F. Gräfin zu Reventlow
Herrn Dames Aufzeichnungen
F. Gräfin zu Reventlow

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14. Dezember

Ein komischer Zufall, daß ich Heinz Kellermann hier treffe. Wir haben uns seit dem Gymnasium nicht mehr gesehen. Er behauptet zwar, es gebe nichts Zufälliges, sondern was wir Zufall nennen und als solchen empfinden, sei gerade das Gegenteil davon, nämlich ein durch innere Notwendigkeit bedingtes Geschehen. Man sei nur im allgemeinen zu blind, um diese inneren Notwendigkeiten zu sehen.

Trotzdem schien er ebenso verwundert wie ich und fragte mit der gedehnten und erstaunten Betonung, die ich so gut an ihm kannte:

»Wie kommst du denn hierher?«

Ich konnte diese Frage nur zurückgeben, und dann sagte er etwas überlegen: O, man könne nur hier leben und hier lerne man wirklich verstehen, was Leben überhaupt bedeute. Ich habe ihm erzählt, daß das auch mein sehnlichster Wunsch sei, und wie ich mich mit meiner Biographie herumquäle – na Gott ja, – daß ich eben ein Verurteilter bin und nicht recht weiß, was ich mit mir und dem Leben anfangen soll.

Daraufhin ist er gleich viel wärmer geworden und lud mich für den Abend in seine Wohnung ein, – es kämen noch einige Freunde von ihm, auf die er mich sehr neugierig machte.

Ich ging hin, und es war auch wirklich der Mühe wert. Aber ich werde jetzt wieder ein paar Tage daheim bleiben und mich sammeln. Es sind zu viel neue und verwirrende Eindrücke von allen Seiten. Wohin ich komme und wen ich kennen lerne – alles ist so seltsam, wie in einer ganz anderen Welt, und ich tappe noch so unsicher darin herum. – Ob das nun Zufall ist oder innere Notwendigkeit, daß ich hierher kam und gerade diese Menschen kennen lerne? Aber es lockt mich, ich kann dem allen nicht mehr entfliehen – ich bin wohl dazu verurteilt, und der Gedanke gibt mir meine innere etwas Ruhe wieder.

Doktor Gerhard rät mir ja immer wieder, ich solle etwas schreiben – jeder Mensch habe einiges zu sagen und müsse, was er erlebt, in irgendeiner Form nach außen hin gestalten. – Wenn es auch nur wäre, um meinem Stiefvater Vergnügen zu machen, er hat ja schon immer gemeint, ich hätte ein gewisses Talent dazu. – Und er ist gewiß aufrichtig, denn er hält sonst nicht übermäßig viel von meiner Begabung.

Ich weiß nicht recht – einstweilen mache ich mir Aufzeichnungen und Notizen, besonders wenn ich mit dem Philosophen zusammen bin.

 

Da war der Abend mit Heinz Kellermann und seinen Freunden. Der eine mit dem scharfen Gesicht sah fast wie ein Indianer aus. Als ich das sagte, wurde Heinz ganz ärgerlich und behauptete, er sei doch blond, dunkelblond wenigstens und ein absolut germanischer Typus. Es gab eine förmliche Diskussion darüber, aus der ich entnahm, daß sie die blonden Menschen mehr ästimieren als die dunklen, und daß das irgendeine besondere Bedeutung hat.

Es war auch ein junges Mädchen dabei – eine Malerin –, das übrigens ausgesprochen schwarzes Haar hatte, aber ich wagte keine Bemerkung darüber, denn mir schien, daß sie der Unterhaltung etwas deprimiert zuhörte, und ich muß gestehen, ich freute mich zum erstenmal darüber, daß ich blond bin.

Im ganzen hatte ich aber wieder das Gefühl, nicht recht mitzukönnen. Ich weiß nicht, ob man diese Ausdrucksweise eigentlich »geschraubt« nennen kann, aber sie kommt einem manchmal so vor, und man muß sich erst daran gewöhnen.

Was meinen sie zum Beispiel damit: man müsse einen Menschen erst »erleben«, um ihn zu verstehen?

Heinz machte manchmal ganz treffende Bemerkungen – das kann er überhaupt sehr gut –, und dann hieß es:

»Heinz, Sie sind enorm.«

Nach dem Tee setzte man sich auf den Boden, das heißt auf Teppiche und Kissen. Heinz machte die Lampe aus und zündete in einer Kupferschale Spiritus an – warum auch nicht –, es gab eine schöne blaugrünliche Flamme. Aber dann stand die Malerin auf und hielt ihre Hände darüber, man sah nur die schwarze Gestalt und die Hände über der Spiritusflamme, die in dieser Beleuchtung ganz grünlich aussahen.

Und nun waren alle ganz begeistert und sagten wieder, das sei »enorm«. Um auch irgend etwas zu sagen und mich gegen das junge Mädchen höflich zu zeigen, meinte ich, dieses offene Feuer in der Schale habe etwas von einem alt-heidnischen Brauch. Das war nur so hingesagt, weil mir nichts anderes einfiel, aber sie sahen sich bedeutungsvoll an, als ob ich einen großen Ausspruch getan hätte, und Heinz sagte zu dem Indianer: »Sehen Sie – und er weiß gar nicht, was er damit gesagt hat.« – »Das ist es ja gerade,« antwortete der, »er muß das Heidnische ganz unbewußt erlebt haben.«

Ich wollte fragen, was er meinte, da klingelte es, und dann kam der Professor Hofmann – der mit dem Kreis – der aus dem Traum – ich dachte mir gleich, daß er es wäre. Er war ungemein gesprächig und liebenswürdig, bewunderte das Feuer in der Schale und nannte es fabelhaft, ebenso die grünlichen Hände der Malerin und sagte, es sei ganz unglaublich schön, wie sie dastände. – Ich mußte dabei an die Geschichte neulich im Café denken – die »Wahnmochingerei«, wie der Philosoph es nannte.

Dann ging die Flamme aus, und die Lampe wurde wieder angezündet. Da niemand an Vorstellen zu denken schien, tat ich es selbst. Der Professor sah mich plötzlich verwirrt und ganz entgeistert an, ich dachte, er hätte mich nicht verstanden, wiederholte meinen Namen und setzte hinzu:

»Ich heiße nämlich Dame.«

Er schüttelte mir nun mit großer Lebhaftigkeit die Hand und sagte, es freue ihn unendlich, mich kennen zu lernen.

Dann unterhielt man sich über dieses und jenes. Der Professor ging dabei mit etwas stürmischen Schritten auf und ab, nahm jeden Augenblick einen Gegenstand in die Hand, betrachtete ihn ganz genau und stellte ihn wieder hin. Im Laufe des Gespräches fragte er mich, ob ich auch in »Wahnmoching« wohnte. Ich fragte wieso und hielt es für einen Witz – »ich wohne in der K...straße«. Darüber brachen sie alle in Gelächter aus und fanden es enorm, daß ich nicht wüßte, was »Wahnmoching« sei.

Man erklärte mir, daß der ganze Stadtteil von dem großen Tor an so heiße. Wie sollte ich das wissen, ich habe mich gar nicht darum gekümmert, wie der Stadtteil heißt, in dem ich wohne. In Berlin weiß man es, aber hier doch nicht. Ich begriff wirklich nicht, was daran »enorm« sein sollte. Ja, sagten sie, das sei es ja eben, – ich wäre in allem so unbewußt.

Sonst bin ich wirklich ein geduldiger Mensch, aber ich hatte allmählich den Eindruck, als ob man mich mystifizieren wollte, und sagte, den Ausdruck »Wahnmochingerei« hätte ich schon gehört. Der Professor wurde stutzig und fragte, von wem denn?

»Von Doktor Sendt, dem Philosophen.«

»Ah – Sie kennen Doktor Sendt?« es klang beinah, als ob ihn das verstimmte. Aber dann wurde er wieder sehr herzlich und lud mich ein, ihn zu besuchen und zu seinem Jour zu kommen.

 

den 18. ...

Nachts um ein Uhr den Philosophen auf der Straße getroffen – wir gehen noch lange auf und ab, ich erzähle ihm von dem Abend bei Heinz und bitte um einige Aufklärungen.

Warum es »enorm« ist, wenn man Spiritus in Kupferschalen verbrennt und jemand die Hände darüber hält – ich kann immer noch nicht vergessen, wie grünlich das ganze Mädchen aussah –, warum geraten sie darüber in solches Entzücken? oder wenn man von einem heidnischen Brauch spricht?

»Junger Mann,« sagt Sendt, »enorm ist einfach ein Superlativ, der Superlativ aller Superlative. Sie werden überhaupt mit der Zeit bemerken, daß man unter echten Wahnmochingern einen ganz besonderen Jargon redet, und Sie müssen lernen, diesen Jargon zu beherrschen, sonst kommen Sie nicht mit. Man sagt beispielsweise nicht ein Ding, eine Sache, eine Frau sei schön, reizend, anmutig – sondern sie ist fabelhaft, unglaublich – enorm. Das heißt – enorm wird mehr in übertragener Bedeutung angewandt und bedeutet den höchsten Grad der Vollendung. Speziell in dem Kreise, dem Ihr Freund Heinz angehört.«

»Schon wieder ein Kreis?« – frage ich.

»Ja, aber die Kreise berühren sich, – dieser besteht nur aus wenigen und dreht sich etwas anders. Man beschäftigt sich dort damit, den Spuren des alten Heidentums nachzugehen – daher die Freude über Ihre harmlose Bemerkung. Und das grünliche Mädchen hatte wohl irgendeine symbolische Bedeutung.«

Der Philosoph hielt plötzlich inne – hinter uns klangen rasche Schritte, und es kamen ein paar Herren an uns vorbei. Zwei von ihnen waren indifferent aussehende junge Leute – der dritte, der zwischen ihnen ging, ein knapp mittelgroßer Mann mit niedrigem schwarzem Hut und einem dunklen Mantel, den er wie eine Art Toga umgeschlagen hatte, – man konnte ihn auf den ersten Blick fast für einen Geistlichen halten. Er schien über irgend etwas sehr erregt und sprach eifrig auf seine Begleiter ein, – in einem ganz eigentümlichen, monoton singenden Tonfall. Gerade als sie uns überholten, hörten wir ihn sagen:

»Ja – bis vor drei Jahren konnte man sie noch für zwei Mark auf jeder Dult finden – aber jetzt haben die Juden alle aufgekauft, und unter zehn Mark sind überhaupt keine mehr zu haben.«

Gegen Ende des Satzes ging seine Stimme allmählich mehr in die Höhe, und zum Schluß kam ein kurzes, schrilles Auflachen. Als er uns sah, machte er eine halbe Wendung seitwärts und grüßte den Philosophen. Deutlich sah ich in diesem Moment sein breites, glattrasiertes Gesicht mit auffallend hellen, leuchtenden Augen, das aber trotzdem etwas absolut Unbewegliches, beinah Starres hatte. Beim Grüßen verzog er den Mund zu einem äußerst konventionellen Lächeln, in der nächsten Sekunde aber nahm er wieder einen steinernen und völlig ablehnenden Ausdruck an und ging rasch mit kurzen, eiligen Schritten seines Weges.

Der Philosoph schien sich an dieser Begegnung und der aufgefangenen Bemerkung ungemein zu freuen:

» Lupus in fabula,« sagte er – »Sie haben wirklich Glück, Herr Dame – dieser Herr, der mich eben grüßte, ist – nun man könnte ihn wohl den geistigen Vater des Wahnmochinger Heidentums nennen – nein, nein – das ist in diesem Falle nicht richtig – er würde es sehr übel nehmen, wenn man ihn als Vater von irgend etwas bezeichnen wollte – denn gerade er ist der Hauptverfechter des matriarchalischen Prinzips.«

»Liebster Philosoph,« bat ich, »nun wird es mir schon wieder zu hoch.«

Übrigens dachte ich mir gleich, daß jener Herr ein gewisser Delius sein müßte, von dem Heinz mir viel erzählte.

Ja, es stimmte, und ich fand, es sei wirklich wieder ein sonderbares Spiel des Zufalls, daß wir ihm gerade bei diesem Gespräch begegneten, aber Sendt sagte, man träfe ihn sehr oft um diese Stunde, er liebe die Nacht und alles Dunkle.

»Dieser Delius – nun, er ist wohl eine sonderbare Erscheinung,« fuhr er dann fort, »die heutige Zeit, auf die wir alle mehr oder minder angewiesen sind, gilt ihm nichts, er ignoriert sie oder begegnet ihr wenigstens nur rein konventionell – etwa so, wie er mich vorhin grüßte. Sein eigentliches Leben spielt sich in längst versunkenen Daseinsformen ab – mit denen er sich und andere identifiziert. – Passen Sie einmal gut auf, Herr Dame – wissen Sie ungefähr, was man sich unter Seelensubstanzen vorzustellen hat?«

Ich sagte, daß ich es mir wohl vorstellen könnte – es war ja neulich im Café schon davon die Rede.

»Schön – also Delius denkt sich nun diese Seelensubstanzen von den ältesten Zeiten her wie Gesteinschichten übereinander gelagert, etwa zuunterst die der alten Ägypter, Babylonier, Perser – dann die der Griechen, Römer, Germanen und so weiter. Man nennt das biotische Schichten. – Seit der Völkerwanderung, meint er nun, habe sich alles verschoben, die Substanzen sind durcheinandergemischt und dadurch verdorben worden. Infolgedessen wirken bei den jetzigen Menschen lauter verschiedene Elemente gegeneinander, und es kommt nichts Gutes dabei heraus. Nur bei wenigen (und das sind natürlich die Auserlesenen) hat sich eine oder die andere Substanz in überwiegendem Maße erhalten – zum Beispiel bei ihm selbst die römische – er fühlt und empfindet durchaus als antiker Römer und würde Sie höchst befremdet anschauen, wenn Sie ihm sagten, er lebe doch im zwanzigsten Jahrhundert und sei in der Pfalz geboren. Denn seine Substanz ist eben römisch. Bei Heinz Kellermann und dessen Freunden dagegen herrscht die altgermanische vor, – daher auch die stark betonte Vorliebe für Blonde und Langschädel.«

»Aber lieber Doktor, sagen Sie mir nur noch das eine: – was hat das alles damit zu tun, daß dieser Stadtteil Wahnmoching heißt?«

»Herr Dame – denn Sie heißen ja wirklich so,« sagte der Philosoph, und ich konnte es ihm in diesem Augenblick nicht übelnehmen – »Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil – eben dieser Stadtteil, aber das ist nur ein zufälliger Umstand. Er könnte auch anders heißen oder umgetauft werden, – Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben. Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Rahmen eines Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen – Wahnmoching ist noch vieles, vieles andere, und das werden Sie erst allmählich begreifen lernen. – Aber für heute sei es des Guten genug, sonst möchte noch die aufgehende Sonne uns hier im Zwiegespräch überraschen.«

Damit trennten wir uns.


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