Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Vierter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Das Theaterkind

Eine Memoiren-Novelle aus der Gegenwart

1867

Warnung

Für neugierige Kinder ist diese Novelle nicht erzählt.

Ich meine für Kinder, welche gar zu gerne wissen möchten, wer denn die handelnden Personen eigentlich gewesen sind, wer hinter der Maske steckt, wer dem Erzähler Modell gesessen.

Solchen Lesern läßt sich keine Memoirendichtung aus der Gegenwart frisch und frei vortragen, und so neugierige Leute sollten eigentlich verurteilt sein, nur Novellen lesen zu dürfen, die in der Zeit der Völkerwanderung oder des Lykurg und Solon spielen.

Darum hüte man sich, nach jenem »Ich« zu forschen, welches hier erzählt und fort und fort Ich und Nicht-Ich zugleich ist, trotz Fichte; oder in Hinrichs' Katalog nachzuschlagen, wie denn jener junge Nationalökonom geheißen, der 1850 sein musterhaftes Buch »über den Kredit« in einer soliden Buchhandlung erscheinen ließ; vor allem aber, wer denn jene schöne Sylvia Rutland eigentlich gewesen, welche im November 1848 beim Wiesbadener Hoftheater fürs naive Fach engagiert wurde. Sylvia Rutland hat im Leben viele gescheite Leute gefoppt, sie würde dann im Buche auch noch Toren foppen.

In dieser Novelle ist alles erlebt; aber die Novelle ist nicht erlebt.

Novellen zu schreiben mag eine leichte Kunst sein, und Novellen zu lesen ist jedenfalls eine noch weit leichtere. Wer aber bei einer Novelle nichts Besseres zu fragen weiß, als was daran wahr sei und was erfunden, der zeigt, daß er eine Novelle nicht einmal zu lesen versteht.

Erstes Kapitel

Auf dem Direktionsbüro des Wiesbadener Hoftheaters stand ein Kanapee, mit krebsrotem Wollenstoff überzogen und so groß, daß eine ganze Familie darauf hätte Platz nehmen können. Augenfällig gehörte es gar nicht hierher; denn die übrigen Möbel des Zimmers waren ganz kanzleimäßig, das krebsrote Kanapee hingegen war bühnenmäßig. Und in der Tat stammte es auch von der Bühne, war aber dort in Ungnade gefallen und ins Direktionszimmer verbannt worden.

Ich habe in meinem Leben kein so großes Kanapee gesehen, dafür sollte es eben auch ein »mittelalterliches Kanapee« sein (auf dem Theater gibt's dergleichen), und man hatte es für Spohrs Faust aus besonderen Gründen eigens so ungeheuer lang machen lassen.

Bei der Szene nämlich, wo Fausts Zaubermantel den Doktor mit seinen Genossen durch die Decke des Saals in die Lüfte entführt, mußte jenes Kanapee die Aufstellung des Flugapparates maskieren. Dieser Aufflug machte sich nun allemal dadurch besonders schön, daß einer der Freunde Fausts, ein kleiner Sänger, aber ein großer Turner, beim Aufsteigen der Gruppe selbstvergessen einen Augenblick stehenblieb, dann aber, als der Mantel auf Mannshöhe vor ihm schwebte, plötzlich wie erwachend hinzusprang, den letzten Zipfel mit beiden Armen packte und solchergestalt frei schwebend mit emporstieg.

Unlängst jedoch war es bei dieser malerischen Szene seltsam zugegangen.

Der kleine Sänger faßte eben den massiven untersten Teil des Flugwerks, welches den Mantel darstellt, und begann aufzuschweben, als er entsetzt gewahrte, daß noch ein zweiter verspäteter Fahrgast am gegenüberstehenden Zipfel des Mantels hängend hinten nachkam: das krebsrote Kanapee begann gleichfalls ganz sachte mit aufzusteigen – ein Haken des Flugwerks hatte sich in dem Wollenzeuge verfangen, – die Maschine seufzte und stöhnte unter der übermäßigen Last und drohte zu brechen, dem Doktor Faust war es sichtlich selbst nicht mehr geheuer bei seiner Zauberei, das Publikum schwankte zwischen Angst und Lachen, der kleine Tenorist am untersten Mantelzipfel aber klammerte sich mit den Armen immer fester und wehrte mit den Beinen verzweiflungsmutig das große Kanapee ab, welches, wie ein Pendel schwingend, ihn hinabzustürzen drohte; allein je kräftiger er dasselbe zurückstieß, um so gewaltiger fuhr es ihm in die Beine. So waren sie gegeneinander ringend schon fast bis zur Höhe der Soffiten gekommen, – da riß das Wollenzeug des Sofas, worin sich der Haken verfangen hatte, und mit lautem Gekrach stürzte das unselige Möbel aufs Podium und brach nebenbei zwei Füße. Die plötzlich erleichterte Flugmaschine aber schnellte nun doppelt rasch in die Höhe und brachte den Doktor Faust samt seinen Genossen heil und sicher auf den Schnürboden, zum großen Jubel des aufatmenden Parterres.

So war das große Kanapee in Ungnade gefallen und für alle Zeit von der Bühne ins Direktionszimmer verbannt worden.

Wie oft habe ich nicht in den Jahren 1848 und 1849 nachdenklich vor diesem heillosen Kanapee gestanden und in melancholischem Ernste jener Faustszene gedacht, welche das Möbel hierher gefördert hatte! Sie erinnerte mich gar zu lebhaft an unsere Bühnenleitung, sie war deren dramatisches Sinnbild.

Doch ich muß zunächst erzählen, was das denn für eine Bühnenleitung gewesen ist und wie ich mit zu derselben gekommen bin. Das Wiesbadener Hoftheater hatte in der vormärzlichen Zeit bedeutende Zuschüsse aus den Privatmitteln des Herzogs erhalten. Mit der Revolution von 1848 hörten dieselben auf, und das Theater würde zugrunde gegangen sein, wenn nicht der Landtag eine jährliche Subvention von zwanzigtausend Gulden aus Staatsgeldern bewilligt und die Gemeinde gleichfalls in den Säckel gegriffen hätte. Allein beides nur unter dem Beding, daß die alte Kavaliersintendanz aufhöre, daß die Bühne reformiert, idealisiert, daß sie konstitutionell verwaltet, das heißt unter eine Oberleitung von Vertrauensmännern gestellt werde, welche dem Ministerium und durch dieses dem Landtage verantwortlich seien. »Vertrauensmänner« gab es damals überall, warum nicht auch im Theater? Diese Vertrauensmänner nannte man die Theaterkommission.

Sie war aber nicht etwa bloß ein Beirat, sondern sie dirigierte wirklich, mit Hilfe der Regisseure, sie ersetzte die gefallene Intendanz. Im echten Geiste jener Tage war sie verantwortlich nach allen Seiten: nach oben dem Ministerium, nach unten dem Publikum, nach links dem Landtage und nach rechts dem Magistrat. Woraus man vielleicht folgern möchte, daß diese Kommission vor lauter Verantwortlichkeit kein Glied habe rühren können; allein wir schrieben 1848, und damals hatte freie Hand, wer den Mut besaß, Kopf und Hand zu gebrauchen. Und diesen Mut besaßen wir.

Die Mitglieder unseres revolutionären Bühnendirektoriums waren Leute von allerlei Beruf und Zeichen: ein Chemiker, ein Jurist, ein Weinhändler, ein Schriftsteller, ein Philologe und ein Mann, der von seinem Gelde lebte. Wenn so mancherlei Geister vereint dem Theater nicht helfen konnten, so war ihm augenfällig überhaupt nicht mehr zu helfen.

Wir teilten uns derart in die Arbeit, daß der Chemiker, der Jurist, der Weinhändler und der Kapitalist die Ökonomie und die Finanzen überwachten, indes der Philolog und der Schriftsteller (letzteres meine Wenigkeit) die künstlerischen Zügel zur Hand nahmen. Echt republikanisch walteten wir unseres Amtes ohne alles Entgelt und trieben die Strenge der Uneigennützigkeit so weit, daß wir nicht einmal unseren Frauen einen Freiplatz gönnten; wir wollten und sollten bloß ehrenhalber Theater dirigieren. Äußere Ehre trugen wir aber demungeachtet blutwenig davon. Wir sind meines Wissens während drei Jahren niemals in einer Zeitung gelobt, desto öfter hingegen getadelt worden und mußten uns also mit der inneren Ehre begnügen.

Wahrlich, wir hatten einen harten Stand. Der Hof mied das Theater, ohne Zweifel, weil er in der neuen Leitung vorab einen groben Protest gegen die alte erblickte; die Demokraten murrten wider uns, weil ihnen das Repertoire zu zahm war, weil wir lieber die »Iphigenie« gaben als »Keine Jesuiten mehr«, lieber den »Wallenstein« als den »Ewigen Juden«, lieber den »Don Juan« als »Das Weib aus dem Volke« und überhaupt die Grille hegten, daß die Bühne ein Tempel der Kunst und nicht der Parteipolitik sei. Die Spielpächter mit ihrem mächtigen Anhang wurden uns gram, weil wir Ifflands »Spieler« zu geben wagten, während bis dahin jedes Stück, welches seine Spitze gegen die Spielwut kehrte, vom Wiesbadener Theater verbannt gewesen war' Mancher alte Theaterfreund ward zum Theaterfeinde: denn warum hatte man ihn nicht vor allen in die Kommission gewählt? (Törichte Leute, die sich's sogar reizend vorstellen, das Zepter in dem kleinen Königreiche des Theaters zu führen, namentlich wegen der schönen Schauspielerinnen und Sängerinnen! Keinem Menschen erscheinen diese Schönheiten weniger schön als einem Theaterdirektor.) Die zahllosen ehemaligen Freibillette räsonierten über uns, weil sie in voller staatsbürgerlicher Gleichheit nun ebenfalls zahlen sollten. Das parteilose Kurpublikum endlich blieb im Sommer aus wegen der unruhigen Zeit, und folglich kamen im ruhigen Winter auch die meisten Wiesbadener nicht ins Theater, weil ihnen der Sommer kein Geld gebracht hatte. An gar manchem schönen Theaterabend hätte man im Parterre Purzelbäume schlagen können, und der Kassierer trug die Tageseinnahme in der Westentasche heim.

Trotzdem blieben wir immer hochgemut und hoffnungsfreudig. Die mit den Finanzen betraute Hälfte unserer Kommission betrachtete sich als eine Art Rettungsmannschaft, der es auch durch strengen, knappen Haushalt gelang, das Schifflein durch die Klippen des Bankerotts zu steuern. Aber für solch verdrießliche Knickerei darf man keinen Dank erwarten. Uns beiden künstlerischen Führern dagegen, jungen Männern in den sonnenhellsten Jahren, stand der Sinn nach idealem Ziele, nach einer reinen Priesterschaft des Schönen; man schwärmte damals im deutschen Parlament, in den Kabinetten und auf der Gasse für so vielerlei reine Priesterschaft, warum sollten wir im Wiesbadener Theater nicht auch für dergleichen schwärmen?

Auf Fausts Mantel flogen wir zum Äther empor, aber das krebsrote Kanapee, der garstige Realismus jeder Bühnenleitung, dieses unbemerkt sich einhakende Gespenst, stieg mit uns in die Höhe, und im schönsten Aufschwung sahen wir's entsetzt zu unseren Füßen baumeln, die Flugmaschine ächzte und stöhnte unter dem unberechneten Ballast, und je mutiger wir ihn zurückschleuderten, um so gefahrvoller schlug er uns wider die Beine.

Nun werden meine Leser begreifen, warum ich so manchmal seufzend vor dem großen Kanapee auf und nieder ging; und wenn sich die Kommission, um Rats zu pflegen, auf das rote Ungeheuer setzte, dann war es mir allemal, als reite St. Georg auf seinem eigenen Lindwurm, noch bevor er ihm den Rest gegeben.

Zweites Kapitel

Zu selbiger Zeit hielt sich ein feiner junger Leipziger in Wiesbaden auf, ein eigentümlicher Mensch, anziehend und abstoßend – je nach Umständen. Als Kurgast war er im Sommer 1848 gekommen, dauerte aber auch durch Herbst und Winter aus. In Nassau hat jedermann seinen Spitznamen, er müßte denn ein so ganz unbedeutender Mensch sein, daß er nicht einmal eines schlechten Witzes wert wäre. Jener Fremde hieß »der Lord«, und so soll er auch in dieser Geschichte heißen. Er galt für reich und unabhängig, niemand wußte recht, was er eigentlich trieb und beabsichtigte, fast alle aber ließen sich seine mancherlei Unarten gefallen, weil er sie so äußerst ungezwungen verübte – Grund genug, ihn Lord zu taufen, auch wenn er sonst in Tracht und Haltung einem vornehmen Engländer weniger ähnlich gesehen hätte, als es wirklich der Fall war.

Der Lord nannte, großstädtisch von oben herabblickend, Wiesbaden ein »nettes« Landstädtchen, wo sich im Winter ländliche Stille mit städtischem Komfort höchst anmutig vereine, eine Stadt, ganz gemacht zum winterlichen Mußesitz für einen wahren Philosophen; unter der wahren Philosophie aber verstand er die Philosophie des Reichtums. Er war Nationalökonom, hatte auf mehreren Universitäten gründlich studiert, hielt durchweg auf strenge Schule und behauptete, sein Fach sei das verheißungsvollste der Gegenwart, niemand habe gewissere Aussicht auf eine rasche und glänzende Laufbahn als der Volkswirt; denn er lehre die Kunst reich zu werden, und reich werden wolle jetzt jedermann. Obgleich unser Lord nun aber Zahlen für das allein Gewisse hielt, wohlgeordnete statistische Tabellen für den schönsten Anblick und die Gesetze des Marktes für den bewegenden Herzschlag aller menschlichen Entwicklung, so hatte er doch nebenbei noch eine ganz besondere Vorliebe für das weibliche Geschlecht. In diesem einzigen Stücke war er entschiedener Gefühlspolitiker.

Ich wurde bekannt mit ihm, ich weiß selbst nicht wie, und seinen zahllosen übrigen Bekannten ist es vermutlich ebenso ergangen. Dem weltläufigen, geschmeidigen jungen Manne genügte eine Begegnung, ein Wort, um rasch den zwanglosesten Verkehr daran zu knüpfen. Er hatte dann die Gewohnheit, einem unvermutet und zu beliebiger Tageszeit mit seinen Besuchen ins Haus zu fallen, gewöhnlich, wenn man ihn am wenigsten brauchen konnte, ganz wie ein vornehmer Herr. Allein er blieb nicht »kleben«, sondern verschwand wieder, wie er gekommen, ehe man sich's versah, und das ist die Lichtseite von solch vornehmer Art.

So pflegte der Lord auch manchmal urplötzlich bei mir im Theaterbüro aufzutauchen, tat ganz, wie wenn er dort zu Hause sei, warf sich in eine Ecke des krebsroten Kanapees, kümmerte sich wenig, ob ich Notiz von ihm nahm oder nicht, tat ein paar neugierige Fragen, sprudelte ein halbes Dutzend meist treffender Einfälle heraus und ging wieder seiner Wege. Eines Morgens, es war im November 1848, dehnte er sich bei einem derartigen Besuche eben auch wieder auf fünf Minuten in der Sofaecke, als ein Fremder aufs Büro kam, eine verwilderte, proletarische Erscheinung, und sich in französischer Sprache als Flötist vorstellte, welcher in unser Orchester eintreten wolle. Wir hatten nämlich durch die Theateragenten das erledigte Pult der zweiten Flöte zur Bewerbung ausschreiben lassen.

Ich fragte den Franzosen vor allem, ob er deutsch spreche, und da er dies verneinte, so setzte ich ihm in deutscher Sprache, aber recht langsam, klar und höflich auseinander, daß es ihm dann wohl schwerfallen dürfte, in einem deutschen Theaterorchester fortzukommen. Allein der Unglücksmensch sprach nicht nur kein Deutsch, er verstand auch nicht einmal die langsamst gesprochenen deutschen Worte.

Diesen entscheidenden Mangel sollte er von selbst erkennen, darum sprach ich nun erst recht kein Wort französisch, sondern wiederholte noch langsamer, klarer und höflicher in deutschen Hauptsätzen, daß wir ihn als Stockfranzosen nicht brauchen könnten, auch wenn er der beste Flötist von der Welt sei, und begleitete meine Rede mit so lebhaft bedauerndem Achselzucken, verneinendem Kopfschütteln und abweisender Handbewegung, daß mich selbst ein Chinese hätte verstehen können. Der Franzose aber deutete meine Gebärden falsch, er glaubte, ich zweifle an seiner Kunst, und übersprudelte meine langsamen Worte in pfeilgeschwindem Redefluß, der mir seine staunenswerte Kraft im Blasen deutlich machen sollte, und wenn ihm die Flötenläufe nur halb so leicht perlten wie die Phrase des Selbstlobs, dann war er in der Tat ein ausgemachter Virtuose.

Zum Überfluß hatten wir auch noch Orchesterbegleitung bei diesem internationalen Duett; nebenan im Bühnenraume war Hauptprobe von Meyerbeers Hugenotten, und wo so ein rechtes Tutti dreinwirbelte, da wuchs auch unsere Zwiesprach zum Fortissimo.

Der Lord in seiner Sofaecke folgte mit eiserner Ruhe der seltsamen Unterhaltung, bei welcher Rede und Antwort zusammenpaßten wie die Faust aufs Auge, und nur zuweilen lächelte er behaglich in sich hinein. Endlich wurde es aber auch ihm zu bunt, und er rief: »Schicken Sie doch den Mann hinüber ins Orchester, lassen Sie ihn nur einen Akt mitblasen.«

»Um keinen Preis!« »So reden Sie drei Worte französisch: der arme Teufel versteht Sie ja keine Silbe.«

»Eben dadurch wird er zur Selbstbescheidung kommen; ich rede, um nicht verstanden zu werden.«

Und in der Tat, dem Franzosen ging ein Licht auf; er fragte mich plötzlich im artigsten Ton, ob ich denn gar kein Französisch spreche.

Darauf erwiderte ich in grimmigem Französisch: »Wenn wir Deutsche nach Frankreich gehen, so lernen wir vorher die Sprache Ihres Landes; reist also ein Franzose nach Deutschland, so soll er auch vorher die Sprache unseres Landes lernen!«

Mit diesen Worten hatte ich jedoch dem Franzosen erst recht die Zunge gelöst. Er rief, die Sprache der Musik sei eine Weltsprache, kein Mensch im ganzen Theater höre es seiner Flöte an, ob sie deutsch oder französisch geblasen werde, – »aber der Kapellmeister«, unterbrach ich ihn, »spricht deutsch, schult sein Orchester deutsch, die Sänger singen deutsch, die Stichworte des Rezitativs stehen deutsch in Ihrer universellen Flötenstimme! –«

Da ich aber einerseits reden wollte, um nicht verstanden zu werden, – zum Zwecke der Abschreckung, andererseits jedoch auch wieder verstanden sein wollte, um den Einwand meines Gegners zu widerlegen, so mischte ich halb deutsch, halb französisch durcheinander, und der Zuhörer in der Sofaecke hatte seinen boshaften Spaß, meinem deutschen Worte rasch die französische Übersetzung nachzurufen.

Wir standen mitten im schönsten Kreuzfeuer; da war die Orchesterprobe rechts nebenan gerade zu jenem lärmenden Marschchor des ersten Finales gekommen, der sich in allen Kunstreiterbuden besonders eingebürgert hat, weil die Pferde so gut darauf gehen, und zugleich dröhnte links von der Straße ein anderer Marsch herüber (genau einen halben Ton höher); denn die Bürgerwehr, das damalige Volk in Waffen, zog vom Übungsplatze heim. Wir steigerten unsere doppelsprachige Unterredung zum Geschrei, um dieses disharmonierende Doppelkonzert zu übertönen. Es war ein Höllenlärm.

In diesem Augenblick erschien eine hübsche junge Dame, – der Franzose verschnaufte gerade so lange, daß sie ihren Namen nennen konnte, – ein fremde Schauspielerin, Fräulein Sylvia Rutland, naives Fach und lyrisch sentimentale Partien. Ich bat sie, einen Augenblick sich zu gedulden und auf dem großen Sofa Platz zu nehmen. Da begann der Flötist schon wieder mit erhobener Stimme: »Hören Sie die Hugenotten? hören Sie Meyerbeer, unseren gemeinsamen Landsmann? Seine Musik ist Weltbürgerin, sie redet alle Zungen, deutsch, französisch, italienisch, oder auch gar keine, wie Sie wollen! Auch ich bin Weltbürger –«

»Sprächen Sie so gut deutsch«, fiel ich ein, »wie Meyerbeers Musik, leider Gottes, französisch spricht, dann sollten Sie gleich Probe blasen.« –

»Lassen Sie ihn blasen, nur blasen, bester Freund! Ungesäumt hinüber mit ihm in die Opernprobe!« drängte der Lord.

»Unterbrechen Sie mich nicht!« – – Doch da unterbrach mich schon wieder der Franzose von der anderen Seite: »Ich bin Weltbürger, und wir sind es allesamt, denn wir alle sind jetzt Kinder der Revolution. Ah! hören Sie da draußen die Kriegsmusik der Revolutionsgarde?« – er sprang ans Fenster und blickte auf unsere harmlose Bürgerwehr, die gar nicht aussah, als wolle sie heute noch Revolution machen. – »Wir alle stehen auf dem Boden der Revolution! Seid ihr nicht auch eine revolutionäre Theaterkommission? Ich verlange von euch zur Konkurrenz gelassen zu werden kraft meines angeborenen Rechtes auf Arbeit« – den Satz sprach er mit so dröhnendem Vollklang, als werfe er nun erst sein Trumpf-As auf meine Karten; – »ich zähle zum Bunde der ouvriers égalitaires. Heute geht es nicht mehr wie in der despotischen alten Zeit, wo man dem Proletarier die Entfaltung der Arbeitskraft willkürlich wehrte!«

Nun riß mir denn doch der Geduldfaden. Dem Mann mußte ich den Widersinn seiner sozialistischen Lehre vernichtend dartun, ich mußte ihm recht deutsch zeigen, daß seine Theorie vom Rechte auf Arbeit gar nicht auf unsere zweite Flöte passe, und also sprach ich jetzt durchweg französisch im vollsten Flusse, und ich habe, glaube ich, in meinem Leben nicht so geschwind französisch gesprochen. Meine Worte verstand nun freilich der Franzose, nur faßte er jetzt leider wiederum den Sinn derselben nicht, und je länger wir stritten, je dunkler wurden wir uns gegenseitig. Unser Zuhörer aber rief fort und fort dazwischen: »Lassen Sie den Sozialisten doch um Gottes willen Flöte blasen!«

Zuletzt blieb mir nichts anderes übrig, als dem Rate zu folgen: meinem Gegner war wirklich der Mund nicht zu stopfen, außer man steckte ihm eine Flöte zwischen die Lippen.

Also bat ich das Fräulein vom naiven Fache um Geduld für noch eine kleine Weile und führte den blasenden ouvrier égalitaire ins Orchester. Der Lord ging mit, als ob er auch dazu gehöre. Solche Not hatte man in jener Revolutionszeit bei einem zweiten Flötisten; nun denke man sich, wie es erst zugehen mochte, wo es das Engagement eines Helden oder eines Tyrannen und Bösewichtes galt oder wenn gar eine Primadonna ihr angeborenes »Recht auf Arbeit« behauptete!

Ich ersuchte unseren etwas erstaunten Kapellmeister, er möge den fremden Flötisten nur ein wenig die zweite Stimme blasen lassen, das Weitere werde sich schon finden, und stellte mich mit dem Lord in den Hintergrund des Parterres. Was vorauszusehen war, geschah: schon nach zehn Minuten legte der Franzose ganz sacht die Flöte aufs Pult, um ohne Abschied im Halbdunkel des Korridors zu verschwinden. Er ist auch nicht wiedergekommen. Er hatte weder den Kapellmeister verstanden noch die deutschen Stichworte der Rezitative, und, was das merkwürdigste von allem, er hatte nicht einmal ordentlich Flöte blasen können.

Mein Begleiter triumphierte, doch nur im stillen; denn er war ein zu feiner Weltmann, als daß er sich äußerlich etwas hätte merken lassen; um so beschämter ging ich an seiner Seite aus dem Theater. In gutem Deutsch und schlechtem Französisch hatte ich so lebhaftes nationales Selbstgefühl bekundet, ich hatte so gute Gründe entwickelt und die sozialistische Lehre vom Rechte der Arbeit so beredt widerlegt: dennoch gelang mir's in einer Stunde mit tausend Worten nicht fertigzubringen, was diesem nüchternen Leipziger ohne ein einziges Wort in acht Minuten gelungen war.

Allein ich beschloß, meine Niederlage zu rächen; der nächste Anlaß mußte erlauscht werden, um dem Lord einen Gegendienst zu leisten, der ihm zeige, daß auch ich überlegenen Mutterwitz besitze. Und ich kannte jene schwache Seite, wo nun er wiederum Gefühlspolitiker war.

Unter diesen Gedanken beschlich mich aber ein geheimes Geständnis eigener Art. Wir wissen doch niemand gleisnerischer zu belügen und zu betrügen als uns selbst. Ich hatte vorhin so stolz darauf gepocht, wie man den Franzosen klarmachen müsse, daß sie in Deutschland Deutsch zu lernen haben. Und ganz gewiß mit aus diesem Grunde drängte ich anfangs jedes französische Wort von meinen Lippen zurück. Allein der Grund war leider nicht der einzige gewesen. Ich war einmal mit einem Franzosen über den Bodensee gefahren, und gleich bei der Abfahrt reichte mir derselbe die Speisekarte des Dampfbootes, auf welcher ganz unten »Wurst« geschrieben stand, und fragte mich, was Wurst sei. Und ich sann und sann, wie Wurst auf französisch heiße, und zermarterte mein Gedächtnis über die ganze Breite des Bodensees, und als wir in Rorschach ausstiegen, wußte ich immer noch nicht, wie eine Wurst auf französisch heißt. Jeder Handlungsreisende hätte das Wort augenblicklich gewußt, aber wer auf gelehrten Schulen Französisch gelernt hat, dem ist dieses geheimnisvolle Wort gar nie vorgekommen. Man hatte uns zur idealen Literatur, vorab in die Hallen der großen Tragiker geführt, und Corneille und Racine konnte ich halb auswendig; in der klassischen Heldensprache des siebzehnten Jahrhunderts hätte ich mich mit dem Franzosen nicht bloß über die Breite, sondern auch über die ganze Länge des Bodensees unterhalten können, und die Worte wie fatal hymen, beau feu, pudique flamme, crime, supplice, succès déplorable, innocent et coupable wären mir nur so von selber zugeströmt, allein von einer Wurst war in den erhabenen Alexandrinern niemals die Rede gewesen.

Seit jenem Erlebnisse fürchtete ich mich ein wenig vor dem leichteren französischen Konversationston, denn derselbe konnte unversehens zu Würsten und ähnlichen Dingen führen. Ehrlich gesagt, war es dann vorhin auch eben diese heilige Scheu, welche mich neben meinem deutschen Selbstgefühle bewogen hatte, dem französischen Flötisten anfangs kein französisches Wort zu gönnen. Dieses Selbstgeständnis machte ich mir aber nur ganz in der Stille: der kluge Leipziger brauchte nichts davon zu wissen. Zugleich wurde mir der volle Gegensatz seiner realistischen und meiner idealistischen Natur bei diesem einen Zuge recht leuchtend klar. Und diesen Mann wollte ich in praktischem Mutterwitz besiegen?

Ich sah ihn fragend an, recht als müsse ich ihm meine stille Frage ins Gesicht hineinschauen. Er bemerkte etwas verwundert den großen Blick, der auf seinen Augen ruhte, und forschte nach dem Grunde.

Ich trat einen Schritt zurück und fragte: »Wissen Sie, wie ›Wurst‹ auf französisch heißt?« Und richtig, ohne sich eine Sekunde zu besinnen, antwortete er ganz gelassen: »Saucisse«, – als ob das so gar nichts wäre!

Da hatte ich's! Dieser Lord hatte nicht halb so viele französische Dichter, Philosophen und Historiker des großen Stiles gelesen wie ich, und doch wußte er augenblicklich, wie eine Wurst auf französisch heißt, und würde ich ihn weiter gefragt haben, wie denn ein Schwartenmagen heiße, er hätte es ohne Zweifel auch gewußt.

Mir sank der Mut, ob ich einem solchen Manne Schach bieten könne! Dennoch beschloß ich's zu wagen.

Er trat nun aber auch seinerseits einen Schritt zurück und sah mir mit großem, durchdringendem Auge ins Gesicht. Erriet er wohl meine Gedanken? Doch nein, es war etwas anderes. »Hüten Sie sich vor dieser Sylvia Rutland!« sprach er, »sie ist eine ganz mittelmäßige Schauspielerin.« Mit dem Warnungsrufe verschwand er zwischen den Säulen der Vorhalle.

Was der Lord nicht alles wußte! Ich hatte bis zum heutigen Tag in meinem Leben noch von keiner Sylvia Rutland gehört; aber ihm war alles bekannt, saucisse und Sylvia Rutland und was man sonst nur zu wissen begehrte.

Ihm zum Trotz beschloß ich jedoch, Sylvia Rutland vorderhand für nicht mittelmäßig zu halten, und ging mit diesem wohlwollenden Vorsatze zu der verlassenen Dame ins Direktionszimmer zurück.

Drittes Kapitel

»Die Rutland«, wie man im Theaterstile spricht, harrte geduldig in Hut und Mantel auf dem krebsroten Sofa, das nette Hütchen war nur so weit zurückgeschoben, daß man eine seltene Fülle blonder Locken halb sah, halb ahnte – echte Locken ohne Zweifel, reines eigenes Haar. Die Wünsche der fremden Künstlerin errieten sich leicht: sie wollte bei uns spielen, wenn's glückte, auf Engagement.

Man fragt da natürlich vorab nach der bisherigen Stellung, nach den bereits »stehenden« Rollen und, will man artig zum Selbstlobe das Wort geben, nach errungenen Erfolgen, an welchen es ja, wenigstens in der Einbildung der Künstler, niemals fehlt.

Merkwürdigerweise besaß Sylvia Rutland solche Erfolge nicht einmal in der Einbildung. Sie war nur erst auf kleinen Bühnen aufgetreten und gastierte augenblicklich in Mainz; »aber ach«, fügte sie hinzu, »ich habe leider das Unglück, dort nur wenigen zu gefallen, und, ehrlich gesagt, ich wurde in meinem Leben noch niemals durch allzu lauten Beifall betäubt.« Sie sprach das höchst anmutig, halb lächelnd – prächtige blendend weiße Zähne! – halb errötend.

Diese Art, sich zum Gastspiele zu empfehlen, war mir noch nicht vorgekommen. Sonst zählen einem die Damen wohl dar, wie viele Lorbeerkränze ihnen »geworfen« worden sind, auch war mir schon öfters ein Album von Lobrezensionen überreicht worden, aus den Zeitungen geschnitten und sehr geschmackvoll zusammengeklebt; – allein daß eine Schauspielerin, und vollends von kleinen Bühnen, mit dem Geständnisse ihres Mißerfolges mich begrüßte, das war mir neu. Ja, sie sprach dabei nicht einmal von jener unvermeidlichen bösen Nebenbuhlerin, die das Publikum aufwiegelt, kabaliert, intrigiert und schuld an all dem Unheile ist, welches man nun doch nicht ableugnen kann.

Allein konnte diese Naivität nicht gerade die feinste Komödie sein? Fräulein Rutland hat sich über meine Person unterrichtet, dachte ich; sie weiß, wer vor ihr steht: einem gewöhnlichen Theatermanne würde sie vom Gerufenwerden, von Beifallsstürmen, allerhöchst befohlenen Audienzen, brechend vollen Häusern und ähnlichen schönen Dingen erzählt haben; bei mir kokettierte sie mit bescheidenem, offenherzigem Wesen. Doch wenn dem so war, um so besser: zeigte sie dadurch nicht, daß sie eine »denkende Künstlerin« sei und daß sie vorab ihr Fach, das naive Fach, zu spielen verstehe?

Ihren harmlosen Ton aufgreifend, fragte ich ohne Umschweife: »Warum gefallen Sie denn nicht?«

Ich erwartete wiederum eine originelle Antwort, allein ich täuschte mich: die Ärmste bekam überall zu unbedeutende Rollen! – Jawohl! so spricht jeder mittelmäßige Mensch auf dem Theater und im Leben; wer aus eigener Schwäche nicht in die Höhe kommen kann, dem hat allemal der Direktor die rechte Rolle vorenthalten.

Aber sie fiel mir in den Gedanken, bevor ich noch das passende Wort dafür fand. »Mißverstehen Sie mich nicht! Ich begehre keine große Rolle, begeistert spiele ich auch die kleinste; aber die nichts sagenden, marklosen, geistlosen Rollen ruinieren mich. Und darum sind auch die Theaterdirektoren gar nicht schuld an meinem Unheil« – sie machte eine verbindliche Verbeugung gegen mich: reizender Rhythmus der Armbewegung! –, »sondern die schwachen Dichter. Ich bin fort und fort verdammt, jene Liebhaberinnen zu spielen, die von den Poeten nur darum erfunden werden, weil man in jedem Bühnenstücke, den Joseph in Ägypten ausgenommen, eine Liebschaft braucht, jene zierlichen Puppen, blöden Backfische, wohlerzogenen Töchter, die im ersten Akte auftreten, damit man sie im letzten verheiraten könne, deren ganzer Charakter in einem hübschen Gesicht und modernster Garderobe besteht. Gestalten, welche ich auf der Straße nicht von weitem ansehen mag, und in die soll ich mich versenken, hineinstudieren, die soll ich darstellen! Bei Kotzebue, Töpfer, Blum, Scribe, bei allen Talenten und Halbtalenten der Poesie wimmelt es von diesen nichtigen Figuren; bei den genialen Meistern, bei Shakespeare, Schiller, Goethe finden Sie keine einzige. Ein großer Dichter mag kleine Frauenrollen zeichnen, aber ganz gewiß keine unbedeutende, undankbare, welche die Künstlerin lähmt und entgeistet.«

Ich sann einen Augenblick, ob sie da wohl recht habe. Das feurige Spiel ihrer großen blauen Augen, womit sie jeden Satz begleitete, war in der Tat überzeugend, und mit dem übrigen durfte man's wohl minder genau nehmen, denn als Professorin der Ästhetik wollte Fräulein Rutland ja nicht gastieren.

Aber sie war jetzt im Flusse, sie fuhr schon wieder fort: »Wie beneidete ich unlängst eine Schauspielerin, welcher die kleinste Rolle in Lessings Minna von Barnhelm zufiel! ›Eine Dame in Trauer.‹ Sie hat nur zwei kleine Szenen; Lessing hielt es nicht einmal der Mühe wert, einen Namen für diese Dame zu erfinden, allein welche Szenen, und wie wollte ich sie spielen!«

»Die Rolle schlägt ins alte Fach«, entgegnete ich, »Sie sind ein Mädchen von neunzehn Jahren.«

»Vierundzwanzig!« verbesserte sie, – (ich staunte; eine solche Korrektur war mir wiederum ganz neu) – »und wollte mich Lessing zu Ehren leicht noch um fünfzehn Jahre älter machen.«

»Sehen Sie sich vor! Minna von Barnhelm steht für nächste Woche auf dem Repertoire. Dürfte ich Sie beim Wort nehmen?«

»Das dürfen Sie!« sprach das Mädchen rasch und entschlossen und reichte mir die Hand – es war ein äußerst feines, wohlgeformtes Händchen – und drückte die meinige recht herzhaft.

Aber bei diesem Händedruck überlief mich's auf einmal heiß. Ich war bis dahin nur so als psychologischer Beobachter mitgegangen, jetzt fiel mir's plötzlich ein, daß ich Mitglied der Theaterkommission sei. »Dürfte ich Sie darum bitten«, wiederholte ich mit schärfster Betonung des Konjunktivs, »für den sehr zweifelhaften Fall nämlich, daß sich das Plenum der Kommission überhaupt veranlaßt sähe, Ihnen ein Auftreten auf unserer Bühne zu gestatten.«

Bei diesen Worten war es, als ob eine kühle Zugluft durch das Zimmer streiche, und mit dem langsam niedergleitenden Ton meines Schlußsatzes glitt auch ihre schöne Hand ganz langsam aus der meinigen.

Sie sah mich recht verblüfft an und recht betrübt; sie dauerte mich. Also suchte ich rasch und höflich den Faden des Gesprächs wieder aufzugreifen und fragte, wie sie denn eigentlich zu jenen verhaßten nichtigen Rollen gekommen und warum sie darin steckengeblieben sei.

Ihre Antwort war ein Stück Lebensgeschichte; sie erzählte dieselbe geschmackvoll, denn sie erzählte schlicht und kurz; ich hätte gerne noch mehr gehört. Sylvia war ein echtes Theaterkind, sie war im Theater zu *** geboren, wo ihr Vater das Doppelamt des Türhüters und Kalikanten verwaltete. Mit fünf Jahren schon spielte sie Kinderrollen und wuchs dann allmählich in das Fach der Pagen und der bösen Buben hinein, welches man auf der Bühne den Mädchen überlassen muß, weil die wirklichen Buben zu hölzern sind; mit fünfzehn Jahren wurde sie versuchsweise jugendlichste Liebhaberin, übernahm aber auch nebenbei noch Genien, Engel und die große Meerkatze in Goethes Faust, welche der Hexe zum Pulte dient und die Fackel hält. So war die Bühne im Doppelsinne Sylviens Heimathaus gewesen und sie selber aus den Kinderschuhen heraus zum »brauchbaren Mitgliede« groß gewachsen. Brauchbares Mitglied ein fürchterliches Wort! Rollen, welche jedmögliche Spielgewandtheit heischen, aber keinen Geist, keine schaffende Kraft, mißliche Rollen, in welchen man beliebte Künstler nicht abnützen will, Rollen, welche man braucht, ohne daß ein Mensch dem Darsteller seine Mühe dankte, – das sind die eigensten Aufgaben der brauchbaren Mitglieder. Wehe dem Schauspieler, der einmal in diesen Kreis der Brauchbarkeit gebannt ist! Man braucht ihn, bis er sich völlig verbraucht hat, aber aufrücken zu wahren Kunstaufgaben läßt man ihn unendlich selten. Wagt er's je aus verzweifelter Selbsthilfe, so zeiht ihn das Publikum der Anmaßung. Niemand glaubt an ein brauchbares Mitglied, niemand erwärmt sich für dasselbe. Sie büßen die Sünden der schwachen Dichter, wie Sylvia so treffend bemerkt hatte. Und war es nicht das Zeichen einer feiner angelegten Natur, daß die Tochter des Theaterdieners, die es doch vergleichsweise recht weit gebracht in demselben Hause, wo ihr Vater die Tür hütete, die es zu schöner Gage gebracht, zu schönen Kleidern, langen Rollen, sich dennoch unglücklich fühlte, weil sie die dichterische Hohlheit ihrer Aufgaben tief empfand? Wer sich einmal in dem bösen Zauberbanne der brauchbaren Mitglieder verfangen hat, dem hilft nur Luftwechsel, Ortsveränderung. Er muß an einer fremden Bühne mit ganz neuen Versuchen beginnen. Das beabsichtigte Sylvia mit ihrem Mainzer Gastspiel, aber sie erreichte es nicht. Wie ein Steckbrief laufen dem Schauspieler die Berichte der Theateragenten voraus, in welchen das genaue Signalement geschrieben steht, wie die fragliche Person aussieht, wie alt und groß sie ist, wie schön, wie gewandt, und dann weiter, was sie alles bisher getrieben hat; da findet sich dann auch jenes verräterische Rollenverzeichnis, woran man sofort das brauchbare Mitglied erkennt. Und die Direktionen halten es ihrerseits wieder für bare Anmaßung, wenn das Mitglied, welches anderswo brauchbar war, bei ihnen nun einmal nicht bloß brauchbar, sondern auch künstlerisch wirken möchte. Sie drücken es zurück in seine alte Sphäre.

So hatte denn auch Sylvia Rutland in Mainz alsbald wieder jene hübschen Puppen, jene vielredenden und nichtssagenden Liebhaberinnen spielen müssen, vor welchen es ihr grauste, und sie hatte mittelmäßig gespielt und wenig gefallen.

Dies alles erzählte mir das Mädchen gar anmutig, mit Geist und Laune. Sie konnte sich selbst ganz vortrefflich spielen, und sprach sie auf der Bühne nur halb so fesselnd wie im Direktionszimmer, so war ihr Glück gemacht. Ich erkundigte mich nach den Stücken, in welchen sie bei ihrem Mainzer Gastspiele noch aufzutreten habe, – es waren ein paar platte Lustspiele, deren »Liebhaberinnen« in der Tat keinen Anlaß boten zur Entfaltung eigentümlicher Gaben.

Aber Fräulein Rutland hatte in der nächsten Woche zum Beschlusse ihres Gastzyklus noch einen Benefizabend; da durfte sie sich Stück und Rolle frei wählen. Ich forderte sie auf, bei diesem günstigen Anlaß ihr Bestes frisch und mutig einzusetzen.

»Wählen Sie selber für mich!« rief sie und erhob sich begeistert von ihrem Sitze, wie von einer Eingebung erleuchtet.

Die Schmeichlerin! Wie fein wußte sie meine Eitelkeit bei der schwächsten Seite zu packen. So dachte ich, ging aber doch gerührt auf ihren Wunsch näher ein und bat um Angabe der möglichen Rollen. Es war wenig Erbauliches darunter; ganz zum Schlüsse nannte sie verschämt und halblaut das Klärchen im Egmont, in dem Tone, wie man etwas sagt, um es eigentlich nicht gesagt zu haben.

»Sie wollen den Bann der brauchbaren Mitglieder durchbrechen«, sagte ich rasch einfallend, »greifen Sie zum Egmont! Aber bedenken Sie, daß Goethe ein Klassiker ist, und Klassiker werden vor leeren Bänken gespielt. Sie erkaufen eine große Rolle mit einem kleinen Benefiz!«

Sylvia Rutland aber entgegnete: »Sie haben gewählt, und ich ergreife Ihren Ausspruch als ein glückverheißendes Zeichen!«

Nun waren wir zum zweitenmal auf dem Punkte angelangt, wo ich ungesäumt das Mitglied der Theaterkommission mußte in den Vordergrund treten lassen. Also brach ich das Gespräch recht artig ab und versprach, ihre Wünsche meinen Kollegen vorzutragen und ihr brieflich Antwort zu senden.

Sie war so klug, ihrerseits gleichfalls augenblicklich auf den reinen Geschäftston einzugehen und sich mit der formellsten Höflichkeit zu verabschieden, doch nicht ohne einen Blick, in welchem ich den Triumph errungenen Erfolges zu lesen glaubte.

Wahrlich der Lord hatte recht, als er vorhin den Finger warnend aufhob: ich mußte mich hüten vor dieser Sylvia, hüten nicht vor ihrer anmutigen Person – denn damit der Leser nicht von vornherein auf ganz falsche Fährte gerät, sei hier bemerkt, daß ich als junger Ehemann in den ersten voll befriedenden Jahren der eigenen Häuslichkeit lebte und meine Brust gepanzert fühlte gegenüber dem schönsten Theaterkinde, – aber hüten als Mitglied eines dirigierenden Bühnenkomitees.

Unrecht hingegen hatte der Lord, wenn er die Rutland eine mittelmäßige Schauspielerin nannte. Sie hatte ja ganz wundervolle Komödie mit mir gespielt und aus ihrer eigenen Person die reizendste Rolle des naiven Faches geschaffen. Darum durchzuckte mich denn aber auch sofort der Gedanke, gerade bei dieser Rutland dem Lord zu zeigen, daß ich ihm wiederum in einer ganz besonderen Art von Mutterwitz überlegen sei; verstand er sich besser auf französische Flötisten und französische Würste, so sollte er nun erfahren, daß ich mich besser auf deutsche Schauspielerinnen vom naiven Fach verstehe.

Ob aber Sylvia wohl meinem Rate folgen und das Klärchen vor leerem Hause zum Benefiz wählen werde? Ich zweifelte stark daran. Ihre Wahlfrage war nur ein guter Einfall in der Lustspielszene gewesen, welche sie mit mir aufgeführt. Und im allgemeinen muß man im Theater jeder Portion Vertrauen immer die gleiche Portion Mißtrauen zusetzen, und hat man beides, wie gewisse Mixturen aus der Apotheke, gut durcheinandergerüttelt, dann nehme man einen Eßlöffel voll.

Viertes Kapitel

Mein Vorschlag, Fräulein Rutland drei Rollen versuchsweise auf unserer Bühne darstellen zu lassen, fand bei der Kommission wenig Anklang. Die Probe, welche mir die Dame unter vier Augen gespielt, erschien doch nicht ganz maßgebend; weitere Nachrichten vom benachbarten Theater bestätigten, daß ihre Leistungen ungleich seien und von geteiltem Erfolge begleitet. Die stehende Wiesbadener Hofbühne galt für vornehmer als die Mainzer Provinzialbühne, welche damals unter wechselnden Unternehmern bloß im Winter spielte, und der Wiesbadener Geschmack beanspruchte den Ruhm einer feineren kritischen Zunge: sollte nun eine Künstlerin, welche den Mainzern nicht einmal ganz genügte, für die Wiesbadener gerade gut genug sein?

So blieb die Sache liegen und kam mir fast ganz aus dem Sinne.

Nach einiger Zelt überraschte es mich, einen Mainzer Theaterzettel zu Hause vorzufinden: er kündigte Egmont an, zum Benefiz für Fräulein Sylvia Rutland auf den nächstfolgenden Tag. Wir standen mit Mainz nicht auf dem Fuße des Zetteltausches, überhaupt auf gar keinem Fuße, und jener Zettel war durch einen gewissen Herrn Scholl überbracht worden, welcher, in seiner Heimat politisch stark kompromittiert, seit etlichen Monaten sich in Wiesbaden aufhielt, wo er als Privatlehrer ein äußerst kümmerliches Leben fristete und zugleich auf allen Volksversammlungen der Umgegend als ein rechter Sturmprediger sich hervortat. Daß Sylvia wirklich den Egmont gewählt hatte, war merkwürdig, aber daß Scholl die Schwelle meines Hauses überschritt, um mir einen Theaterzettel samt seiner Visitenkarte zu überbringen, war noch viel merkwürdiger. Denn Scholl gehörte zum demokratischen Verein und ich zum Vereine »für Freiheit, Gesetz und Ordnung«, und Hunde und Katzen pflegen sich doch sonst nicht mit Visitenkarte zu besuchen. Wenige Tage vorher hatte meine Mutter, die, allen politischen Händeln fremd, als die stillste Witwe in einem zwölf Stunden entfernten Städtchen wohnte, ihre Kabisköpfe nicht können zu Sauerkraut einschneiden lassen, weil die beiden demokratischen Krautschneider des Ortes sich weigerten, das Kraut einer Frau zu schneiden, die einen so reaktionären Sohn geboren hatte, – und nun brachte mir dieser Hauptdemokrat gar einen Theaterzettel ins Haus! Dahinter schlummerte ein Geheimnis.

An demselben Tage, da Fräulein Rutland mir durch den Theaterzettel gedruckt bewies, daß sie wenigstens mit nicht gewöhnlichen Mitteln mit mir spiele und also vielleicht auch ihre anderen Rollen ungewöhnlich zu fassen verstehe, – an demselben Tage meldeten sich zwei unserer Schauspielerinnen krank. Das ganze Wochenrepertoire geriet ins Schwanken, vorab mußte Minna von Barnhelm, welche für nächsten Freitag bereits »stand«, nun ohne Zweifel fallen, wenn wir nicht in aller Geschwindigkeit eine »Dame in Trauer« entdeckten. Ich erzählte den Vorschlag, welchen ich neulich Fräulein Rutland in betreff dieser »Dame« gemacht, und wie das kühne Mädchen frischweg eingeschlagen habe, und jetzt wurden auch meine kälteren Kollegen gespannt auf diese originelle Sylvia. Nur unser Regisseur schüttelte den Kopf: er war dramaturgischer Legitimist, und solch revolutionäres Umstürzen aller überlieferten Fachschranken schien ihm höchst gefährlich. Allein man spielte damals Komödie in der Revolution, warum durften wir nicht auch Revolution in der Komödie spielen? Er ward überstimmt. Die Rutland sollte gastieren, vorausgesetzt daß sie in Mainz das Klärchen mindestens ebenso originell gebe, wie sie das naive Theaterkind auf dem Wiesbadener Direktionsbüro gegeben hatte.

Also wählten wir aus unserer Kommission einen engeren Ausschuß von drei Mitgliedern, in welchem ich als verantwortlicher Anstifter natürlich nicht fehlte. Wir sollten übermorgen (Donnerstag) nach Mainz gehen, die Leistung des Klärchen prüfen und dasselbe günstigenfalls gleich mitbringen, da wir's für den Freitag ja höchst notwendig als Dame in Trauer brauchten. Ein kecker Handstreich; allein es war nun einmal das Jahr der kecken Handstreiche.

Kaum hatten wir diesen Beschluß gefaßt, so machte ich dem Lord meinen Besuch und brachte unvermerkt die Rede auf Fräulein Rutland. Ich ließ durchblicken, daß wir ganz besondere Pläne mit dieser Künstlerin hätten, und bemerkte nebenhin, daß sie keine mittelmäßige Schauspielerin sei, sondern vielmehr eine ungewöhnliche, ob aber ein Komet am Bühnenhimmel oder nur eine Sternschnuppe, der rasch verlöschende Splitter eines Kometen, das werde sich wohl übermorgen bei dem Wagestück der Goetheschen Rolle zeigen.

Ich hielt ein. Der Lord schwieg gleichfalls eine Weile, dann sagte er höchst gleichgültig und gelangweilt: »Sternschnuppen als Kometensplitter, das ist eine verschollene Hypothese Chladnis, die jeder tieferen Begründung entbehrt.« – Der Mann wußte alles.

»Die Rutland«, fuhr ich fort, »ist ein psychologisches Phänomen, vielleicht auch ein künstlerisches. Und es reizt Sie nicht, mit uns über dieses Vielleicht ins klare zu kommen?«

»Hier liegen meine Reiche!« rief der Lord, und seine langen Arme wurden noch länger, indem er sie über den Tisch breitete, der mit einem Haufen von Büchern und Flugschriften bedeckt war. »Ich schreibe, wie Sie wissen, an einem Buche über den Kredit und stehe bei dem schwierigen Kapitel von den Schuldgesetzen. Hier der Sachsenspiegel, dort das kanonische Recht, da drüben die klassischen Autoren, Plutarch, Demosthenes, Xenophon und Niebuhr und Savigny dazu: was soll mir Sylvia Rutland unter ihnen? Freund, die Wissenschaft ist so endlos groß, man muß sich sammeln, beschränken, und ich rate Ihnen, das gleiche zu tun! Sonst genügte es, einen Stoff wie diese Schuldgesetze historisch bis zu den Griechen und Römern zu verfolgen, dann drang man auch ins Mittelalter; heute aber müssen wir noch den Orient dazu erobern, die Wiege der Menschheit. Kennen Sie die Schuldgesetze der Chinesen, der Inder und Perser? Ich jage ihnen nach, erhasche aber sehr wenig, und über die Malayen habe ich noch gar nichts gefunden. Schaffen Sie mir einen malayischen Code de commerce, sein Anblick würde mich gegenwärtig zauberhafter fesseln als die schönste Schauspielerin in ihrer schönsten Rolle.«

»Sie haben recht«, entgegnete ich, »bleiben Sie zu Hause! Wir müssen uns sammeln, ein jeder nach seiner Art. Die Theorie des Kredits studiert man nicht bei den Schauspielerinnen, und die Lex Poetelia liegt Ihnen näher als alle Poeten. Anders steht es mit mir. Ich studiere die Psychologie des Volkes und des Individuums, darum gehe ich in den Landtag, ins Schwurgericht, auf den Markt, ins Theater, und so ein neckisches Theaterkind wie diese Sylvia kann mir für meine Quellenforschungen wichtiger sein als das ganze kanonische Recht. Meine konzentrierten Studien unterscheiden sich von den Ihrigen im Grunde nur durch das anziehendere Material.«

Unser Lord war doch das Muster eines zukunftreichen jungen Mannes. Er hatte auf den Schulen immer den ersten Platz und die ersten Noten gewonnen und summa cum laude promoviert, er war der zunftgerecht gediegene Arbeiter, wie er sein soll, er mußte gewiß dereinst noch ein großer Gelehrter werden. Übrigens war ich jetzt fest überzeugt, daß er ein besonderes Interesse an Sylvia Rutland nahm und im Egmont gewiß nicht fehlen werde, ja ich schöpfte den gegründeten Verdacht, der Lord habe auch in den letztvergangenen Wochen schon das Mainzer Gastspiel der Rutland mit noch größerem Eifer verfolgt als die Schuldgesetze des Orients. Denn so kalt und ablehnend sprach er nicht umsonst von einer schönen Schauspielerin.

Am Donnerstag fuhren wir, der »engere Ausschuß«, verstärkt durch den Regisseur als sachkundigen Beirat, nach Mainz zum Egmont. Dem ältesten meiner beiden Kollegen war es recht schwer geworden, an der Expedition teilzunehmen, denn der würdige Mann hatte am Vormittage sein fünftes Kind taufen lassen; doch ein jeder von uns faßte sein theatralisches Ehrenamt als ernste Pflicht selbst am Kindtaufstage.

Wir erreichten die Nachbarstadt noch zeitig genug, um uns zum kritischen Werke durch einen Trunk stärken zu können, nicht aristokratischen Weines, sondern demokratischen Bieres, wie es dem Geiste der Zeit entsprach. Zum besten Biere aber führte einen damals in Mainz wiederum ein Fingerzeig öffentlicher und volkstümlicher Kritik. Eine Anzahl Kenner hatte sich nämlich zu einer Art Bierkommission konstituiert, die parteilos und rein ehrenhalber prüfte, wo das beste Bier geschenkt wurde, und dann allwöchentlich das Ergebnis ihrer Forschung in Plakaten an den Straßenecken kundgab. Auf einem großen weißen Blatte stand mit mächtigen Typen bloß die Hausnummer des betreffenden Wirtes, eine Hieroglyphe für den Fremden, aber ein höchst wohltätiger Wegweiser für das durstige einheimische Volk. Wir folgten diesem Wahrspruch schon darum, weil uns eine gewisse Verwandtschaft jener Bierkommission mit unserer Theaterkommission anheimelte.

Vergebens spähte ich nach einem der Femrichter des Bieres in der dämmerigen, überfüllten Kneipe, fand aber statt dessen alsbald das wohlbekannte Gesicht unseres Lords, welcher zu spät den Kopf zur Seite wandte. Als er sich entdeckt sah, kam er dann höchst ungezwungen herbei und begrüßte mich mit dem Zuruf, ich hätte es auf dem Gewissen, daß er nun doch sich aufgemacht habe, um das »psychologische Phänomen« als Klärchen zu sehen, und scherzte über sich selbst und seine Launen.

Also hatte ich ihn richtig durchschaut.

Wir gingen zusammen ins Theater, der Lord nahm seinen Platz neben uns: Auswahl von Plätzen war noch genug vorhanden, das Haus klassisch leer. Man beklagte im Publikum die arme Benefiziantin, allein warum habe sie auch so unklug und anmaßlich gewählt?

Das Stück machte einen Eindruck, den wohl nur wenige erwartet hatten: Egmont im Jahre 1848 und Egmont in der vormärzlichen Zeit waren zwei ganz verschiedene Dramen. Die Volksszenen wirkten hinreißend lebensfrisch; es war, als habe der Dichter jeden Zug unserer eigenen Gegenwart abgelauscht, aber auch die Schauspieler gaben ihren Bansen, Jetter, Soest wunderbar getreu nach der Natur: liefen ihnen doch die Originale auf der Gasse und im Wirtshause täglich über den Weg. Die idealen männlichen Charaktere, Egmont und Oranien, wurden freilich schwach gespielt und obendrein gedrückt und verdunkelt von den naturalistischen Männern aus dem Volke. Dafür hob sich Klärchen um so lichter und reiner ab. Zwar konnten mich die Szenen des ersten Aktes mit der Mutter und Brackenburg nicht ganz befriedigen. Der »tolle Springinsfeld«, wie die Mutter ihr Klärchen bezeichnet, trat etwas zu lebhaft hervor; die zarteren Töne versagten hier und da. Das Publikum war aber doch erwärmt, überrascht, es hatte sichtbar weit Schwächeres erwartet und brach in jenen echten Beifall aus, der mit einem Schlag alle Hände bewegt. Man fühlte dieser Schauspielerin an, sie ist eine Natur, eine Kraft; sie kommt plötzlich in ihr rechtes Element, sie regt die Schwingen, wobei sie freilich mitunter noch etwas zu heftig flügelt und flattert.

So genügten denn diese ersten Szenen schon, uns für ein Gastspiel zu entscheiden. Ich ging mit unserem Regisseur, vor dessen bekannter Gestalt sich jede Pforte öffnete, zum Bühnenraum. Sylvia war bald gefunden, freudestrahlend über den guten Erfolg; sie schien uns fast erwartet zu haben. Wir gratulierten, und da Klärchen im zweiten Akte nicht auftritt, so setzten wir uns selbdrei etwas seitwärts unter die Donnermaschine, wo wir gemütlich unsere Verhandlungen begannen, indes die Volksmänner, dann Egmont und Oranien nebenan weiterspielten.

Wir boten sechs Gastrollen mit höchst mäßigem Honorar – die Theaterhonorare hatten damals Revolutionskurse und standen noch tiefer als die österreichischen Metalliques. Sylvia war mit allem zufrieden, nur begehrte sie die sechste Rolle als halbes Benefiz. Das durften wir nicht zugestehen, es ging gegen Brauch und Grundsatz, unsere Abonnenten mit solchen Benefizen, dem Krebsschaden der kleinen Bühnen, zu verstimmen. Eher wollten wir uns zu etwas besserem Honorar erheben; allein Sylvia beharrte auf ihrer Forderung. Wir redeten lange herüber und hinüber, der kurze zweite Akt war zu Ende, der Zwischenakt abgelaufen, der Inspizient winkte, Sylvia flog von der Donnermaschine auf die Szene, der Vorhang ging in die Höhe, und diese selbe Sylvia, welche eben noch, die Worte »halbes Benefiz«, »Abonnenten«, »geringe Gage« zwischen den Lippen hatte, sang: »Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein« mit einer Innigkeit und kindlichen Wahrheit der Empfindung, daß es uns recht durchs Herz zitterte! Solch ein Übergang war nur der geborenen Schauspielerin möglich, dem Theaterkinde, welches auf der Bühne groß gewachsen war.

Im dritten Akte steigender Beifall. Unübertrefflich schön spricht sie die Worte: »So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese!« Sie hatte sich das halbe Benefiz mit diesem Ausruf gewonnen. Unter dem unmittelbaren Eindrucke desselben gingen wir Kunstrichter hinaus auf den Theaterplatz, um uns freier austauschen, beraten und beschließen zu können. Der Lord ging natürlich auch mit. Es war ein erhebender Augenblick, als wir so seelenvergnügt über den köstlichen Fund im Mondschein unter dem Gutenbergdenkmal standen; der alte Johannes Gensfleisch schien unserem Rate zu präsidieren, und unter seinem Vorsitz beschlossen wir, auf die Forderung der Rutland einzugehen, sofort mit ihr abzuschließen und sie womöglich noch heute abend nach Wiesbaden mitzunehmen; denn wir fürchteten, der Mainzer Direktor möge nach dem ganz unerwarteten Erfolg am Ende noch mit neuen Anträgen in die Quere kommen. Wir waren sämtlich sehr aufgeregt, aber der Lord schwärmte doch am tollsten.

Ich kehrte mit unserem Regisseur hinter die Kulissen zurück. Doch war es uns nicht möglich, die Schauspielerin vor dem Beginn des fünften Aktes wieder zu sprechen. Mit der drängenden Dramatik des Stückes wurde nun auch die Dramatik unserer Szenen hinter der Szene immer drängender.

Erschütternd wirkte Sylvia, als sie die Bürger vergebens zur Befreiung Egmonts aufrief: hier gipfelte ihre Kunst. Es war nicht das gewaltige Pathos einer großen Tragödin, es war ein verzehrendes Feuer, welches in einem kindlich innigen Gemüt nur einmal, nur unter ganz ungeheuren Kämpfen entfacht wird, dann aber auch um so wilder lodert und das zarteste Weib zum Manne macht. Sylvia spielte die Szene, als ob sie nur gerade diesmal so mächtig spielen könne, als ob sie solch eine Lage selber schon erlebt habe. Nicht vorhin, wo ihr Brackenburg das Garn hielt und wo andere Klärchen naiv sind, sondern erst jetzt war sie wirklich die Schauspielerin vom naiven Fach, und gerade dies wirkte so tief in dem stürmischen Pathos. Ein endloser Jubel der Zuschauer schallte zu uns herüber.

»Komm, Brackenburg, nach Hause! Weißt du, wo meine Heimat ist?« – als Sylvia mit diesen Worten in die Kulisse trat, wollte ihr mein Begleiter, unser Regisseur, gleich entgegeneilen, um den Vertrag richtigzumachen. Ich hielt ihn am Arme zurück: »Nicht jetzt! Mann! wie können Sie unter der Wucht solchen Eindruckes gleich wieder vom halben Benefiz sprechen! Dieses Klärchen wird Sie vernichten!«

»Sie vernichtet uns nicht«, entgegnete er lächelnd. »Wir haben Eile! Nur noch Egmonts Monolog, dann jagen sich die Schlußszenen, die Rutland muß sich noch einmal umkleiden, jetzt kann sie mit uns reden.«

»Aber ich kann es jetzt nicht!« rief ich wütend und hielt ihn fest zurück. Er sah mich kopfschüttelnd an, als wolle er sagen: da sieht man doch den Neuling im Bühnenleben!

So verstrich die kostbare Zeit, und wir mußten warten, bis sich Klärchen vergiftet hatte. Nachdem sie das Gift genommen, kamen wir dann auch sofort mit unserem Vertrag und allen Zugeständnissen. Sie schlug gar fröhlich ein. Die Töne der Beethovenschen Musik sangen ihr eben die Todesklage. Allein wir waren noch nicht fertig: sie sollte uns noch zwei Punkte zugestehen. Und doch hätte sie unverweilt in die Garderobe gemußt, sich umzukleiden, um nachher als Genius der Freiheit »in himmlischem Gewand«, wie Goethe vorschreibt, auf der Wolke zu erscheinen.

Drängend faßte ich Sylvia bei der Hand, und wenn Egmont ohne die Vision der Freiheit diesmal hätte sterben müssen, ich würde sie nicht losgelassen haben, bevor sie uns versprochen, was wir wünschten. Sie sollte gleich morgen die »Dame in Trauer« spielen. Zögernd, widerstrebend willigte sie ein. Aber um zehn Uhr ist die Probe, die Rolle muß noch gelernt werden, Sylvia muß heute noch mit uns nach Wiesbaden fahren. Sie weigert sich. Wir bitten, beschwören, der Inspizient drängt das Klärchen, welches noch immer nicht den Mantel der Freiheit übergeworfen, zur Garderobe, wir jagen uns von drei Seiten wechselweise in steigendes Fieber; schon ruft Egmont draußen: »Schöne freundliche Gewohnheit des Daseins, von dir soll ich scheiden!« Sylvia reißt sich los, – aber sie sagt zu, an der Tür der Garderobe. Wir haben gewonnen!

Wir eilten auf den Korridor und ließen unsere Freunde aus dem Parkett rufen, unser Wagen hielt bereits vor dem Theater. Der Lord war ganz verwandelt. Sylvia Rutland war ihm mittelmäßig gewesen, solange sie mittelmäßigen Beifall gehabt, jetzt war sie die größte Künstlerin. Er ging überall mit der Mehrheit und bedachte nicht, daß das Publikum fast ebensooft durchfällt wie die Schauspieler. Umgekehrt regte sich bei mir auf der Höhe der Begeisterung bereits der Gegenzug der zweifelnden Kritik. Gibt es nicht Irrlichter der sprunghaften Genialität in der Kunst, welche sich plötzlich zu einer ungeahnt hohen Leistung aufschwingen, aber nur einmal – und nicht wieder? Der Kontrast von gestern auf heute war mir zu grell bei diesem wunderlichen Mädchen; ich fürchtete den Rückschlag.

Unser Regisseur aber rief: »Wer die Rutland bloß aus dem Zuschauerraume sah, der hat nichts gesehen! Ihr Doppelspiel hinter den Kulissen und vor den Kulissen, das war ein Triumph! Ich spiele seit dreißig Jahren Komödie, aber dergleichen ist mir noch nicht vorgekommen. Eine Primadonna, welche als Königin auf dem Throne sitzt, umgeben von ihren Großen, und während des Ritornells durch ihr erhabenes stummes Spiel imponiert – in der Tat aber fragt sie den einen Großen, ob er heute (es war Martini) auch eine Martinsgans gegessen, und bemerkt zu dem anderen Großen: mit Apfel und Kastanien gefüllt, das schmeckt am besten, und singt dann ganz großartig ihre Herrscherarie – solches und ähnliches habe ich wohl erlebt. Aber ein Klärchen, welches die Rolle zum erstenmal spielt und fort und fort mit gleichen Füßen von der erhabensten Poesie in den Kontrakt und vom Kontrakte in die erhabenste Poesie springt, – das ist noch gar nicht dagewesen!«

Profane Worte! und doch, sie gehörten zum Ganzen, und ich dachte wiederum an das krebsrote Kanapee und den Faustmantel.

Das Schauspiel war zu Ende. Als wir Fräulein Rutland, welche das »himmlische Gewand« rasch mit ihren Straßenkleidern vertauscht, zum Wagen führten, riefen sie drinnen noch: »Rutland heraus!« Der Lord stand am Schlage, er half der Künstlerin hinauf und erschöpfte sich in Glückwünschen. Er wäre gar zu gerne mitgefahren, allein für ihn gab es keinen Platz mehr.

»Hätten Sie gestern nur mit einer Silbe angedeutet, daß Sie herüberkommen wollten, so würden wir einen größeren Wagen genommen haben«, sagte ich boshaft. Die Pferde zogen an. »Halt!« rief ich dem Kutscher und winkte dem Lord. Er kam mit einem letzten Hoffnungsschimmer eiligst nachgesprungen, und ich rief zum Wagen hinaus: »Über die Schuldknechtschaft der Malayen habe ich eine Quelle aufgespürt: Memoir of the life of Sir Stamford Raffles! – Kutscher, fahr zu! – Und – Halt! – was das Kreditwesen der Chinesen betrifft, vergessen Sie nicht das Buch von Davis: The Chinese, erster Band!«

Wir rollten davon. Seine Antwort verhallte. Ich glaube, er hat mich samt allen Schuldgesetzen des Orients und Okzidents zum Teufel gewünscht.

Unter frisch herüber- und hinüberfliegenden Gesprächen lustig davonfahrend, wurden die Eindrücke des Abends noch einmal ausgetauscht, bis wir bei der Torwache in den Kasteler Vorwerken hielten. Der Anblick des österreichischen Unteroffiziers, welcher unsere Passierzettel abnahm und den überzähligen Genius der Freiheit auch ohne Zettel zur Bundesfestung hinausließ, brachte Sylvia aus den lauschenden künstlerischen Träumen zuerst wieder in diese reale Welt zurück. Denn sie fragte uns erschrocken und verlegen, wo sie denn absteigen solle in Wiesbaden. Wir entgegneten natürlich, daß wir im ersten Gasthofe für ihre Unterkunft sorgen würden. Allein sie beschwor uns, wieder umzukehren und sie nach Mainz in ihre Wohnung zurückzuführen. Ohne Dienerin, ohne Gepäck, im schlechtesten Hauskleide, die Kapuze eines alten Mantels über das blonde Lockenhaar geworfen, welches noch völlig in der Frisur des Genius der Freiheit auf die Schultern herabrollte, – in diesem Aufzuge konnten wir eine respektable Dame doch unmöglich in einen Gasthof bringen, und obendrein um Mitternacht!

Das Mädchen war unbesonnen gewesen, uns im Sturm der sich kreuzenden theatralischen und persönlichen Aufregung so zu folgen, aber wir ehrsamen Bürger und Familienväter handelten doch noch viel unbesonnener, als wir das arme Kind im Sturme unseres dramaturgischen Amtseifers dazu verleitet hatten. Guter Rat war teuer.

Da erhob sich jenes älteste Mitglied unseres Ausschusses, der würdige Mann, welcher am Vormittag sein fünftes Kind hatte taufen lassen und den wir im hintersten Winkel des Wagens schon eingeschlafen wähnten, und sagte, es werde seiner Frau ohne Zweifel eine besondere Freude sein, Fräulein Rutland für heute in seinem Hause zu beherbergen. Der Vorschlag wurde dankend angenommen.

Unser trefflicher Freund hatte nichts Kleines angeboten. Als wir vor seiner Türe hielten, mochte ihm wohl das Herz ein wenig in die Schuhe fallen. Seine Frau, gleich ihm den Künstlern und dem Künstlerleben völlig fernestehend, hatte ihn bis Mitternacht mit Sehnsucht erwartet und zugleich mit steigendem Groll auf das fatale Theaterehrenamt, welches ihr den Mann sogar am Tauftage entführte. Und nun brachte dieser Unglücksmann vollends eine Schauspielerin zu Gaste mit, deren anmutiges Köpfchen noch als Genius der Freiheit frisiert war; ja, beim Lichte zeigten sich auch noch einige leichte Reste von Schminke auf den verlegen errötenden Wangen!

Allein Sylvia wußte sich so fein und einnehmend zu geben und erzählte das ganze Abenteuer, welches sie hierhergeführt, so liebenswürdig und bescheiden, daß die gute Frau nach einer Viertelstunde schon ihrem Manne vollkommen recht gab, ja ihn als den Ehrenretter der ganzen Theaterkommission bewunderte und freudig die Überreste des Kindtaufkuchens zum verspäteten Tee auftrug, während Sylvia den inzwischen niedergeschriebenen Vertrag unterzeichnete.

Ich hatte nicht gesäumt, in der späten Stunde noch den betreffenden Band Lessing aus meiner nahen Wohnung herbeizuholen, damit Sylvia in aller Frühe die »Dame in Trauer« auswendig lernen könne.

Als dann zuletzt die freundliche Hausfrau der jungen Künstlerin persönlich ins Fremdenzimmer leuchtete, gab sie ihr den Rat, sie möge vor dem Nachtgebet die Rolle einmal durchlesen, dann aber den Lessing für die Nacht unters Kopfkissen legen. So habe es die Malibran gemacht, sie habe immer auf der Rolle des nächsten Tages geschlafen und darum niemals ein Wort auf den Souffleur zu singen gebraucht.

Gerührt folgte Sylvia diesem Rate buchstäblich und tat dabei im dankerfüllten Überschwange ihres neuen Glückes, was sie seit Jahren nicht getan: sie sprach ein altes, fast vergessenes Nachtgebet aus ihren Kindertagen.

Fünftes Kapitel

Auch das Wagestück mit Lessings trauernder Dame gelang tags darauf. Die gröberen Zuschauer nahmen gar keine Notiz von der kleinen Rolle, die feiner Gebildeten aber waren erstaunt über den durchdachten Vortrag und rühmten ganz besonders das schüchterne, befangene Wesen, welches die Künstlerin so recht im Geiste der Situation hervorzuheben gewußt. Sie ahnten nicht, daß diese Befangenheit zumeist daher rührte, weil Sylvia ihre Rolle erst heute morgen auswendig gelernt hatte. So erscheinen unsere geheimen Schwächen gar manchmal als besonders feine Vorzüge unseres Charakters – vorausgesetzt, daß wir kluge Schauspieler sind.

Als die Rutland demnächst in einer größeren Rolle auftrat, war das Publikum erstaunt, daß auf so bescheidenen Anfang so Bedeutendes folge; dazu verbreitete sich die Kunde von dem völlig ungeahnten Triumphe, welchen die Künstlerin in Mainz gewonnen habe, und über ihr rätselhaftes Verschwinden von dort wob sich ein kleiner Sagenkreis. Jetzt hatte sie gewonnen Spiel, der Zauber des Ungewöhnlichen ruhte auf ihrem Wesen, also fand man ihre Kunst selbst da ungewöhnlich, wo sie im Grunde gewöhnlich war. Wir konnten zuletzt nichts Klügeres tun, als den Gast zum dauernden Mitglied unserer Bühne gewinnen.

Niemand war so befriedet von diesem Endergebnisse wie der Lord, aber der Weg, auf welchem wir dazu gekommen waren, ärgerte ihn. Er begriff nicht, daß Sylvia Rutland nur durch kühne Seitensprünge aus dem lähmenden Kreislauf der »brauchbaren Mitgliedschaft« herausschreiten konnte. War er doch selber ein so gar »brauchbares Mitglied« in seiner Sphäre. Es gibt Naturen, die gehen zugrunde, wenn sie den geweisten Pfad der Zunft und Schule verlassen, andere verderben, wenn sie ihn nicht verlassen. Der Lord warf mir vor, ich ruiniere die Rutland durch Förderung ihres sprunghaften Wesens; ich rühmte mich, sie eben dadurch zu retten.

Er fand überhaupt durchweg viel zuwenig Mathematik in unserem Bühnenregiment und bewies uns öfters, daß auch die Pflege der Kunst auf statistischer Grundlage – in Tabelle und Bild – ruhen müsse. Zu unserem großen Spaß und seiner lebhaften Genugtuung zeichnete ich eine Gebirgskarte des Kassenerfolges sämtlicher Theaterstücke und nagelte sie über das krebsrote Kanapee. Bringt man doch das Steigen und Fallen der Getreidepreise, der Staatspapiere, des Nervenfiebers und der Cholera in das Bild einer Höhenkarte, warum nicht auch den berechenbaren Kurs der dramatischen Kunst? Don Juan, Lumpazivagabundus und Robert der Teufel ragten über die Schneelinie; Tasso, der beste Ton und der versiegelte Bürgermeister begegneten sich auf dem Niveau des Mittelländischen Meeres; Nathan der Weise lag ein paar hundert Fuß unter der Meeresfläche gleich dem Toten Meere; die Tiphonia von Karl Zwengsahn aber, welche uns und mancher anderen Direktion als »altenglisches« Schauspiel für vierzig bare Gulden war aufgebunden worden, sank noch unter das Tote Meer und unter den Nathan, einsam, nur sich selbst vergleichbar.

Ich wuchs um etliche Fuß in der Achtung des Lords, als er diese Gebirgskarte sah.

Allein er wuchs nicht in meiner Achtung, als ich wahrnahm, daß er die vorher so tief unterschätzte Rutland jetzt sehr fleißig besuchte und sich lebhaft um ihre Gunst bewarb. Es ist ein Kreuz aller Bühnenkünstlerinnen, daß sie so viele müßige Besuche dulden und tragen müssen; denn jedem Zurückgewiesenen wäre die Rache so gar leicht. Er braucht am nächsten Abend nur ein klein wenig zu zischen, – der bequemste Ton, den man hervorzubringen vermag, und wie tief schneidet er der Betroffenen ins Herz!

Um diese Zeit erregte eine befremdende Tatsache meine Aufmerksamkeit. Mehrere demokratische Lokalblätter hatten bisher nur bitteren Tadel über unser Theater ausgeschüttet. Seit Sylvia Rutland engagiert war, verstummte dieser Tadel; man lobte die Künstlerin und schwieg schonend über die vielgeschmähte Direktion. Ich hegte Verdacht, daß der Lord bei diesem Umschwung die Hand im Spiele habe. Zwar hätte er's für unverantwortliche Zersplitterung gehalten, einen gediegenen dramaturgischen Aufsatz zu schreiben; allein für den Nebenzweck des Kultus einer hübschen Schauspielerin leichtfertig zu rezensieren, das ist selbst bei dem strengsten Fachmanne keine Zersplitterung, und triebe er sonst Astronomie oder Sanskrit.

Doch schwankte mein Verdacht auch nach einer anderen Seite. Jener Scholl, welcher mir den Mainzer Theaterzettel ins Haus gebracht, war ein Landsmann und Jugendfreund Sylviens, und eben als ihren einzigen und alten Bekannten in Wiesbaden hatte sie ihn damals ersucht, mir den Zettel einzuhändigen. Er führte ein großes Wort in der demokratischen Presse, sollte er nicht auch ein kleines Wort für seine Landsmännin nebenbei führen und uns gewogen sein, weil wir sie gehoben, weil wir sie hierhergebracht hatten? Allein es zeigte sich keine Spur eines weiteren Verkehrs zwischen ihm und der Schauspielerin, und Scholl war ein so leidenschaftlicher Politiker, daß sein Herz kaum Raum haben konnte für noch eine andere Leidenschaft.

Wir grüßten uns neuerdings beim Begegnen, und er legte da und dort ein auffallendes Wohlwollen für mich an den Tag. Einmal stellte er mich geradezu auf der Straße und redete mir ins Gewissen wegen meiner politischen Ketzerei. Tiefbekümmerten Tones beschwor er mich, abzustehen von meinen Angriffen auf die Demokratie, mir drohe Gefahr, furchtbar werde die Volksrache in kurzer Frist hereinbrechen und uns alle zermalmen. Es wurde mir ordentlich angst, nicht vor der drohenden Volksrache, sondern vor der wohlmeinenden Exaltation dieses Mannes, der sich zu meinem Schutzengel berufen glaubte.

Eine noch merkwürdigere Szene begab sich bald nachher. Ich ging eines Abends durch die belebte, aber sehr dunkle Langgasse. Wie mein Schatten folgte mir ein junger Bursche und sang mir mit lauter Stimme: »Heiopopeio!« ins Ohr. Uns Männer von »Freiheit, Gesetz und Ordnung« höhnte man damals nämlich mit diesem Wort und Gesang, weil die Gegner sagten, wir wollten mit der politischen Wiegenliederweisheit unseres Vereines das Volk einschläfern wie ein Wickelkind. Ich ließ den Burschen lange Zeit ruhig singen und ging meiner Wege. Plötzlich aber sprang ein anderer Mann herzu, ich hörte eine, zwei kräftige Ohrfeigen schallen, so rechts und links, der Sänger verstummte und lief pfeilgeschwind in eine Seitengasse. Die Ohrfeigen saßen fest, und kein Doktor konnte sie wieder abnehmen, leider aber hatte sie der Unrechte gekriegt, ein Schusterjunge, welcher ganz harmlos und still gleichfalls hinter mir dreinging und sich nun heulend beklagte über die irrtümlich geschenkte Gabe. Mein Rächer, der so blind dreingefahren, beschwichtigte ihn, und dieser Rächer war – Herr Scholl.

Ich drückte ihm mein Erstaunen aus über eine rettende Tat, deren ich nicht bedurft und die ich von ihm am wenigsten erwartet hätte. Allein er erklärte, es sei ihm eine Ehrensache gewesen, mir Genugtuung zu verschaffen. Als Menschen müsse er mich ehren, wenn er mich auch als politischen Gegner hassen müsse, übrigens sei er mir auch persönlich zu Dank verpflichtet. Der Frage, wodurch ich denn Anspruch auf einen so seltsam dargelegten Dank gewonnen habe, wich er aus und verschwand im Dunkeln.

Am Ende konnte doch nur die schöne Landsmännin Ursache sein, daß sich Herr Scholl für meinen Schuldner hielt. Sylvia beteuerte auch diesmal wieder, der arme, ungestüme Flüchtling sei ihr eben bloß ein Landsmann, nichts weiter. Ging denn im partikularistischen Deutschland die Treue der bloßen Landsmannschaft so weit, daß ein Haupt der Demokraten mich in seinen politischen Schutz nahm und mir zu Ehren seinen eigenen Parteigenossen ohrfeigte, einzig darum, weil ich seine Landsmännin in meinen künstlerischen Schutz genommen hatte? Freilich konnte sich der exaltierte junge Mann auch in einer stillen Leidenschaft für die Landsmännin verzehren, von welcher dieselbe gar nichts ahnte. – »Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?«

Bald jedoch wurde diese Vermutung durch einen anderen Vorfall wieder zurückgedrängt. Eines Morgens öffnete sich weit die Türe unseres Büros, wo ich einsam saß, Reichstagsverhandlungen über die Grundrechte lesend, und herein drang der ganze weibliche Chor und pflanzte sich in zwei Halbchören rechts und links in das enge Zimmer, wie er's von der Bühne her gewöhnt war. Wir lebten in der Zeit der Sturmpetitionen, und unsere Choristinnen hatten sich eben auch zu einer Sturmpetition erhoben. Die Chorführerin des rechten Flügels, eine sehr starke Person von bereits ehrwürdigem Alter, trat vor und überreichte mir eine Beschwerdeschrift, welche sie mit einem mündlichen Vorwort erläuterte. In diesen Tagen des Umsturzes, so begann sie, schüttle alles Volk lästige Pflichten und Leistungen ab, beim weiblichen Chore hingegen benütze man das Halbdunkel eines schwankenden Übergangszustandes, um ihm ganz unvermerkt neue Lasten zu den unzeitgemäßen alten aufzubürden. Der Theaterschneider verwische tückisch die Grenzen der französischen und deutschen Garderobe, ja die Grenzen zwischen Rock und Mieder, er wolle das deutsche Kleid französisch und nachgerade jeden Rock zum Mieder machen, der Theaterkasse zum Vorteil, den armen Choristinnen aber zu einer unerschwinglichen Last, welche als dauerndes Servitut einzuwurzeln drohe. Sie seien gekommen, hiergegen zu protestieren.

Ich verstand von alledem kein Wort und bat, man möge mir doch diese Erläuterung ein wenig erläutern.

Hierauf gab die Führerin des linken Halbchores, eine hagere Brünette, in klarem Vortrag mit leider sehr ausgesungener Stimme folgenden verständlichen Aufschluß: Alles, was man in der Theatersprache »deutsche Garderobe« nennt (alte und neue Charakterkostüme), wurde von der Direktion gestellt, bei der »französischen Garderobe« hingegen (elegant modernes Kleid) hatte die Direktion nur für den Rock zu sorgen, das Mieder mußten die Choristinnen selber beschaffen und umgestalten. So war der überlieferte Rechtszustand. Der Schneider aber wurde beschuldigt, allerlei deutsche Tracht französisch zu nennen und die Röcke für einen bloßen Ausfluß des Mieders zu erklären – gleichwie Napoleon Holland eine bloße Anschwemmung des Rheines genannt hatte –, lediglich um jene Gegenstände der Nadel und dem Beutel der Choristinnen aufzubürden. Wie bei so vielen Rechtshändeln erging es auch hier: das strittige Objekt verdarb unter dem Streite, die »elegant moderne« Tracht des weiblichen Chores kam jämmerlich herunter. Darum, so schloß die Rednerin, handle sich's nicht bloß um das Recht, sondern auch um die Ehre des Chores. Wenn sie im zweiten Akte der »Regimentstochter« als ein glänzender Zirkel von Gräfinnen und Baronessen erschienen und die Chorführerin, als Herzogin, von Craquitorpi, entrüstet frage: »Beträgt man sich so gegen den höchsten Adel des Landes?«, dann werde der Chor samt seiner Herzogin regelmäßig ausgelacht; denn der höchste Adel pflegte doch nicht entfernt in solchen Kleidern einherzugehen.

Ich verhieß rascheste Abhilfe jeder gegründeten Beschwerde und versprach, eine genaue Feststellung der natürlichen Grenzen zwischen deutsch und französisch und Rock und Mieder bei der Kommission zu befürworten, erlaubte mir aber auch eine dramaturgische Bemerkung. »Das Publikum, meine Damen, lacht nicht über Ihr Kostüm, welches freilich sehr einfach, aber doch kleidsam und anständig ist; es lacht über etwas ganz anderes. Würden Sie sich allesamt einer wahrhaft vornehmen Haltung in Gang und Gebärde befleißigen, würde namentlich Ihre Herzogin jenen Satz mit echt aristokratischem Stolze sprechen, ich wette darauf, keinem Menschen fiele es fürder ein, bei dieser Szene zu lachen.«

Das war ein Wort zur bösen Zeit. Verschiedene unter den Anwesenden hatten wechselweise schon die Herzogin gespielt, sie fühlten sich alle persönlich beleidigt. Sie wollten mir in ihrer Gegenrede zeigen, daß sie wohl aristokratischen Stolz besäßen, den ich gekränkt habe. Vergebens suchte ich das entbrennende Wortgefecht auf höhere Gesichtspunkte zurückzuleiten, vergebens ihnen darzutun, daß gerade ihre gegenwärtige Heftigkeit nicht aristokratisch sei, sowenig wie das lächerliche Übermaß ihres Tones und ihrer Gebärden und auch des beanspruchten Putzes auf der Bühne. Die verschiedenen Herzoginnen drangen von drei Seiten auf mich ein, der Zirkel der Gräfinnen und Baronessen grollte im Hintertreffen, nur im Rücken war ich noch durch das große Kanapee gedeckt.

Da öffnete sich die Türe, und Fräulein Rutland erschien, höchst erstaunt, mich von einer so erdrückend großen Schar aufgeregter Damen bedrängt zu sehen. Ich wollte den Herzoginnen durch die Tat beweisen, daß ich recht habe, wie weiland der Lord dem französischen Flötisten. Darum schnitt ich augenblicklich allen weiteren Wortwechsel ab und entließ den Chor, halb in Gnaden, halb in Ungnaden.

Als wir beide dann allein waren, bat ich die Künstlerin stracks um einen großen Gefallen: sie möge nur ein einziges Mal mir zuliebe die Herzogin von Craquitorpi spielen, ganz im Kostüm der Chorführerin, ihr Name solle nicht auf dem Zettel stehen, kein Mensch um das Vorhaben wissen, sie habe nur einen Satz zu sprechen, aber in diesem Satz müsse sie echt, wahr und groß sein, wie Talma in zwei Worten am größten war: »Tiens! lis!«

Die Rutland glaubt anfangs, ich habe den Verstand verloren, daß ich ihr die Craquitorpi zumute; nachdem ich jedoch den eben erlebten Auftritt mit dem weiblichen Chore geschildert und ihr gezeigt hatte, wie fein sie durch ihr edles Spiel den Choristinnen dartun könne, daß der Fluch des Lächerlichen diesmal weder am Rock noch am Mieder hafte, fand sie meinen Plan äußerst lustig und schlug lachend ein. Sie spielte mir die Craquitorpi auch gleich zur Probe: einmal als eine Herzogin aus dem Chore, dann als eine wirkliche Herzogin. Der Kontrast wirkte unaussprechlich komisch. Diese Sylvia war doch ein Teufelsmädchen.

Allein ganz unerwartet wendete sich die Sache bei der Vorstellung. Unmittelbar vor dem Beginne kam Sylvia zu mir, sie war höchst aufgeregt und bat mich flehentlich, ihr die Craquitorpi zu erlassen. Vergebens erklärte ich ihr, daß dies jetzt unmöglich sei, habe sie die Rolle auch nur aus persönlicher Gefälligkeit übernommen, so dürfe sie doch in diesem letzten Augenblicke nicht wieder zurücktreten. Sie beschwor mich, sie schmeichelte, sie drohte: ich blieb fest, um so mehr, da sie den Grund ihrer heftigen Weigerung schlechterdings nicht enthüllen wollte. Sie schalt mich gar einen Barbaren, der ihren Frieden zerstöre, ihr Glück zertrümmere; allein übertriebene Worte ist man bei Schauspielerinnen gewöhnt und Eigensinn und Launen nicht minder: ich blieb fest. Da sie erkannte, daß ich durchaus nicht zu beugen sei, so rief sie endlich: »Gut! Ich werde mich zugrunde richten! Ich werde spielen!« und entfernte sich mit einem Blick voll tiefen Grolles und Schmerzes.

Fast fürchtete ich, sie werde uns dennoch steckenlassen und im entscheidenden Augenblick gar nicht erscheinen. Allein sie kam, vortrefflich in Gang und Haltung, vom Publikum unerkannt. In den Worten: »Beträgt man sich so gegen den höchsten Adel des Landes?« zitterte gekränkter Stolz, fast war es, als kämpfe sie beim letzten Tonfall mit dem verbissenen Weinen des Zornes – kein Mensch im ganzen Hause lachte, ich hatte gewonnen! –, aber als sie langsam abgehend in die Kulisse zurückkam und ich ihr dankend entgegentrat, machte sich das verbissene Weinen in einem Tränenstrome Luft, sie schleuderte meinen Dank weit hinweg und rief, vor Wut bebend: »Sie haben mich gezwungen! Es ist alles aus und vorbei! O wüßten Sie, hartherziger Mann, was Sie getan haben!« Vergebens waren alle meine Versuche, sie zu beruhigen oder auch nur zu näherem Aufschluß zu bewegen. Mit demselben stolzen, tragischen Schritte, mit welchem sie eben die Bühne durchmessen hatte, eilte sie davon.

Anderen Tages besuchte ich sie, redete ihr aufs freundlichste zu: vergebens! Sie ging in keiner Silbe mehr auf den Vorfall ein; sie war ruhig geworden, aber kalt, eiskalt, es war, als hätte ich die zarteste Saite ihres Innern zerrissen, sie behandelte mich fremd, feierlich, förmlich. Zuletzt erwachte auch mein Stolz, ich brach ab, und wir verkehrten fortan nur noch im dürftigsten Maße und in den gemessensten Formen.

Ich schöpfte starken Verdacht gegen den Lord: gewiß, er hatte Fräulein Rutland in der letzten Stunde bestimmt, ihre Rolle nicht zu spielen. Dieser lustige Versuch, der so keck über den Bann des Herkommens hinaussprang, mußte ihm höchst verkehrt, ja für Sylvia verderblich erscheinen. Und also besaß dieser glatte, kluge, feine, aber von aller Kunst und Poesie verlassene Mann bereits solch eine Gewalt über die Künstlerin! Nicht aus Angst über einen theatralischen Mißgriff konnte sie mich so heftig beschwören, zürnte sie mir jetzt so leidenschaftlich. Der Lord stand ihr ohne Zweifel weit näher, als ich geahnt; er hat mit dem Bruch seiner Liebe gedroht, wenn sie mir folge, wenn sie sich zu einer Choristenrolle herabwürdigen lasse. Sie hatte mich einen Barbaren, sie hatte mich hartherzig genannt: der Lord war der Barbar gewesen, welcher sie schonungslos in einen Konflikt zwischen ihrem Wort und ihrem Herzen stürzte. Das war die Saite, die er, nicht ich zerrissen hatte; aber auf mir ruhte jetzt ihr Groll. Und diesen Mann hatte ich durch diese Sylvia besiegen wollen: er hatte mich durch sie besiegt! Auch zweifelte ich jetzt keinen Augenblick mehr, daß jene plötzlich umschlagenden »Stimmen der Presse« eigentlich nur Stimmen des Lords gewesen seien. Einer jungen Schauspielerin schreibt man den wirksamsten Liebesbrief in Form einer Rezension: er kommt sicher an seine Adresse.

Ich begegnete dem Lord, und richtig, sein erstes Wort war ein Tadel über den Mißbrauch, welchen ich mit dem Talente der Rutland treibe. Er kam mir gerade recht; ich rief: »Sie haben die Rutland aufgewiegelt gegen die Direktion!«

»Nicht im mindesten! Aber Sie wiegelten die Rutland auf gegen den Chor! Der Chor ist nicht belehrt, er ist empört durch Ihr tolles Experiment.«

Also wußte er alles; nur Sylvia konnte es ihm erzählt haben. Er fuhr fort: »Sie verderben das Mädchen; das Publikum weiß gar nicht, was es aus einer Künstlerin machen soll, die heute die Craquitorpi spielt und morgen die Leonore Sanvitale.«

»Wenn sie dadurch nur um so besser lernt, was sie aus sich selber machen soll.«

»Sie lehren sie das Publikum verachten.«

»Das Buhlen um den Erfolg, um den Beifall des blinden Haufens ist der Ruin unserer Schauspieler.«

»Der Erfolg ist ein Gottesurteil!«

»Nur müßten wir dann auch den Erfolg des Erfolges kennen! Denn was uns gestern der Gipfel des Erfolges dünkte, erscheint uns morgen oft als ein Grundstein des Mißerfolges. Darum berufen sich nur schlechte Künstler und gewissenlose Staatsmänner auf das Gottesurteil ihres augenblicklichen Erfolges.«

Nun waren wir gegenseitig im schönsten Zuge. Die schärfsten Spitzen unseres innersten Wesens kehrten sich widereinander. Der Lord ging überall mit der Mehrheit, er folgte dem großen Strom der herrschenden Schule, der siegenden Partei; ich hatte allezeit das wärmste Herz für die aufstrebende, befehdete Minderheit; was zur allgemeinen Herrschaft kam, das wurde mir sofort verdächtig, und am liebsten ging ich ganz meine eigenen Wege. Wir kamen in wachsendem Streite auf die letzten Probleme der Politik, der Kunst, der Lebensphilosophie, und was der eine schwarz nannte, das war dem anderen weiß. So irrten wir weit, weit ab von der schönen Schauspielerin, über welche der Streit entbrannt war, aber wir behielten sie doch immer im Sinne. Ich glaube, wir standen zuletzt bei der christlichen Kirche, welche im apostolischen Zeitalter, da sie noch klein war, unterdrückt, eine verfolgte Minderheit, eben auch am reinsten und größesten gewesen ist, während sie in dem Maße entartete, als ihre Herrschaft wuchs und Land um Land eroberte. Weiter drangen wir nicht vor in der Weltgeschichte und schieden, die fruchtlosen Worte abbrechend, als bittere Feinde.

So war mit einem Schlage all der fesselnde Verkehr zwischen drei so eigengearteten Menschen zersprengt, und die erste und letzte Schuld trug doch nur der Theaterschneider, welcher die natürliche Grenze zwischen Rock und Mieder verwischt hatte.

Sechstes Kapitel

Ging ich von nun an gleich fremd und kalt an Sylvia vorüber, so hörte ich doch nicht auf, das seltsame Mädchen mit heimlicher Teilnahme scharf zu beobachten. Schon das Rätsel ihres Wesens mußte mich dazu verlocken, auch wenn ich ihr im Herzen weniger gut gewesen wäre.

Dieses Geheimnis, welches auf ihrer Kunst und ihrer Person ruhte, sollte sich mir aber endlich doch enthüllen. Und zwar durch ein neues, scheinbar noch dunkleres Rätsel, worin ich endlich den Schlüssel zum Ganzen fand.

Monate waren verstrichen, der Frühling 1849 ergrünte; doch sah's im Deutschen Reiche gar nicht frühlingsartig aus, das Parlament siechte seinem traurigen Ende entgegen, im revolutionären Lager schwärmte und summte es wieder: »Kampf für die Durchführung der Reichsverfassung« hieß das Schlagwort, welches durch die Reihen lief.

In dieser Zeit gaben wir eines Abends ein neues Lustspiel; Fräulein Rutland spielte die drollig-neckische Hauptrolle mit viel Humor. Während des ersten Zwischenaktes ließ mich einer meiner Kollegen aus dem Parkett auf die Bühne rufen, es liege ein dringender Fall vor, welchen er nicht allein entscheiden könne. Ich fand ihn Sylvien gegenüber, die sich wie ermattend und gebrochen an die Vorkulisse lehnte – im schimmernden Putze der ausgelassenen Rolle, womit sie eben vor den Lampen entzückt hatte, aber ach, in Wahrheit tief betrübt, mit dem Weinen kämpfend. Sie reichte mir die Hand – zum erstenmal wieder seit der unglückseligen Herzogin von Craquitorpi – und erzählte, daß sie vorhin einen Brief erhalten habe: ihre Mutter liege in Koblenz schwerkrank darnieder; sie bat schluchzend um drei Tage Urlaub. Allein kein einzelner von uns konnte Urlaub erteilen, solche Gesuche gehörten verfassungsmäßig vor die gesamte Kommission. Mich hatte sie wohl nicht im Hause vermutet. Gleichviel. Sie bat so rührend, der Gegensatz der lustigen Rolle und ihres tiefen Kummers griff uns ans Herz, es haftete Gefahr auf dem Verzug, kein dritter war augenblicklich aufzutreiben, geschweige die ganze Kommission, also überschritten wir unsere Vollmacht, gaben ihr den Urlaub, suchten sie zu trösten und hießen sie morgen früh in Gottes Namen ziehen. Sie dankte so innig und warm, und ich ging hinweg, als habe ich ein gutes Werk getan.

Ein Zufall führte mich nach einer halben Stunde noch einmal auf die Bühne, wiederum zu einem Zwischenakte. Es ging hinter dem Vorhange recht lustig zu. Das Orchester spielte draußen einen Walzer, und die Schauspieler machten sich die lockende Musik zunutze, um mit ihren Damen im tollsten Wirbel auf- und abzutanzen. Ich trat aus den Kulissen hervor, prallte aber sogleich wieder zurück: – die ausgelassenste von allen Tänzerinnen war Fräulein Sylvia Rutland, sie scherzte und lachte so laut, daß man's fast im Zuschauerraume hätte hören können!

Ich war versteinert. Also hatte sie uns belogen; ihre Tränen waren Theatertränen gewesen, ihr Kummer Maske, sie hatte die gottloseste und zugleich abgedroschenste aller Lügen angewandt, um uns drei Tage Urlaub zu wer weiß welchem Zwecke abzulisten! Man fällt bei einer Theaterdirektion öfters aus allen Himmeln, aber so garstig war ich noch niemals herabgefallen. Dienstmägde, die zur Kirchweih nach Hause wollen, machen's ja häufig geradeso wie diese bezaubernde Sylvia: sie heulen der Herrschaft ein Stücklein vor und sagen, ihre Mutter liege am Sterben. Kommen sie dann von der Kirmes zurück, so ist die Mutter urplötzlich wieder gesund geworden.

Sollte ich zwischen die tanzenden Paare treten und mit einem Blick das falsche Mädchen vernichten? Ich schwankte. Da gab der Inspizient das Zeichen, die Paare flogen auseinander, ein jedes stellte sich flugs an seinen Platz, der Vorhang ging auf, und die Komödie begann wieder. Sylvia spielte den letzten Akt mit ganz besonderer Laune, mit einer Heiterkeit, welche so frei aus der Seele perlte, wie sich's einem wirklich betrübten Herzen mit gar keiner Kunst abzwingen läßt.

Der Vorhang war gefallen, die Zuschauer verschwanden, der Souffleur kroch aus seiner Höhle, die Lampen wurden gelöscht, nur da und dort leuchtete noch eine Laterne der Werkleute aus dem Dunkel, nach und nach huschten die Schauspieler aus der Garderobe über die verödete Bühne und eilten nach Hause. Ich schritt im Hintergrund des Bühnenraumes auf und nieder, gemessenen Ganges gleich einer Schildwache. Endlich kam Sylvia, die letzte, aus der Garderobe; tief in ihren Schal verhüllt, wollte sie an mir vorübergleiten. Ich trat ihr in den Weg. Sie fuhr zusammen und blieb wie eingewurzelt stehen. – Wir schwiegen beide.

Sie brach zuerst die unheimliche Stille. »Sie haben mich erschreckt! Was hält Sie noch hier? Man wird die Türe schließen.«

»Ich war versunken, Sylvia, im Anschauen der schneidenden Gegensätze, die sich rastlos in diesem Hause jagen. Auch wann der Vorhang gefallen ist, auch wann die Lampen erloschen sind, schreitet der Geist der Poesie durch diese Räume, doch wie ernst und mahnend hebt er jetzt den Finger! Vor Minuten noch jubelte hier die überschäumende Freude, tobte die Leidenschaft, prahlte die Eitelkeit im Glanz von hundert Lichtern – und jetzt! – alles so stumm und tot, so leer und kalt und dunkel! Das Schweigen keines Kirchhofs spricht erschütternder wie so ein ausgestorbenes Theater. Alle die bunten Gestalten verstiebt! Nur einer schleicht noch dort durch die dämmernde Tiefe: Hamlet, den Schädel Yoriks in der Hand. Hinweg mit dem Gespenste! – Seltsame Gedankensprünge: – ich gedachte auch Ihrer, Sylvia. Es ist ein hartes Tagewerk, lustig sein zu müssen, wenn's im Herzen stöhnt und dröhnt. Armes Kind, wie bedaure ich Sie! Kaum die Träne aus dem Auge gewischt, leuchtend fröhlichen Herzens vor der Menge zu stehen, die Gedanken bei der todkranken Mutter, während die Lippe scherzt und lacht, und nun, wo der Vorhang gefallen ist, das volle öde Dunkel dieser Räume auch in Ihrer bekümmerten Seele!«

Sie schwieg. Ich faßte ihre Hand; sie zitterte heftig in der meinigen. »Leichter wohl ist es«, fuhr ich fort, »die Trauernde zu spielen bei innerem Jubel, Tränen zu heucheln, wenn man lachen möchte!« – ich sprach das kalt wie einen Gemeinplatz, aber ich blickte ihr scharf ins Gesicht: sie konnte mein Auge selbst in diesem Halbdunkel nicht ertragen. »Doch die Kunst«, begann ich wieder, »ist Selbstvergessen, und indem sie uns eine Stunde Selbstvergessen schafft, erweckt sie uns durch Qualen den wundersamsten Trost. Nur heischt Ihr Beruf fast zu viel jenes Selbstvergessens und fordert es auf die Minute nach dem Zeiger der Theateruhr; – da geschieht es dann so manchem Schauspieler, daß er aus lauter Kunst des Selbstvergessens zuletzt sich selbst verliert.«

»Und also halten auch Sie's für Sünde, aufs Theater zu gehen?« fragte Sylvia kleinlaut, um endlich doch ein Wort zu finden, wobei man gewöhnlich das unpassendste trifft.

»Für Sünde? Nicht im mindesten! Bleiben Sie wahr trotz allen Masken der Bühne, bleiben Sie sich selber treu, und Ihr Beruf ist so hoch und rein wie irgendeiner anderen Kunst. Wahrheit, Sylvia, darin liegt's! Und nun reisen Sie in Gottes Namen zu Ihrer kranken Mutter, und bedenken Sie, daß Gottes Segen jeden begleitet, der nach Wahrheit ringt und an seine Barmherzigkeit glaubt und treuen Sinnes ist, auch wenn er Komödie spielt.«

Wir verabschiedeten uns. Sylvia war verwirrt und beschämt; sie vermochte kaum mein Lebewohl zu erwidern. Vorhin im Zwischenakt mit der Schminke auf den Wangen konnte sie mich belügen; jetzt war die Schminke abgewischt, da ging's nicht mehr: sie schwieg und zitterte. Also war sie doch noch nicht gar verloren.

Ich tat mir etwas zugut auf meine Bühnenpredigt, gewiß, sie hatte gewirkt, und ich zweifelte kaum, daß Sylvia des anderen Tages zu mir kommen werde mit reumütigem Geständnis. Allein sie kam nicht. Dagegen erschien unser Kassenbeamter im Büro und berichtete, daß verschiedene Gläubiger Beschlag gelegt hätten auf einen Teil der Gage von Fräulein Rutland. Also erst sechs Monate hier und schon Schulden! Und doch lebte Sylvia höchst einfach, fast dürftig, und aus den eingereichten Rechnungen erhellte, daß sie durchaus keine Verschwenderschulden gemacht hatte. Die notwendigsten Lebensbedürfnisse waren unbezahlt. Was hatte das tolle Mädchen dann aber mit ihrem Gelde angefangen?

Ich war nochmals wie aus den Wolken gefallen. Doch faßte ich nach meiner Art die Sache gleich wieder von ihrer guten Seite und sprach zu mir: Sylvia ist so schlimm nicht, wie sie scheint; denn erstlich hat sie mich nicht fein, sondern plump belogen, wo sie doch aus zahllosen Rollen des naiven Fachs das seine Lügen so bequem hätte lernen können; zweitens konnte sie nur ordentlich lügen, solange sie geschminkt war, und drittens macht sie Schulden. Schöne Schauspielerinnen, welche andere Leute in Schulden stürzen, die sind schlimm; aber schöne Schauspielerinnen, welche selbst noch Schulden machen, sind alleweil die schlimmsten nicht.

Nach drei Tagen kehrte Fräulein Rutland zurück. Ihre Mutter war natürlich ganz unverhofft genesen.

Ich fand das Mädchen von da an auffallend verändert; sie war nachdenklich, schweigsam, auf der Bühne häufig zerstreut, ihr Geist war nicht bei ihrer Kunst, nicht bei der umgebenden Welt, ihre Leistungen wurden merklich schwächer, ungleicher. Mir ging sie wieder überall aus dem Wege. Ihrer Schulden halber doch wohl kaum. Schulden kommen beim Theater öfters vor, und Gagenabzug auf Antrag unhöflicher Gläubiger konnte dem geborenen Theaterkinde kaum etwas Neues sein. Sie fürchtete sich vor mir ohne Zweifel wegen etwas ganz anderem. Aber weswegen? Man mußte ihr Zeit lassen. Ein Theaterkind verschließt seine Geheimnisse nicht jahrelang.

Siebentes Kapitel

Kurze Zeit nachher – in der ersten Hälfte des Juni – machte ich eine kleine Reise an die Lahn. Doch duldete mich's nicht lange dort in den friedlichen Waldtälern; in Baden und der Pfalz fochten die Scharen der Aufständischen mit den Preußen und den Reichstruppen, der Geschützesdonner rollte fernher von der Bergstraße zu unserem Taunus herüber, die Unruhe über den Ausgang des traurigen Kampfes trieb mich früher, als ich gewollt, wieder nach Wiesbaden zurück.

Abenteuerliche Gerüchte schlugen unterwegs an mein Ohr, als ich von Idstein übers Gebirg zum Wiesbadener Talkessel hinabwanderte. In Ober-Seelbach erzählte man mir, Peucker sei bei Ladenburg völlig geschlagen worden, in Niedernhausen – eine halbe Stunde weiter – Darmstadt sei vom Revolutionsheere genommen, in Naurod – abermals eine halbe Stunde weiter – Wiesbaden stehe bereits in hellem Aufruhr. Ich beschleunigte meine Schritte und war recht froh, daß mein Weg so von hinten her durchs Sonnenberger Tal und die Kursaalanlagen in die Stadt bog, von wo ich erst ein wenig rekognoszieren konnte, um mit meiner mißliebigen Person doch nicht so geradezu wider eine Barrikade zu rennen.

In den Anlagen war's verdächtig stille, nur ein einziger Mann spazierte zwischen den Akazien und Platanen auf und ab. Er scheint mich zu erkennen, er winkt mir zu und eilt herbei: – es ist der Lord. »Eine große Neuigkeit!« rief er schon von weitem. (Wir hatten so lange kein Wort miteinander getauscht, aber freilich erschütternde Ereignisse lösen auch verfeindeten Menschen die Zunge.)

»Also gibt's wirklich Straßentumulte in Wiesbaden?« fragte ich. – »Nicht entfernt! Bei uns herrscht tiefster Friede.« – »Und Peucker wurde nicht bei Ladenburg von den Aufständischen geschlagen?« – »Das war nur eine Schlappe, keine Niederlage; im Gegenteil, Mieroslawski konzentriert das Hauptquartier des Revolutionsheeres immer weiter rückwärts. Aber Fräulein Sylvia Rutland ist vorgestern in dieses Hauptquartier abgereist, und das ist meine große Neuigkeit!«

Ich hielt den Schlußsatz anfangs für einen schlechten Spaß; der Lord beteuerte hingegen, es sei bitterer Ernst; – »doch«, fügte er hinzu, »sie ist nicht als Amazone dorthin gezogen mit der Pistole im Gürtel, sondern als tiefbetrübte Braut«.

Ich bat um näheren Aufschluß, und er sagte, den vermöge er um so sicherer zu geben, als die Rutland ihn geradezu beauftragt habe, mir die Gründe ihres Schrittes und manches andere Rätselhafte klarzumachen. Er sei gleichsam der bestellte Vollstrecker ihres letzten Willens.

So gingen wir denn in den schattigen Anlagen auf und ab, und der Lord erzählte. Als höchst ordnungsliebender Mann begann er seinen Bericht ganz von vorn; vergebens bat ich, daß er ihn zur Steuer meiner Ungeduld doch lieber von hinten anfangen möge. »Sie erinnern sich eines Herrn Scholl; er war Flüchtling, Hauslehrer und Volksredner und stammte aus Sylviens Vaterstadt. Das Kind einer angesehenen Beamtenfamilie, war er vornehm nach Maßstab des Ortes, Sylvia gering. Aus Spielkameraden wurden Schulkameraden, aus Schulkameraden Jugendfreunde, aus Jugendfreunden Liebende, aus heimlich Liebenden heimliche Verlobte, wie das so zu gehen pflegt. Der junge Mann rannte sich ins Unglück, mußte fliehen, verarmte, aber Sylviens Liebe verlor er darum nicht. So stand die Sache, als diese Rutland in Mainz spielte, noch viel eifriger jedoch nach Wiesbaden zu kommen trachtete. Sie waren damals, verehrter Freund, wie mir deucht, in einer kleinen Selbsttäuschung befangen: Sie glaubten, überwältigt von Ihren künstlerischen Ideen habe Sylvia den Egmont vor leeren Bänken zum Benefiz gewählt und die fingerlange Rolle der Dame in Trauer zur Antrittsrolle. Die Schauspielerin würde das niemals getan haben, aber die Liebende tat es. Es war der Zug zum Bräutigam, was Sie für den Zug zur idealen Kunst hielten.«

Der Lord sagte das mit stillem Hohne, so niederträchtig kalt und spitzig. Allein, konnte ich ihm widersprechen? Doch weiter!

Er fuhr fort. »Und noch eines: ich habe mir's niemals zu reimen vermocht, wie eine« (mit scharfem Akzent) »mittelmäßige Künstlerin, die bis dahin nur so dürftigen Erfolg gewann, in der Aufruhrszene des Egmont plötzlich so groß werden konnte. Jetzt ahne ich den Grund. Sie spielte eine Szene, welche sie selber erlebt, in Gedanken wenigstens mit sich durchgerungen, Herr Scholl war ihr Egmont – möge mir's Goethe verzeihen! –, sie spielte sich selber, und sie war und ist eine heißblütigere Demokratin als selbst ihr ungestümer Geliebter.«

»Dann muß sie's aber doch recht heimlich gewesen sein«, fiel ich ins Wort; »mir wenigstens hat sie's nie im leisesten Zuge verraten.«

»Ganz gewiß! Das Theaterkind war äußerst offenherzig und plauderte hundert Dinge aus, von welchen andere Mädchen schweigen. Aber in der Hauptsache machte sie's doch wie alle Mädchen: von ihrer innersten Leidenschaft schwieg sie, und diese Leidenschaft loderte in zwei verbundenen Flammen – der Politik und der Liebe.«

»Und hat sie Ihnen denn davon geredet?«

»Nein! bis vorgestern nicht. Aber stören Sie doch nicht den geordneten Gang meines Berichtes. Die Schauspielerin vom naiven Fach fühlte sich in den heiligsten Momenten ihres Lebens als jener Genius der Freiheit, welcher dem Geliebten den Lorbeerkranz entgegenhält, als jener Genius mit den wallenden Locken, den Sie in Mainz in Ihren viersitzigen Wagen packten und so schnöde vor mir fünftem Manne entführten. Sylvia hatte einen großen Zug zu Ihrer Person, aber die Kluft der politischen Partei hinderte doch das letzte, tiefste Verständnis. Die Künstlerin ertrug Ihre Verachtung der Majoritäten, die politische Schwärmerin war erzürnt darüber. Und ähnlich zwiegeteilt in dankender Verehrung und schroffer Gegnerschaft, suchte und floh Sie der Geliebte Sylviens. Dankerfüllt, daß Sie ihm die Braut hierhergebracht, und mehr noch, daß Sie und Ihre Kollegen das schutzlose Mädchen zu einer ehrenvollen Stellung erhoben und in die achtbarsten Familien der Stadt geführt, hemmte er den Strom des Tadels, welchen die Blätter seiner Farbe bis dahin so reichlich über die Theaterkommission ergossen hatten. Er mochte Sie gern in seinen Schutz nehmen und hätte Sie noch viel lieber bekehrt. Und im Grunde waren Sie ihm und Sylvien sehr nahe verwandt: alle drei exzentrische, idealistische Naturen, welche nur durch äußere Verhältnisse in drei ganz verschiedene Wege geschleudert worden sind.«

Der Lord hatte nicht unrecht. Mir fiel's wie Schuppen von den Augen. Zunächst verstand ich jetzt jenen nächtlichen Auftritt in der Langgasse. Nicht der Demokrat, der dankbar Liebende hatte dem Schusterjungen trotz aller Demokratie die irrtümliche Ohrfeige gegeben. Erführe das der Schusterjunge gleich mir, er würde sich eine ganz eigene Philosophie über den Kausalnexus der menschlichen Dinge bilden. Dann aber ging mir auch noch ein höheres Licht auf. Ich hatte Sylvien in vielen Stücken klar durchschaut und doch das Wichtigste übersehen, ich hatte vergessen, daß sie ganz und gar ein Kind ihrer Zeit war. Wir schrieben ja 1848 und 1849, und nicht einmal die Schauspielerin vom naiven Fach, wenn sie Kopf und Herz und Nerv und Leidenschaft besaß, konnte damals anders als in politischer Luft leben. Und also hatte ich Sylvien so fein beobachtet und dennoch schief; ich trieb den ganzen Tag Politik und Kulturgeschichte, nur der neckischen Künstlerin trat ich, wie zum Ausruhen, rein als Künstler, als Mensch, als Psycholog gegenüber und hätte doch selbst zu ihr den Kulturhistoriker mitbringen müssen. Der Lord erzählte weiter: »Sylvia machte Schulden; es sind durchweg politische Schulden gewesen. Was sie einnahm, das schenkte sie dem Geliebten, aber nicht für ihn, er wäre trotz seiner Armut viel zu stolz gewesen, dergleichen anzunehmen, sondern für die Partei. Und so ließ sie den Bäcker, den Schuster, den Schneider unbezahlt und schickte ihre Gage in die Kassen der demokratischen Vereine. Als dann die Gläubiger drängten, wandte sich das leichtsinnige Mädchen an mich und erschloß mir plötzlich ihr Vertrauen. Ich Tor glaubte, das sei nun endlich der Zug ihres Herzens, den ich so lange hervorzulocken bestrebt war. Ach, es war nur der Drang ihrer Schulden! Das ungebildete Theaterkind glaubte, ein Volkswirt sei ein Advokat, und weil ich mich stadtkundigerweise mit der Theorie des Kredits beschäftige, so suchte sie bei mir ein Geheimmittel, wie sie die Wiesbadener Geschäftsleute bewegen könne, ihr noch etwas länger zu pumpen! Herr Scholl erfuhr natürlich nichts von ihrer Not; der wähnte, sie schöpfe nur so aus dem vollen; und ich glaubte mich von ihr geliebt! Aber die Komödie der Irrungen ging noch weiter. Sie selbst traten nun auch ins Spiel, Sie glaubten mich begünstigt von Sylvien, sahen Sylvia beeinflußt durch mich und schoben mir's in die Schuhe, daß Sylvia sich geweigert hatte, die Craquitorpi zu spielen. Der echte, aber unbekannte Geliebte war's, welcher ihr eingeredet hatte, sie würdige sich herab in der Choristenrolle; die Sturmpetition der Choristinnen hatte dem Demokraten imponiert, er jubelte, daß sogar der weibliche Chor eines Hoftheaters von den freiheitlichen Formen und Ideen der Zeit ergriffen sei, er wollte es nicht dulden, daß seine Sylvia sich dazu hergebe, den Chor zu beschämen zugunsten eines aristokratischen Kunstprinzips, zur Genugtuung für einen Verächter der Majorität. Darum drohte er seiner Braut mit förmlichem Bruch, wenn sie die Herzogin wirklich darstelle. Dennoch erzwangen Sie die Rolle; aber Sylvia grollte Ihnen dafür als einem herzlosen Barbaren, der eigensinnig ihr Lebensglück bedroht hatte, und söhnte sich niemals wieder ganz mit Ihnen aus, obgleich sie sich mit dem Geliebten sehr bald wieder versöhnte. So kreuzten sich abermals Politik und Liebe selbst bei der Herzogin von Craquitorpi. Und ich armer, unschuldiger Mann erntete Ihren Haß, bloß weil Sie mir die Annäherung der Rutland neideten, welches doch nur schuldenhalber geschehen war. Jetzt aber kommt die Katastrophe. Neue Gewitterwolken sammelten sich am politischen Himmel in diesen Frühlingstagen. In Sachsen und Baden entbrannte der gewaffnete Aufruhr, Sylvia und ihr Geliebter wähnten, daß dies die letzte siegreiche Erhebung des deutschen Volkes sei, der letzte heilige Krieg. Scholl wollte ins badische Land eilen, und Sylvia selbst bestärkte ihn unter Tränen in seinem Entschluß. Allein bevor er zum Kampfe zog, forderte Sylvia, daß der Mann, welcher ihr bisher nur vor Gott und unter vier Augen verlobt war, zu ihrer alten Mutter reise (der Vater ist längst gestorben) und der Mutter das Geheimnis offenbare, damit sie beide den Segen der alten Frau mitnähmen in die bevorstehenden Tage der Angst und Ungewißheit. Die Mutter lebt in Koblenz. Sylvia hat Sie bei diesem Anlaß hintergangen; sie gab vor, zum Krankenbette ihrer Mutter zu reisen; die Lüge tat ihr bitter leid, sie beschwor mich, Ihnen dies zu sagen, aber sie konnte nicht anders. In der wilden, sich selbst betäubenden Freude über die beginnende Entscheidung des vaterländischen wie des eigenen Geschickes schwebte sie an jenem Abend zwischen Qual und Wonne, ihre Tränen waren so aufrichtig wie die stürmisch ausgelassene Lust des Tanzes, worin sie die Tränen erstickte. Und ihre Erschütterung, da Sie ihr nachher auf der dunkeln, verlassenen Bühne zu Herzen sprachen, war tief, nur allzu tief, das läßt sie Ihnen durch mich heilig beteuern. Als sie von Koblenz zurückgekehrt, als der Bräutigam ins Feld gezogen, war sie wie verwandelt; emporgehoben und zu Boden geschlagen von widersprechenden Gefühlen, schwankte sie auf der Bühne irrend umher wie im täglichen Leben, ja sie glaubte oft, gar nicht mehr leben zu können.

Da erhielt sie vor einigen Tagen die Nachricht, daß ihr Bräutigam in den Kämpfen an der Bergstraße auf den Tod verwundet worden sei. Bei dieser Kunde dachte sie zuerst, seltsam genug, an jenen Auftritt im dämmerigen Bühnenraume, wo Sie ihr ins Gewissen geredet, und der Gedanke, daß jetzt die echte Botschaft vom Sterbelager des Geliebten die Sündenstrafe sei für jene erdichtete Botschaft vom Sterbelager der Mutter, wodurch sie damals den Urlaub zur Verlobungsreise rasch hatte erhaschen wollen, brachte sie fast zum Wahnsinne. Aber sie ermannte sich. Gewöhnt, seit ihrer Kindheit selbständig zu handeln – beim Theater lernen's auch die Frauen, beschloß sie sofort, zur Revolutionsarmee zu reisen. vielleicht, daß sie den Geliebten noch lebend fände, ihn noch pflegen und trösten könne. Diesmal, bei der wahren Trauerkunde, ist sie ohne allen Urlaub abgereist.

Vorgestern früh erhielt ich drei Zeilen von ihrer Hand: dringend bat sie um meinen augenblicklichen Besuch. Ich glaubte törichterweise, nun beginne für mich der eigentliche Roman und Sylvia werde mir auch noch über etwas ganz anderes ihr Herz ausschütten als über ihre Schulden. Ich fand sie in stürmischer Vorbereitung zur Abreise, und statt zu einem Romane sah ich mich gleichsam als Notar zur Entgegennahme ihres Testamentes berufen. Sie erzählte mir alles, was ich Ihnen eben mitgeteilt habe, und vertraute es mir als ein Geheimnis für Sie und nur für Sie. Die Zeit drängte. Ich begleitete Sylvien zum Bahnhofe, sie war noch lange nicht zu Ende, man rief zum Einsteigen, sie war immer noch nicht fertig; sie befiehlt mir, bis Hochheim mitzufahren, ich folge, und so vollendete sie dann im Wagen ihre Beichte, und auf dem Hochheimer Bahnhofe schickte sie mich ebenso kurz und bündig wieder heim, wie sie mich vorher hatte mitfahren heißen. Ich war so gerührt, daß ich erst zu Hause beim Anblick meiner Bücher über den Kredit und die Schuldgesetze mich entsann, welch beschämende Rolle ich diesen Morgen eigentlich vor mir selber gespielt hatte.«

So sprach der Lord und verabschiedete sich. Ich war nicht böse, daß er ging, denn es fröstelte mich in seiner Gegenwart.

Lange Zeit beherrschte Sylviens Bild mein Sinnen und Denken in jeder einsamen Stunde. Ihr verschlossenes Gemüt hatte für Ideale geschwärmt, von welchen wir nichts ahnten, und zuletzt eine Tragödie durchgerungen, während wir in ihrem Verkehre nur die feinsten Lustspielszenen fanden. Welch ein Abgrund ist doch das Menschenherz und welch ein ewiges Rätsel das Weib, – vorab eine Schauspielerin vom naiven Fache!

Der Bräutigam starb an seinen Wunden, aber die Braut sah ihn noch in den letzten Augenblicken. Ich mußte an ihr Klärchen denken, wie sie als Genius der Freiheit auf der Wolke ruhte und ihrem Helden erst dann den Lorbeerkranz von ferne zeigen konnte, als er zum Tode ging.

Sylvia Rutland kam nicht wieder nach Wiesbaden. Wir erfuhren nur, daß sie lange Zeit schwerkrank in Karlsruhe gelegen habe. Nachher verlor ich jede Spur von ihr trotz vielfachen Forschens. Seit sich mir die Rätsel ihres seltsam sprunghaften Wesens gelöst, viel tiefer, als ich erwarten konnte, seit sie mir nur als ein Traum der Erinnerung vorschwebte, war sie mir eigentlich erst recht ans Herz gewachsen. Ihre dichterische Gestalt verwob sich mir untrennbar mit dem Bilde der beiden politischen Sturmjahre, ja mir dünkte manchmal, sie sei die liebenswürdigste symbolische Verkörperung jener ganzen Zeit in all der kindlichen Torheit, der unreifen und doch oft so edlen Schwärmerei, in all dem Humor und der Tragik, worin damals unsere jugendlich heißen Köpfe loderten (mochte man uns nun Demokraten nennen oder Reaktionäre), aber geläutert und frei von alle dem Rohen und Gemeinen, was den begeisterten Aufschwung jener Tage geschändet hat.

Vierzehn Jahre waren verflossen.

Es gab längst keine deutsche Revolution mehr, sondern einen wiedererstandenen Bundestag, und keine Wiesbadener Theaterkommission, sondern eine restaurierte adelige Hoftheaterintendanz. Der Lord war bald nach jenem letzten Gespräche von Wiesbaden weggezogen, und ich hatte nichts Weiteres von ihm gehört. Sein Buch über »die Theorie des Kredites« erschien im Jahre 1850; fleißig gearbeitet, schul- und parteigerecht, vollgepfropft von fremdem Materiale, fand es den größten Beifall der Kritik und wurde erst im nächsten Jahre wieder vergessen.

Mein Lebensgang führte auch mich bald von Wiesbaden hinweg in ein anderes deutsches Land zu neuer Arbeit, neuem Berufe, und es deuchte mir allmählich fast wie ein Traum, daß ich vorzeiten auch einmal hatte Theater dirigieren helfen.

Im Herbste 1863 befand ich mich in Tegernsee. Ich kam eines Abends vom Fockenstein herab und ließ mich bei Auwinkel über den See rudern. Die Luft leuchtete in goldener Klarheit, nicht die leiseste Welle kräuselte den grünen Wasserspiegel; ich hieß den Schiffer ganz leise und langsam fahren und trank in großen Zügen den himmlischen Frieden der Landschaft, welche zu schlummern, zu träumen schien und doch so hellen Auges mir ins Auge schaute. Leichter Ruderschlag hinter uns unterbrach die Stille. Es war ein sogenannter »Grönländer«, eines jener winzig kleinen Schifflein, so flach gebaut, daß sie kaum übers Wasser ragen, aber äußerst rasch und lenksam. Zwei Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren und eine ältere Dame saßen darin, und die ältere ruderte und steuerte gewandt und anmutig; schien es doch, als würden die drei Gestalten in ihren hellfarbigen Kleidern nur so unmittelbar vom Wasser getragen und glitten von selber über den Spiegel; denn den Körper des Schiffchens sah man kaum. Sie fuhren langsam an mir vorüber, die ältere Dame hielt die Ruder an und betrachtete mich scharf; ich kannte sie nicht. Sie schwammen weiter, beschrieben einen großen Kreis und kamen dann abermals zu meinem Kahne, es war ein förmliches Rekognoszieren. Und richtig, man hatte mich jetzt erkannt. Die anmutige Schifferin rief mich grüßend bei Namen. Die Stimme klang wie ein Echo aus alten, längst versunkenen Tagen – ja! sie war's! Jetzt erkannte auch ich Gestalt, Gesicht, Zug für Zug: es war Sylvia Rutland!

Wir reichten uns die Hand von Kahn zu Kahn und ließen unsere beiden Schifflein ganz stille nebeneinander fortgleiten zum nahen Ufer und fanden anfangs kaum, was wir reden sollten.

Da stellte mir Sylvia die beiden jungen Mädchen vor als ihre – Stieftöchter. Sie war nicht mehr Fräulein Rutland, sie führte den Namen eines berühmten Wiener Arztes, welchen sie als Witwer geheiratet hatte.

Ich fuhr zusammen: das hatte ich nicht erwartet. Nach einer solchen Katastrophe, wie Sylvia sie erlebt, einen Witwer heiraten! Mir war's, als werde das dichterisch geweihte Bild des schwärmerischen Mädchens, welches bis dahin immer zarter, duftiger, geisterhafter in meinen Gedanken geworden war, plötzlich zerrissen und in den Staub geworfen. Sie hätte sterben müssen am gebrochenen Herzen oder einsam, groß im stillen Dulden ihrem Schmerze fortleben und ihrer zum rein tragischen Pathos aufsteigenden Kunst. Und nun hatte sie einen Witwer geheiratet mit zwei ganz netten erwachsenen Töchtern!

Ich wagte kaum, sie anzusehen, allein da ich's dennoch wagte, wurde ich doppelt irre. Sie war nicht mehr so schön wie sonst, aber Gesicht und Haltung dünkten mir noch edler, verklärt von stillem Frieden: eine solche Erscheinung konnte nicht zur gewöhnlichen biederen Hausfrau hinabgestiegen sein.

Wir hatten am Ufer beigelegt. Die Gegenwart der beiden Töchter taugte doch nicht zu näheren Bekenntnissen. Also trennten wir uns für heute; ich zeigte ihr das Häuschen seitwärts auf dem Hügel, wo ich mit meiner Familie wohnte, und sie verhieß für morgen einen Besuch mit ihrem Manne.

Ich konnte anderen Tages die Stunde kaum erwarten. Endlich erschien Sylvia mit den Töchtern und dem Gemahl, einem feinen, würdigen, vielerfahrenen Arzte voll Geist und einnehmenden Wesens. Schon sein erster Eindruck tröstete mich ein wenig. Damit wir Zeit und Muße fänden zu freiem Austausche, schlug ich einen Spaziergang ins Kreuter Tal vor, der mit Freuden angenommen wurde. In stattlicher Kolonne bewegten sich unsere beiden Familien die sanften Wiesengründe längs der Weißach hinauf, und bald genug war ich mit Sylvien an der Spitze des Zuges, etwas voraus den übrigen, vertieft im Hören und Berichten dessen, was wir beide seitdem erlebt hatten. Wir wußten uns so viel zu erzählen, daß das ganze Kreuter Tal dazu nicht lang genug war. Also fasse ich, was ich damals und später aus ihrem Munde erfuhr, in wenige Worte zusammen.

Als Sylvia nach dem Tode ihres Bräutigams in Karlsruhe schwer erkrankt zurückgeblieben war, hielt sich dort eben jener Wiener Arzt mit seiner ersten Frau vorübergehend auf, dessen zweite Frau sie selber später werden sollte. Er wurde von einem Karlsruher Kollegen an das Krankenbett des Mädchens geführt, welches man bereits aufgegeben hatte, und ihm gelang es, sie zu retten. Gerührt von ihrer Verzweiflung und ihrer hilflosen Lage, sorgte er für ihr nächstes Fortkommen, und da Sylvia dazu die besondere Liebe seiner damals schon leidenden Frau gewann, bot er ihr eine Stelle in seinem Hause an als Gesellschafterin seiner Gemahlin.

Allein in all dem Elende ihres Krankenlagers hatte Sylvia nur bei dem Gedanken der Rückkehr zu ihrer Kunst noch Trost gefunden und sich unzähligemal die Worte wiederholt, welche ich ihr einst in dem verlassenen Bühnenraume gesagt und selber längst wieder vergessen hatte: »daß Gottes Segen jeden begleitet, der nach Wahrheit ringt und an seine Barmherzigkeit glaubt und treuen Sinnes ist, auch wenn er Komödie spielt.« Seltsam genug zogen sie diese Worte mit einem förmlichen Zauber wieder zur Bühne zurück.

Es gelang ihr aber zunächst nur bei ganz kleinen Theatern aufzutreten und auch hier ohne allen Erfolg. Sie hatte vordem sich selbst gespielt und konnte nur sich selbst spielen: darin lag das Geheimnis ihrer zeitweilig so überraschend echten Leistungen und dann auch wieder ihres nicht minder auffallenden Mißlingens. Als sie selber noch begeistert war in Liebe und politischer Schwärmerei, da wußte sie den Schwung ihres eigenen Wesens auch auf ihre Rollen zu übertragen und riß alle Hörer mit sich fort. Jetzt, wo ihre Liebe wie ihr politisches Hoffen gleicherweise ins Grab gesunken waren, wo Kummer und Not und Trauer sie umlagerten, jetzt konnte sie nur kalt und traurig spielen, ihre Schwingen waren gelähmt. Wer nicht sich selbst spielt, der ist kein wahrer Künstler, sondern höchstens ein ausgelernter Virtuose, allein wer nur sich selbst spielen kann, der mag ein Meteor sein, welches jäh und blendend aufleuchtet, gar bald jedoch wird es seiner Kunst gebrechen an Tiefe, Breite und Bestand.

So war es bei Sylvien. Völlig entmutigt, verließ sie zuletzt die Bühne. In der blinden, verzweifelnden Sorge um die Notdurft des Lebens wandte sie sich an den Lord, welcher zufällig damals am gleichen Orte verweilte, und erbat sich seinen Rat und Beistand. Darin konnte sie eben die Schauspielerin nicht verleugnen, daß sie sich von diesem Manne hatte imponieren lassen, weil er so fein und vornehm tat, so gewählte Kleider trug, so reines Hochdeutsch sprach und immer mit aristokratischem Umgang prahlte. Sie glaubte an seine außerordentliche Lebensklugheit und an einen Adel der Gesinnung, welcher der Echtheit seiner Parfüms und dem noblen Strich seiner gescheitelten und mit dem Brenneisen gekräuselten Haare vollkommen entsprechen müsse. Diesmal aber zerriß die Täuschung: für eine vom Mißlingen verfolgte, von Kummer und Krankheit gebeugte Schauspielerin hatte der Lord kein Interesse. Er wies sie glatt und herzlos ab, und zu ihrer tiefsten Entrüstung erfuhr sie sogar hinterdrein, daß er ihre treuen Bekenntnisse, welche sie damals in Wiesbaden so vertrauensvoll für mich in seine Hand gelegt, zu allerlei verleumderischen Anekdoten ausgebeutet hatte, womit er prahlte und seine Genossen ergötzte.

Erst nach dieser bitteren Erfahrung gedachte sie meine Hilfe anzusprechen; allein ich war ihr völlig aus den Augen gekommen, und überdies hatte sie bei aller wahren Zuneigung mir niemals das mindeste praktische Geschick zugetraut (das war die Folge ihres ersten Eindruckes bei der Szene mit dem französischen Flötisten) und fürchtete und schämte sich auch ein wenig vor mir seit der bekannten Notlüge und meiner darauf folgenden Bühnenpredigt.

So kam sie zuletzt auf den eigentlich nächsten Ausweg: sie schilderte brieflich ihre Lage jenem Wiener Arzte, und der brave Mann wiederholte die früher von ihr selbst abgelehnte Einladung und nahm sie in sein Haus. Dort pflegte sie die langsam hinsiechende Gattin ihres zweimaligen Helfers und Retters, sie war zuletzt die vertrauteste Freundin der Sterbenden. Sie erzog die beiden Mädchen; der Arzt, ein feiner Menschenkenner, glaubte seine Töchter keinen reineren Händen übergeben zu können als den Händen des Theaterkindes. Und mit Recht. Wer in der doppelten Prüfung der Bühne und des Lebens bestanden hat und rein und tüchtig daraus hervorgegangen ist, der kann Töchter erziehen trotz der geschultesten Gouvernante, und wenn er gleich im Souterrain eines Theatergebäudes geboren und zwischen den Kulissen groß gewachsen wäre.

So vergingen zehn Jahre. Sylvia hatte eine neue Heimat gefunden, worin sie nun völlig eingebürgert saß; aller äußere Zusammenhang mit ihrem früheren Leben war abgeschnitten, kein Mensch stand ihr mehr nahe, den sie in ihrem Künstlerwirken gekannt, die Welt war eine andere geworden, sie selber eine andere, nur ihr treues Gemüt bewahrte noch fest und heilig, was sie vordem alles in Liebe und Schmerz in sich selber durchgerungen hatte. War es ein Wunder, war es ein Unrecht, daß aus dem befriedenden Walten im fremden Hause zuletzt ein Walten im eigenen Hause wurde? Es gibt Verhältnisse zwischen Mann und Weib, die sich allmählich, still und notwendig zur Ehe auswachsen, fast wie von selber. So geschah es auch bei Sylvien und dem Arzte. Sie war längst die Mutter seines Hauses gewesen, bevor sie die Stiefmutter ward.

Sie hatte ihre Jugendliebe verloren, ihre Kunst, und die stürmischen Ideale ihrer jugendlichen Schwärmerei waren – nicht bloß für sie allein – längst begraben mit ihrem Geliebten. Nur eines noch war ihr übriggeblieben: der Beruf des Weibes. Den hatte sie zuletzt gefunden und in diesem Berufe den Frieden.

Jetzt war ich versöhnt mit ihrem Lebensgange. Er führte zu anderen Zielen, als ich erwartet hatte, aber sie faßte ihn groß und dichterisch schön, und er war es auch. Auch jetzt wieder spielte sie sich selbst im edelsten Sinne; denn die reine Weiblichkeit war trotz aller Larven und Irrgänge des Bühnenlebens doch immer ihr eigenstes, bestes Teil gewesen, und diesen inneren Adel, der das Theaterkind nicht untergehen ließ, hatte ich geahnt, wenn ich gleich sonst in steter Täuschung verstrickt war; der Lord aber, welcher den äußeren Schein weit schärfer durchschaute, ahnte nichts von diesem Kerne.

Jener leuchtend klare, friedenvolle Abend auf dem Tegernsee, da ich ihr auf spiegelglatter Flut wieder begegnete, blieb mir fortan das Sinnbild ihres zum heiligen Abendfrieden verklärten Wesens. Und noch viel nachdrücklicher als damals in Wiesbaden sprach ich manchmal, Sylviens gedenkend: welch ein Abgrund ist doch des Menschen Herz und welch ein ewiges Rätsel das Weib, vorab eine Schauspielerin vom naiven Fache!

Nun muß ich aber auch noch erzählen, wie es dem Lord erging; auch er hatte einen ganz unerwarteten Weg gemacht. Ein Jahr, nachdem sein vortreffliches Buch über den Kredit erschienen war, vertauschte er die Theorie der Kunst reich zu werden mit der Praxis: er heiratete die Erbtochter eines großen Zigarrenladens in Frankfurt a. M. Ach, es war noch in der guten alten frankfurtischen Zeit, wo nach gangbarem Sprichwort jedes Bürgermädchen der freien Reichsstadt dem Fremden an sich schon dreihundert Gulden wert war, weil sie das Frankfurter Bürgerrecht gratis zur Aussteuer mitbrachte. Und die Braut des Lords war noch dreißigtausend Gulden mehr wert. Jammerschade, daß solchergestalt der Lord der Wissenschaft nicht treu geblieben ist, er wäre gewiß ein berühmter Gelehrter geworden. Er besaß alle nötigen Eigenschaften: kein Mensch konnte ihm vorwerfen, daß er eigene Gedanken habe oder irgend ursprüngliche, wohl gar künstlerische Form der Darstellung; er beschränkte sich einseitigst auf seinen Stoff (schöne Schauspielerinnen ausgenommen), folgte bolzgerade der Methode seiner Lehrer, war unermüdlich fleißig, korrespondierte mit allen Fachgenossen, lauschte auf jeden Lufthauch der Kritik und drehte dann allemal seine Windfahne bewundernswürdig nach der stärksten Strömung. Wahrlich, er verdiente die erste Note in allen Stücken und würde eine ungemein rasche Laufbahn gemacht haben, sei es in der gelehrten Welt oder in der Bürokratie.

Leider zog er, ein echtes Kind dieses praktischen Jahrhunderts, den müheloseren und lohnenderen Weg des Zigarrenhandels vor und setzte sich in seinen erheirateten Laden.

Sooft ich seitdem nach Frankfurt komme, besuche ich diesen Laden und kaufe mir sechs Zigarren. Der Lord ist so klug, neben seinen Kommis in Person die Käufer zu bedienen, allein er tut es vornehm und gemessen wie ein Lord. Manchmal schon betrachteten wir uns, als wolle einer den anderen mit Seumes Kanadier fragen:

»Haben wir vielleicht uns schon gesehen?«

– doch immer blieb das Wort unausgesprochen.

Und der Lord fragt jedesmal, mir die sechs Zigarren überreichend, fein und vornehm: »Wünschen Sie eine anzuzünden?« Und ich antworte noch um einen halben Ton vornehmer: »Nein!« und gehe meiner Wege.


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