Gabriele Reuter
Der Amerikaner
Gabriele Reuter

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Neuntes Kapitel

Zwischen August und Debberitz bahnte sich allmählich eine große Verständigung an, die ihre Spitze gegen den Amerikaner richtete. So nannten sie Fritz unter sich. Die beiden hatten ihre Arbeitsgebiete getrennt und kamen dadurch naturgemäß weniger in Kollision, und seit August als Kapitalist durch das Vermögen seiner Frau an dem Unternehmen beteiligt war, begegnete ihm Debberitz einerseits mit größerer Hochachtung, anderseits kamen ihre Interessen sich dadurch in Wahrheit näher. Fritz hatte kein bestimmtes Feld der Tätigkeit. Er war überall und nirgends – aneifernd, treibend, auf Schäden und Schwierigkeiten hinweisend. So machte er sich oft genug bei beiden mißliebig. Alles ging ihm zu langsam, alle Berechnungen wurden ihm zu kleinlich und knauserig ausgeführt. All die tausend Rücksichten, die von den beiden andern genommen wurden, um wichtige Persönlichkeiten nicht zu verletzen, verhöhnte er als übertrieben und lächerlich. Ja, es war nicht zu leugnen, ein gewisses großsprecherisches Amerikanertum trat neuerdings in seinem Wesen mehr in den Vordergrund, ärgerte seine Familie und ließ die überschwengliche Dankbarkeit, mit der man ihn nach seinem ersten tatkräftigen Eingreifen überhäuft hatte, in den Hintergrund treten.

Endlich kam es zwischen ihm, Debberitz und August zu einer heftigen Auseinandersetzung. Er forderte eine deutliche und klar abgegrenzte Stellung als dritter Leiter des Unternehmens. Er forderte ein bestimmtes hohes Gehalt und bedeutende Tantiemen. Das zu bewilligen war beiden Herren unbequem. Sie erklärten, daß die aus dem Unternehmen zu ziehenden Gewinne durchaus noch nicht so sicher seien, daß man außer den Dividenden, die man den Aktionären zu zahlen haben werde, sich auf ein hohes Gehalt für einen dritten Direktor einlassen könne. In der ersten Generalversammlung der Gesellschaft, die Anfang Oktober stattfand, unterstützten sie Fritz in seinen Forderungen keineswegs mit der Energie, die er erwartet hatte. Und so bewilligte man ihm denn nur die knappe Hälfte dessen, was er wünschte. Debberitz fügte dem mit ihm aufzusetzenden Kontrakt noch einen Paragraphen bei, in dem es der Gesellschaft gestattet war, ihn nach halbjährlicher Kündigung entlassen zu können. Fritz erklärte rundweg, auf diesen Kontrakt nicht eingehen zu können. Er stellte der Gesellschaft anheim, in einem halben Jahr, wenn die Sachen sich mehr geklärt haben würden, auf seine Ansprüche zurückzugreifen und sie in der nächsten Versammlung nachträglich zu bewilligen. Sonst würde er sich sofort von dem Unternehmen zurückziehen. Man nahm diesen Ausweg an, weil man allgemein die Empfindung hatte, daß man seine Tatkraft und seine Geschäftskenntnis jetzt nicht entbehren könne. Es wurden auch Stimmen laut, er werde wohl seine Ansprüche mit der Zeit noch herabschrauben und später besser mit sich reden lassen.

Es war heftig genug zugegangen bei den Debatten, und die Brüder kehrten in einem unangenehmen Schweigen und mit verstimmten Gesichtern aus Langenrode heim.

August äußerte sich zu Frau und Eltern empört über die bei der Generalversammlung zutage getretene Geldgier seines Bruders. Fritz äußerte sich zu niemand, aber während er, amerikanische Gassenhauer pfeifend, im Schloß aus und ein ging, prägte sich ein gewisser kalter sarkastischer Zug immer deutlicher in seinem Gesicht aus.

Er fuhr in dieser Zeit mit seinem Automobil nach Halle, um dort die Verhandlungen mit dem Professor und den zwei Assistenzärzten, die man zur Leitung des Sanatoriums in Vorschlag gebracht hatte, definitiv abzuschließen. Von hier aus telegraphierte er, man möge ihn erst in einer Woche zurückerwarten, da er noch in eigenen Angelegenheiten in Hamburg zu tun habe.

Er kehrte gelassen heiter zurück.

Welcher Art die persönlichen Geschäfte waren, die ihn zu dem Ausflug veranlaßt hatten, erwähnte er zu niemand, aber man war es ja auch nicht gewöhnt an ihm, daß er seine eigenen Angelegenheiten im Kreise der Familie vertraulich durchgesprochen hätte.

 

Es gab in diesem Jahr eine besonders reiche Pflaumenernte. Die gesamte Weiblichkeit des Schlosses mußte beim Entsteinen helfen. In dem größten, blitzblank gescheuerten Kupferkessel des geräumigen Waschhauses brodelte der braune Pflaumenbrei. Sobald die Tür geöffnet wurde, quoll ein süßer, schwerer Würzduft bis hinauf in die Wohnräume. Das Pflaumenmuskochen war immer eine wichtige Angelegenheit. Die alte Wibekken aus dem Dorfe, die schon seit einem halben Jahrhundert bei allen Wochenpflegen, Kindtaufen, Sterbebetten und beim Pflaumenrühren helfen mußte, stand am Kessel und bewegte mit einem Holzgestell in hingebender Treue unaufhörlich den braunen Brei, um ihn vor dem Anbrennen zu bewahren. Aus dem rosenrot geblümten Kopftuch, in dem sie ihr graues Haar verborgen hatte, blickte das runzlige Greisenantlitz mit seinen trüben, rotumränderten Augen sonderbar genug hervor. Mamsell Wärmchen erschien zuweilen, um diese oder jene seine Zutat an Gewürz und auserlesenen Wallnüssen der Masse im Kessel hinzuzufügen. Auch die junge Herrin kam in Hildens und ihrer Schwiegermutter Begleitung, das Einkochen in Augenschein zu nehmen und mit ihrem Rat zu unterstützen. Mamsell Wärmchen, deren runde Backen wie zwei Pfingstrosen glühten, preßte, sobald sie der jungen Frau von Kosegarten ansichtig wurde, die Lippen zusammen und drückte mit einer störrischen Bewegung das Kinn zurück. Mimi fragte sie liebenswürdig heiter, ob sie wohl getrocknete Apfelsinenschalen mitkochen lasse, sie hätten das immer getan in Niedernrode, es gebe so einen pikanten Geschmack.

»Jedes Haus hat eben seine Gewohnheiten beim Pflaumenmuskochen,« sagte Mamsell in einem scharfen Ton, indem sie vermied, die junge Frau von Kosegarten anzusehen. »Ich kann die Verantwortung nur übernehmen, wenn ich unser altes Rauschenroder Rezept benutze. Nun – nächstes Jahr, da können ja die gnädige Frau alles auf Ihre Weise machen, da bin ich ja denn nicht mehr hier. »Ja,« schloß sie tief aufseufzend, »da bin ich nicht mehr hier.«

»Aber, Wärmchen, was Sie sagen,« rief die Wibekken ganz erschrocken, »Sie werden doch die Herrschaft nicht verlassen?! Wo wollen Sie denn hin?«

»Gott,« sagte die Wärmchen und machte vor Wichtigkeit einen ganz spitzen Mund, »es sind ja so manche Veränderungen hier vorgegangen. Warum sollte ich mich denn da nicht verändern?«

Frau Marie lachte über ihr ganzes freundliches Gesicht. »Ja, was Sie denken, Wibekken, Mamsell Wärmchen ist im Steigen. Sie pachtet mit Schottenmaier zusammen die Wirtschaft im Kurhaus, wenn das nächsten Frühling eröffnet wird.«

Die alte Wibekken ließ vor Schrecken und Staunen den Rührer fast in die kochende Masse fallen. »Nee, is ja woll nich möglich,« schrie sie hell heraus, »wo haben Sie denn dazu das Geld her, Wärmchen? Ich habe mir doch immer sagen lassen, dazu muß eins eine Kantion stellen, oder wie sie das Dings nennen?«

»Nun ja,« sagte Wärmchen zufrieden und strich mit beiden Händen ihre Schürze glatt, eine Bewegung, die bei ihr der Ausdruck höchsten Wohlbehagens war, »man hat sich ja was gespart. Der Herr Debberitz sieht sich schon seine Leute an. Allen und jeden nimmt er nicht. Ach nein. Aber bei mir und Herrn Schottenmaier da geht er ja sicher, auch so was die feine Küche betrifft, geschmeckt hat's ihm ja immer bei uns.«

»Ja, ja. Mamsellchen wird eine einflußreiche Persönlichkeit,« rief Hilde, »und wer weiß, schließlich, wenn sie das Kurhaus einmal zusammen haben, wird Herrn Schottenmaier auch seine Witwerschaft leid, und ihr Myrtenstöckchen gibt doch noch einen Brautkranz.«

Mamsellchen kicherte verschämt. »Es is ja noch noch aller Tage Abend,« gestand sie mit niedergesenkten Augen. »Schottenmaier hat ja schon verschiedentlich solche Andeutungen gemacht, aber ich sage immer: »Erst das Geschäft und dann das Vergnügen.« Man darf den Männern nicht zu viel Avancen machen.«

»Da haben Sie recht, da haben Sie aber sehr recht. Mamsellchen!« rief eine vergnügte Männerstimme, und Fritzens brauner Kopf schaute in die Tür. »Wer ist denn der Glückliche?« fragte er, Mamsellchen mit schelmischen Augen zwinkernd ins Gesicht schauend, »dem nicht zu viel Avancen gemacht werden sollen? Doch nicht etwa ich selbst? Mir können Sie schon welche machen, Wärmchen! Ich bin nicht so eingebildet wie die andern Kerls, bei denen Sie sich in acht nehmen müssen. Sie können mich ruhig mal von Ihrem ausgezeichneten Mus kosten lassen, danach hab ich mir elf Jahre lang die Finger geleckt.«

»Ach, was der junge Herr immer für Späße macht!« rief Mamsell Wärmchen und füllte ihm eifrig ein Tellerchen voll auf. Die Damen mußten nun auch kosten. Sie saßen auf der Eimerbank, auf einem umgestülpten Waschfaß, auf einem Holzschemel, und ein fröhliches Plaudern und Scherzen ging zwischen ihnen, zwischen der Alten am Kessel und der purpurwangigen Mamsell Wärmchen hin und wieder. Draußen brauste ein scharfer Herbststurm durch die Kastanienbäume und ließ ihre Blätter im Wirbel über den Rasen tanzen, hier innen war es schön warm und traulich bei dem guten Geruch des Muses. Alte Kindergeschichten wurden erzählt, und die Wibekken wußte zu berichten, wie August und Fritz sich verhalten hatten, als sie auf die Welt gekommen waren, und später, als sie die Masern und das Scharlachfieber durchmachen mußten. Es war so eine behagliche, friedlich frohe Erinnerungsstimmung, bei der ein Tellerchen Mus nach dem andern geschleckt wurde und niemand Lust hatte aufzubrechen.

Endlich wurde Mamsell doch abgerufen, und damit löste sich das ganze Zusammensein. Während Frau Marie sich am Arm ihres Schwiegertöchterchens hielt, um die ausgetretenen Kellerstufen hinaufzuklimmen, geschah es, daß Hilde und Fritz nebeneinander zu gehen kamen.

»Ich weiß nicht,« sagte Fritz plötzlich zu seiner Kusine, »warum du nicht an Mamsell Wärmchens Stelle auf den Gedanken verfallen bist, das Kurhaus zu pachten. An wirtschaftlichen Fähigkeiten dazu hätte es dir doch nicht gemangelt. Es würde mir an deiner Stelle besser behagt haben, als so ein armes Quälholz bei einer launenhaften alten Prinzessin zu werden.«

Hilde lachte. »Die wirtschaftlichen Fähigkeiten hätte ich vielleicht, aber nicht das nötige Kapital, um die Kaution zu stellen. Das hat Mamsell Wärmchen. Woher aber sollte ich es nehmen?«

Fritz blieb stehen und blickte das Mädchen an. »Ich vergaß,« sagte er langsam, ... »Verwandte für jahrelange treue Arbeit zu belohnen, das geht ja wohl gegen die Ehre?«

»Ach, rede nicht so,« sagte Hilde, »ich habe doch auf Rauschenrode eine Heimat gefunden gehabt, und nun – nun wird's ja wohl Zeit, daß ich auf eigene Füße zu stehen komme.«

»Gedankt hat dir, glaube ich, noch keiner von uns ordentlich für alles, was du an unsern Eltern getan hast,« sagte Fritz und hielt ihr seine Hand hin. Überrascht legte Hilde die ihre hinein, und er hielt sie einen Augenblick schweigend mit festem Druck. Sie standen in dem kühlen Steingang, aus den Milchkellern umfing sie ein säuerlicher Geruch. Es war nicht gerade ein schöner oder ein poetischer Aufenthalt, und doch erschien es Hilde, als ob der ganze alte dämmerige Gang sich plötzlich für sie mit einem goldenen Licht erfüllte, und als ob dieser kühle Duft nach saurer Milch und Rahm und Käse süßer zu atmen sei als alle Rosen des Morgenlandes. Sie gingen dann still die ausgetretenen Stufen hinauf und jedes an seine Beschäftigung, aber ein Friede blieb dem Mädchen im Herzen, durch den sie leichter dem Glück entsagen zu können meinte, das sie doch, wie es ihre Überzeugung war, niemals mehr ergreifen würde.

Wo die aufgetürmten Bergmassen sich zu weitem grünen Talgrund verflachten, der sich dann wieder zu einem Ausblick nach den blauen Fernen der Ebene öffnete, stiegen auf einer letzten, hügelartigen Bodenerhebung die Mauern des neuen Kurhauses empor. Schon war das Dachgerippe mit sämtlichen muntern Türmchen angelegt. Das Richtfest stand vor der Tür; es sollte mit großem Glanz und Pomp begangen werden. Die herzoglichen Herrschaften hatten ihr Erscheinen zugesagt, sie wollten mit dem Staatsminister und dem Bürgermeister von Langenrode die neugeplanten Anlagen bei dieser Gelegenheit eingehend besichtigen. Es wurde fieberhaft gearbeitet, die Umgebung von häßlichem Bauschutt zu säubern, die im Rohen angelegten Gartenpartien und Wege vor dem breit hingelagerten Gebäude durch eine Fülle kleiner Tannen und Birken, durch schwebende Blumengirlanden und bewimpelte Holzmasten wenigstens anzudeuten und zu einem bunten, fröhlichen Bild zu gestalten. Rechts, nicht allzuweit von dem Kurhaus entfernt, war schon der Grundstein zur »Villa Debberitz« gelegt und weiterhin die Station der elektrischen Bahn durch ein mit Flaggen ausgeputztes, buntes Holzbarackchen wenigstens angedeutet. Links am Abhange des Rauschenberges grüßte das graue Dach des Schlosses aus den breitästigen Wipfeln seiner Parkbäume traulich herüber als ein Nest ehrwürdiger und poetischer Vergangenheit. So drückte sich wenigstens Herr Debberitz Hilde gegenüber aus, als er sie am Tage vor dem Richtfest mit der ältern und jüngern Frau von Kosegarten zu den neuen Anlagen führte, ihnen die festliche Ausschmückung zu zeigen. Er war voll zufriedenen Eifers, strahlend von schlecht verhehlter Wichtigtuerei, während er in seiner Hand die Rollen seiner Baupläne wie einen mächtigen Feldherrnstab schwang. Zwei Arbeiter mußten die riesigen Zeichnungen halten. Er stand breitbeinig davor und wies mit der Silberkrücke seines Stockes auf diese und jene besonders bedeutungsvolle Einzelheit.

»Hören Sie auf,« rief Frau Marie lachend und schüttelte sich in ihrem alten, etwas mottenzerfressenen Pelzkragen, »mir schwindelt der Kopf schon von all den Modernitäten! Ich hätte keinen Augenblick Ruhe vor irgendwelchen Explosionen, Kurzschlüssen, eingeklemmten Fahrstühlen und andern solchen Freuden.«

Debberitz lächelte mitleidig. »Jnädiges Fräulein,« sagte er bedeutungsvoll zu Hilde, »finden Sie nicht auch, daß meine zukünftige Gemahlin es jut haben wird, in diesem Toilettenzimmer, wo jeder ihrer Wünsche durch einen Fingerdruck auf einen Knopf zu befriedigen ist?«

Hilde lachte kurz auf. »Wenn Sie nun einmal eine Frau bekommen, Herr Debberitz,« rief sie lustig, »die sich aus allen solchen Sachen gar nichts macht und sich im Hof am Brunnen die Hände wäscht? Was dann?«

Debberitz wagte einen bewundernden Blick. »Jnädiges Fräulein! – Ich würde nur eine Frau nehmen, die wie eine Königin zu herrschen versteht! Ja, das würde ich tun – das können Sie mir jlauben!«

»Ich glaube es Ihnen ja, Herr Debberitz,« rief Hilde unbehaglich, »ich bin von Ihrem guten Geschmack fest überzeugt!«

»Seht, dort kommt Fritz im Ponywagen,« unterbrach Frau von Kosegarten das gefährlicher werdende Gespräch, »wohin mag der wollen?«

Fritz kutschierte das leichte Korbwägelchen und fuhr in behendem Trab über den freien Platz.

»August schickt mich nach Brottendorf, der Schmied hat ihn wieder im Stich gelassen! Hilde, willst du mitfahren? Dann nehmen wir den Weg durch den Dietrichsgrund.«

»Aber natürlich will ich,« rief Hilde überrascht; es war ihr in dem Augenblick noch mehr darum zu tun, Debberitz zu entgehen, als mit Fritz zu fahren. Eine betäubende Angst vor einer von ihr geforderten Entscheidung ergriff sie. So sprang sie denn mit ganz unnötiger Hast auf das leichte Gefährt zu. Fritz reichte ihr die Hand hinunter, sie setzte den Fuß auf den kleinen Tritt und schwang sich auf den schmalen Sitz neben ihren Vetter, noch ehe jemand von den andern recht zur Besinnung gekommen war.

»O, jnädiges Fräulein,« rief Debberitz, »das ist aber gegen die Verabredung! Ich wollte Ihnen doch die ganze wirtschaftliche Einrichtung noch zeigen!«

»Ein andermal, Herr Debberitz,« rief Hilde von ihrem gesicherten Platz herunter mit fröhlichem Spott, »wir haben ja noch viel Zeit vor uns!«

»Dem hab ich einen Strich durch die Rechnung gemacht,« rief Fritz vergnügt, als sie durch das Tal rollten, wo auf den fahlgewordenen Herbstwiesen die lila Zeitlosen blühten. »Man darf dem edlen Herrn die Eroberung nicht gar zu sehr erleichtern. Findest du nicht auch?«

Hilde lächelte schwach und wurde dabei sehr rot. »Ich höre nur von allen Seiten, daß ich sie ihm unnötig erschwere,« sagte sie, die Schultern leicht schaudernd in die Höhe ziehend.

»Ekelhaft!« rief Fritz und knallte wie ein Knabe zornig mit der Peitsche.

»Aber, Fritz,« meinte Hilde begütigend, »es sind doch deine Verwandten, die mich Herrn Debberitz gönnen.«

»Eben, weil es meine Verwandten sind,« knurrte er, »darum ist es mir doppelt und dreifach ekelhaft, ihr Gehabe und Getue um diesen Kerl mit anzusehen!«

Hilde lachte hell. »Du bist köstlich in deinem Zorn! – Wer hat denn diesen Kerl in die Familie eingeführt? – Bitte, mein Lieber, gib Antwort! Wer hat ihm denn seine jetzige Stellung verschafft?«

»Nun, ich natürlich,« grollte er, »das weiß ich, deshalb brauchst du mich nicht so spöttisch anzugucken. Konnte ich auch nur ahnen, daß meine liebe Familie so jedes Unterscheidungsvermögen über Bord werfen würde?«

»Sie sind berauscht vom Geist der neuen Zeit,« sagte Hilde nachdenklich. »Er wirkt auf sie wie ein Gift, das taumeln macht und die Besinnung raubt. Du hast ihnen eine zu starke Dosis auf einmal davon zu kosten gegeben. Du freilich bist daran gewöhnt und bist des neuen Geistes Meister geblieben.«

»Hilde, höre auf,« rief Fritz, »du sprichst mir allzu klug, du stempelst mich ja geradezu zum Verbrecher und Unheilstifter, und weißt du, manchmal komm ich mir selbst so vor!« Er hielt am Eingange des Tales, wo die Straße in den waldigen Dietrichsgrund einbog, und blickte auf die zerwühlte, zerrissene, durch die halbfertig in die Luft ragenden Bauten und die Arbeiterkantinen jedes friedlichen Zaubers beraubte Landschaft zurück. »Wie abscheulich sieht das aus und ist doch erst der Anfang ...«

Über Hildens feines bräunliches Gesicht und durch ihre goldig schimmernden Augen ging ein wehmütiger Glanz. »Kennst du nicht die Sage von den großen Baumeistern alter Zeiten, die ein lebendiges Kind in den Grundstein einmauern mußten, damit ihr Werk Bestand hatte, und erst auf dieser Leiche konnten die stolzen Zinnen hinaufwachsen?«

»Das ist ein schauerlicher Vergleich, Hilde ... Und doch hat er etwas Wahres.«

Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander und fuhren in den engen Grund hinein, wo sich zu beiden Seiten die Berglehnen, mit mächtigen Buchen bestanden, steil emportürmten. Golden und kupferbraun schimmerte das Laub, und die Ebereschen zur Seite des Wegs standen wie Korallenbäume in Purpur und Karmin, bis zu seltenem Erdbeerrot und Blaßrosa abgestuft, das Scharlach der Fruchtbüschel zwischen dem feinen, in so märchenhafter Pracht glühenden Gefieder. Auf einer Felsenwand, der sie gerade entgegenfuhren, erhoben sich einzelne dieser roten Bäume, von der sinkenden Sonne beschienen, wie aufzüngelnde Flammen. Sie sahen beide um sich und freuten sich der Schönheit, während die Luft herbstscharf ihre Wangen umwehte. Fritz fuhr langsamer, indem sie tiefer und tiefer eintauchten in die wundersame Farbenpracht der Bergeseinsamleit. Auf die Waldwiese zwischen die feinen roten Bäumchen traten braune Rehe, hoben den Kopf, witterten ängstlich hinüber nach den im Grunde Fahrenden und ästen dann friedlich weiter. Fritz lächelte, und sie blickten einander in die Augen in gemeinsamer Freude, die sie sich mit jähem Griff aus dem alltäglichen Leben gestohlen hatten.

Dann kamen sie auf den morgigen Tag zu sprechen, was man davon erwartete, und auf den sichtbaren Stolz, der August und Mimi beseelte über das schnell Erreichte und über alles, was noch in Aussicht war.

»Glaubst du nun eigentlich ehrlich,« fragte Hilde, »daß die Sache Bestand haben wird?«

»Aber gewiß!« rief Fritz energisch. »Sicherlich! Das kühnste Wagnis glückt, wenn die Bedürfnisse der Zeit ihm entgegenkommen. Millionen und Genie sind verschwendet, wenn sie sich dem Geist der Zeit entgegenstellen oder ihm zu weit vorauseilen!«

»Du bist so philosophisch heute,« meinte Hilde.

»Fällt mir eben auch auf,« rief Fritz. »Sehr bedenklich! Philosophie kommt bei mir immer an die Reihe, wenn mich ein Unternehmen nicht mehr interessiert!«

»Aber Fritz, du willst doch nicht sagen ...?«

»Siehst du,« begann Fritz behaglich, »die Sache hier ist in die richtige Bahn geleitet, die besten Leute sind gewonnen, die Aktien steigen ... Das andere, so die tägliche Arbeit, das werden August und Debberitz schon leisten... Was soll ich noch hier? – Ich störe sie nur.«

Hilde sah erschrocken zu ihrem Vetter auf. In seinem schmalen, harten Gesicht mit den festen, regelmäßigen Zügen lag eine ruhige Entschlossenheit, und sie wußte plötzlich, daß er ihr in kurzer Zeit ins Unbekannte entschwinden werde, wie er aus dem Unbekannten vor ihr aufgetaucht war. Und indem sie leise sagte: »Fritz, du willst gehen,« war in den still gesprochenen Worten doch etwas von dem Erzittern ihres Herzens.

Fritz blickte sie nicht an, sondern sah ins Weite. »Du gehst ja auch,« antwortete er mit einer sonderbaren Betonung, deren Sinn sie nicht verstand.

»Ja, ich gehe,« wiederholte sie mechanisch, »ich muß wohl gehen. Das Haus hat zwei neue Herren, der eine liebt mich zuwenig, der andere liebt mich zuviel ... Übrigens kann es ja auch sein, daß ich gerade deshalb bleibe. Wenn ich klug wäre ... Ach,« sagte sie plötzlich ganz mut- und hoffnungslos, »es ist ja alles gleich, was ich auch wähle, das eine ist mir so abscheulich wie das andere. Ich habe keine Entschlußfähigkeit mehr. Mein Leben ist doch einmal aus den Fugen.«

»Dann renke es wieder ein und laß es nicht vollends aus den Fugen gehen,« sagte Fritz hart.

Das Mädchen wandte mit einer gequälten Bewegung den Kopf hin und her, als litte sie unerträglich. »Du hast gut reden. Was weißt du von meinem Leben! Es ist ja auch nichts davon zu sagen, so oder so bleibt es ein törichtes und häßliches Flickwerk.«

Fritz gab einen unwilligen Ton von sich. »Herrgott, Hilde, du hast mich vorhin einen Meister genannt ... ich wollte, ich könnte auch dir etwas mehr Meisterschaft beibringen. Aber ihr deutschen Mädchen habt alle zuviel Gefühl und zuwenig Mut. Darum bleibt ihr so im Dumpfen, Unsichern stehen.«

»Wir meinen eben,« sagte Hilde melancholisch, »Gefühl haben sei Pflicht und Mut sei Frevel.«

Fritz hob den Kopf und heftete die Augen mit einem scharfen eindringlichen Blick auf seine Kusine. »Mir ist eine mutige Frau das Höchste auf der Welt,« sagte er ernst.

Aber Hilde klagte: »Mir nützt kein Mut mehr, ich wüßte nicht, wo ich ihn gebrauchen und was ich mit ihm anfangen sollte!« »Ha,« rief Fritz, »wozu man ihn gebrauchen soll? – Das zeigt uns schon die Stunde, die Notwendigkeit! Wenn etwas unerträglich wird, entschlossen Feuer an die Schiffe legen und den Sprung ins Dunkle wagen!«

Hilde hatte ihm zugehört, den Kopf gesenkt, die Arme vor sich hingestreckt, die Hände zwischen den Knien fest gefaltet. Jetzt hob sie den Blick und sah ihn mit großen Augen an. »Für das Wort dank ich dir! Den Sprung ins Dunkle wagen – das wäre vielleicht das einzige ...«

Sie senkte den Kopf wieder und blickte in tiefem Sinnen vor sich hin. Er störte sie nicht. Er fühlte, daß hier über ein Leben entschieden wurde.

Nach einer Weile sagte er ruhig: »Du hast mich nicht mißverstanden, Hilde, nicht wahr?« Sie schüttelte hastig den Kopf, bittend, als möge er Schonung üben und nicht mehr an diese schweren Dinge rühren. Sie hatten auch bald ihr Ziel erreicht, und auf dem Rückweg sprachen sie nur Gleichgültiges.


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