Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Freundliche Erinnerungen, wieder geweckt durch Zeichnungen, Bilder, alte Melodien und Lieder, auch wohl einen welken Blumenstrauß, wie mächtig können sie uns oft in der Einsamkeit überraschen! Wir lauschen, betrachten und sinnen, und wir erstaunen, daß Jahre vergangen sind, seit das alles blühte, klang, oder vor unseren Augen lebendig war. Menschen, mit welchen wir, abseits vom Wege unseres gewöhnlichen Lebens, kurze Zeit gelebt, zu welchen sich ein herzlicheres Vertrauen angesponnen, als wir zu unseren täglichen Umgebungen fühlen; freundliche Beziehungen, welche dauernd zu bleiben versprachen; wie oft geht das gleichsam episodisch an unserem Leben vorüber! Fahrlässigkeit, eigene Schuld, auch wohl freiwilliges Verzichten trennt uns von dem Liebgewordenen. Nicht immer will sich, was wir als schön, liebenswürdig und begehrenswert erkannt haben, mit dem Ernst unseres Tagewerkes für das Leben vereinigen.

Elfriede lebte wieder in der großen Welt, die sie einst verlassen hatte. Sie suchte sie nicht, sie selbst wurde aufgesucht und hatte sich ihre Unabhängigkeit und ihre Stellung zu wahren gewußt; ihre schöne Stimme erklang wieder, und jetzt voller und entwickelter, in den Gesellschaftssälen. Sie war persönlich geachtet, man fand sogar, daß ihre Erscheinung, ihr ganzes Wesen, ausdrucksvoller geworden sei. War sie sonst als Tochter eines Mannes in hervorragender Stellung umflattert worden, so wurde sie jetzt um ihrer selbst willen gefeiert. Es fehlte auch nicht an Männern, die ihr gerne ihre Hand angetragen hätten, doch wußte sie sich solchen Annäherungen gewandt zu entziehen. Nun aber kam ihr ein Mann mit der höchsten Auszeichnung entgegen, ein Mann, der von allen ihren Freunden oder Bekannten als eine »höchst brillante Partie« bezeichnet wurde. Der Bankier Bornhofen war in allen Kreisen, selbst einer so großen Stadt, bekannt, und seinen Namen wenigstens kannte jeder als den eines der reichsten Geschäftsleute. Sein Haus war ein Palastbau, seine Gemäldesammlung vortrefflich, jedermann zugänglich. Er war Kunstgönner und Kenner, und liebte es, die Vertreter aller Künste bei sich zu versammeln. Mehrfach hatte er gegen Elfriede ausgesprochen, daß er seinen Ehrgeiz und sein Glück darein setze, ihre Stimme einmal in seinem Musiksaal erklingen zu hören. Sie war seinen Einladungen stets ausgewichen und hatte sein Haus, welches der Herrin entbehrte, niemals betreten. Andere Damen, auch einzeln dastehende, gleich ihr, waren darin minder bedenklich gewesen, ja es gab unter ihren nächsten Bekannten manche, die eine solche Zurückhaltung ungerechtfertigt erklärten. Beneideten ihr doch viele die Huldigung des glänzenden Mannes, und eigentlich zweifelte man nicht, daß sie Bornhofen ihre Hand reichen werde. Denn wie wäre ein solcher Glücksfall auszuschlagen gewesen? War Bornhofen nicht mehr jung, so hatte er, nach der Ansicht der Welt, alles, was einem Werber, noch dazu einem mittellosen Frauenzimmer gegenüber, die Jugend reichlich ersetzt. Eines Abends hatte Elfriede in einem Familienkreise auch wieder Anspielungen dieser Art vernehmen müssen. Mißmutig kehrte sie in ihr kleines Heimwesen zurück und saß noch spät, sinnend und grübelnd, bei der einsamen Lampe. Plötzlich öffnete sie eine Schublade und zog unter ihren Skizzenbüchern eins hervor. Eine Reihe von Bildnissen war darin gezeichnet, zwei Briefe und ein Gedicht kamen ihr in die Hände, und die glücklichen Tage des Waldlebens standen vor ihrer Erinnerung. Sie blätterte in dem Buche und meinte, das Porträt Chlodwigs müsse auch kommen. Es tat ihr jetzt leid, seine Züge damals nicht festgehalten zu haben. Aber sie erinnerte sich bei manchem Blatte, das sie in seiner Gesellschaft gezeichnet hatte, lebhaft der Gespräche, die sie zusammen geführt, und wie sie ein immer größeres Vertrauen zueinander gefaßt hatten. Da fiel ihr der letzte Abend ein, jener lebendige Sommernachtstraum, den sie gemeinsam durchwandert, und schnell holte sie auch das Buch mit den Naturstudien herbei, um jedes Angedenken an jene Gegend wieder in sich aufzufrischen. Es war nicht das erste Mal, daß sie diese Bilder wieder an sich vorübergehen ließ, aber über ein Jahr mochte vergangen sein, seit sie das alles beiseite gelegt, um es nicht wieder zu betrachten. Heute aber versenkte sie sich tiefer hinein. Wo mochte Chlodwig jetzt verweilen? fragte sie im stillen; wie mochte er sein Geschick ertragen haben? Was mochte aus ihm geworden sein? Gern hätte sie einmal Nachricht über ihn empfangen. Aber freilich hatte sie weder seinen ersten, noch seinen ausführlicheren zweiten Brief entgegnet, und so war er wohl der Mitteilung müde geworden? Seufzend legte sie die alten Erinnerungszeichen wieder zusammen, und schalt sich, daß ihr noch eine Stimmung daraus hervortauchte, welche sie doch verbannt wissen wollte. Inzwischen hatte Herr Bornhofen sich eine List ausgesonnen, durch die er die Widerstrebende dennoch gewinnen wollte, in seinem Hause zu singen. Er hörte von einem jungen Musiker, der sich bisher vergeblich bestrebt hatte, eine Kantate eigener Komposition zur Aufführung zu bringen, dem aber zugleich Elfriede bereits das Versprechen gegeben, für alle Fälle die Hauptstimme in seinem Werke zu übernehmen. Mit diesem verständigte er sich insgeheim, gab ihm die nötigen Mittel und hieß ihn alles vorbereiten, auch immerhin auf ein bestimmtes Lokal für die Aufführung hindeuten. Im letzten Moment sollte dann über dieses Lokal eine Verlegenheit entstehen. Als Helfer in der Not wollte dann Herr Bornhofen eintreten und den Künstlern seine eigenen Räume anbieten. Das letzte sollte jedoch noch verschwiegen bleiben. Der kluge Mann wußte das alles so harmlos einzukleiden, daß es mehr aussah, als wolle er nicht als öffentlicher Protektor des jungen Künstlers auftreten, um ihm größere Freiheit zu lassen. Der Komponist, nicht ahnend, was sich dahinter verbarg, war ganz Freude und Dankbarkeit, und eilte zu Elfrieden, um sie an ihr Versprechen zu mahnen. Es war ihr nicht lieb, ja sogar unangenehm, zumal an eine öffentliche Vorführung des Werkes gedacht wurde. Vor ein paar Jahren schien der junge Musiker ein sehr aufstrebendes Talent, inzwischen aber hatte sich Elfriede und andere auch überzeugt, daß seine Arbeit ein recht untergeordnetes Werk geworden, mit dem wenig Ehre einzulegen war. Sie konnte ihm nur versprechen, den auf sie fallenden Teil noch einmal anzusehen, womit er alles gewonnen zu haben glaubte. Wirklich wurde bald geübt und vorbereitet, der für den Dirigenten ersehnte Tag rückte näher, obgleich die Beteiligten immer verlegener wurden, und im Tenor und Baß sich bereits ein bedenklicher Humor ans Licht wagte. Mißmutig über diese Vorgänge, beschloß Elfriede eines Morgens, um sich zu zerstreuen und reinere Eindrücke zu suchen, einen Gang in die öffentliche Kunstausstellung zu tun. Es war noch früh, man hatte die Säle eben erst geöffnet, nur wenige Besucher ließen sich darin sehen. Sie schritt langsam dahin, ab und zu stehen bleibend, betrachtend und genießend. Es war ihr nicht entgangen, daß zwei junge Männer ihr folgten, bald in gemessener Entfernung, bald sich wieder näher wagend. Sie achtete nicht darauf und ging weiter. Plötzlich aber hörte sie Tritte hinter sich und schon sagte eine Stimme neben ihr: »Mein gnädiges Fräulein! Elfriede –!«

Erschreckt wendete sie sich um, aber sie hätte aufjauchzen mögen vor Überraschung, denn vor ihr stand Chlodwig. Er war es, obgleich kaum noch derselbe von Aussehen. Sein Gesicht zeigte die frischeste Farbe der Gesundheit, seine Gestalt war kräftiger entwickelt, sein Auge glänzte von geistigem Leben, und in diesem Augenblick von innerster Freude. »Kennen Sie mich wirklich nicht mehr, mein Fräulein!« fuhr er fort, die ihn sprachlos Anstarrende mit Entzücken betrachtend. »Ich selbst habe den Augenblick des Wiedersehens so sehnlich erwartet! Sind Sie nicht mehr Elfriede –?«

»Ja! ja, ich bin es noch!« rief sie, ihm die Hand zum Willkommen reichend.

»Oh, wie beglückt es mich, Sie gefunden zu haben!« fuhr er fort. »Ich erkannte Sie schon auf der Straße, sah Sie hier eintreten, und zwang meinen Freund –«. Er wendete sich nach seinem Begleiter um, der sich bescheiden zurückgezogen hatte.

»Was führt Sie nach der Hauptstadt?« fragte Elfriede, ihn mit Genugtuung betrachtend.

»Das Lästigste, was sich denken läßt, ein Prozeß! Das einzige, was mein unglücklicher Vater mir hinterlassen konnte. Nun, Gott sei Dank, auch diese Last drückt nicht mehr, denn der Prozeß ist verloren. Seit gestern, da die Sache zum Austrug kam, fühle ich mich ordentlich erleichtert – obgleich ich auch noch die Prozeßkosten zahlen mußte.«

»Und was treiben Sie jetzt? Hat sich Ihre Fabrik erhalten?«

»Nichts davon, gar nichts! Ich fabriziere Gott sei Dank! nichts mehr – nur noch zuweilen Verse! Sie wissen vielleicht noch? Alles in allem, aber bin ich – Schulmeister!«

»Schulmeister?« rief Elfriede lachend. »Wie sind Sie dazu gelangt? Sehen Sie doch eher aus wie ein übermütiger Student!«

»Nun, der Übermut kommt denn zuzeiten wieder, wenn er mir auch seit jener Stunde, da ich mich von Ihnen verabschieden mußte, eine Zeitlang gründlich vergehen mußte. Ich mag davon nicht reden! Aber trotz allem, was zu überwinden war, hat es das Geschick doch wohl gut mit mir gemeint, daß es mich aufrüttelte und mich zur Selbständigkeit wachrief. Kurz, ich war, was man so nennt, an den Bettelstab geraten. Dornberg half mir auf, er ermutigte mich zu einer Prüfung, die ich bestand – ja, denken Sie, bestand! Und da er Direktor seines Gymnasiums geworden, trat ich an demselben als Lehrer ein, und so bin ich Schulmeister geworden. Ach, gnädiges Fräulein, es gibt auch für arme Schulmeister glückselige Augenblicke! Und solch ein Augenblick ist dieser, da ich Sie wieder ansehen darf!«

Elfriede fühlte sich durch seinen Blick so im Innersten getroffen, daß sie sich abwenden mußte.

»Und darf ich denn nun auch Sie fragen,« fuhr er fort, »wie es Ihnen ergangen ist? Wie Sie leben?«

»Ähnlich wie Sie!« entgegnete sie heiter. »Auch ich habe mich der Schulmeisterei zugewendet. Ich bin Gesanglehrerin.«

»Was? Sie? Gesanglehrerin?«

»Ist das etwas sehr Schlimmes?« fragte sie lächelnd.

»Als Malerin hatte ich mir Sie gedacht! Haben Sie Ihre Kunststudien aufgegeben?«

»O gewiß nicht! Sie sind noch in vollem Gange, aber sie wollen Zeit haben. Da ich nun in meinem äußeren Dasein auf mich selbst angewiesen war, und es mit dem Porträtmalen nicht so schnell ging, als mein Geldbeutel verlangte, so mußte ich vorerst dasjenige auszubeuten suchen, was ich schon konnte, nämlich Singen. Unterrichtsstunden boten sich bald mehr, als ich brauchen konnte. Ich gebe nur so viele, als sich mit meinen Malerstudien vereinigen lassen. Nicht wahr, es ist ein schönes Bewußtsein, alles der eigenen Arbeit zu verdanken?«

»Ja, mein teures Fräulein! Und ich bin eigentlich erst froh geworden, habe zu leben erst angefangen, seit mir dieses Bewußtsein gekommen ist. Das Beste aber verdanke ich Ihnen, Ihrer Anregung, unseren Gesprächen in jenen glücklichen Tagen des Waldlebens. Soll diese Zeit für uns ganz und gar vergangen sein? Jetzt erst weiß ich, wieviel ich Ihnen noch zu sagen hätte!«

»Drei Jahre ist es her –« sagte Elfriede, um doch etwas zu sagen.

»Drei Jahre und vier Monate!« verbesserte er. »Am Morgen des Johannistages mußte ich von Ihnen Abschied nehmen, und jetzt sind wir in der zweiten Hälfte des Oktober!«

»Geben Sie in der Schule auch Rechenstunden?« fragte sie neckend.

»Nein, aber die Stunden, die Jahre meiner Erinnerung, meiner Sehnsucht nach einem Wiedersehen, habe ich genau zu berechnen gewußt! Mein teures Fräulein, ich muß leider heut' zu Nacht schon wieder abreisen! Noch nicht in meine Berufstätigkeit, sondern zu einem anderen gerichtlichen Termin –.«

Ein fröhliches Lachen wurde im Nebensaale vernommen, wo eine Gruppe von Herren und Damen im lebhaften Gespräch beisammen standen.

»Der auch hier?« unterbrach sich Chlodwig mit dem Ausdruck des Grolls und der Verachtung. »Muß mir der nichtswürdige Gauner noch einmal unter die Augen treten?«

»Wen bezeichnen Sie mit diesem Ehrentitel?« fragte Elfriede erstaunt.

»Wen anders als jenen Bankier Bornhofen! Er war mein Gegner vor Gericht, derselbe, dem ich unterlegen bin. Den Prozeß hat er gewonnen, aber wer sonst die Sache kennt, ja selbst einer der Richter hat mir vertraut, die gute Meinung und das Rechtsgefühl wären nicht auf seiner Seite. Er ist es, der meinen unglücklichen Vater zugrunde gerichtet hat. Mit ein wenig Nachsicht, Rücksicht, geschäftlichem Anstand hätte er ihn vor dem Fall bewahren können, aber – ach, warum rede ich von solchen Dingen, da mir doch die Gelegenheit geworden ist, mit Ihnen zu sprechen!«

Elfriede hatte mit stiller Erbitterung diesen Anklagen zugehört, die ihr den, wenn auch unerklärten Widerwillen gegen den Mann nur bestätigten. Jetzt aber sah sie, daß ihre Unterhaltung mit Chlodwig nicht nur gestört werden sollte, sie empfand es auch schmerzlich, daß ihre Bekanntschaft mit Bornhofen dem Freunde einen üblen Eindruck hervorrufen mußte.

Man hatte sie entdeckt. Damen und Herren kamen auf sie zu, begrüßten sie, hatten ihr viel zu sagen, und mit der Miene eines Siegers näherte sich ihr Herr Bornhofen.

Chlodwig, der sich die Geliebte plötzlich ganz entrückt sah, blickte befremdet und erschreckt auf das Gewühl. Sein Freund befand sich wieder an seiner Seite. »Es handelt sich um ein Konzert,« erklärte er. »Ich singe selbst im Baß mit. Der Komponist ist in plötzliche Verlegenheit wegen des Lokals geraten, und Bankier Bornhofen hat sein Haus zur Disposition gestellt. Selbstverständlich ist die Mehrzahl der Mitwirkenden entzückt darüber, da sich ohne Zweifel eine brillante Gesellschaft daran schließen wird. Die Dame, mit welcher Sie sich unterhalten haben, ist unsere Solistin, und wird die Hauptstimme übernehmen.«

»In Bornhofens Hause?« rief Chlodwig im Innersten erschreckt.

»Nun ja doch! Er wirbt sehr stark um sie. Man sagt, sie sei eigentlich schon verlobt mit ihm. Ist es noch nicht der Fall, so wird es nicht mehr lange dauern bis dahin.«

Durch Chlodwigs Gemüt ging ein Schauder. Das war in diesem Augenblick mehr als ein Todesstoß für seine Hoffnung! Für eine Hoffnung, die er im stillen gehegt, die er unterdrücken zu müssen geglaubt, die plötzlich bei Elfriedens Anblick wieder aufgetaucht war, um ihm mit Erfüllung zu schmeicheln, ihn über sich selbst zu erheben. Nun fühlte er sich wie vernichtet und fürchtete, dem Freunde schwer seine Erschütterung verbergen zu können. Der aber, als ein Beteiligter an dem musikalischen Ereignis, hatte sich der aufgeregten Gruppe auf eine Weile angeschlossen, so daß Chlodwig in einer Seitengalerie sich etwas sammeln konnte. Er hatte übel von dem Manne gesprochen, der Elfrieden so nahe stand, er mußte um Entschuldigung bitten, sagte er sich. Wenn Elfriede gar nichts für ihn selbst empfand, als etwa ein wenig auf die Erinnerung gebautes Wohlwollen, so wollte er sich von dem Vorwurf befreien, absichtlich den Ankläger des Mannes gespielt zu haben, den sie gewählt hatte. Und plötzlich stand es ihm deutlich vor Augen, wie wenig er einer so talentvoll und bedeutend angelegten Natur in seinem unscheinbaren Dasein zu bieten habe! Sie gehörte auf einen großen Schauplatz des Lebens. Sie hatte niemals eine Hoffnung in ihm aufgemuntert, sie hatte nichts an ihm verbrochen. Was in ihm selbst auch darüber zugrunde gehen mochte, äußerlich mußte er sich als Mann fassen und noch einmal ein Gespräch mit ihr suchen. Aber das war in diesen Sälen schwierig. Denn die Gefeierte blieb der Mittelpunkt, um den sich immer wieder ein neuer Kreis drehte. Chlodwig sah Elfriede den Saal verlassen und mit einigen Damen in einen Wagen steigen, der sie seinen Blicken entführte. Er muß seinem Schicksal fürs erste überlassen bleiben, da die Geschichte sich um Elfriede zu kümmern hat.

Als sie endlich in ihrem Stübchen angelangt war, sank sie erschöpft in das Sofa, denn sie hatte ein langes Drängen und Bestürmen aushalten müssen. Und das nach einem Augenblick, da sie den Freund wiedergesehen, bei dessen Anblick, bei dessen Stimme plötzlich in ihr aufgelodert war, was bis dahin nur wie verstohlene Funken in ihr geglimmt hatte. Das Anerbieten Bornhofens erschien ihr, obgleich sie keinen Einblick in den Zusammenhang hatte, wie eine geplante Absicht. Wie hätte sie in dem Hause des Mannes singen, wie dasselbe nur betreten mögen, des Mannes, welchen der Freund so tief zu verabscheuen Grund hatte? Niederschlagend war es für sie zugleich, daß Chlodwig sie in seiner Gesellschaft, daß er seine Zuvorkommenheit gegen sie gesehen, daß er von den Gerüchten, welche, wie sie wohl wußte, über sie und Bornhofen umherschwirrten, erfahren und ihnen Glauben schenken könne. Gar zu gern hätte sie Chlodwig noch einmal gesprochen. Aber wie sollte sie in der ungeheuren Stadt dazu gelangen? Und abends schon wollte er abreisen! – Vor allem doch, er mochte davon erfahren oder nicht, die Genugtuung wollte sie ihm und sich selbst geben, den Plan Bornhofens zu vereiteln. Sie schrieb sofort einige Zeilen an den Komponisten mit der Erklärung, daß sie in seiner Kantate nicht mitwirken werde. Das, sagte sie sich, war kein Verbrechen, denn es wurde kein gutes Werk dadurch zerstört, und ein Ersatz für sie war bis übermorgen wohl auch noch zu finden. Aber dachte sie dann an die neuen Bestürmungen, da sie täglich mit so vielen Menschen zusammenkam, so ergriff sie in ihrer jetzigen Gemütslage ein solcher Ekel vor dem Gesellschaftstreiben, daß sie in einer schleunigen Flucht die einzige Erlösung sah. Sie überzählte ihre Barschaft. Dieselbe erschien ihr ausreichend zu einer kleinen Reise. Als Ziel wählte sie das Häuschen der alten Hellers. Vielleicht durfte sie dort die innere Ruhe finden, an Chlodwig einige Zeilen der Rechtfertigung zu schreiben. Schnell packte sie das Nötigste zusammen, immer in Furcht, durch irgend jemand in der Flucht gehindert zu werden, und gelangte abends, innerlich erschöpft, auf den Bahnhof.

In sommerlicher Regenzeit hatte sie eine Gegend verlassen, von der sie erst jetzt wußte, wie teuer sie ihr geworden war; unter strömenden Herbstgüssen, fröstelnd in der schlechten Fahrgelegenheit, die sie vom Haltepunkte der Bahn nach dem Städtchen brachte, langte sie wieder an. Das Mütterchen begrüßte sie zwar freundlich, aber doch nicht so wie das erste Mal, denn es hatte selbst den Kopf und das Herz voll von allerlei Trübsal. Da war die Nachricht gekommen, daß ihre Schwiegertochter gestorben und der Sohn mit den Enkeln ihrer Gegenwart recht bedürftig wären! Aber sie konnte ja nicht fort, denn der alte Herr war bettlägerig und fühlte sich sehr schwach. Und dazu hatte sie zu klagen über schlechte Dienstboten – ach, sie wurden mit jedem Jahre schlechter und unzuverlässiger! Und es wurde überhaupt immer miserabler auf der Welt! Elfriede betrat ihr früheres Stübchen, in welches der Kutscher den Koffer gesetzt hatte. Es war nicht gelüftet, die Vorhänge fehlten, überzähliger Hausrat stand ohne Sorgfalt oder Ordnung umher. Sie konnte sich kaum entschließen, Hut und Mantel abzulegen, sank auf einen Stuhl nieder und mußte es über sich ergehen lassen, daß Tränen, bitter und reichlich, ihren Augen entströmten. – Wer unerwartet ankommt, mit dem Gefühl, auch sehr unbequem anzukommen, kann den Wunsch nicht unterdrücken, so schnell als möglich wieder abzureisen. Da das nicht tunlich war, blickte Elfriede reuig und ratlos in das trübe Wetter hinaus, sah den Hühnern zu, die sich prüfend über den Schmutz der Straße versuchten, oder den wenigen Gestalten, welche, durch Geschäft und Beruf gezwungen, unter Tüchern und Schirmen von Haus zu Haus eilten. Es war noch früh am Tage, und nach durchfröstelter Nacht sehnte sie sich nach etwas Erwärmendem zur Erquickung. So ging sie zur Küche, um sich selbst zu helfen, oder die Hausfrau zu unterstützen.

Als nachmittags der Regen aufgehört hatte, rüstete sie sich zu einem Ausgange, um alte Lieblingsplätze aufzusuchen. Aber je näher sie der bekannten Waldgrenze kam, deuchte ihr die Gegend verändert. Sie betrat die Stätte des Waldes, aber nicht mehr den Wald selbst. Zwischen dem Unterholz und Gestrüpp sahen nur noch die Strünke der Stämme hervor. Die ganze Bergseite nach der Talschlucht zu stand kahl, der Wald war niedergeschlagen, das Holz hin und wieder noch aufgeschichtet, verdorrtes Gezweig lag wüst über den Boden gestreut. Elfriede ging zaudernd durch diese Verwüstung. Der Platz am Felsen, wo sie den Freund zuerst gesehen, lag öde da, auch die alte breitästige Buche war nicht mehr am Platze. So muß denn wirklich alles Schöne zugrunde gehen? rief es in ihrem Herzen. Müssen wir die Stätte unseres stillen Glücks so schnell zerstört sehen? Soll, was wir rein und tief erlebten, für alle Zeit verloren sein? Knüpfen sich die holdesten Bande des Lebens nur, um schmerzlich wieder zerrissen zu werden? An eine Holzschicht gelehnt, stand sie und blickte über das Trümmerfeld. Tränen füllten ihre Augen noch einmal. Denn jetzt erst fühlte sie, daß sie Chlodwig liebte, mit ganzer Kraft ihrer Seele. Das Wiedersehen hatte darüber entschieden. Und nun, in dieser trübseligen bangen Stimmung, erschien ihr auch ihre Liebe hoffnungslos. Sie glaubte sich von ihm mißachtet, für immer verworfen! – Langsam, fast unwillkürlich nahm sie den Weg zum Dorfe hinunter. Ein Wagen mit Feldfrüchten fuhr langsam dahin, das Gespann wurde geführt von einem nebenher schreitenden jungen Knechte. Seine Züge kamen ihr bekannt vor, auch er stutzte, und zog mit blödem Lächeln die Mütze, ohne seinen Weg aufzuhalten. »Girgl, bist du's denn wirklich?« rief sie. Er nickte verlegen. Aus dem allerliebsten Geißbübchen war ein halbwüchsiger, aber schon recht langbeiniger und reizloser Bursche geworden. Er stand als Knecht bei einem Bauern in Dienst. Verlegen brachte er jetzt nur einige Antworten über die Lippen. Doch erfuhr Elfriede, daß die alte Trude gestorben sei, aber noch eine Genugtuung erlebt habe. Denn der brave Gabriel Neuntöter war eingesteckt worden, und vermutlich lebenslänglich, weil er, nach dem Ausspruche Girgls, »Geschichten gemacht« hatte.

Der Regen begann von neuem, und Elfriede wendete sich nach Hause. Sie setzte sich an das Lager des Kranken, suchte in sich selbst nach Dingen, die ihn durch Gespräch erheitern sollten. Aber die alte Frau war auch von der Gesellschaft, und für sie schien jede Ablenkung unmöglich. Klagen, trostlose Schilderungen, Schlechtigkeiten ringsumher! Als die Rede auf den gefällten Wald kam, berichtete sie, daß der Besitzer desselben nun auch gestorben, und der heillosen Wirtschaft in seinem Hause damit ein Ziel gesteckt sei. Elfriede horchte plötzlich auf. Der Verstorbene war Chlodwigs Oheim. Frau Heller hatte bei dem früheren Besuche sich gehütet, über den alten Gutsbesitzer etwas mitzuteilen, da sie den Neffen desselben mit Elfrieden im Verkehr sah. Jetzt aber war ihr die Zunge gelöst, und sie erzählte von der Spielhölle, die er im Hause unterhalten, von den Gelagen mit seinen Kumpanen, und wie er all sein Hab und Gut so gotteslästerlich durchgebracht habe, daß für die Erben nichts und gar nichts übrig geblieben sei.

Wenn Elfriede aus der Hauptstadt mit dem Plan abgereist war, in der Einsamkeit an Chlodwig zu schreiben, sich vor ihm zu rechtfertigen, so fühlte sie jetzt die Unmöglichkeit eines solchen Versuches. Zwar in Gedanken schrieb sie diesen Brief immerfort, aber jede Fassung verwarf sie wieder. Es erschien ihr wie Zudringlichkeit, was immer sie ihm auch sagen mochte; es warnte sie eine ernste Stimme vor dem ersten Schritte der Annäherung. Und doch hätte sie vergehen mögen vor innerem Weh. Sie, die immer stark und mit Ausdauer auch harte Lebenslagen überwunden hatte, fühlte sich zum erstenmal im Innersten schwach, und diese Erkenntnis bedrängte sie nur noch empfindlicher. So vergingen mehrere Tage, freudlos, öde, nicht minder aufreibend, als wenn sie dieselben im Treiben der Hauptstadt hätte durchleben müssen. Sie beschloß auch zurückzukehren, sie wollte wieder gefaßt sein und im Strome der großen Welt den Schmerz über ihre zerstörte innere Welt überwinden.

Noch einmal ging sie auf dem Feldwege, jetzt zwischen den kahlen Stoppelfeldern, unter grau bedecktem Himmel, der Waldstätte entgegen. Da tauchte aus dem hohen Gestrüpp eine Gestalt vor ihr auf, und, wie aus der Erde gewachsen, stand Chlodwig vor ihr. Sie erschrak über die unerwartete Erscheinung, und ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen. Er aber schritt mit ernstem Gruße auf sie zu und schien sich über die Begegnung nicht zu wundern.

»Sie sind zu dem alten Platze zurückgekommen, gnädiges Fräulein, und ich auch!« begann er ruhig. »Wir wußten beide nicht, wie wir diese Gegend wiederfinden würden, wiewohl ich sie mir nach den empfangenen Forstberichten einigermaßen verändert vorstellen konnte.«

Elfriede hatte sich bezwungen. »Alles zerstört!« sagte sie. »Die schönen Bäume!«

»Baume und Wald wachsen aufs neue,« entgegnete er, »und ähnliche Täler und Berge, ja schönere, gibt es überall. Wir, die wir los und ledig durch die Welt gehen, haben wenigstens den Vorteil, uns nach Gefallen Bäume und Schatten suchen zu können.«

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Dann begann er: »Ein alter Bekannter von uns, Girgl genannt, sagte mir, daß er Sie wieder in der Gegend gesehen habe, und so wollte ich nachforschen, ob er wahr gesprochen. Sie fragen vielleicht, was mich hergeführt? Mein Oheim ist gestorben und hat mich wirklich zum lachenden Erben der fünf Tanten gemacht.«

Aber es war für beide nicht die Stimmung zum Scherzen da. Bald darauf hub er wieder an: »Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein, wenn ich mich in Dinge mische, die – mich nichts angehen! Ich wurde einen Tag länger, als ich Ihnen angegeben, in der Hauptstadt, zurückgehalten. Einige Stunden benutzte ich, um Sie aufzusuchen, denn ich fühlte die Notwendigkeit, mich zu entschuldigen, gewisser Äußerungen wegen, die ich über jemand getan. Ich fand Ihre Wohnung verschlossen und empfing die Nachricht Ihrer plötzlichen Abreise.«

»Ich bitte Sie, diese Entschuldigungen ganz zu übergehen!« sagte Elfriede. »Eher war ich Ihnen eine Rechtfertigung schuldig. Meine plötzliche Abreise war der Anfang dazu.«

Er sah sie überrascht an. »Diese Abreise soll doch wohl nicht im Zusammenhang stehen mit meinen Äußerungen?«

Elfriede nahm ihre Kraft zusammen. »Sie scheinen Freunde in der Hauptstadt zu haben,« sagte sie. »Vielleicht wurde von denselben auch über mich gesprochen! Was sagten sie?«

»Gnädiges Fräulein – nun wohl! Ein Bekannter von mir, der in einer Musikaufführung mitwirken sollte, darin man auch auf Sie gerechnet hatte, teilte mir in der letzten Stunde unseres Beisammenseins mit, daß Sie Ihre Beteiligung plötzlich aufgegeben hätten. Es entstand Verwirrung und Aufsehen, zumal man sich – bei der Lage der Dinge – Ihren Rücktritt nicht erklären konnte.«

»Und was verstand man unter dieser – Lage der Dinge? Reden Sie ganz ohne Zurückhaltung!«

»Man sagte, daß – Herr Bornhofen die Aussicht habe, Ihre Neigung zu gewinnen, daß er sein Haus –«

»Das Gerücht lügt!« unterbrach ihn Elfriede mit Heftigkeit. »Der Mann ist mir niemals auch nur von der geringsten Bedeutung gewesen, und ich glaube dies durch mein Betragen ihm und den Leuten gezeigt zu haben! Sein Haus wollte ich nicht betreten. Um mich dazu zu zwingen, wußte er jene musikalische Aufführung schließlich in seine Räume zu locken – ich bin überzeugt, daß es ein abgekarteter Plan war! Auch ohne Ihre Aufklärung würde ich seine Schwelle nicht überschritten haben. Was Sie mir aber mitteilten, bestätigte nur meinen geheimen Widerwillen und bewog mich zu einem Schritte, der die Überklugen auch über meine Gesinnung ein wenig aufklären soll!«

Chlodwig hatte mit beglückender Überraschung und in tiefster Seele aufatmend zugehört, aber zu erwidern vermochte er im ersten Augenblicke nichts. Auch Elfriede schwieg, und so schritten beide wortlos eine Weile nebeneinander hin. Sie hätten einander so viel zu sagen gehabt, das Herz hätte ihnen überquellen mögen, aber es erschien so unsagbar schwierig auszusprechen, was denn doch nicht länger zu verhehlen war. Das letzte fühlte Chlodwig von Sekunde zu Sekunde mehr, und plötzlich blieb er stehen und die Worte rangen sich von seinen Lippen: »Elfriede! Lassen Sie mich alles auf einmal sagen!«

Sie schrak zusammen und ihr Herz pochte lebhafter. »Auf diesem Boden wanderten wir einst als Freunde, harmlos, fast wie beglückte Kinder!« so fuhr er fort. »Meine Freundschaft hat sich befestigt, vertieft – ich liebe Sie! Liebe Sie mit jedem Herzensschlage, mit jeder Regung meiner Seele, mit jedem Gedanken! Ich habe die Kühnheit, Sie vom Geschick für mein Dasein zu verlangen! Elfriede – entscheiden Sie über mein Geschick!«

Sie sah ihn an mit Augen, die sich feuchteten vor unendlichem Glücksgefühl, aber ihr schienen Worte noch zu fehlen. Endlich rief sie: »Ach! ich hätte Ihnen selbst längst das gleiche sagen mögen!«

Nun aber brach das Entzücken des jungen Mannes in lauten Jubel aus, und indem er die Geliebte mit kräftigem Arm umschloß, schienen alle seine Lebensgeister zu noch unbekannter Freudigkeit erwacht. Lag auch der Himmel grau und herbstlich über den Glücklichen, war auch der Wald niedergehauen, der Weg rauh und uneben, sie vermißten nicht die alte Wipfelpracht, noch die verschwundene Sommersonne. »O du einzig Geliebte!« rief Chlodwig. »Du sollst, wenn du mein bescheidenes Leben teilen willst, doch nicht in die Wüste mit mir! Kunst und auch eine geistige Welt haben auch wir in unserer kleinen Residenz; ein schönes Museum, ein gutes Schauspiel, Anregung und frohes Streben, und auch ein Stückchen von großer Welt, auf die du nicht zu verzichten brauchst.«

»Hier soll meine Welt sein!« rief sie, indem sie ihn umschlang. »Hier allein! Die große Welt, in der ich aufgewachsen, gilt mir nichts mehr, wenn ich in dieser ewig daheim bleibe!«

»Und denke nur nicht, daß du einen bloßen Bettelmann zum Liebsten hast!« fuhr er im hin und her eilenden Gespräche fröhlich fort.« Bin ich doch sogar ein Erbe. Zwar von diesem Grund und Boden und drüben von dem Hause meines Ohms gehört mir nichts mehr. Das hat alles verkauft werden müssen, um die Schulden der alten munteren Graubärte zu decken, die hier so löblich gewirtschaftet haben. Aber mir sind noch die Abbilder der fünf Tanten geblieben – ja sogar, zu meiner höchsten Überraschung, noch etwas – von den Hunderttausenden doch ein paar allerliebste kleine Tausend! Für einen armen Schulmeister ein unerhörtes Kapital! Ach Liebste! daß Besitz auch glücklich machen kann, fühle ich erst in dieser Stunde!«

»Er reicht doch nicht an das, was wir innerlich schon besaßen!« entgegnete Elfriede. »Beide haben wir schon Ernstes und Hartes im Leben erfahren, aber unsere Kraft daran bewährt. Als wir uns fanden, warst du der jüngere, wiewohl wir gleichen Alters sind. Nun aber sollst du mir der ältere sein, denn du weißt zu handeln, weißt dich zu bescheiden, und hast die hellen Augen des Lebensmutigen, die ich über mir weiß, und in die ich schaue, um mein Glück und Heil darin zu finden!«

Arm in Arm schritten sie auf dem Wege dahin, der jetzt nur noch mit Gestrüpp und aufgeschichtetem Holz eingefaßt war. Und dennoch fanden sie ihn schön, und die Stunde schöner als alle vergangenen aus den ersten Tagen ihres Waldlebens.


 << zurück