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Rom 1824, Oktober bis Silvester

So war ich denn wieder im geliebten Rom, saß in meinem alten Stübchen vor der Staffelei und musterte die gesammelten Arbeiten. Farbenstudien waren wenige darunter. Die Zeichnungen waren selten auf Wirkung berechnet; dagegen zeigten sie jene Genauigkeit – besonders in den Umrissen – und Sauberkeit in der Ausführung, wie sie bei den deutschen Künstlern damals gebräuchlich war.

Befriedigt fühlte ich mich nun keineswegs durch diese Sachen, denn sie waren meistens sehr fragmentarisch. Wenn ich sie im Geiste mit den Studien Reinholds verglich, der so trefflich die Standpunkte zu wählen verstanden hatte, wo sich das Motiv mit Ferne, Vor- und Mittelgrund zu einem Ganzen zusammenschloß, so mußte ich meine Mangel schmerzlich genug empfinden.

Unter den vorliegenden Blättern schien mir eine Partie mit dem Rocca di Mezzo aus dem Sabinergebirge geeignet, weiter ausgesponnen zu werden. Doch soviel ich auch versuchte, durch äußeres Zusammenstellen ein Ganzes zu schaffen, so hatte ich doch keine lebendige Vorstellung, keine Idee, die mich eigentlich begeistert hätte. Alles blieb tot und äußerlich, und ich quälte mich schon mehrere Wochen damit ab, ohne etwas damit zu erreichen. Unmutig legte ich endlich die Entwürfe beiseite, besuchte die Ateliers der Genossen oder den Vatikan und andere Sammlungen und vergaß eine Zeitlang meine Komposition.

Eines Tages hatte ich mit großem Interesse in Grimms deutschen Sagen gelesen. Da nun die Dämmerung eintrat und ich das Buch weglegte und an die etwas blinden Scheiben des Fensters trat, stand auf einmal – ohne daß ich im geringsten an meine Komposition gedacht hatte – dieselbe fix und fertig, wie lebendig in Form und Farbe vor mir, daß ich ganz entzückt darüber schnell noch zur Kohle griff und trotz des einbrechenden Dunkels die ganze Anordnung auf den Karton brachte. Es war mir das so auffallend, weil ich mich diesen ganzen Tag und länger nicht im entferntesten mit dem Bilde beschäftigt hatte und auch Grimms Buch nichts nach dieser Seite hin Anregendes enthielt. Die Idee mußte ganz unbemerkt, gleichsam in der Stille, in mir gereift sein und trat nun, indem sie sich ablöste, wie die Frucht vom Baume, aus ihrem Dunkel in das helle Tageslicht des Bewußtseins.

Es dauerte aber noch mehrere Wochen, ehe ich mit dem Karton zustande kam; denn bei der genaueren Ausarbeitung, zu welcher ich Naturstudien brauchte, brachten mich diese oft von meiner ersten Idee ab oder entsprachen dieser nicht genügend. Ich klagte dies einmal gegen Veit, und welche Mühe mir das mache. »Ei, das glaub' ich wohl«, erwiderte er lachend, »denn darin besteht ja die ganze Kunst, daß Natur und Idee sich gleichmäßig durchdringen.« Ich merkte mir das Wort und mühte mich weiter.

Es trat jetzt öfter eine gedrückte Stimmung hervor, welche mich auch veranlaßte, die Abende – anstatt in der Osteria – in meinem Stübchen allein zuzubringen.

Hatte der erste in Rom verlebte Winter durch die Masse neuer Eindrücke mich nach außen gezogen und in Spannung erhalten, so schien der zweite vorzugsweise zur Betrachtung und in das eigene Innere führen zu wollen. Die Erkenntnis der größten Werke alter und neuer Kunst war in mir gewachsen, und für die herrlichen Meister, welche unter uns lebten und schafften, ihre Geistesbildung und edle Sitte fühlte ich eine begeisterte Verehrung. Wenn ich nun aber auf mein Können oder vielmehr Nichtkönnen und auf meine große Unklarheit in Kunst und Leben blickte, dann empfand ich es tief, wie unvorbereitet ich nach Rom gekommen war und welch große Lücken, auszufüllen blieben.

Ein Gebiet des Geisteslebens war es besonders, welches ich verödet und ungepflegt in mir gewahr wurde. Es war das religiöse – welches doch von Rechts wegen die Grundlage aller übrigen Vermögen sein muß, wenn sie sich gesund und einheitlich entfalten sollen.

Ich weiß nicht, woher es kam, daß jetzt öfter in stillen Stunden eine Sehnsucht erwachte, etwas Festes zu gewinnen, auf das ich Verlaß haben könne in allen Lagen des Lebens; eine sichere Hand zu wissen, die den rechten Weg mir zeigen möchte aus dem, was mich beirrte oder mir zweifelhaft war. Ich hatte das Gefühl eines einsamen Schiffers auf dem Meere, der ohne Kompaß und Steuer von Wind und Wellen getrieben wird. Am Himmel Nacht und keine leitenden Sterne!

Alle diese jetzt öfter auftauchenden Stimmungen waren eigentlich nichts anderes als die Frage nach Gott, die sich in meinem Innern mehr und mehr hervordrängte; nach einem lebendigen Gott, dessen ich nicht bloß durch einen abstrakten Begriff, sondern auf andere, unmittelbare Weise gewiß würde.

Wirkten vielleicht in der Tiefe der Seele die Worte des alten Steuermannes in Salzburg noch fort von dem »treuen Reisegefährten und seinem Worte«, oder war es die Erinnerung an jenen Regennachmittag in dem Wirtshaus in Pinzgau, wo ich ganz allein sitzend, durchnäßt und müde, zum ersten Male die Abschiedsreden Jesu aus dem Johannisevangelium las? – Worte haben oftmals ein wunderbar zähes Leben; sie scheinen zu schlafen, aber regen und bewegen sich wie keimende Samenkörner, sobald die ersten Frühlingslüfte darüber wehen.

Solchen oder ähnlichen Gedanken nachhängend, stand ich eines Nachmittags am offenen Fenster, als ein liebliches, feines Kinderstimmchen meinen Namen rief: »Sir Luigi!« Ich sah auf und erblicke Veits Schwägerin auf dem Balkon, welche die kleine, schelmisch lachende Dorothea auf dem Arme trug. Das Kind hatte mich seit dem Frühjahr nicht mehr am Fenster gesehen und freute sich nun, den alten Hausgenossen wieder zu erblicken, wie sich Kinder freuen, wenn die Hausschwalbe im Frühjahr wieder aus dem alten Neste guckt

So freundlich aus meinen trüben Gedanken aufgescheucht, benutzte ich sogleich den Nachmittag zu einem Besuch bei Veit.

Wie nahe lag es doch, hier bei diesem Manne, für den ich eine so innige Verehrung fühlte, dessen Persönlichkeit durch hohe Geistesbildung, tief christlichen Sinn und herzlich schlichtes Wesen so ausgezeichnet war, den treuen Berater für die Fragen zu finden, die mich im Inneren so schwer beunruhigten.

Allein der einfältige Parzival fragte nicht, als er dem Grat so nahe war! – – Und vielleicht war es so besser, denn jene Fragen sollten bald auf anderem Wege eine Lösung finden.

In Veits einfachem Arbeitszimmer sah ich nun zunächst einige seiner Arbeiten. Ein trefflich gemaltes Ecce homo! Das bleiche Antlitz Christi mit der Dornenkrone, groß und edel, von ergreifendstem Ausdruck! – Dann ein anderes, ganz kleines Bildchen, welches mir durch die Neuheit des Gedankens gefiel. Die schlichte Gestalt des Herrn steht vor der Tür einer einsam gelegenen Hütte und klopft an die Pforte. Es war nach einer Stelle in der Offenb. Joh. 3, 20: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Türe auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten.« Das Bild hatte durch seine Einfachheit etwas tief Rührendes. Rist, der Bruder des Landschaftsmalers, hatte es gestochen, wobei es aber im Ausdruck sehr verloren hatte

Ferner brachte Veit noch ein kleines Landschäftchen hervor. Eine Campagnagegend mit einem Jäger, am Torre del Quinto, welches ihn veranlaßte, sich über Landschaftsmalerei auszusprechen. Er meinte: die Landschafter brächten zuviel und vielerlei in ihre Bilder Diese würden oft bedeutend wirksamer sein, wenn sie einfacher wären. Unter dem Eindruck seiner eigenen Arbeiten konnte ich mir sehr wohl denken, wie er das meinte, und die Niederländer haben das eigentlich auch so gehalten.

Bei den großen Prachtszenen der Natur (z. B. Taormina mit dem Ätna, oder Alpengegenden) bleibt der Künstler weit hinter dem Natureindruck zurück; wogegen er bei einfachen Motiven (z. B. ein Landsee, in dem sich die Wolken spiegeln, eine Waldgegend usw.) seine eigene Gemütsstimmung hineintragen und dadurch den Gegenstand gewissermaßen über die Natur hinausheben kann, indem er ihr seine eigene Seele einhaucht. Die Landschaftsmalerei scheint, wie die Musik, vorzugsweise subjektiver Natur zu sein.

Veit besaß in zwei großen Bänden die Holzschnitte und die Kupferstiche Albrecht Dürers, von denen mir bisher nur einige der ersteren bekanntgeworden waren. Diesen seinen Kunstschatz brachte er auch noch herbei, und den Eindruck, welchen diese köstlichen Blätter, die ich hier zum ersten Male beisammen sah, auf mich machten, werde ich nicht vergessen, und meine Freude und Entzücken wurden erhöht durch die bedeutenden und erschließenden Worte Meister Veits, den ich dabei zur Seite hatte.

Eine ganze Welt tat sich da auf mit ihren ernsten und heitern Gegensätzen, mit ihren tausendfachen Gestalten, und bis auf den kleinsten und geringsten Gegenstand war alles mit einer Vollendung dargestellt, daß es leibhaftig vor einem zu stehen schien wie das Leben selbst.

Freilich vermißte man oft bei dem deutschen Meister die Schönheit und Anmut der Formen, welche den Südländern angeboren ist; dagegen ist bei ihm Reichtum der Phantasie, tiefe Erfassung des Natur- wie Menschenlebens, ernster, männlicher Stil in solcher Fülle vorhanden, daß das wiederholte Betrachten seiner herrlichen Werke eine herzstärkende Frische niemals verliert, vielmehr die Macht seines Geistes uns nur immer bedeutender erscheint.

Drei Blätter waren es insbesondere, welche mir tief in die Seele gingen, bei deren Betrachten mir vor Staunen fast der Atem stockte. Wer es weiß, was es heißt, solche Gedanken so leibhaftig zu gestalten, der erstaunt über eine solche Kraft, die dem Menschen gegeben ist. Ein Geist lebt in diesen Blättern, wie er aus Shakespeares größten Dichtungen uns anweht; tiefsinnige Rätsel, an denen man herumratet und zugleich erschrickt, daß sie so wirklich, so greifbar vor einem stehen! Ich meine die drei Blätter, welche unter dem Namen der Melancholie, des Ritters mit Tod und Teufel und des Hieronymus »im Gehäus« bekannt, von Dürer in gleicher Größe gestochen und von ihm gewiß in einem inneren Zusammenhang gedacht sind. Mir erschien in der Melancholie der Ausdruck des Schmerzes, daß alle Mittel und Werkzeuge nicht ausreichen, das Geheimnis des Lebens und der Natur zu erschließen. Im Ritter der Christ, der in seiner Ritterschaft treu und beharrlich sich nicht vom Wege abbringen läßt, weder durch Tod noch Teufel, und im Hieronymus das zum Frieden gekommene Gemüt, welches in höherer geistiger Tätigkeit sein Glück gefunden.

Welcher Künstler hat wohl das deutsche Leben und Wesen in so volkstümlicher Art wiedergegeben als Dürer! Das Leben der Maria, die Passion u. a. hat er ebensowohl in ein markiges Deutsch übersetzt, wie Luther die Bibel.

Ein großer Anteil an dem Ruhm, den Dürer bei seinen Zeitgenossen fand, gründet sich jedenfalls auf die überraschenden Fortschritte, welche die Technik des Kupferstechens durch ihn erhalten hat. Denn vergleicht man seine Arbeiten auf diesem Gebiete mit dem Besten, was vor und neben ihm geschaffen wurde, so entdeckt man mit Erstaunen, daß er es zu einer Höhe der Vollendung und Virtuosität in Führung des Stichels brachte, die noch jetzt die größte Bewunderung der Kenner erregt.

In meinem vierzehnten Jahre, als ich zum Kupferstecher mich ausbilden sollte, machte ich einige Grabstichelversuche nach Goltzius; ich weiß deshalb aus Erfahrung, welche Mühe und Geduld erforderlich ist, um mit diesem schwer zu führenden Instrument in das spröde Material nur eine Reihe gleichlaufender Striche langsam einzugraben, und welche Meisterschaft dazu gehört, dies mit Sicherheit und Freiheit ausführen zu können. Wie nun ein mit so reger Phantasie begabter Künstler, wie Meister Albrecht, dabei zugleich eine so heroische Ausdauer besitzen und so bis ins kleinste vollendete Werke mit seiner durchgeisteten Technik schaffen konnte, ist kaum begreiflich.

*

Diese und ähnliche künstlerische Anregungen schienen indes auf meine eigenen Produktionen keinen sichtbaren Einfluß zu haben; aber es war ein erhobener Schatz, welcher nach einer Reihe von Jahren, als die äußere Gelegenheit dazu aufforderte, seine Früchte brachte.

Jetzt gingen meine Bestrebungen nach einer Richtung, welche man mit dem unbestimmten Ausdruck »historische Landschaft« bezeichnete. Mein Bild vom Rocca di Mezzo war in diesem Sinne komponiert, und jedenfalls war es besser, einheitlicher, als der im vorigen Winter gemalte Watzmann, und das Vedutenhafte darin, wie ich glaube, gänzlich überwunden.

Eine besondere Anregung nach dieser Seite empfing ich, als ich eines Tages mit Wagner und noch einigen Landschaftsmalern die Galerie Camuccini besuchte, die ich noch nicht kannte. Die Sammlung war nicht groß, enthielt aber Meisterwerke ersten Ranges. Da stand ich plötzlich vor einem großen Bilde, einer Landschaft Tizians.

Auf einem grünen Wiesenplan am Saume eines prachtvollen Waldes haben sich Götter und Göttinnen, Nymphen und Faunen zu einem lustigen Zechgelage niedergelassen. Über dem üppigen Gebüsch eines Hügels erhebt sich ein stattlicher Fels, mit einer Burg gekrönt. Durch die dunklen Stämme der Bäume im Vordergrund leuchtet das blaue Meer und der goldstreifige Abendhimmel. –

Ich war ganz hingerissen bei dem Anblick dieses köstlichen Gemäldes, der großartigsten Landschaft, die ich je gesehen habe; wenigstens hat nie eine andere einen solchen Eindruck auf mich hervorgebracht wie diese. Meine Freunde stellten sich aus Schelmerei kühler, als sie waren, und ich merkte das nicht im Rausche meiner Entzückung. Mit krittelnden Bemerkungen, der Fels sei zu braun, der Baumschlag zu flüchtig, so dürfe man heutzutage nicht malen, machten sie mich ganz toll und ärgerlich, und ich nannte sie schließlich trockene Philisterseelen. Auf diesem Höhepunkt meines Enthusiasmus brachen sie in ein helles Gelächter aus, und Freund Wagner umhalste mich und fragte, ob ich denn gar nicht merke, daß sie meine Exaltation etwas abkühlen wollten. Freilich sei es ein wunderschönes Bild.

Ich war aber doch in meiner Freude recht fatal gestört worden, deshalb ging ich den folgenden Sonntag, als die Galerie wieder geöffnet war, allein hin und füllte mich ungestört mit der göttlichen Schönheit dieses Bildes

Später ist die Sammlung nach England verkauft worden. In dem Werke von d'Agincourt (Histoire de l'art) befindet sieh ein Umriß nach diesem Gemälde.

Die Oktoberfreuden zu genießen, war auch ich mit Koch, Wagner, dem Bildhauer Lotsch, v. Hempel, Thiele und Oehme nach dem Monte Testaccio gegangen. Unter den alten Ulmen, welche den Hügel umgeben, und vor den geöffneten Kellern hatten sich bereits fröhliche Volksgruppen eingefunden, die sich an dem trefflichen Weine labten, der hier verschenkt wird. Koch tobte beim Anblick eines neuen, etwas eleganten Vorbaues an einem der Keller und stampfte im Zorn mit seinem Stock, der mehr einer Keule ähnlich sah, über solche ungebührliche Modernisierung. Denn alles, was die alten, naturwüchsigen Zustände Roms im geringsten antastete, war ihm ein Greuel. In dieser Beziehung dachte er wie Winckelmann und wie alle, die nicht unbedingt der Nützlichkeitstheorie huldigen: »Ich kenne für mich nur zwei schreckliche Dinge: wenn man die Campagna anbauen und Rom zu einer polizierten Stadt machen wollte – und würde in solchem Fall Rom verlassen. – Nur wenn in Rom eine so göttliche Anarchie und um Rom eine so himmlische Wüstenei ist, bleibt für die Schatten Platz, deren einer mehr wert ist als dieses ganze Geschlecht.«

Nach und nach wurde es lebendiger auf dem Platze. Wagen kamen angefahren, gefüllt und überfüllt mit buntgeputzten Mädchen und Frauen und ihren Männern oder Liebhabern. In einem Wagen saßen vier wunderhübsche Mädchen, Trasteverinnen, ganz gleich gekleidet: weißer Rock, rosafarbenes Samtjäckchen und blaue Schuhe mit großen, silbernen Schnallen; auf dem Kopfe den schwarzen Filzhut, mit Federn und Blumenkränzen geschmückt.

Die Fröhlichkeit wurde lauter. Das helle Lachen der Mädchen, das Zurufen, Singen und Deklamieren der Männer, das Klimpern einer Mandoline mit dem Pauken und Rasseln des Tamburins, welche den Saltarello begleiteten, alles machte die Allegria vollständig. Es ist ein wohltuendes Gefühl, daß bei all solcher Volkslust, trotz Wein und Tanz, trotz des ungezwungensten Verkehrs der Geschlechter untereinander nicht das mindeste, was einer Rohheit ähnlich sieht, zu bemerken ist. Gemeinheit wie Ziererei liegen gleich fern.

Wir saßen an einem der Keller, vertieften uns in Gespräche wie in den angenehmsten Frauscatiner Wein und schauten dem fröhlichen Treiben zu.

Ich stieg auf den Hügel, wo ein einfaches Holzkreuz steht, sah zwischen die dunklen Wipfel der Ulmen über das bunte Gewimmel, das sich seines Daseins freute. Auf dem Wiesenplan weidete ein Junge einige Schafe; weiter an der alten Stadtmauer ragte neben der Porta S. Paolo bedeutsam die Pyramide des Cestius mit dem kleinen protestantischen Kirchhof, und aus weitester Ferne grüßten aus der klaren Herbstluft die schönen Sabinerberge herüber.

Es ist mir in späteren Jahren oftmals dieses eigentümlich schöne Landschaftsbild ins Gedächtnis gekommen, und ich bedauerte, keine Zeichnung von dieser Örtlichkeit gemacht zu haben.

*

Noch eines heiteren Ereignisses muß ich hier gedenken, weil es die Entstehung des bekannten Cervarafestes veranlaßte, welches bis heute seine Wiederholung gefunden und in Gebrauch geblieben ist.

Der Maler Flor hatte Anfang Sommers Rom verlassen, um nach seiner Vaterstadt Hamburg zurückzukehren. Dieser sehr beliebten Persönlichkeit fühlte man sich besonders dankbar verpflichtet; denn er war ja stets bereit gewesen, die Künstlerschar zu heiteren Versammlungen und kleinen Festen zusammenzubringen, die sich durch seine und anderer gesellige Talente sodann höchst erfreulich gestalteten. Natürlich war der geliebte Genosse mit einem solennen Abschiedsschmaus entlassen worden, und mit Rührung hatte man ihn scheiden sehen.

Zu aller Erstaunen hieß es plötzlich: Flor ist wieder da! Ein Schrecken vor dem Winter in seiner Vaterstadt und noch mehr ein Heimweh nach dem geliebten Rom war ihm ins Herz gefahren, als er im Herbst bis an den Fuß der Alpen gelangt war, und kurz entschlossen wandte er sein Antlitz stracks nach Süden und pilgerte wieder mit Sack und Pack der ewigen Stadt zu, umgekehrt wie der edle Tannhäuser, welcher Rom trostlos verließ, um wieder in seinen Venusberg zu fahren. Flors Wiederkehr wurde wie ein Lauffeuer im Café Greco, Lepre und Chiavica bekannt und sogleich der lustige Beschluß gefaßt, es dürfe ihn keiner als Flur anerkennen, jeder müsse sich ihm gegenüber fremd stellen.

Und so wurde es auch auf das spaßhafteste durchgeführt, wobei der Bildhauer Braun, ein Erzschalk, die Hauptrolle spielte. Da Flor erfreut auf ihn zueilte und ihn vertraulich begrüßte, wurde er höflichst um Nennung seines Namens ersucht, da man sich durchaus nicht erinnern könnte, seine Bekanntschaft schon früher gemacht zu haben. Allerdings sehe er einem gewissen Flor ähnlich, einem sehr liebenswürdigen, aber höchst veränderlichen Menschen, der jahrelang hier gelebt, stets mit seiner Abreise gedroht, aber immer wieder eines andern sich besonnen und dageblieben sei. In diesem Sommer sei er aber wirklich abgereist und genießt jetzt jedenfalls Ehre und Freude in Fülle in seiner Vaterstadt. Auch hätten seine römischen Freunde ihm ein brillantes Abschiedsfest gegeben, an welches er gewiß mit vieler Rührung zurückdenken werde.

Mit solchen und ähnlichen Reden wurde er von jedem empfangen, an den er sich wendete, und da es ihm auf keine Weise gelingen konnte, den Leuten eine andere Überzeugung beizubringen, so lief er endlich in komischer Verzweiflung lachend, tobend und schimpfend zur Tür hinaus. Aber wo er hinkam und wem er begegnete, es blieb immer dasselbe: er solle der echte und rechte nicht sein, und so lief er herum, wie Schlemihl, der seinen Schatten verloren hatte. Nach etlichen Tagen vergeblichen Bemühens kam man endlich mit ihm überein, einen Zug nach der Cervara zu veranstalten, ihn dort feierlichst wieder aufzunehmen, als den alten und echten Flor anzuerkennen und damit den Scherz zu einem Abschluß zu bringen.

Die Cervara, ein antiker Steinbruch in der Campagna, liegt etwas über zwei Stunden von der Stadt entfernt, und dahin bewegte sich an einem schönen Sonntagsmorgen eine sehr zahlreiche Gesellschaft von Künstlern und Gelehrten, von vier mit Wein und Proviant beladenen Eselein und ihren Treibern gefolgt. Schon im vorigen Jahre war ich mit einigen Freunden hier gewesen und kannte das interessante Terrain. Auf einem von felsigen Hügeln umgeben, lagerte man sich zunächst zum Frühstück. Unzählige Grotten, prächtig von Efeu und Buschwerk überwachsen, wurden durchstöbert; einige derselben waren von Leuten bewohnt, denen man allein nicht gern begegnet wäre. Die Gesellschaft zerstreute sich jetzt in den Hügeln, einige, um zu zeichnen, Freund Pettrich, um womöglich ein paar Lerchen zu einem Mittagsbraten zu schießen, wieder andere wälzten Steine zu Sitzen in einen weiten Ring, in dessen Mitte auf einen größeren Block das Weinfaß gelegt wurde. Der »lange« Freund, Freund und Faktotum Thorwaldsens, und der treffliche Bissen rissen Efeu und wilden Wein zu Kränzen von den Felsen, wobei ich von einem Skorpion gestochen wurde, welche zu hunderten in den feuchten Felsenritzen saßen. Der Stich dieser kleinen Bestie ist in dieser Jahreszeit nicht schlimmer als ein Wespenstich und bewirkte nur eine starke Beule in der Hand. Braun, Stirnbrand, Hermann hatten indessen ein gewaltiges Feuer angezündet und beschäftigten sich mit dem Zurüsten des Mittagessens.

Mit Freund Thiele hatte ich mich auf eine der Höhen gelagert. Hier waren wir dem Getümmel entrückt. Fern von der Stadt her trug die Luft ein summendes Getön unzähliger Glocken und Glöcklein, wodurch wir feierlich an den Sonntag erinnert wurden. Der einsame Soracte grüßte aus Norden, der Heimatsgegend. Es war so still, so lieblich heiter hier oben. Ich zeichnete nur das kleine Felsental, in dessen Mitte ein mächtiger Felsen isoliert wie ein Altar sich erhob und der blaue Gennaro und die schneebedeckte Lionessa in den zartesten Farben darein glänzte, während Thiele, mir zur Seite im Grase gelagert, in seiner lebendigen und geistvollen Weise Charaktere aus »Wilhelm Meister« schilderte, welchen er genau studiert hatte. Thiele war eine feine Natur und ein lieber, reiner Mensch, an welchen ich mich gern anschloß. – Doch aus diesen Stimmungen und idealen Regionen wurden wir auf unserer olympischen Höhe bald durch den Opferduft gebratenen Fleisches und dito Würstchen geweckt, welcher vom Festplatz heraufdrang und unseren Nasen lieblich deuchte. Wir kamen just in das lauteste Jubilieren hinein; denn eben war man beschäftigt, einen feierlichen Aufzug zu ordnen, den Flor zu Esel und im antiken Senatorenkostüm anzuführen hatte. Von dem isolierten Felsenklotz hielt er eine komische Anrede, worin er um erneute Aufnahme bat und gut Regiment versprach. Braun überreichte ihm, mit scherzhafter Rede gewürzt, die Schlüssel Roms und das Schwert der Gerechtigkeit, einen großen Hausschlüssel und ein ehrbares Brotmesser. Darauf wurde er heftig embrassiert, und die Gesellschaft begab sich, nach Speise und Trank herzlich verlangend, zum schönstens geschmückten Steinring, lagerte sich auf dem Rasen um das Weinfaß, und ein jeder schmauste, was er sich mitgebracht oder besorgt hatte. Jubelnd verfloß die Zeit im Fluge. Die Sänger – und es waren vortreffliche darunter – sangen ihre schönsten Lieder; Persönlichkeiten, die sich bisher ferner gestanden hatten, schlossen sich näher aneinander, Brüderschaften wurden getrunken, hie und da auch solche, die nur der Wein zuwege gebracht hatte, und die lustigsten Szenen drängten sich, Scherze und Witze sprudelten immer lebhafter und steigerten die Lust, bis der Abend nahte und die Rückkehr angetreten werden mußte. Ein paar sehr stille Gemüter, welche den ganzen Tag von dem Weinfasse nicht hinweggekommen waren, mußten als »Blessierte« auf die Esel gesetzt werden, von welchen sie auf dem langen Heimweg unzähligemal herabfielen, ehe sie, in ihrer Behausung angelangt, mit mehr Sicherheit dem Gotte Morpheus in die Arme sinken konnten.

Flor war nun wieder der alte, echte Flor, gab nach Verlauf einer Woche ein wunderhübsches ländliches Fest auf dem Monte Mario und eröffnete wieder seine herkömmlichen Soireen, welche alle vierzehn Tage abgehalten wurden. Ich aber verließ um diese Zeit meine Wohnung bei Frau Mariuccia und bezog ein sehr freundlich gelegenes Zimmer mit Atelier auf der Vin Isidoro.

*

Da ich mein Bild nun untermalt hatte und eine kurze Pause eintreten mußte, bis die Farben getrocknet waren, zeichnete ich wieder manches nach der Natur in den nächsten Umgebungen der Stadt. So bei Aqua Acetosa den Tempel der Minerva Medici, die Ponte Nomentana und anderes; auch verkehrte ich viel mit Koch, Rhoden, Oehme und Reinhold.

Koch malte jetzt an einer Wiederholung seiner sogenannten griechischen Landschaft mit dem Regenbogen, deren erste Ausführung ich schon in München gesehen hatte. Auch eine Schweizerlandschaft, die Scheidegg, hatte er in Arbeit und benutzte dazu die sehr unbedeutende Aquarelle eines jungen Schweizers, da er selbst niemals in der Schweiz gewesen war und überhaupt keine andern Studien dazu hatte. Er baute das Ganze nach seiner Art auf, und ich malte ihm, weil er es wünschte, ein Stück des Vorgrundes. »Ich kann die Pflänzle nit male, hab' eine verdammt plumpe Pfote, und hier muß was Leichtes, Zierliches hin.« Also malte ich die Pflänzle. – Während ich damit beschäftigt war, erzählte er mir seine Jugendgeschichte, wie er daheim die Geißen gehütet, hoch oben im Gebirge, und wie er mit Kohle, die er von seinem Hirtenfeuerchen genommen, große Geschichten und Landschaften an die glatten Felswände gezeichnet habe, und besonders aus der Offenbarung Johannis. – Der Sinn für das Große, Gewaltige, ja Phantastische hat schon im Hirtenbüble gesteckt. Es war rührend, wie er weiter erzählte, daß er sich immer gar schwer habe durcharbeiten müssen, von früh an und später. »Ja«, meinte er, »ich wäre recht glücklich, wenn ich nur mehr Verdienst (mehr Einkommen) hätte.« – Und allerdings verkaufte er höchst selten zu jener Zeit ein Bild, und ich konnte nicht begreifen, wie er seine Familie und Haushaltung – so höchst einfach diese war – bestreiten konnte. Er hatte aber eine völlig anspruchslose, brave und wirtschaftliche Frau, und so war er trotz mancher Sorge immer bei guter Laune und frischem Mut und unglaublich fleißig vom Morgen bis zum Abend und lebte ganz seiner Kunst. Der liebe Alte lieh mir seine beiden Studienbücher aus Olevano mit nach Hause, wo ich sie recht gründlich betrachten konnte.

Mit Rhoden ging ich öfter gegen Abend spazieren. Er war zu jener Zeit zuweilen recht trübe gestimmt; seine Arbeiten erfreuten ihn nicht mehr, und er hatte alle Lust dazu verloren. Vielleicht drückte ihn manchmal das Übergewicht Kochs, welcher bei den Künstlern durch seine Genialität in größerem Ansehen stand und von ihnen aufgesucht wurde, während v. Rhoden schon aus dem Grunde einen geringeren Anteil erweckte, weil man in seinem Atelier seit beinahe zwei Jahren ein und dasselbe Bild auf der Staffelei fand, denn er arbeitete sehr langsam.

In der Künstlerbibliothek, welcher Passavant vorstand, fand ich Stillings Jugend- und Wanderjahre. Ich nahm das Buch mit nach Hause und wurde von demselben in hohem Grade gefesselt. Gerade hier in Rom mußte dies Stück echt deutschen Volkslebens, so schlicht und herzenswarm erzählt, eine frappante Wirkung machen; mindestens war es bei mir der Fall.

Heimatsbilder: Menschen, Gegenden und Zustände waren hier mit einer Treue und Wahrheit vor die Augen gemalt, daß jenes leise Heimweh, welches mich so oft noch in stillen Stunden beschlich, neue Nahrung erhielt. Noch mehr aber berührte der fromme Sinn des Buches eine wunde Stelle meines Herzens, deren Heilung mir immer dringender ein ernstes Bedürfnis wurde.

Ich war zu der Erzählung gekommen, wo Stilling, eine Stelle suchend, die Vetterstraße pilgert und von einem Herrn Pastor bei dieser Gelegenheit ein paar vortreffliche Lebensregeln mit auf den Weg bekommt. Bei der nächsten Einkehr aber wird er berichtet: »Lieber Vetter, all unser Moralisieren ist nicht einen Pfifferling wert, und ich will euch eine größere Wahrheit sagen: Wenn der Mensch nicht dahin kommt, daß er Gott mit einer starken Leidenschaft liebt, so hilft ihm alles Moralisieren nichts, und er kommt nicht weiter.« – Diese etwas eigentümliche, aber populäre Ausdrucksweise frappierte mich aufs stärkste und traf ins Herz; denn ich erkannte daraus, daß der Gottesglauben nicht ein totes Fürwahrhalten, sondern ein lebensvoll wirkenden Verhältnis sei, und daß aus einem solchen die sittlichen Folgen wie von sich selbst ganz natürlich entstehen müßten! – Diese Worte lagen mir während all der folgenden Tage immer im Sinne und ließen mich nicht wieder los. Aber – so fragte ich mich, kann der Mensch sich die Liebe geben? – wie soll ich zu solcher Liebe kommen?

Die Weihnachtszeit nahte, wo die Gedanken mehr als vorher nach der Heimat lenken und ein Heimwehgefühl das Herz dessen beschleicht, der allein in der Fremde lebt. Er weiß, daß daheim die Eltern, Geschwister, die Geliebte seiner unter dem Christbaum inniger gedenken und ihn vermissen werden. Am Christtag ging ich ins Café Greco, wo die Post einen großen Stoß Briefe abgelagert hatte, aber für mich war keiner darunter; freilich war der Postenlauf damals ungeregelter; ein Brief aus Deutschland war acht bis zwölf Tage unterwegs, und geschrieben wurde mir ohnedies selten. Auguste konnte ihre Briefe mir nur durch den Vater zukommen lassen, und dieser war kein Freund vom Briefschreiben; so blieben erstere oft lange liegen. Betrübt über meine getäuschte Erwartung ging ich zu Oehme, welcher gleiche Gefühle mit mir zu teilen hatte. Er hatte ein paar recht hübsche Kompositionen, getuschte Zeichnungen, gemacht. Die erste stellte den Orgelchor einer alten Kirche am Weihnachtsabend vor. Der Kantor mit seinen Knaben singen, von zwei Kandelabern beleuchtet, in die dunkle Kirche hinab. Auf den düstern Emporen sieht man betendes Volk, und das Mondlicht streift durch das gotische Fenster.

Die andere Zeichnung zeigte ein altes Schloß mit hohen Renaissancegiebeln, das aus entlaubten alten Eichen hervorschaute und eine Reihe festlich erleuchteter Fenster zeigte. Vorn ein Wasser, darein der Mond sich spiegelte. Seine Phantasie hatte ihn also ebenfalls in die Heimat getragen. Sein angefangenes größeres Gemälde, die Aussicht von Camaldoli, war zart und schön in der Färbung; aber das Vedutenhafte dominierte. Koch fand es sentimental, wollte überhaupt von dergleichen empfindsamen Stimmungsbildern nichts wissen; denn er war seinem ganzen Wesen nach mehr eine antik-klassische als romantische Natur.

So hatte ich den Christtag einsam zugebracht, denn die Trattorien mußten um sieben Uhr schon geschlossen werden. – Am ersten Feiertag hatte ich den ganzen Tag fleißig gemalt und saß bei anbrechender Dämmerung noch vor dem Bilde, obwohl ich Pinsel und Palette längst weggelegt hatte, und war mit den Gedanken in der Heimat, nach der ich mit Wagner zum Frühjahr wieder zurückkehren wollte.

Ich schürte die Glut des Focone, denn draußen wehte eine kalte Tramontana, und das Gebirge lag voll Schnee. So in der Zukunft schwärmend und die Vergangenheit der letzten Jahre bedenkend, durchströmte mich plötzlich eine seltsame, aber recht glückliche, friedensvolle Empfindung. Es war, als wenn ein Engel durchs Stübchen gegangen und einen Hauch seiner Seligkeit darin zurückgelassen hätte. Mir kam plötzlich mein Leben wie in einem großen, freundlichen Zug vor Augen, und ich glaubte die unsichtbare Hand zu erkennen, die mich bisher so freundlich geleitet, die mich über all mein Erwarten mit Gütern erfüllt hatte, die mir eine Verheißung für die Zukunft waren. Zum ersten Male, vielleicht seit Jahren, konnte ich dankbar und innig freudig die Hände falten im Gebet, konnte beten so recht wahrhaft aus innerstem Antrieb, wie ich es vorher nie gekonnt.

Am andern Tag erfuhr ich, daß Oehme plötzlich heftig erkrankt sei, und da seine Wirtsleute sich nicht um ihn kümmerten – wie es in solchen Fällen die alte, gute Frau Mariuccia getan hatte –, so ging ich täglich mehrmals zu ihm. Hier traf ich auch den Landschaftsmaler Thomas und den Kupferstecher Hoff aus Frankfurt und Ludwig v. Maydell.

Mit letzterem war ich bisher in keine nähere Beziehung gekommen, obwohl mich etwas Eigentümliches und das Tüchtige in seiner Persönlichkeit stets angezogen hatte. Ich wußte nur von ihm, daß er aus Dorpat sei, als Ingenieur-Offizier im russischen Heere gedient und den Feldzug gegen Frankreich mitgemacht habe, und daß er erst seit zwei Jahren seiner alten Neigung habe folgen und sich gänzlich der Kunst widmen können. Mit eisernem Fleiß verfolgte er seine Studien, weil er Zeit und Geldmittel wohl zusammenhalten mußte; man sah ihn deshalb sehr selten bei den abendlichen Zusammenkünften und fast nur des Mittags bei Tische. Bis spät in die Nacht hinein arbeitete er unermüdlich, was nur eine so feste Gesundheit, wie die seinige war, ohne Nachteil auf die Dauer aushalten konnte. Eine vielseitige Bildung, reiche Lebenserfahrung, bedeutendes Talent, verbunden mit ebenso schlichtem, als festem männlichem Wesen, machten ihn allgemein beliebt, obwohl er nur mit sehr wenigen in einen näheren Verkehr trat, z. B. dem späteren Baurat und Professor Stier in Berlin. Seine äußere Erscheinung hatte etwas halb Studentischen, halb Militärisches; eine kräftige Gestalt, geistvolles Gesicht und die blauen, scharfgeschnittenen Augen wie das straffe, blonde Haar deuteten auf seine nordische Abkunft; denn die Familie stammte ursprünglich aus Schweden.

Maydell hatte bei Oehme bereits eine Nacht gewacht, und wir verabredeten uns, damit zu wechseln.

Am Silvesterabend, welchen die Künstler durch ein festliches Beisammensein zu feiern beschlossen, kam die Reihe des Nachtwachens wieder an mich. Wir trafen uns aber vorher bei unserm Patienten, welcher indes heute bedeutend besser befunden wurde und deshalb die Nachtwache entschieden ablehnte, da es nicht mehr nötig sei. Ich aber wollte wenigstens bis zehn Uhr bei ihm bleiben, worauf Maydell mir vorschlug, im Fall ich das Fest nicht besuchen wolle, das Neujahr in ihrer Gesellschaft abzuwarten, denn sie würden beisammen bleiben; einen guten Tee wolle er brauen und beschrieb mir das Haus, in dem er wohnte.

Als ich nun sah, daß Oehme gegen zehn Uhr ruhig eingeschlafen war, verließ ich seine Wohnung und suchte in dem bezeichneten Gäßchen Maydells Wohnung. Bald stand ich vor einem schmalen, baufälligen Hause, dem einzigen, wo oben an den Fenstern ein Lieht zu sehen war; denn im ganzen Gäßchen war es still und dunkel und schienen seine Bewohner in tiefem Schlafe zu liegen. Im Hause selbst herrschte die undurchdringlichste Finsternis, und nur vorsichtig mit Händen und Füßen fühlend, kam ich die drei Treppen hinauf, wo aber keine Türe zu finden war, trotz allen Herumtappens. Ich mußte annehmen, daß ich irre gegangen sei, und meinen beschwerlichen Rückzug wieder antreten. Nun stand ich wieder auf dem einsamen Gäßchen und überlegte, was zu machen sei. Mein Rufen und Händeklatschen war ohne Erfolg, es wurde oben nicht gehört, und noch einmal in diese Finsternis hineinzutauchen, noch einmal den hals- und beinbrecherischen Gang zu wagen, empfand ich keine Neigung. Ich lenkte endlich die Schritte nach der nächsten Straße, wo das Festino gehalten wurde, und hörte bald von dorther fröhlichen Gesang und Jubilieren und erblickte die erleuchteten Fenster des Festsaales. Wieder blieb ich stehen und sah nochmals zurück. – Die beiden Fenster unter dem Dache winkten so bescheiden und traulich von ihrer Höhe, als wollten sie mich an mein gegebenes Wort erinnern.

So stand ich, wenn auch nicht ein Herkules, doch jedenfalls an einem Scheidewege: links die laute Lust der fröhlichen Genossen, leicht erreichbar, rechts die drei ernsteren, aber, wie es schien, unerreichbaren Freunde! Es war ein geheimer Zug, der mich immer wieder zu den drei lieben Menschen wies, die meinem Herzen in den letzten Tagen so nahe gekommen waren und jetzt da oben saßen und vermutlich mich erwarteten. Ich wagte also den bedenklichen Versuch zum zweiten Male, und diesmal war ich glücklicher! Durch den dunklen Tartarus kam ich wirklich hinauf »zum Wiedersehen der Sterne«.

Ich hatte das erstemal einen Winkel verfehlt, von welchem aus man auf eine alte Holzgalerie gelangte, welche an der Rückseite des Hauses hinlief und von dieser aus zu Maydells Tür führte. Durch das Küchenfenster sah ich, wie er eben den versprochenen Tee bereitete, und lachend über meine Irrfahrt, führte er mich erfreut in die Stube.

Bald saßen wir vier bei traulichen Gesprächen um den Tisch, rauchten unsern Olandino zum Tee und disputierten über einige neuere Kompositionen Maydells, welche er uns vorgelegt hatte. Es waren geistreiche Zeichnungen, neu und originell in der Erfindung, meist Gegenstände romantischer Natur, kräftig in Tusche und mit der Feder ausgeführt. Auch mehrere biblische Gegenstände waren dabei, die ebenso eigentümlich erfaßt und in einem ernsten, großen Stil gehalten waren. Nach dieser Kunstschau veranlaßten wir Maydell, uns aus »Meyers Blätter für höhere Wahrheit«, welche er aus der Künstlerbibliothek geholt hatte, einen kleinen Aufsatz über den achten Psalm vorzulesen. Es war darin die Vermutung ausgesprochen, daß dieser Psalm wohl ein Nachtgesang sein möge, den David, der Hirtenknabe, beim Anblick des Sternenhimmels gedichtet habe, wenn er bei seiner Herde war:

Wenn ich schaue den Himmel, deiner Finger Werk,
Den Mond und die Sterne, die du bereitet –
Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest,
Und das Menschenkind, daß du dich sein annimmst?

Ich habe keine Erinnerung von dem, was an jenem Abend gesprochen wurde; es war auch nichts einzelnes, was mich besonders tiefer berührt hätte; aber den Eindruck gewann ich und wurde von ihm überwältigt: daß diese Freunde in ihrem Glauben an Gott und an Christum, den Heiland der Welt, den Mittelpunkt ihres Lebens gefunden hatten und alle Dinge von diesem Zentrum aus erfaßten und beurteilten. Ihr Glaube hatte seinen festen Grund im Worte Gottes, im Evangelio von Christo – der meinige, welcher mehr selbstgemachte Meinung und Ansicht war, schwebte in der Luft und war den wechselnden Gefühlen und Stimmungen unterworfen.

Still, aber im Innersten bewegt, hörte ich den Reden der Freunde zu und war mir an jenem Abend der Umwandlung nicht bewußt, die in mir vorging. Aber alle die kleinen, unscheinbaren Ereignisse der letzten Wochen und Tage hatten den Keim hervorgelockt, der so lange Zeit mit schwerer Erde bedeckt im Winterschlaf gelegen hatte; einem Sonnenstrahl mußten alle Knospen sich erschließen. Und Gott sei Dank, es geschah jetzt, obwohl ich erst am andern Tage mir dessen recht bewußt wurde. »Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden sie sein wie die Träumenden!« so war es mir auch. Und als nun das beginnende Geläute der Mitternacht den Schluß des alten und den Beginn eines neuen Jahres verkündete, und Thomas uns aufforderte, diesen Übergang mit dem alten, schönen Choral »Nun danket alle Gott« zu feiern (dem einzigen, welchen wir auch ziemlich auswendig wußten), so konnte ich recht freudigen Herzens mit einstimmen.

Oehmes Krankheit war der äußere Anlaß gewesen, welcher uns zusammengeführt hatte; eine gemeinsame Geistesrichtung, die aus dem tiefsten Bedürfnis des Herzens kam, war in dieser Stunde hervorgetreten und hat uns für das ganze Leben treu verbunden bis ans Ende dieses Erdenlebens; denn sie ruhen nun alle, und nur ich, der jüngste von ihnen, bin der Überlebende und segne noch heute diesen für mich so bedeutsamen Silvesterabend.


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