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Das Lied von der Gerechtigkeit

Als ich das nächste Mal an Ewalds Fenster vorüberkam, winkte er mir und lächelte: »Haben Sie den Kindern etwas Bestimmtes versprochen?« »Wieso?« staunte ich. »Nun, als ich ihnen die Geschichte von Jegor erzählt hatte, beklagten sie sich, daß Gott in derselben nicht vorkäme.« Ich erschrak: »Was, eine Geschichte ohne Gott, aber wie ist denn das möglich?« Dann besann ich mich: »In der Tat, es ist wahr, von Gott sagt die Geschichte, wie ich sie mir jetzt überdenke, nichts. Ich begreife nicht, wie das geschehen konnte; hätte jemand von mir eine solche verlangt, ich glaube, ich hätte mein ganzes Leben nachgedacht, ohne Erfolg ...«

Mein Freund lächelte über diesen Eifer: »Sie müssen sich deshalb nicht erregen,« unterbrach er mich mit einer gewissen Güte, »ich denke mir, man kann ja nie wissen, ob Gott in einer Geschichte ist, ehe man sie auch ganz beendet hat. Denn wenn auch nur noch zwei Worte fehlen sollten, ja selbst, wenn nur noch die Pause hinter dem letzten Worte der Erzählung aussteht: Er kann immer noch kommen.« Ich nickte, und der Lahme sagte in anderem Ton: »Wissen Sie nicht noch etwas von diesen russischen Sängern?«

Ich zögerte: »Ja, wollen wir nicht lieber von Gott reden, Ewald?« Er schüttelte den Kopf: »Ich wünsche mir so, mehr von diesen eigentümlichen Männern zu vernehmen. Ich weiß nicht, wie es kommt, ich denke mir immer, wenn so einer hier bei mir einträte –« und er wandte den Kopf ins Zimmer nach der Türe zu. Aber seine Augen kehrten schnell und nicht ohne Verlegenheit zu mir zurück – »Doch das ist ja wohl nicht möglich«, verbesserte er eilig. »Warum sollte das nicht möglich sein, Ewald? Ihnen kann manches begegnen, was den Menschen, die ihre Beine brauchen können, verwehrt bleibt, weil sie an so vielem vorübergehen und vor so manchem davonlaufen. Gott hat Sie, Ewald, dazu bestimmt, ein ruhiger Punkt zu sein mitten in aller Hast. Fühlen Sie nicht, wie alles sich um Sie bewegt? Die anderen jagen den Tagen nach, und wenn sie mal einen erreicht haben, sind sie so atemlos, daß sie gar nicht mit ihm sprechen können. Sie aber, mein Freund, sitzen einfach an Ihrem Fenster und warten; und den Wartenden geschieht immer etwas. Sie haben ein ganz besonderes Los. Denken Sie, sogar die Iberische Madonna in Moskau muß aus ihrem Kapellchen heraus und fährt in einem schwarzen Wagen mit vier Pferden zu denen, die irgend etwas feiern, sei es die Taufe oder den Tod. Zu Ihnen aber muß alles kommen –«

»Ja,« sagte Ewald mit einem fremden Lächeln, »ich kann sogar dem Tod nicht entgegengehen. Viele Menschen finden ihn unterwegs. Er scheut sich, ihre Häuser zu betreten, und ruft sie hinaus in die Fremde, in den Krieg, auf einen steilen Turm, auf eine schwankende Brücke, in eine Wildnis oder in den Wahnsinn. Die meisten holen ihn wenigstens draußen irgendwo ab und tragen ihn dann auf ihren Schultern nach Hause, ohne es zu merken. Denn der Tod ist träge; wenn die Menschen ihn nicht fortwährend stören würden, wer weiß, er schliefe vielleicht ein.« Der Kranke dachte eine Weile nach und fuhr dann mit einem gewissen Stolz fort: »Aber zu mir wird er kommen müssen, wenn er mich will. Hier in meine kleine helle Stube, in der die Blumen sich so lange halten, über diesen alten Teppich, an diesem Schrank vorbei, zwischen Tisch und Bettende durch (es ist gar nicht leicht, vorüberzukommen) bis her an meinen breiten, lieben, alten Stuhl, der dann wahrscheinlich mit mir sterben wird, weil er sozusagen mit mir gelebt hat. Und er wird dies alles tun müssen in der üblichen Art, ohne Lärm, ohne etwas umzuwerfen, ohne etwas Ungewöhnliches zu beginnen, wie ein Besuch. Dieser Umstand bringt mir meine Stube merkwürdig nah. Es wird sich alles hier abspielen auf dieser engen Szene, und darum wird auch dieser letzte Vorgang sich nicht sehr von allen anderen Ereignissen unterscheiden, welche sich hier begeben haben und noch bevorstehen. Es hat mir immer schon als Kind seltsam geschienen, daß die Menschen vom Tode anders sprechen als von allen anderen Begebenheiten, und das nur deshalb, weil jeder von dem, was ihm nachher geschieht, nichts mehr verrät. Wodurch aber unterscheidet sich denn ein Toter von einem Menschen, welcher ernst wird, auf die Zeit verzichtet und sich einschließt, um über etwas ruhig nachzudenken, dessen Lösung ihn lange schon quält? Unter den Leuten kann man sich doch nicht einmal des Vaterunsers erinnern, wie denn erst irgendeines anderen dunkleren Zusammenhanges, der vielleicht nicht in Worten, sondern in Ereignissen besteht. Man muß abseits gehen in irgendeine unzugängliche Stille, und vielleicht sind die Toten solche, die sich zurückgezogen haben, um über das Leben nachzudenken.«

Es entstand eine kleine Schweigsamkeit, die ich mit folgenden Worten begrenzte: »Ich muß dabei an ein junges Mädchen denken. Man kann sagen, daß sie in den ersten siebzehn Jahren ihres heiteren Lebens nur geschaut hat. Ihre Augen waren so groß und so selbständig, daß sie alles, was sie empfingen, selbst verbrauchten, und das Leben in dem ganzen Körper des jungen Geschöpfes ging, unabhängig davon, von schlichten, inneren Geräuschen genährt, vor sich. Am Ende dieser Zeit aber störte irgendein zu heftiges Ereignis dieses doppelte, kaum sich berührende Leben, die Augen brachen gleichsam nach innen durch, und die ganze Schwere des Äußeren fiel durch sie in das dunkle Herz hinein, und jeder Tag stürzte mit solcher Wucht in die tiefen, steilen Blicke, daß er in der engen Brust zersprang wie ein Glas. Da wurde das junge Mädchen blaß, begann zu kränkeln, einsam zu werden, nachzudenken, und endlich suchte es selbst jene Stille auf, darin die Gedanken wahrscheinlich nicht mehr gestört werden.«

»Wie ist sie gestorben?« fragte mein Freund leise, mit etwas heiserer Stimme. »Sie ist ertrunken. In einem tiefen, stillen Teich, und an der Oberfläche desselben entstanden viele Ringe, die langsam weit wurden und unter den weißen Wasserrosen hin wuchsen, so daß alle diese badenden Blüten sich bewegten.«

»Ist das auch eine Geschichte?« sagte Ewald, um die Stille hinter meinen Worten nicht mächtig werden zu lassen. »Nein,« entgegnete ich, »das ist ein Gefühl.« »Aber könnte man es nicht auch den Kindern übermitteln – dieses Gefühl?« Ich überlegte. »Vielleicht–«. »Und wodurch?« »Durch eine andere Geschichte.« Und ich erzählte:

»Es war zur Zeit, als man im südlichen Rußland um die Freiheit kämpfte.«

»Verzeihen Sie,« sagte Ewald, »wie ist das zu verstehen – wollte sich das Volk etwa vom Zaren losmachen? Das würde nicht zu dem passen, was ich mir von Rußland denke, und auch mit Ihren früheren Erzählungen in Widerspruch stehen. In diesem Falle würde ich vorziehen, Ihre Geschichte nicht zu hören. Denn ich liebe das Bild, welches ich mir von den Dingen dort gemacht habe, und will es unbeschädigt behalten.«

Ich mußte lächeln und beruhigte ihn: »Die polnischen Pans (ich hätte das vorausschicken müssen) waren Herren im südlichen Rußland und in jenen stillen, einsamen Steppen, welche man mit dem Namen Ukraine bezeichnet. Sie waren harte Herren. Ihre Bedrückung und die Habgier der Juden, welche sogar den Kirchenschlüssel in Händen hatten, den sie nur gegen Bezahlung den Rechtgläubigen auslieferten, hatte das jugendliche Volk um Kiew herum und den ganzen Dnjepr aufwärts müde und nachdenklich gemacht. Die Stadt selbst, Kiew, das heilige, der Ort, wo Rußland zuerst mit vierhundert Kirchenkuppeln von sich erzählte, versank immer mehr in sich selbst und verzehrte sich in Bränden wie in plötzlichen, irren Gedanken, hinter denen die Nacht nur immer uferloser wird. Das Volk in der Steppe wußte nicht recht, was geschah. Aber von seltsamer Unruhe erfaßt, traten die Greise nachts aus den Hütten und betrachteten schweigend den hohen, ewig windlosen Himmel, und am Tage konnte man Gestalten auf dem Rücken der Kurgane auftauchen sehen, die sich wartend vor der flachen Ferne erhoben. Diese Kurgane sind Grabstätten vergangener Geschlechter, die die ganze Heide wie ein erstarrter, schlafender Wellenschlag durchziehen. Und in diesem Land, in welchem die Gräber die Berge sind, sind die Menschen die Abgründe. Tief, dunkel, schweigsam ist die Bevölkerung, und ihre Worte sind nur schwache, schwankende Brücken über ihrem wirklichen Sein. – Manchmal heben sich dunkle Vögel von den Kurganen. Manchmal stürzen wilde Lieder in die dämmernden Menschen hinein und verschwinden in ihnen tief, während die Vögel im Himmel verloren gehen. Nach allen Richtungen hin scheint alles grenzenlos. Die Häuser selbst können nicht beschützen vor dieser Unermeßlichkeit; ihre kleinen Fenster sind voll davon. Nur in den dunkelnden Ecken der Stuben stehen die alten Ikone, wie Meilensteine Gottes, und der Glanz von einem kleinen Licht geht durch ihre Rahmen, wie ein verirrtes Kind durch die Sternennacht. Diese Ikone sind der einzige Halt, das einzige zuverlässige Zeichen am Wege, und kein Haus kann ohne sie bestehen. Immer wieder werden welche notwendig; wenn eines zerbricht vor Alter und Wurm, wenn jemand heiratet und sich eine Hütte zimmert, oder wenn einer, wie zum Beispiel der alte Abraham, stirbt mit dem Wunsch, den heiligen Nikolaus, den Wundertäter, in den gefalteten Händen mitzunehmen, wahrscheinlich, um die Heiligen im Himmel mit diesem Bilde zu vergleichen und den besonders Verehrten vor allen anderen zu erkennen.

So kommt es, daß Peter Akimowitsch, eigentlich Schuster von Beruf, auch Ikone malt. Wenn er von der einen Arbeit müde ist, geht er, nachdem er sich dreimal bekreuzt hat, zu der anderen über, und über seinem Nähen und Hämmern wie über seinem Malen waltet die gleiche Frömmigkeit. Jetzt ist er schon ein alter Mann, aber doch ziemlich rüstig. Den Rücken, den er über die Stiefel biegt, richtet er vor den Bildern wieder gerade, und so hat er sich eine gute Haltung bewahrt und ein gewisses Gleichgewicht in den Schultern und im Kreuz. Den größten Teil seines Lebens hat er ganz allein verbracht, sich gar nicht hineinmischend in die Unruhe, die dadurch entstand, daß sein Weib Akulina ihm Kinder gebar und daß diese verstarben oder sich verheirateten. Erst in seinem siebzigsten Jahre hatte Peter sich mit denen in Verbindung gesetzt, die in seinem Hause verblieben waren und die er nun erst als wirklich vorhanden betrachtete. Das waren: Akulina, sein Weib, eine stille, demütige Person, die sich fast ganz in den Kindern fortgegeben hatte, eine alternde, häßliche Tochter und Aljoscha, ein Sohn, welcher, unverhältnismäßig spät geboren, erst siebzehn Jahre zählte. Diesen wollte Peter für die Malerei heranbilden; denn er sah ein, daß er bald nicht allen Bestellungen würde entsprechen können. Aber er gab den Unterricht bald auf. Aljoscha hatte die allerheiligste Jungfrau gemalt, aber das strenge und richtige Vorbild so wenig erreicht, daß sein Machwerk aussah wie ein Bild der Mariana, der Tochter des Kosaken Golokopytenko, also wie etwas durchaus Sündiges, und der alte Peter beeilte sich, nachdem er sich oft bekreuzt hatte, das beleidigte Brett mit einem heiligen Dmitrij zu übermalen, welchen er aus einem unbekannten Grunde über alle anderen Heiligen stellte.

Aljoscha versuchte auch nie mehr ein Bild zu beginnen. Wenn ihm der Vater nicht befahl, einen Nimbus zu vergolden, war er meistens draußen in der Steppe, kein Mensch wußte wo. Niemand hielt ihn zu Hause. Die Mutter wunderte sich über ihn und hatte eine Scheu, mit ihm zu reden, als ob er ein Fremder wäre oder ein Beamter. Die Schwester hatte ihn geschlagen, solang er ein Kind war, und jetzt, seit Aljoscha erwachsen war, begann sie ihn zu verachten, dafür, daß er sie nicht schlug. Aber auch im Dorfe war niemand, der sich um den Burschen kümmerte. Mariana, die Kosakentochter, hatte ihn ausgelacht, als er ihr erklärte, er wolle sie heiraten, und die anderen Mädchen hatte Aljoscha nicht danach gefragt, ob sie ihn als Bräutigam annehmen möchten. In die Ssetsch, zu den Zaporogern, hatte ihn keiner mitnehmen wollen, weil er allen zu schwächlich schien und vielleicht auch noch etwas zu jung. Einmal war er schon davongelaufen bis zum nächsten Kloster, aber die Mönche nahmen ihn nicht auf – und so blieb nur die Heide für ihn, die weite, wogende Heide. Ein Jäger hatte ihm einmal ein altes Gewehr geschenkt, das weiß Gott womit geladen war. Das schleppte Aljoscha immer mit, schoß es aber niemals ab, erstens, weil er den Schuß sparen wollte, und dann, weil er nicht wußte wofür. An einem lauen, stillen Abend, zu Anfang des Sommers, saßen alle beisammen an dem groben Tisch, auf welchem eine Schüssel mit Grütze stand. Peter aß, und die anderen schauten ihm zu und warteten auf das, was er übriglassen würde. Plötzlich ließ der Alte den Löffel in der Luft stehen und streckte den breiten welken Kopf in den Lichtstreifen, der von der Tür kam und quer über den Tisch in die Dämmerung lief. Alle horchten. Es war außen an den Wänden der Hütte ein Geräusch, wie wenn ein Nachtvogel mit seinen Flügeln sachte die Balken streifte; aber die Sonne war kaum untergegangen, und die nächtlichen Vögel kamen ja überhaupt selten bis ins Dorf. Und da war es wieder, als tappe irgendein anderes großes Tier ums Haus und als wäre von allen Wänden zugleich sein suchender Schritt vernehmbar. Aljoscha erhob sich leise von seiner Bank, in demselben Augenblick verdunkelte sich die Tür von etwas Hohem, Schwarzem; es verdrängte den ganzen Abend, brachte Nacht in die Hütte und bewegte sich in seiner Größe nur unsicher vorwärts. ›Der Ostap!‹ sagte die Häßliche mit ihrer bösen Stimme. Und jetzt erkannten ihn alle. Es war einer von den blinden Kobzars, ein Greis, der mit einer zwölfsaitigen Bandura durch die Dörfer ging und von dem großen Ruhm der Kosaken, von ihrer Tapferkeit und Treue, von ihren Hetmans Kirdjaga, Kukubenko, Bulba und anderen Helden sang, so daß alle es gerne hörten. Ostap verneigte sich dreimal tief in der Richtung, in der er das Heiligenbild vermutete (und es war die Znamenskaja, zu der er sich so, unbewußt, wandte), setzte sich dann an den Ofen und fragte mit leiser Stimme: ›Bei wem bin ich eigentlich?‹ ›Bei uns, Väterchen, bei Peter Akimowitsch, dem Schuster‹, erwiderte Peter freundlich. Er war ein Freund des Gesanges und freute sich dieses unerwarteten Besuches. ›Ah, bei Peter Akimowitsch, dem, der die Bilder malt‹, sagte der Blinde, um auch eine Freundlichkeit zu erweisen. Dann wurde es still. In den langen sechs Saiten der Bandura begann ein Klang, wuchs und kam kurz und gleichsam erschöpft von den sechs kurzen Saiten zurück, und diese Wirkung wiederholte sich in immer rascheren Takten, so daß man endlich die Augen schließen mußte, in Angst, den Ton von der in rasendem Lauf erstiegenen Melodie irgendwo hinabstürzen zu sehen; da brach das Lied ab und gab der schönen, schweren Stimme des Kobzars Raum, welche bald das ganze Haus erfüllte und auch aus den benachbarten Hütten die Leute rief, die sich vor der Türe und unter den Fenstern versammelten. Aber nicht von Helden ging diesmal das Lied. Schon ganz sicher schien Bulbas und Ostranitzas und Naliwaikos Ruhm. Für alle Zeiten fest schien die Treue der Kosaken. Nicht von ihren Taten ging heute das Lied. Tiefer zu schlafen schien in allen, welche es vernahmen, der Tanz; denn keiner rührte die Beine oder hob die Hände empor. Wie Ostaps Kopf, so waren auch die anderen Köpfe gesenkt und wurden schwer von dem traurigen Lied:

›Es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt. Die Gerechtigkeit, wer kann sie finden? Es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt; denn alle Gerechtigkeit ist den Gesetzen der Ungerechtigkeit unterstellt.

›Heut ist die Gerechtigkeit elend in Fesseln. Und das Unrecht lacht über sie, wir sahns, und sitzt mit den Pans in den goldenen Sesseln und sitzt in dem goldenen Saal mit den Pans.

›Die Gerechtigkeit liegt an der Schwelle und fleht; bei den Pans ist das Unrecht, das Schlechte, zu Gast, und sie laden es lachend in ihren Palast, und sie schenken dem Unrecht den Becher voll Met.

›Oh, Gerechtigkeit, Mütterchen, Mütterchen mein, mit dem Fittich, der jenem des Adlers gleicht, es kommt vielleicht noch ein Mann, der gerecht, der gerecht sein will, dann helfe ihm Gott, Er vermag es allein, und macht dem Gerechten die Tage leicht.‹

Und die Köpfe hoben sich nur mühsam, und auf allen Stirnen stand Schweigsamkeit; das erkannten auch die, welche reden wollten. Und nach einer kleinen, ernsten Stille begann wieder das Spiel auf der Bandura, diesmal schon besser verstanden von der immer wachsenden Menge. Dreimal sang Ostap sein Lied von der Gerechtigkeit. Und es war jedesmal ein anderes. War es zum erstenmal Klage, so erschien es bei der Wiederholung Vorwurf, und endlich, da der Kobzar es zum drittenmal mit hocherhobener Stirne wie eine Kette kurzer Befehle rief, da brach ein wilder Zorn aus den zitternden Worten und erfaßte alle und riß sie hin in eine breite und zugleich bange Begeisterung.

›Wo sammeln sich die Männer?‹ fragte ein junger Bauer, als der Sänger sich erhob. Der Alte, der von allen Bewegungen der Kosaken unterrichtet war, nannte einen nahen Ort. Schnell zerstreuten sich die Männer, man hörte kurze Rufe, Waffen rührten sich, und vor den Türen weinten die Weiber. Eine Stunde später zog ein Trupp Bauern, bewaffnet, aus dem Dorfe gegen Tschernigof zu. Peter hatte dem Kobzar ein Glas Most angeboten in der Hoffnung, mehr von ihm zu erfahren. Der Alte saß, trank, gab aber nur kurze Antworten auf die vielen Fragen des Schusters. Dann dankte er und ging. Aljoscha führte den Blinden über die Schwelle. Als sie draußen waren in der Nacht und allein, bat Aljoscha: ›Und dürfen alle mitgehen in den Krieg?‹ ›Alle‹, sagte der Alte und verschwand rascher ausschreitend, als ob er sehend würde in der Nacht.

Als alle schliefen, erhob sich Aljoscha vom Ofen, wo er in den Kleidern gelegen hatte, nahm sein Gewehr und ging hinaus. Draußen fühlte er sich mit einem Male umarmt und sanft aufs Haar geküßt. Gleich darauf erkannte er im Mondlicht Akulina, die eilig und trippelnd auf das Haus zulief. ›Mutter?!‹ staunte er, und es wurde ihm ganz eigentümlich zumut. Er zögerte eine Weile. Eine Tür ging irgendwo, und ein Hund heulte in der Nähe. Da warf Aljoscha sein Gewehr über die Schulter und schritt stark aus, denn er gedachte die Männer noch vor Morgen einzuholen. Im Hause aber taten alle, als ob sie Aljoschas Fehlen nicht bemerkten. Nur als sie sich wieder zu Tische setzten und Peter den leeren Platz gewahrte, stand er noch einmal auf, ging in die Ecke und zündete eine Kerze an vor der Znamenskaja. Eine ganz dünne Kerze. Die Häßliche zuckte mit den Achseln.

Indessen ging Ostap, der blinde Greis, schon durch das nächste Dorf und begann traurig und mit sanfter klagender Stimme den Gesang von der Gerechtigkeit.«

Der Lahme wartete noch eine Weile. Dann sah er mich erstaunt an: »Nun, weshalb schließen Sie nicht? Es ist doch wie in der Geschichte vom Verrat. Dieser Alte war Gott.«

»Oh, und ich habe es nicht gewußt«, sagte ich erschauernd.


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