdig, ebenso seine reizende Frau, wir setzten uns gemütlich zu einem Schwätzchen nieder, da Frau von Diller leidend ist und überhaupt nicht tanzt.

»Es ist auch ein alter Bekannter von Ihnen hier, gnädige Frau,« sagte der Oberst und dann brachte er mir einen großen, blonden Menschen, den ich zuerst gar nicht erkannte, aber dann gab es eine Riesenfreude. Helmut Franz war es, unser Nachbarsjunge aus der Steigerstraße, Muttchen, den ich so oft verhauen habe, wenn er mich mit Steinen warf. Er ist nun so seine fünf- bis sechsunddreißig Jahre alt und schon Hauptmann im großen Generalstabe; augenblicklich ist er an die hiesige Kriegsschule kommandiert. Wir kamen gleich ins Lachen und Erzählen, Hans ist ja mit ihm zur Schule gegangen, freilich in eine ganz andere Klasse, aber sie haben sich doch geduzt und sind viel zusammen gewesen. Helmut Franz soll auch verschiedene Ohrfeigen von Hans bekommen haben, und als ihm seine Mutter erzählte, daß sich Hans mit mir verlobt hätte, antwortete er: »Das geschieht dem Kerl schon recht.«

Alle diese alten Erinnerungen frischten wir auf, und die Zeit verging im Fluge. Hilde erschien ab und zu strahlend und erhitzt auf der Bildfläche und tanzte dann wieder davon, die Leutnants rissen sich förmlich um sie, und ich habe wieder einmal recht gehabt; ein Leutnant war da, der nicht von ihrer Seite wich, und den sie ›sehr nett‹ fand. Liebste Mutter, so fängt es allemal an, mit ›sehr nett‹! ich weiß das ja und endigt mit dem ›Herrlichsten von allen‹, wie wir frei mit Chamisso in poetischer Übertreibung sagen, d. h. bei meinem Hans ist es nicht übertrieben. Noch mehr als dieser Leutnant ängstigt mich ein schwarzer Forstassessor, – ich bitte Dich, Mutter, die Forstkarriere ist ja schreckenerregend jetzt, man kann erst heiraten, wenn man Großvater ist. Forstassessor Velten ist ein sogenannter ›interessanter Mann‹, ein Herzensbrecher, ein ›Veilchenfresser‹, man erzählt sich die wunderbarsten Sachen von ihm. Und dieser gefährliche Mensch saß gestern den ganzen Abend neben Hilde, die sich heute über ihn ausschweigt, was mich noch mehr ängstigt. Zum Glück saß Helmut Franz bei Tisch auf ihrer andern Seite, ich hatte ihn extra als Aufpasser hingesetzt. Helmut tanzte auch den Kotillon mit ihr, da die andern Herrn infolge unseres Zuspätkommens schon alle vergeben waren.

Hans ist leider gar nicht dafür; Tänzer für sein Kind ›anzuschleifen‹, wie andere das mit Erfolg tun. Er setzt sich sofort zum Skat, den er sich seit ein paar Jahren angewöhnt hat und vergißt –, nein, nein, er vergißt niemals dabei Weib und Kind, sondern findet immer noch Zeit, mir liebevoll zuzunicken und nach meinem Befinden und meinen Wünschen zu fragen. Heute morgen erschreckte uns schon um halb sieben das fürchterliche Gebimmel unserer Hausglocke und Hulda, welche öffnete, brachte ein Riesenbukett, das ich trotz Deutschen Sprachvereins nicht mit dem schlichten Namen ›Strauß‹ bezeichnen kann. Es sind, glaube ich, alle Blumen drin vorhanden, welche die Naturgeschichte aufweist. Eine Riesenkarte baumelt an dem Ungetüm, eine Karte in dem Format, wie sie gekrönte Häupter haben, und darauf stand in aufdringlicher Schrift:

Karl Velten, Königl. Forstassessor.
Oberleutnant d. R. im Feldjägerkorps.

Ach, Mutter, der Knabe Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden!

Schreibe bald, wie Du über die Sache denkst.

Deine besorgte Lise.

*

Liebste Mutter!

Felix-Fritz ist Primus geworden. Hans strahlt, während ich die Sache bedeutend kühler nehme, Wenn ein Ehepaar älter wird, zeigen sich doch ab und zu kleine Meinungsverschiedenheiten, sie bleiben auch nicht in unserer tiefglücklichen Ehe aus. Hans kann seinem Jungen nicht genug tun, und ich bin der Meinung, daß Felix-Fritz lieber etwas »geduckt« werden sollte. Er bildet sich etwas stark zum Pharisäer aus und schlägt mir viel zu oft an seine Brust in dem nicht immer berechtigten Gefühl: »Gottlob, daß ich nicht bin wie jene!« Auch heute hätte ich im Weihnachtszeugnis viel lieber den Jungen auf dem zweiten oder dritten Platz gesehen, als daß er so siegend mit einer schlanken »Eins« für seine sämtlichen Leistungen den ersten Platz eroberte. Es lag etwas in der ganzen Art des Jungen, wie er uns seine Erfolge mitteilte, was mir nicht gefiel; Hans merkte nichts davon, er liebt die forsche, sieghafte Art seines Jüngsten, die so sehr gegen die weiche, träumerische unseres Otto absticht. Dabei übersieht aber Hans, daß der fröhliche Stolz, den unser Junge ja unbedenklich über seine Erfolge haben kann, jetzt in eine Überhebung ausartet, die leicht zum Charakterfehler wird, wenn man ihr nicht beizeiten steuert. Mich dünkt, Feliz-Fritz sieht noch etwas mehr auf mich herab, als sonst kleine, unreife Gymnasiasten auf ihre lateinlosen Mütter herabzusehen pflegen. Du lächelst gewiß Dein gütiges Lächeln, meine liebe, gute Mama. Sei ohne Sorgen, ich gräme mich auch noch nicht über diese kleinen Schatten, die unser trautes Nestchen nimmermehr ernstlich verdunkeln können. Hans hat für Felix-Fritz ein Gewehr gekauft, das er sich lange gewünscht hat; wäre der Junge nicht Primus geworden, hätte ich's wohl noch nicht zugegeben, denn ich sehe keinen Segen darin, und im Traume schweben mir schon immer tote Katzen und meterlange Glaserrechnungen vor. Vorläufig steht die Flinte noch im Kleiderschrank ungefährlich in der Ecke, aber zu Weihnachten soll sie in ihrer ganzen Schönheit oder Schrecklichkeit erstehen. Nous verrons!

Otto schreibt liebe, sehnsüchtige Briefe aus Berlin. Er studiert voll Eifer und Fleiß bei seinem verehrten Meister Joachim, er berichtet von herrlichen Konzerten, die den Studierenden der Königlichen Hochschule für Musik geboten werden, er erzählt von den großen Künstlern und ihren Erfolgen und meine Seele saugt durstig all diese Schilderungen ein. Du weißt, wie ich in der Musik lebe und atme und schon als Kind die Bücher, welche von großen Künstlern handelten, verschlang und allen Indianergeschichten vorzog. Für Hans sind und bleiben die strahlenden Sterne am Kunsthimmel aber »Musikanten«, und da er angesichts der Rieseneinnahmen unserer Geigerkönige, Heldentenore und Primadonnen nicht von »brotloser« Kunst sprechen kann, so sucht er die bescheideneren Künstlerexistenzen gänzlich herabzudrücken. Auch von Ottos Zukunft erwartet er nichts Besonderes. Er hat den Lieblingswunsch unseres Jungen nicht aus Interesse an der Kunst selbst erfüllt, oder weil er die hohe Begabung des Kindes voll erkannt hätte, sondern weil er Otto nur für einen »Durchschnittsmenschen« hält, der auch in der Beamtenlaufbahn nichts »Höheres« erreichen würde. Hans ist eben durchaus Beamter, und einer der treuesten und gewissenhaftesten; Vorgesetzte und Untergebene sehen mit Liebe und Verehrung auf ihn, und das erfüllt mich mit freudigstem Stolz. Man muß ja meinen Hans auch lieb haben, denn sein köstlicher Humor verbreitet Sonnenschein ringsumher, und dieser Sonnenschein durchleuchtet und erwärmt die düsteren Bureauzimmer, während sein frisches, derbes Schelten und Wettern, wo er Ungehörigkeiten sieht, niemals verletzend wirkt, sondern wie ein fröhlicher Wirbelwind reinigend in alle vernachlässigten Ecken fegt.

Dabei ist ihm jedes Strebertum verhaßt, und er zieht scharf gegen derartige Auswüchse zu Felde; gerade deshalb ist mir die Charakteranlage unseres Jüngsten so verwunderlich und befremdlich.

Otto schrieb, daß er kurz vor Weihnachten schon in einer größeren Aufführung als Solist auftreten soll; mein Mutterherz bangt vor diesem Abend, der, wie ich zwischen den Zeilen lese, wohl schon entscheidende Folgen für Otto haben wird. Hilde und ich haben ihm gleich lange, frohe Briefe geschrieben, und ihm Mut zugesprochen, auch Hans hat ein paar gütige Worte und klingende Münze beigefügt, während das kleine, überkluge Bürschchen Felix geringschätzig sagte: »Was für eine Wirtschaft um das bißchen Fiedeln gemacht wird!«

Dabei ist Felix-Fritz durchaus musikalisch, er sang ja schon als kleines Kind so reizend; aber es ist ordentlich, als schämte er sich seines Talentes, jedenfalls verleugnet er es, wo es nur möglich ist. Auch Hans gibt gar nichts auf seine eigene herrliche, wenn auch ungeschulte Tenorstimme, während er sich für einen Meister auf der Flöte hält, die er auf dem Jahrmarkt für zehn Pfennige erstanden hat, und auf welcher er nun Tag für Tag in seinen Mußestunden »Gestern abend war Vetter Michel da« pfeift.

Es ist herzbrechend schön und Hans hat eine kindliche Freude an seinen eigenen Leistungen, denn er ruft mich selbst aus der Küche ab: »Lise, komm mal schnell her, ich hab' da all wieder 'ne Feinheit rausklamüsert.« Er hat auch schon den großartigen Plan gefaßt, sich pensionieren zu lassen, und mit uns in einem Planwagen durchs Land zu fahren; ich hoffe, liebstes Mutting, Du unterstützt uns kräftig, wenn wir eines schönen Tages auf Deinem Hofe singen, fiedeln und flöten, und wirfst uns keine ›Knöpfe‹, oder eingewickelte ›Mohrrübenscheiben‹ herunter.

Auf frohes Wiedersehen also mit dem Planwagen!

Deine Lise.

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Meine liebe Mutter!

Schon seit mehreren Tagen philosophiere ich herum: »Wie ist doch die Welt so vergnügungssüchtig!« Wenn es nach dem Vergnügungsvorstande des Kasinos ginge, dann benutzten wir unsere Wohnung überhaupt nur als Schlafraum und stromerten während der übrigen Zeit in der Umgegend von G. oder im Klubsaal des Kasinos herum. Unglücklicherweise ist noch die schönste Schlittenbahn, und jeden Morgen kommt der kleine Leutnant von Moers und fragt nach unsern Befehlen, aber den einzigen Befehl: »Lassen Sie uns in Ruhe!« führt er nie aus. Wir haben schon drei Schlittenpartien hinter uns und bei jeder ist Forstassessor Velten Hildes Partner. Ich habe mich schon so ganz leise nach ihm erkundigt. Schulden hat er, wie Sand am Meer, und ein Herz so groß, wie ein Omnibus; er tanzt nur mit Hilde, und begründet es damit, daß er sich nicht anstrengen dürfe, weil er an Herzklappenfehler leide. Nun, das ist ja kein Wunder bei dem ewigen Öffnen und Schließen des Omnibusses. Hilde lacht ob meiner vielen Bedenken und sagt: »Mein altes Muusch, das zieht sich alles zurecht.«

Das ist auch so eine neue Mode, daß man nicht mehr ehrlich »Mutter« oder »Mama«, sondern »Muusch« genannt wird, wie eine junge Katze. Ich habe Helmut Franz noch einmal inständig gebeten, auf Hilde zu passen, aber er lehnt ab und erwidert: »Jugend gehöre zur Jugend, und der Forstassessor sei nicht schlimm, Hilde habe ja auch den Mund auf dem rechten Fleck.« Das ist ja wahr, aber das Mädel sitzt in letzter Zeit oft so träumerisch da und »horcht in die Wicken«, wie wir in Thüringen sagen, und wo ich Hilde sehe, da ist auch der Assessor. Wir werden doch nicht auf unsere alten Tage anderer Schulden bezahlen sollen? Hast Du übrigens schon mal etwas von »Schlittenrecht« gehört? Hier faselt man so viel davon, daß ich auch schon deshalb ein gelindes Unbehagen verspüre, wenn die Jugend so mit Schellengeläute davonfährt. Jeder Herr, der seine Dame wohlbehalten im Schlitten nach dem Bestimmungsorte gefahren hat, soll das Recht haben, ihr einen Kuß zu rauben. Ist das nicht eine barbarische Mode? Dabei wird überall ein Grog genommen, wo nur ein Arm heraushängt und die Fidelität ist groß, ehe man am Bestimmungsort anlangt. Wir hatten neulich Frau von Meyer mit in unserem Schlitten, sie besitzt einen Schnurrbart, um den sie mancher Fähnrich beneiden könnte und ist schon »fünfzig«, aber trotzdem schien sie nicht übel Lust zu haben, das Schlittenrecht an unserm gemütlichen, bequemen Oberst von Diller in Empfang zu nehmen. Doch er winkte ab.

»Meine Gnädigste,« erklärte er, »nur wer die Zügel führt, darf küssen.« Dabei zeigte er mit verbindlichem Lächeln auf unseren Kutscher, dessen rotes, vergnügtes Gesicht sich strahlend nach uns herumdrehte.

» Shocking!« entgegnete Frau von Meyer.

Hilde war gestern auch noch zu einem großen Basar aufgefordert, den Frau von Meyer arrangiert hatte. Jedes Unglück ist für diese Dame eine Quelle unendlich vieler Tanzvergnügen, aber Hans und ich lehnten einstimmig für Hilde ab. Wir saßen gestern zum ersten Male wieder recht gemütlich um den grüßen Familientisch, Assessor Velten, der Unvermeidliche, war auch da, und meine Sorgen sind größer als je. Ich will seine häufigen Besuche nicht, aber Hilde bat so flehentlich, daß ich schwach genug war, nachzugeben. Wir haben jetzt Besuch, Grete Lossow ist da, Hildens liebste Freundin, ein blasses, stilles Kind, das aber in dem sonst reizlosen Gesichtchen ein Paar wundervolle Augen hat und den großen Vorzug besitzt, ein Goldfisch zu sein. Sie liebt unsere Hilde schwärmerisch, und deshalb zog ich sie ein bißchen ins Vertrauen, was meine Sorgen um den Assessor betraf. Doch sie versetzte nur leise: »Ach, das dumme Geld! Wenn zwei sich von Herzen lieb haben, das ist doch die Hauptsache!« Aber was weiß so'n »Kiek in die Welt« von Liebhaben! Freilich, ich war ja seinerzeit auch nicht älter, aber da handelte es sich auch um meinen Hans, und ich kann mir nun einmal nicht den schwarzen Forstassessor als unseren Sohn vorstellen, ich bekomme eine eiskalte Stirn bei dem Gedanken. Sollte ich eine ausgesprochene Anlage zur bösen Schwiegermutter haben? Liebste Mama, ich habe so Ahnungen, als würde Weihnachten etwas vor sich gehen. Weihnachten ist in dieser Beziehung immer so ein Zeitpunkt. Weißt Du, wenn unser Väterchen früher erzählte aus seinem Junggesellendasein? Mit seinem köstlichen, nie versiegenden Humor? Er meinte auch, daß es nichts Gefährlicheres für einen Junggesellen gäbe, als am heiligen Abend in eine töchterreiche Familie geladen zu werden, wo man zuerst ein vorzügliches Abendbrot mit guten Weinen bekommt, dann Punsch mit Pfannkuchen und zuletzt mit der »einen« allein unter dem brennenden Tannenbaum gelassen wird, der ohnedies schon eitel Rührung und Jugenderinnerungen ausstrahlt.

»Spielt dann noch jemand im Nebenzimmer: »Stille Nacht, heilige Nacht«, dann ist man unrettbar verlo–bt.«

So erzählte Vater zu unserm Ergötzen und Du sagtest schmollend: »Schäm dich, Alter,« denn Du hattest Dich mit ihm unter ähnlichen Verhältnissen versprochen.

Nun, der Forstassessor kann ruhig sein, ich spiele den Choral vor dem Abendbrot und den Punsch trinken wir, wenn er fort ist; Helmut Franz hat sich gemütlich bei uns angemeldet, wir wollen von alten Zeiten plaudern. Es ist doch eine köstliche Zeit, die liebe Weihnachtszeit, ich freue mich jedesmal wie ein Kind darauf. Auch in diesen Tagen ist's mir, als dufte es überall nach Harz und Tannengrün, obgleich der Baum noch gar nicht da ist. Hilde hat wieder eine Riesenarbeit für mich, sie ist so fleißig und kriecht jedesmal unter den Tisch, wenn ich unangemeldet ins Zimmer komme. Sie und Grete Lossow stecken voller Geheimnisse, und ich fühle mit Bangen, daß unsere Hilde kein Kind mehr ist. Gott nehme sie in seinen Schutz!

Das Kistchen für Dich geht morgen ab, geliebte Mutter! Frohes, glückliches Weihnachtsfest!

Deine Lise.

*

Am ersten Feiertag

Geliebte Mutter!

Da liegen sie alle vor mir, Deine reichen, mit rührender Sorgfalt ausgewählten Geschenke. Ich habe mich so innig darüber gefreut und danke Dir von ganzem Herzen. Das Fest war für uns zum ersten Male seit beinahe zwanzig Jahren nicht froh und sonnenhell. Felix-Fritz hat uns tiefen Kummer gemacht, und diesmal war ich es, der Hans zur Besonnenheit und Ruhe gegen das Kind ermahnen mußte, denn er kannte sich selbst nicht mehr in seinem Zorn. Felix-Fritz saß am Tage vor Heiligabend gemeinsam mit uns an dem großen Familientisch, als draußen stark an der Klingel gerissen wurde. Der Junge wurde totenblaß, wir merkten es alle, und als die Minna den Buttgereit meldete, wollte Felix-Fritz ausreißen, wurde aber von mir daran verhindert. Und dann hörten wir das schreckliche: Felix-Fritz hatte heimlich das Gewehr, welches er zu Weihnachten bekommen sollte, aus dem Schrank entwendet und damit planlos im Garten herumgeschossen, und nicht Erbsen hat er dazu genommen, sondern sich auf irgendeine Weise Schrotkörner zu verschaffen gewußt. Der kleine Willy Buttgereit hat ihn am Schießen hindern wollen, und da hat, wie der Nachbar beteuert, unser Junge im ausbrechenden Jähzorn auf Willy angelegt und ihm eine Ladung Schrot in das linke Bein gejagt. Willy Buttgereit ist ein zartes, schwächliches Kind. Mutter, ich zittre, wenn ich an den Leichtsinn unseres Jungen denke. Jetzt ist der Kranke schon in der Besserung, wir bezahlen natürlich den Arzt und die Pflege, aber deshalb wird die schwerste Last doch nicht von unserer Seele genommen. Felix-Fritz schlugen die Zähne wie im Fieberfrost zusammen. Er sagte nur immer: »Ach Mutti, ich war so wütend, so wütend!«

Dieser unglückliche Jähzorn! Hans besitzt ihn in so hohem Maße und ich bin ja auch nicht die Sanfteste. O, wie hat Hans das Kind geschlagen! Ich mußte ihm schließlich in den Arm fallen und Felix-Fritz, der nicht eine Träne weinte, brachte ich ins Bett. Er starrte mit seinen dunkeln Augen nach der Decke und hatte die Hände zu Fäusten geballt, aber als ich ihm kein hartes Wort sagte, sondern nur schlicht mit ihm betete, sein altes Kindergebet:

»Lieber Gott, mach' mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm,«

da löste sich der Trotz in ihm und er weinte bitterlich. Dann ist er in meinen Armen eingeschlafen, denn er ließ mich nicht mehr los.

Du kannst Dir denken, wie uns allen am heiligen Abend zumute war, aber Überraschungen gab's genug. Zuerst einen Brief von Helmut Franz, in welchem er uns mitteilte, daß er schleunigst zu seiner Mutter nach Charlottenburg reise, die gar nicht wohl sei, wir möchten ihm etwaige fröhliche Nachricht dorthin senden. Jawohl! Fröhliche Nachricht! Dann kam Hulda und kündigte den Dienst, weil sie es den Vornehmen nachmachen und sich unter dem Tannenbaum verloben wollte, natürlich mit so einem unglückseligen Schneider vom letzten Balle her. Nun, ich gab ihr meinen Segen, aber wütend; ich hatte das Mädchen so schön für unseren Haushalt angelernt. Die dritte Überraschung war Assessor Velten, der mir – Grete Lossow als seine Braut vorstellte. Ich fiel beinahe auf den Rücken, und wagte Hilde kaum anzusehen, aber sie lachte und tat nicht dergleichen. Das Brautpaar war selig, und ich war zum erstenmal nett gegen den Assessor, fütterte ihn mit unserem besten Marzipan und gab ihm von meines Mannes besten Zigarren, alles aus grenzenloser Freude, daß er nicht unser Schwiegersohn werden wollte. Mutter, ein dreidoppelter Zentnerstein ist mir vom Herzen herunter. Freilich wurde mir der kräftige, süße Weihnachtspunsch, der nun doch getrunken wurde, stark mit Wermut angebittert, als ich Hilde plötzlich im Nebenzimmer weinen sah; sie ließ sich hinterher nichts merken, aber ich hab' es doch gesehen. Was mag ihr nur sein? Ich kann es nur einfach nicht denken, daß sie den Assessor geliebt hat, für mich ist er ›Wüsten-Inselmensch‹. Aber wer kennt die heutigen jungen Mädels aus? Der Assessor ist ›modern‹. Phhh! Da ist mein Hans doch was anderes. Leb' wohl, geliebte Mutter! Tausend Grüße von Deiner unmodernen

Lisel.

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Meine liebe, gute Mama!

Eigentlich sollte ich nicht von einer so jubelnden Glückseligkeit erfüllt sein, denn wir haben zwei Kranke im Hause, aber wenn ich Dir alles erzählt habe, wirst Du mir zugeben, daß ich eitel Dank, eitel Freude sein muß trotz allem und allem, was Trübes drum und dran hängt. Also erstens: Otto hat geschrieben, fein bescheidentlich: »Ich habe mit dem Konzert gut abgeschnitten, liebste Eltern,« aber zugleich erhielten wir von einem Herrn in Berlin, in dessen Familie Otto viel verkehrt und musiziert, und welcher dem Konzert beiwohnte, einen Brief, in dem er uns schreibt: »Ihr Herr Sohn hat eine große Zukunft!« Joachim selbst, der große Meister, soll sich so geäußert haben. Mütterchen! Diese Worte brachten den ersten Sonnenstrahl wieder in unser arg verdüstertes Nestchen. Hans war glückselig, er drückte mich stürmisch an sein Herz und dann sagte er: »Nicht mir soll der Junge danken, nur dir, Lisel, nur dir, du warst sein guter Engel!« Das tat so wohl, Mutter! Mein Hans ist doch ein einziger Mensch!

In diese unsere Glückseligkeit, die noch dadurch erhöht wurde, daß wir den Willy Buttgereit schon wieder im Hofe spielen sahen, brachte man uns plötzlich den Felix-Fritz bewußtlos ins Haus. Bewußtlos und triefend vor Nässe. Er hatte am Flußufer gespielt, das vom Lindendamm steil abfällt, und war in die Tiefe gestürzt. Und der Willy Buttgereit, kaum aus schwerer Krankheit erst genesen, springt nach, um Felix zu retten, der kleine schwache Kerl. Blindlings muß er es getan haben. Ein Polizist hat dann beide gerettet, das Wasser ist ja nicht sehr tief an der Stelle, aber bedenke die eisige Flut, sie hätten den Tod davon haben können. Schwerkrank sind sie auch gewesen, besonders bei Felix-Fritz war das Fieber beängstigend hoch. Dazu kam noch die seelische Erschütterung, die ihn auch jetzt noch nicht losläßt: »Der Kleine, dem er Böses zugefügt, hat ihn, den bösen Großen, retten wollen,« – das beschämt ihn über die Maßen und rüttelt an seinem Herzen. Wenn ich einen Roman schriebe, Mutter, dann hätte der Willy ins Wasser fallen, und Felix ihn retten müssen, und dadurch seine frühere Schuld wett gemacht, aber die Wahrheit trägt doch meistens ein anderes Gesicht.

Felix-Fritz ist vor neuem Pharisäerstolz bewahrt geblieben, klein ist er, ganz klein, aber Gott sei Dank, jetzt bald gesund. Vorläufig schwelgt er noch etwas in Gefühlsduselei und weicht nicht von Willys Bett, den ich mit Felix-Fritz zusammen pflege, liest ihm stundenlang vor, hat ihm seine sämtlichen Spielsachen vermacht und klagt sich selbst immerfort unter Tränen an. Wir lassen ihn gewähren; es bedarf großer Mengen der salzigen Flut, um den unbändigen Zorn, Trotz und Hochmut fortzuschwemmen, der in ihm steckte. Aber mit einer tief inneren Freude sehe ich, welch ein prächtiger Bursch aus der Krankheit hervorgeht; ach, Mutterchen, wie scharf und sicher mahlen Gottes Mühlen, und wie klein ist unsere Menschenweisheit gegen ihn. Heute schreibe ich Dir nicht viel, ich bin von Nachtwachen und Aufregung recht herunter; um die Wirtschaft habe ich mich gar nicht kümmern können, aber Dorette und Hulda sind tüchtige Frauenzimmer, und Hilde kocht, daß es eine Art hat; die feinsten Leckerbissen hat sie ins Krankenzimmer geschickt. Nicht einmal Helmut Franz habe ich empfangen können, der sich während der Krankheit täglich bei uns erkundigt hat. Er ist ein lieber aufmerksamer Mensch. Leb' wohl, liebe Mutter! Ich will mich jetzt niederlegen, der Kopf ist müde, aber das Herz ist voll Dank. Morgen soll auch der Kopf hell und wach den Hausfrauenpflichten nachkommen.

Deine Lise.

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Liebste Herzmutter!

Unser Telegramm hast Du bekommen, und wir das Deine auch, aber so ein armseliger Lappen sagt doch nichts Richtiges, weder in der Freude, noch im Leid. Aber nun kommt das Richtige, das Schöne, das Ausführliche in Gestalt meines Briefes. »Schreib dich aus, Alte,« rief Hans, »sonst wirst du uns noch krank.« ›Alte‹ hat er gesagt, und zwar gar nicht schüchtern oder scherzend wie früher, sondern als müßt' es so sein.

Also wir saßen zum erstenmal wieder vollzählig am Tisch und hatten, um dieses Ereignis gebührend zu feiern, den braven Helmut Franz mit gebeten. Nach Tisch rauchten die Herren gemütlich ihre Havannas, und dann ging Hans, um sein ›Nickchen‹ zu machen, er sagt zwar, er besähe sich nur inwendig, aber er macht einen furchtbaren Spektakel dabei, daß man es zimmerweit hört. Helmut, Hilde und ich plauderten also weiter, und ich erzählte dem Hauptmann noch einmal, was ich alles durchgemacht, und wie ich mich gar nicht recht erholen könne. Und was antwortet er? »Das mußt du aber, süßes, einziges Herzensmuusch!« Ich dachte natürlich, er wäre direkt übergeschnappt, und als mich der greuliche Mensch umkriegt und mich küssen will, schreie ich ›Mord‹!

Das kommt davon, wenn man zum Kinderspott wird mit neununddreißig Jahren!

Und als sich das ›Altchen‹ nicht küssen ließ, nahm dieser Generalstäbler die ›Junge‹, und die Hilde ließ es sich gefallen zu meinem Entsetzen und lag so still an seiner Brust, als ob sie von Gott und Rechts wegen dorthin gehörte. Nun, es war ja auch ihr Platz, sie war seine Braut.

Ein unbeschreiblicher Zauber umschwebt jetzt unser Kind, sie ist entzückend in ihrer bräutlichen Würde. Und denk', geliebtes Muttchen, vom ersten Abend an haben sie sich lieb gehabt, diese Verlobung hat also immer wie ein Damoklesschwert über uns geschwebt. Und ich habe nichts geahnt, nichts, nichts! und ›ick bün doch die nächste dortau‹. Und darüber wollen sich nun die Kinder beinahe totlachen, und als mein Mann von seinem Mittagsschlaf erstand, haben sie mich kopiert, das heißt, nur mangelhaft, denn ich hoffe und glaube nicht, daß mein Gesicht so ›dämlich‹ ausgesehen hat, wie Helmut es vormachte. Mutterchen, sie sind ganz unvernünftig glücklich, die zwei, und ganz jung und übermütig wird dieser Hauptmann, der sich doch in meinen gesetzten Jahren befindet. Am liebsten hätte er natürlich morgen geheiratet; ich schlug vor: in ›zwei Jahren‹, bekam jedoch von Helmut einen Blick, der mich töten sollte, es aber nicht tat. Hans schlug ›ein Jahr‹ vor und schließlich einigten wir uns für das kommende Frühjahr. Helmut behauptet, das wäre Mitte Februar, ich meine, es ist Mitte Mai und Hans sagt philisterhaft genau: »Am einundzwanzigsten März.«

Na, schön! Also am einundzwanzigsten März! Wie wir bis dahin die Aussteuer gediegen und schön beschaffen sollen, ist mir allerdings schleierhaft; ich sprach sofort mit Hans darüber und weißt Du, was er erwiderte: »Himmel, Lisel, das kann doch nicht schwer sein! Ein halb Dutzend Handtücher, ein halb Dutzend Tischtücher, ein halb Dutzend Taschentücher, das übrige wird sie wohl haben, na, und wo's fehlt, gibst du von deiner vielen Wäsche dazu.«

Was soll man dazu sagen? So ein Mann versteht doch auch rein gar nichts, aber bei Hans weiß man nie, ob er ernsthaft ist, oder ›uzt‹, mich uzt, sein angetrautes Weib, auf deren Schultern jetzt der Sorgen Last ruht. Aber weg mit den Sorgen! Die Hauptsache ist, daß Hans und ich fest davon überzeugt sind, daß unsere geliebte Hilde bei Helmut Franz wohlgeborgen ist. Wir geben auch kein Kind fort, wir gewinnen einen lieben Sohn dazu, einen goldtreuen Menschen, der unsern Liebling auf Händen tragen wird. Und trotzdem, – trotzdem, – trotzdem – – Mutterchen, war Dir auch so grenzenlos weh ums Herz, als Du mich fortgeben mußtest?

Deine törichte Lise.

*

Meine Herzensmutter!

Der Hochzeitstrubel ist vorüber, und so sehr ich auch zuerst betrübt war, daß Du fehltest, Du, die Hauptperson, der Ursprung von allem, so sah ich doch nachher ein, daß es Dir sicher zu viel geworden wäre, und daß Du viel mehr genießest, wenn das junge Paar auf der Hochzeitsreise zu Dir kommt. Jetzt erst, nun wir wieder in Ruhe sind, fühlen Hans und ich, wie sehr uns die Hilde fehlt. Gott segne es tausendmal, unser geliebtes Kind, unser Sonnenscheinchen! Wie zwei törichte Kinder saßen Hilde und ich am Abend des Hochzeitstages in ihrem Mädchenstübchen, sie war schon im Reisekleid, denn sie sind noch am selben Abend fortgefahren. Immer wieder küßte sie mich, und ich sah, wie schwer es ihr wurde, von dem Elternhause zu scheiden, trotzdem sie ihren Helmut von ganzer Seele liebt. Auch die Brüder erkannten in den letzten Wochen so recht, was sie an Hilde gehabt haben; Otto war gerade zu den Ferien hier und wich nicht von der Seite der Schwester, ich war ordentlich froh, daß Helmut nach Berlin reiste, um die letzte Hand an die Einrichtung ihres Nestchens in der Achenbachstraße Berlin W. zu legen, so konnten wir unsern Liebling noch recht genießen. Voll Rührung zeigte mir Hilde ihr Handtäschchen, in welches Felix-Fritz ein Paket Liebigbilder und seine seltensten Briefmarken heimlich gelegt hatte, und wir freuten uns der Opferwilligkeit des kleinen Kerls. Dann klopfte es leise an die Tür und Helmut kam. Viel sprachen wir nicht, Helmut küßte zärtlich-ritterlich meine Hand und sagte: »Mein Herzensmuttchen, ich will sie hegen, wie du sie gehegt hast!« Dann gingen sie fort. Unten stand der Wagen am Portal, und hier begrüßten verschiedene Unterbeamten noch das ›liebe, trautste Freilein Hildchen‹, das alle so gern hatten. Hans mit den Jungens stand auch am Wagenschlag, und dann kamen noch Dorette und Hulda, und als die Pferde anzogen, zog Hulda aus, d. h. sie entledigte sich blitzgeschwind ihrer Schuhe und warf sie dem Wagen nach. Ich glaubte, das sei nur in England Sitte, aber ich wurde von ihr eines Bessern belehrt. Wir gingen nun zu den Gästen zurück, die immer noch in heiterster Stimmung plauderten und tanzten. Es waren gerade zweiundfünfzig Personen mit den Kindern und unsere Wohnung bewährte sich glänzend. Das Essen war aus dem Kasino und ganz vorzüglich, die Weine mochten wohl auch gut sein, denn Oberst von Diller machte strahlend vergnügte Schweinsäugelchen, roch erst immer ein Weilchen am Glas, trank winzige Schlückchen und klopfte sich dann behaglich auf die Stelle, wo er das eiserne Kreuz sitzen hat. Als ich zu ihm trat, engagierte er mich gleich und bestellte bei der Musik den ›Großvatertanz‹. Ich sträubte mich erst, aber er tat es nicht anders, und da traten lachend auch die anderen Paare an:

»Und als der Großvater die Großmutter nahm,
Da war der Großvater ein Bräutigam.«

Nachher wurde der Kaffee gereicht, und bei dem Duft des edeln Mokka und der feinen Zigarren ließen wir noch einmal die letzten Tage an uns vorüberziehen. Der Polterabend siel ganz reizend aus. Das Kränzchen erschien vollzählig – mit ihren Bräutigams, ist das nicht zu nett? Ada von Westensee ist mit einem Gutsbesitzer aus der Umgegend verlobt, der sehr reich sein soll, die Manieren eines Waschbären besitzt, und eben mit dieser ›Waschbärenhaftigkeit‹ zwei jungen Damen auf der Hochzeit die Volants von ihren Kleidern abtrampelte, weshalb er unter ihren Zornblicken augenscheinlich Qualen litt. Daß gerade die vornehme Ada diesen Menschen erwählte, gehört zu den Unergründlichkeiten einer Mädchenseele.

Anni Kührens Bräutigam ist ein sehr schmucker Oberpostpraktikant, der aber eben so lang ist, als sein Titel; sie borgt sich immer eine Telegraphenleiter aus, wenn sie ihn küssen will, was sehr umständlich ist, da es oft geschieht. Ein liebes, hübsches, glückseliges Paar. Na und dann Grete Lossow mit Assessor Velten, der ein Musterbräutigam ist und seinen Omnibus für ewig geschlossen hat. Wir sind sehr gute Freunde, denn ich werde es ihm nie genug danken können, daß er nicht zu mir ›Mama‹ sagt.

Schrieb ich Dir, daß unsere alte Minna die Reise nach G. nicht gescheut hat, um bei Hildes Hochzeit zu sein, und uns zu helfen? Sie hat Mann und Kinder auf vierzehn Tage im Stich gelassen, die gute, treue Seele. Am Polterabend überreichte sie Hildes erste Schuhchen, die ich längst im Orkus wähnte, die sie aber seinerzeit wohl aufgehoben und bewahrt hat. Leider war das begleitende Gedicht, welches Minna aufsagte, mehr für Bauernhochzeiten geeignet, voll greulicher Anspielungen, über welche sich natürlich die anwesenden alten Militärs beinahe aus ihrer Uniform lachten. Die jungen Herren dagegen bewahrten sämtlich ein ehernes Antlitz, was ich dankbar anerkannte, wenn auch bloß innerlich.

Andere Aufführungen waren natürlich auch da, ›Blumenmädchen‹ und ›Postillione‹ und ›Ratzimausifallijungs‹, dann ein größeres Festspiel, von den Reserveoffizieren des hiesigen Regiments verfaßt und aufgeführt, das wirklich reizend war. Der beste Freund von Helmut, Hauptmann von Altenhof, kam als Orgeldreher, hatte ein Schild mit flott hingeworfenen Malereien aufgepflanzt, und erzählte von Helmuts Schandtaten. Schlimm waren sie nicht, aber, – na, Hilde machte doch ab und zu ein verlegen erstauntes Gesichtchen, doch Helmut schaute frei und fröhlich in die Welt und lachte schallend. Nach der Aufführung kam Herr von Altenhof auf Hilde zu und sagte: »Nichts für ungut, mein gnädiges Fräulein, – wenn ich eine einzige Schwester hätte, ich gäbe sie dem Helmut ohne Zögern.«

Das war doch ein schönes Wort!

»Er ist der beste!« sagte Hilde leise und ich ließ sie dabei. An meinen Hans reicht freilich auch Helmut nicht heran.

Und nun komme ich wieder zu dem Anfange meines Briefes, – geliebtes Muttchen – wir sind allein, unsere Wohnung erscheint mir endlos groß, und in Hildes Stübchen liegt noch alles so, wie sie es verlassen; ich mag nicht daran rühren. Eben kommt ein Brief von beiden aus München, voll jubelnder Glückseligkeit, nun bin ich auch wieder froh, sie sind ja nicht aus der Welt, ich kann sie wiedersehen und mich, will's Gott, noch lange in ihrem Glücke sonnen.

Gott nehme uns alle in seinen Schutz!

Deine Lise.

*

Ein Jahr später.

Guten Morgen, liebes, geliebtes Urgroßmuttchen!

Ja ja, es ist so! ›Sie‹ hat ihre Äugelchen aufgeschlagen, Klein-Erika. Wieder ›nur‹ ein Mädchen! – Aber diese Freude! Helmut muß wirklich bald einmal etwas für sich tun, ich kann ihn nur als vollkommen ›übergeschnappt‹ bezeichnen. Er tut wahrhaftig, als stünde ihm das Kind näher, als mir, der Großmutter. Das ist doch offenbarer Unsinn.

Hans aber begreife ich einfach nicht, er steht dem Ereignis kühl, kühl wie – –, klänge der Vergleich nicht so entsetzlich gewöhnlich und unpoetisch, ich würde sagen, wie eine ›Hundeschnauze‹ gegenüber. Du weißt, Mutti, ich war nie eingenommen von meinen Kindern und beweise das dadurch, daß ich jetzt sage: »Es hat nie ein so entzückendes Geschöpf gegeben, wie Klein-Erika!« Denkst Du, es ist rot wie andere Babys? Nein, schneeweiß, und appetitlich und klug, o, man meint, sie versteht schon alles. Und die Ähnlichkeit mit Hilde! Wahrhaft verblüffend! Helmut lacht mich natürlich aus und bestreitet jedwede Ähnlichkeit bei zweitägigen Kindern, aber Hans stellt sich vor das Bettchen und sagte ernst: »Doch, ich finde Ähnlichkeit.«

»Siehst du!« meinte ich triumphierend zu Helmut, und dann bestürmte ich Hans: »Sag' doch, mit wem?«

»Mit Li-Hung-Tschang!«

Siehst Du, Muttchen, so sind die Männer, sie treiben Spott mit dem Heiligsten. Ich bat auch beide, die Tür von außen zuzumachen, und sie setzten sich in Helmuts Zimmer bei Rotspon fest, während Hilde und ich wortlos vor Seligkeit auf das winzige Etwas schauten und uns dann die Hand reichten.

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind! Traust Du Dir die Reise zu, Urahne, liebe einzige?

Kommst Du zur Taufe?

In vier Wochen geht Hansens Urlaub zu Ende, dann müssen wir wieder in G. sein, wie schön wäre es, wenn Helmut sein Kommando noch dort hätte, aber er lebt und stirbt für Berlin, und Hilde ebenso. Nun, wir haben uns gelobt, uns jährlich wenigstens einmal zu sehen. Solch seliges Glück wie bei Helmut und Hilde kann man sich auch nicht genug anschauen. Und wie stolz die beiden jungen Onkels sind! Dorette schreibt mir, sie müsse Felix-Fritz mit einem Male ›Sie‹ nennen, er bestände darauf. Mit Otto sind wir hier täglich zusammen, er ist ein bildhübscher, großer Bengel geworden und ebenso selig verrückt über das Kleine, wie Helmut. Gestern bestand er darauf, Erika die Kavatine von Raff vorzuspielen, aber Erika reagierte sauer, d.h. sie reagierte gar nicht, sie lachte nicht, sie weinte nicht, sie strafte seine Abgeschmacktheit mit Verachtung und schlief ein.

Mutterchen, wie ist doch die Zeit so unheimlich rasch vergangen!

Ich sitze an der Wiege meines Enkelchens und doch ist's mir in meinem lebhaften Empfinden, als sei es gestern gewesen, daß ich von Dir ging, um meinem Hans zu folgen. Aber auch heute sage ich, wie damals:

»Liebe, geliebte Mutter, ich bin namenlos glücklich!« Und nichts in der Welt kommt dem gleich, was so herrlich wächst, und grünt und blüht in

Unsern vier Wänden!


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