Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1.

Es war ein heiterer, warmer Sommertag, als vom Dorfe Gorwisch querfeldein nach dem Biederitzer Busche ein sonderbares Paar durch die wallenden Kornfelder schritt. Ihr Aussehen ließ zweifelhaft, ob sie Beide den bessern oder den gemeinen Ständen angehörten. Betrachtete man ihre Kleidung, so neigte man sich der Meinung zu, einen Arbeiter mit seiner Frau vor sich zu sehen, die auf Tagelohn zu gehen beabsichtigten. Dem widersprach aber wieder die Haltung, die feine Gesichtsbildung und das intelligente Mienenspiel der beiden stumm dahinschreitenden Wanderer. Voran ging der Mann auf dem schmalen, von hohen Getreidehalmen umgrenzten Wege. Es war ein Mann nahe den Sechzigern; die breiten, rothen Streifen an den Beinkleidern, sowie der rothe Rand an der Mütze ließen errathen, daß er Soldat gewesen war, und dafür sprach auch seine feste, martialische Haltung und der regelrechte, gleichmäßige Gang. Außerdem trug er aber Civilkleider von unzweifelhaft ärmlicher Beschaffenheit.

Seine Begleiterin war jünger, auch stärker und kräftiger gebaut, als der Mann, dessen bleiches Gesicht von einem unregelmäßigen und wüsten Leben erzählte. Sie trug einen breitkrämpigen Hut, der ihr blühendes, aber nicht gerade übermäßig schönes Gesicht vor den brennenden Sonnenstrahlen schützte, und schritt mit kräftiger, nicht ungraziöser Behendigkeit dem Manne nach, trotzdem ihre Schultern mit einem Bündel beladen waren, das durch Riemen wie ein Tornister auf dem Rücken festgehalten wurde.

Stumm und eilig verfolgte das Paar seinen einsamen Weg. Ueber ihnen sang die Lerche und der Kuckuk rief; vor ihnen rauschte eine Taubenschaar aus dem reifen Korne auf, wo sie sich satt genascht hatte. Beide achteten alles dessen nicht, sie eilten vorwärts, als gelte es ein lang ersehntes Ziel zu erreichen.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, sie hatte den Fußpfad, worauf sie wanderten, stark erhitzt, aber auch dessen achteten die Beiden nicht, obwohl sie mit bloßen Füßen wanderten, um das Schuhwerk zu schonen, was der Mann, in ein Taschentuch geknüpft, auf dem Stocke trug. Endlich näherten sie sich dem Walde, der schon lange sichtbar vor ihnen gelegen hatte. Noch eine kleine, kurze Strecke Sand mußten sie durchschreiten, dann traten sie in den kühlen Schatten des Busches und eilten auf rasigem Wege am Ufer der Ihle dahin, bis ein Steg sich fand, der sie über den kleinen Fluß hinweg tiefer in's Gebüsch leitete.

Rascher noch, weil es kühl und frisch hier war, verfolgte der Mann seinen Weg. Es fiel ihm nicht ein, seine Begleiterin zu fragen, ob ihre Kräfte es zuließen, ihm nachzukommen. Sie blieb wirklich ein wenig zurück, weil der Weg hier unebener war und knorrige Wurzeln das Erdreich durchzogen, die ihre Fußsohlen zu verletzen drohten. Rastlos hatte indessen der Mann die Waldspitze durchschnitten und sich tief athmend auf einer Rasenerhöhung niedergeworfen, welche den Wald von den daranstoßenden Feldern abgrenzte. Mechanisch fuhr seine Hand in eine Seitentasche seines schäbigen grünen Rockes und kam mit einer flachen, ziemlich großen Flasche bewaffnet wieder zum Vorschein, die er an seine Lippen führte, um seine Lebensgeister durch einen mächtigen Schluck Rum zu stärken.

Dann erst hielt er es der Mühe werth, sich nach seiner Gefährtin umzusehen. Lachend schaute er ihr entgegen, während sie vorsichtig auf dem ungleichen Wege näher schritt, und hielt ihr die Rumflasche hin, als sie ihn erreicht hatte.

»Dies Parquet de Bois gefällt der gnädigen Frau nicht,« scherzte er mit dem Ausdruck einer rohen Güte, »dero Füßchen sind anderes Getäfel gewohnt! Nun, du bist am Ziel deiner Reise, mein Täubchen – da sieh mal grad' aus – das ist Magdeburg – das ist der Dom – das ist die Johanniskirche – das ist die Jacobikirche &c. Bei letzterer wirst du wohnen und heut' Abend dein müdes Haupt in weiche Kissen legen. Hier ruhe dich aus. Stärke dich, iß ein Butterbrod und vollführe dann im Gebüsch die nothwendige Metamorphose. Die Haselsträucher dort bilden ein schönes Boudoir und Umkleidezimmer für die Frau Majorin. Hast du noch ein Butterbrod übrig, so gieb mir auch eins, wo nicht, so schadet es auch nicht.«

Die Frau hatte sich während seiner Rede ebenfalls niedergelassen, hatte die Riemen, welche das Bündel auf ihrem Rücken festhielten, gelöst und ihre Last herunterrutschen lassen. Sie zog die Schnuren eines großen Pompadours, den sie am Arme getragen, hastig auf und nahm ein großes Butterbrod aus demselben. Indem sie das Papier davon abwickelte, sprach der Mann:

»Laß nur, mein Täubchen, du hast nur noch eins; ich habe deinem Vorrath zu stark zugesprochen.«

»Nimm nur, Major – wir theilen,« erwiederte die Frau mit einem freundlichen Blicke.

»Nun ja! du bist in einer Stunde bei der Frau Meisterin Kühne, die dich nicht hungern lassen wird; ich aber habe noch sechs Stunden Wegs vor mir, ohne die Gewißheit, ob meine Tochter einen Bissen Brod für den armen Vater haben wird. Hölle und Teufel! Wenn unsere ganze Reise vergeblich wäre, Lutka!«

»Ach nicht doch, Major,« beschwichtigte ihn die Frau. »Deine Tochter wird dir zahlen, was du verlangen kannst, und wenn es nur einige tausend Thaler sind, so können wir schon zufrieden sein.«

»Hölle und Teufel, was verstehst du davon!« fuhr der Mann sie wild an.

Es schien dieser Zornesausbruch nicht den geringsten Eindruck auf die Frau zu machen, Sie brach das dicke Butterbrod durch, reichte ihrem Begleiter die größere Hälfte, nahm einen Schluck Rum aus der Flasche und kauete dann gemüthlich darauf los.

»Mir gehört das Gut, und nicht meiner Frau Tochter,« murrte der Mann nach einer Weile, während er sich wahrscheinlich in die Situation der Verhältnisse vertieft hatte, »ich habe Bedingungen vorzuschreiben, denn ich bin der Herr. Verstehst du, Lutka? Merke dir's.«

»Schon gut!« antwortete die Frau sehr gleichmüthig und kauete weiter.

»Daß meine Frau Tochter Böses im Sinne hat, liegt klar zu Tage,« fuhr der Mann fort, »sonst hätte sie mir den Tod ihrer Mutter wohl vor drei Jahren schon angezeigt.«

»Hat denn deine Tochter gewußt, wo du bist, Major?« fragte die Frau lächelnd und schnippte leichtfertig mit den Fingern. »Seit dreizehn Jahren reisen wir zusammen – aber so viel ich weiß, hast du seitdem keine Nachricht in deine Heimath gelangen lassen.« –

Der Mann hatte eine Erwiederung auf den Lippen. Lachend wehrte sie die Frau ab.

»Lüge Andern so viel vor, wie du willst, Major, bei mir spare die Lügen jedoch, denn ich glaube sie nicht. Hättest du nicht zufällig die Nachricht vom Tode deiner Frau Gemahlin erhalten, so wäre es zufällig nicht sehr schlecht gegangen und säßen wir nicht hier angesichts Magdeburgs und verzehrten unser letztes Butterbrot, ohne zu wissen, wovon ein weiteres zu kaufen sein möchte.«

»Hast du wirklich kein Geld mehr, Lutka?« fragte der Mann besorgt.

Die Frau streckte ihm beide flachen Hände entgegen.

»In Burg habe ich den letzten Thaler gewechselt, um unser brillantes Strohlager und – und das kostbare Souper zu bezahlen. Darauf bin ich mit dem Reste zum Bäcker gegangen, um Brot, und zum Kaufmann, um Butter und Rum zu kaufen.«

Sie schlug leichtfertig die Hände zusammen, sprang auf und schüttelte den Staub aus ihren Kleidern.

»Nun will ich Toilette machen, Major,« fügte sie hinzu, »je länger hier, je später dort; ich denke, das Elend dieser jämmerlichen Reise wird nun ein Ende haben.«

»Gebe es Gott!« sprach der Mann mit stillem Grimm. »Ich bin in der Laune, das Aeußerste zu thun, um diesem Elend ein Ende zu machen.«

»Sei kein Narr, Major!« rief sie verweisend. »Gieb mir nur meine Schuhe und Strümpfe!« Der Mann knüpfte sein Tuch auf und reichte ihr ein Paar schneeweiße Strümpfe und ein Paar saubere Schuhe, die sie schnell über ihre gut geformten Beine zog.

Während dessen öffnete der Mann die Riemen des Bündels und holte eine Schachtel hervor. Mit dieser Schachtel verschwand die Frau hinter dem Haselgesträuch und der Mann rollte das übrige Zeug auseinander, um seinen eigenen Anzug auf offener Heerstraße zu vervollständigen. Er warf den schäbigen Rock ab und zog einen andern an, der nach dem Schnitte der Militärröcke gemacht war. Er nahm ein paar Sporen heraus und befestigte sie an seine sauber geputzten Stiefeln, die er über seine nackten Beine zog. Strümpfe schienen ihm Luxus zu sein, den er entbehren zu können glaubte. Dahingegen zeigte sich sein Hemd sehr elegant, als er die schwarze Tuchweste aufknöpfte und die Klappen zurücklegte. Ein vollendeter Gentleman stand er da und wartete des Augenblicks, der seine Gefährtin ebenfalls im veränderten Kostüm erscheinen lassen würde.

Diese Verwandlung war aber weit auffallender. Wie eine Juno schritt die Frau, die im kurzen Flanellrock und im Kattunüberwurf verschwunden war, aus dem Gebüsch hervor. Ein schwarzes, in blau schillerndes Seidenkleid umfloß ihre schöne Figur, um die vollen Schultern legte sich ein bunter, schmaler Shawl, kunstgerecht ihre Büste drapirend, den Kopf zierte ein hübscher Strohhut mit einer langen weißen Straußfeder geschmückt, tadellose Handschuhe von dänischem Leder bedeckten ihre Hände, und ein Sonnenschirm kleinster Façon vervollständigte ihre Erscheinung als Weltdame.

Mit einem musternden Blicke überflog der Mann die Gestalt seiner Gefährtin.

»Gut, Lutka, gut. Ganz fein! Wo hast du deinen Pompadour, Täubchen – ich will dir deine Wäsche hineinstecken – leider wird dieser Strickbeutel von kolossaler Größe die Harmonie deines Anzuges stören,« sagte er spottend.

»O, wie einfältig du bist, Major,« erwiederte die Dame heiter und hob ihr Seidenkleid graziös in die Höhe. Der große Pompadour war höchst zweckmäßig hinten an der Taille festgemacht und bildete somit eine damals sehr gebräuchliche Draperie, die man cul de Paris zu nennen pflegte.

»Vortrefflich!« rief der Mann lachend. »Halt still, Lutka, ich werde dort Alles hineinstecken, was dir gehört.«

Er zog die Schnuren etwas auf und vollführte mit Geschicklichkeit das Packgeschäft.

»So, nun fort, mein Täubchen! Du hier auf der Heerstraße entlang – ich durch die Kornfelder dort querfeldein nach Wederstedt.«

Die Dame Lutka wendete sich mit einem graziösen Knix zu ihm herum. Er erwiederte die Begrüßung mit sarkastischer Ehrerbietung, führte ihre Hand an seine Lippen und sagte:

»Viel Glück auf den Weg, meine Gnädige!«

» Merci, Major! Willst du mir aber nicht gefälligst meine Reiseroute näher bezeichnen?«

»Ja so! Freilich, das ist ja die Hauptsache. Frage so wenig wie möglich in der Stadt nach dem Wege – merke dir genau, was ich dir sage! Du gehst gerade aus bis zum Thore und passirst es mit der Unbefangenheit einer Spaziergängerin; – Niemand wird dich dann mit Fragen incommodiren. Nachdem du dies Thor passirt hast, befindest du dich erst in der Vorstadt, die Friedrichsstadt genannt. Du durchschreitest dieselbe bis zur Brücke, gehst über diese und über eine zweite hinweg, wendest dich dann rechts, gehst an den Holzhäusern entlang, denen gerade gegenüber die unförmliche Citadelle sich erhebt, bis zur Elbe, verfolgst den Weg am Kai bis zur Strombrücke, und bist nach der Ueberschreitung derselben in Magdeburg. Hast du es vollständig verstanden?«

»Vollständig verstanden und behalten, Major.«

»Weiter! Vom Brückenthore an schreitest du gerade aus, steigst rechts die Straße, die etwas bergan geht, hinauf, immer gerade aus, bis zu dem Platze, der mit Buden dicht besetzt ist. Ueber diesen Marktplatz gelangst du zum Breitenwege, schlägst dich rechts ab und gehst abwärts, bis zu einer Straße, an deren Eckhause ›Steinerne Tischstraße‹ steht. Dort biegst du ein, schreitest immer gerade aus, bis du eine Kirche erreichst. Dies ist die Jakobikirche, dort findest du die Jakobsstraße und an der Ecke die Nummer 26. Du steigst eine Treppe hinauf und klopfst an die erste Thür links. Die Frau Kühne erwartet dich. Ich kann mich auf diese Dame verlassen. Ihr Mann ist Tischler; sie führt aber das Regiment im Hause, wie ich aus ihrem Briefe ersehen, den sie mir als Antwort auf meine Erkundigungen nach dem Tode meiner Frau Gemahlin zukommen ließ. Tritt fest und dreist auf. Solchen Weibern muß man zu imponiren suchen.«

»Sei ohne Sorgen, Major. Du hast mich natürlich als deine Frau angemeldet – seit wann sind wir verheirathet?« fragte Madame Lutka mit komischem Ernst.

»Seit vorigem Herbst,« antwortete der Major in demselben Tone.

»Gut. Was weiß sie sonst von mir?«

»Gar nichts!«

»Um so größer ist das Feld meiner Erfindungskunst.«

»Das Weib ist nicht dumm!« warnte der Mann.

»Um so besser! denn dummen Leuten etwas aufzubinden bringt eben keine Ehre.«

»Madame Kühne kennt die Verhältnisse im Wederstedt'schen Herrenhause auf's Genaueste. Richte dein Augenmerk darauf, von ihr alles zu erfahren, was uns dient.«

Die Dame Lutka nickte mit einem malitiösen Lächeln und spannte ihren kleinen Knickschirm auf.

»Wozu ginge ich denn sonst nach Magdeburg, Major? Nicht wahr, Madame Kühne hat im Hause deiner Frau Gemahlin gedient?«

»Ja wohl!« war die rasche Antwort des Mannes.

»Als was? als Köchin oder Kammerzofe?«

»Bis zu einer Kammerzofe hat sich die gnädige Frau von Wederstedt nicht verstiegen,« spottete der Mann und ein Blitz innern Zornes fuhr dabei über sein Gesicht hinweg. »Als ich diese Erbin von Wederstedt heirathete, hatte sie für nichts Sinn, als Gänse und Puter fett zu machen, um sie zu verkaufen. Und dieser Geiz trieb mich fort von ihr. Nach meiner Meinung paßte es sich für die Gemahlin eines ehemaligen preußischen Officiers nicht, sich mit der Erziehung von Gänsen und Truthennen zu befassen.«

»Ganz richtig, Major! Was würde der selige alte Fritz gesagt haben, wenn sein ehemaliger Kammerpage mit fetten Gänsen gehandelt hätte!« lachte die Frau.

»Ich hielt das Hundeleben auf Wederstedt nicht aus,« eiferte der Mann. »Ich ging fort und ließ mich in Magdeburg als westfälischer Officier anwerben.«

»Machtest aber den Feldzug nach Rußland nicht mit, sondern bliebst im Hause meiner Eltern, während die große Armee nach Moskau vordrang,« spöttelte die Frau gutmüthig. »Ich kann es dir nicht verdenken, daß du dich nicht für Napoleons Pläne hast opfern wollen, – bei uns war's hübsch dazumal, – Rehe und Hasen gab's genug für dein gespartes Pulver, und das Kartenspiel hast du dabei gründlich erlernt.«

»Ach laß doch die alten Geschichten ruhen, Lutka. Was deine Eltern mir Anno 12 Gutes gethan, habe ich längst dir vergolten.«

»Mir, Major? Spaße doch nicht!« rief die Frau und lachte ausgelassen.

»Nun, wen hättest du denn, wenn ich mich nicht um dich gesorgt und gekümmert?« fragte er trotzig und richtete einen wilden Blick auf sie. »Wer hat dich denn aus deiner russisch-preußisch-polnischen Wildniß hervorgezogen und ein menschlich Wesen aus dir gemacht?«

»Schon gut, Major!« beschwichtigte sie ihn kalt und besonnen. »Du spieltest nachher den Ueberläufer und meldetest dich beim General York als gut preußisch gesinnt.«

»Nun ja« – antwortete der Mann sehr verdrießlich und kleinlaut.

»Damals war ich ein Kind von zwölf Jahren. Ich glaubte dir, was du uns erzähltest. Jetzt möchte ich die Wahrheit wissen.«

»Es ist die Wahrheit!« rief der Mann ärgerlich. »Aber statt meine edelmüthige Vaterlandsliebe zu belohnen, zeigte man mir Mißtrauen.«

»Und da hieltest du es für gerathen, statt gegen die Franzosen, nach Wederstedt zu ziehen. Deine Frau Gemahlin scheint sich nicht stark gefreut zu haben, als sie ihren Ulysses wieder von seinen Irrfahrten heimkommen sah. Hatte sie ihren Sinn geändert.«

»Sie war noch geiziger geworden in den sechs Jahren unserer Trennung,« fuhr der Mann fast hämisch lachend auf. »Ich hatte aber im Kriege etwas gelernt. Was sie nicht gutwillig geben wollte, nahm ich mir. Um mich los zu werden, schenkte sie mir zweitausend Thaler unter der Bedingung, sie nie wieder mit meinem Besuche zu belästigen. Nun sie aber todt ist, fällt diese Bedingung weg, und ich werde fortan Besitz von Wederstedt nehmen.«

»Wenn's geht!« sprach die Frau kaltblütig.

»Verlaß dich darauf, es geht!« erwiederte der Mann mit einem fürchterlichen Blicke.

»Sei kein Narr, Major, und belaste dein Gewissen nicht mit Verbrechen.«

»Wer den Krieg ausbrechen läßt, hat die Verantwortung des vergossenen Blutes, – der Beraubte vertheidige sein Gut und sein Recht!«

»Ich denke mir, die Frau Tochter wird es machen wie die Frau Mutter, – sie wird dir einige tausend Thaler auszahlen, um dich für immer abzufinden,« sagte die Frau, und ihr Blick schoß listig und lauernd auf ihren Gefährten.

»Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Wederstedt ist meine Heimath, mein Eigenthum, – ich bin der rechtmäßige Besitzer, nachdem meine Frau gestorben ist, und nicht unser Kind. Was will der Mann meiner Tochter machen, wenn ich ihm die Thür weise? Das beabsichtige ich auch gar nicht. Zum Landwirth bin ich untauglich. Finde ich meinen Herrn Schwiegersohn gefügig und seinem Berufe gewachsen, so verpachte ich das Gut an ihn, und lebe von der Pacht wo es mir gefällt herrlich und in Freuden.«

»Schon gut – die Herrlichkeit und Freude würde bald ein Ende haben, denn Fortuna ist deinen Karten selten hold. Wenn du auf meinen Rath hörst, Major, so bleibst du in Wederstedt, richtest dich auf deine alten Tage bequem und elegant dort ein, und –«

»Und was wird aus dir, Lutka? Wo bleibst du?« fiel er rasch ein.

»Natürlich bei dir, als deine Gattin, als die Freifrau von Thurngau, nachdem ich beinahe zehn Jahre deine Majorin gespielt habe,« rief die Dame lustig.

Der Mann schaute sie unwirsch an, wagte jedoch nicht ein Wort des Widerspruches. Er mochte wohl fühlen, daß er unter dem Scepter dieser Frau noch weniger seinen Gelüsten folgen könne, als unter der Herrschaft seiner ruhigen und thätigen ersten Gattin. Ueberdies ärgerte es ihn, daß seine Reisegefährtin, die ihm als Begleiterin in seinem wüsten Spielerleben wohl genügt hatte, so dreist gewesen war, Pläne für ihre Zukunft auf ihn zu bauen.

»Das würde ein prächtiger Spektakel,« murmelte er erbittert. »Des Wildwärters Lutka, Frau von Thurngau! Wer das glaubt! Wer das glaubt!«

»Glaubst du etwa, daß Madame Kühne, deine gute Freundin von ehemals, mich für etwas anderes halten wird, als die Majorin von Thurngau?« fragte die Dame Lutka mit demselben listig lauernden Blicke wie vorhin.

»O nein,« antwortete er hastig. »Der Madame mußte ich dies Verhältniß vorschwindeln, – aber meiner Frau Tochter dürfte ich –«

Er hielt inne, denn Lutka legte ihre Hand sehr fest auf seinen Arm. Beide waren während ihrer Unterhaltung langsam den Rasenrain hinauf gewandelt und allmälig der Stelle nahe gekommen, wo sich, nach der Andeutung des Mannes, ihre Wege trennen sollten. Als die Frau dies gewahrte, beschloß sie dem Gespräche mit einer entscheidenden Wendung ein Ende zu machen. Sie ließ ihn deshalb nicht ausreden, sondern stand still, legte ihre Hand bedeutungsvoll auf seinen Arm und sagte bestimmt:

»Verstehe mich recht, Major, unser Verhältniß müßte von dem Augenblicke an, wo du mich als Gebieterin von Wederstedt in's Herrenhaus führtest, nach dem gewöhnlichen christlichen Gebrauche geheiligt werden, wozu dich überhaupt schon die Pflicht längst aufgefordert haben müßte.«

»Getraut – Lutka – ich mit dir, mit Wildwärter Wonsky's Lutka vor den Altar treten, – Hölle und Teufel, das ist viel verlangt!«

»Und ich verlange es, wenn unser Weg sich hier nicht auf ewig trennen soll!« sprach Dame Lutka hochmüthig und entschieden.

»Du – verlangst es, – verlangst es!« stammelte der Mann wüthend und ballte seine Fäuste gegen sie.

»Schon gut, Major, ich kenne deine Bravour!« entgegnete sie ruhig. »Ich verlange dein Ehrenwort, als Freiherr von Thurngau, daß du mich, die Lutka Wonsky, an dem Tage, wo du als Besitzer in Wederstedt einziehest, zu deiner Frau, nach christlichem Gebrauche, erheben, und mich in die Rechte einer Gebieterin von Wederstedt einsetzen willst, widrigenfalls ich, von dieser Minute ab, mich als deine Feindin betrachte und deinen Plänen mehr hinderlich als förderlich sein werde. Nun, Major?«

Der Mann stand und sah sie starr an. Sie hatte ihn in seinem eigenen Netze gefangen und bewies ihm jetzt ihre Ueberlegenheit. Sie kannte ihn gut genug, um seine drohende Wildheit nicht zu fürchten. Eine sonderbare Feigheit hemmte ihn gewöhnlich in dem Momente, wo er Miene machte, wüthend zu werden. Sie wußte das. Sie traute ihm weder Kraft zum Guten, noch Kraft zum Bösen zu, sondern hielt seine Zornausbrüche für schadlose Bravaden, womit er seine fast weibische Schwäche überpanzerte.

Als er sie lange genug mit seinen wuthsprühenden Blicken durchbohrt hatte, fing sie hell an zu lachen und sagte:

»Also wir scheiden. Major!«

»Aber nicht für ewig, Lutka. Ich willige ein, dich als Frau von Thurngau in Wederstedt einzuführen, denn ich weiß, daß du meine Pläne zerstören kannst, wenn du willst. Ich bequeme mich deinen Anforderungen, weil du, als ehemalige Bundesgenossin, mein Schicksal in deiner Hand hast. Außerdem hast du es um mich verdient, durch die Sicherstellung deines Geschickes belohnt zu werden.«

»Das ist vernünftig gesprochen, Major. Jeder Mensch sehnt sich nach einem ruhigen Daheim, also wirst du meine Forderungen natürlich finden. Gieb mir deine Hand, nicht als Major, sondern als Edelmann darauf, Wort zu halten, und ich will zu dir stehen in Noth und Tod, so wahr Gott lebt.«

»Ich halte Wort, Lutka Wonsky, so wahr ich Adolph von Thurngau heiße! Amen.«

Sie reichten sich die Hände und Lutka drückte ihre frischen, rothen Lippen mit Herzlichkeit auf seinen bärtigen Mund. Gleich darauf wendete sich der Major rechts, durcheilte den Wiesengrund und war bald den Augen seiner Gefährtin völlig entschwunden.

 

Wir werden ihm nicht folgen, sondern ihm nach dem Orte, wohin er wollte, vorauseilen, um die Familie kennen zu lernen, der er nach seiner Rückkehr aus der Fremde unsägliches Leid bereiten sollte.

Vor allen Dingen liegt uns jedoch ob, die Gefährtin dieses abenteuerlichen Mannes bis zum Ziele ihrer Wanderung zu geleiten, um mit nothwendiger Umständlichkeit ihre kleinen Begegnisse zur Sprache zu bringen.

 

Mit koketter Behendigkeit schritt Dame Lutka ihrem Ziele zu. Je näher sie der Stadt kam, desto lebhafter wurde die Chaussee, welcher sie jetzt bei ihrer einsamen Wanderung den Vorzug gegeben hatte. Einzelne Equipagen rollten an ihr vorüber, deren Insassen etwas befremdet die einsame Spaziergängerin betrachteten. Dame Lutka begegnete den neugierigen Blicken mit freimüthiger Unbefangenheit und erreichte glücklich die Friedrichstadt.

Obwohl etwas erschöpft, gönnte sie sich keine Rast, so einladend einige Restaurationen ihr auch winkten. Langsamer und ruhiger verfolgte sie ihren vorgezeichneten Weg in dieser fremden Stadt. Sie gelangte sehr bald an die beschriebenen Brücken und bog, der Anweisung zufolge, dann rechts ab, um an den hübschen kleinen Holzhäusern bis zur Elbe zu gehen.

Hier aber stieß sie auf Hindernisse, die sie in die Verlegenheit setzten, sich zurechtweisen lassen zu müssen. Der Weg an der Elbe war versperrt, und sie sah einige Männer in einer wunderlichen Bekleidung, halb gelb halb schwarz, beschäftigt, das Trottoir des Kai zierlich und kunstvoll zu pflastern. Erschreckt blieb die Dame stehen und betrachtete erstaunt die Männer, welche gefesselt mit Ketten einhergingen und selbst ihre Arbeit damit vollführten. Eine eigne Beklemmung, ein Gefühl der Angst überkam ihr leichtfertiges Herz. Sie stand regungslos, den Arbeitern zuschauend; sie vergaß ihre Maske als Weltdame, und war in diesem Augenblicke wieder das Kind der russisch-preußisch-polnischen Wildniß, das sich von dem Unerwarteten und Niegesehenen in Schrecken setzen ließ. Wie eine Ahnung zuckte es durch ihre erschreckte Phantasie, daß sie hier vor den Opfern der Gerechtigkeit stehe, und sie sah eine Warnung in dieser grausamen Strafe, gebrandmarkt vor den Augen der Welt arbeiten zu müssen.

Ein Herr in Uniform, der seitwärts innerhalb der Schranken stand, welche die Passage hemmte, beobachtete die Gemüthsbewegung, die sich in dem Gesichte der Fremden widerspiegelte. Seine Uniform kennzeichnete ihn jedem Straßenjungen als einen Polizeilieutenant, und es war auch wohl nur der Verwirrung der Dame Lutka zuzuschreiben, daß sie ihn nicht gleich als solchen erkannte, als sie sich schnell zu ihm wendete und von ihren aufgeregten Empfindungen hingerissen, fragte:

»Mein Herr, können Sie mir sagen, was das für Männer sind, die dort pflastern, und können Sie mich darüber belehren, weshalb sie die abscheuliche und auffallende Kleidung tragen, weshalb sie durch die Kette an den Füßen gequält werden?«

Der Polizeikommissar lächelte.

»Sie sind wohl fremd in Magdeburg, Madame,« erwiederte er artig, »sonst würden sie sicherlich die Baugefangenen schon öfter gesehen haben. Dies sind Verbrecher, welche ihrer schweren Vergehungen wegen lebenslänglich verurtheilt sind. Wollte man sie ungefesselt ihre Arbeiten verrichten lassen, so würden sie natürlich die erste Gelegenheit benutzen, um zu entfliehen. Aus demselben Grunde tragen sie auch die auffallende Kleidung, die sie jedem Menschen erkennbar macht.«

»Der große blasse Mensch hat einen Müller auf einer Mühle ermordet, um ihn zu berauben, – da dem Beweis an seiner Schuld die richtige Kraft fehlte, so konnte er nicht zum Tode, sondern nur zu lebenslänglicher Baugefangenschaft verurtheilt werden. Der Kleinere dort drüben am Geländer hat im Jähzorn einem Verwandten das Beil an den Kopf geworfen und büßt seine strafbare Uebereilung mit zwanzig Jahren, – der dritte ist ein notorisch unverbesserlicher Dieb, vor dem keine Thür, kein Schloß und kein Riegel schützt, – der vierte da drüben ist zu bedauern, denn er hat in dem furchtbaren Augenblicke, wo er die Entdeckung machte, durch einen falschen Spieler um seine Baarschaft betrogen zu sein diesem nichtswürdigen Spieler das Messer in's Herz gestoßen.«

Ein Schauder schien die Dame Lutka zu überlaufen. Sie zog ihren eleganten türkischen Shawl fester um die Schultern und flüsterte:

»Schrecklich! schrecklich! – der arme Mensch!«. –

Jetzt erst kehrte ihre Besonnenheit zurück, und sie zürnte mit sich selbst, den Lehren und Vorschriften des Majors untreu geworden zu sein. Dieser hatte ihr unzähligemal vorgepredigt, daß nichts sicherer die Aufmerksamkeit wecke, als die Fragen eines Fremden, – und er hatte es sich angelegen sein lassen, ihr praktisch zu beweisen, daß man auch ohne zu fragen klug werden könne. In der Aufregung des Augenblickes war dieser Grundsatz nicht gehörig von ihr beachtet, aber sie suchte ihren Fehler dadurch wieder gut zu machen, daß sie sich eiligst von dem Platze entfernte, wo sie sich eine Blöße gegeben.

Obwohl es der natürliche Weg gewesen wäre, bei diesem Herrn zugleich Erkundigungen einzuziehen, auf welche Weise sie zur Stadt gelangen könne, da der Weg dahin durch Balken versperrt worden war, so zog sie es doch vor, auf gut Glück wieder umzukehren, und indirect Forschungen darüber anzustellen. Ihre Klugheit trug Früchte. Sie sah, daß sich Wagen und Menschen von der letzten Brücke nach der Citadelle wendeten und schloß daraus auf einen freien Paß durch die sonst unzugänglichen Festungswerke.

Vorsichtig folgte sie einigen Damen, die von einem Spaziergange heimzukehren schienen und gelangte richtig durch ein gewölbtes Thor in das Innere der Citadelle, durchschritt, immer dicht hinter den Spaziergängerinnen sich haltend, dieselbe, und fand sich beim Ausgange unweit der Strombrücke. Jetzt wußte sie wieder Bescheid. Mit einem frohen Athemzug eilte sie auf die Brücke zu und schaute von dort über die rauschenden Wellen der Elbe, die sich an den Brückenpfeilern brachen, den Strom entlang.

Wieder traf ihr Auge auf die unseligen Verbrecher, die hier arbeiten mußten. Sonderbar beunruhigt, lehnte sie sich gegen die Brüstung der Brücke und überließ sich einem Nachdenken, das wenig Erquickliches bot. War es eine Vorahnung, daß sie an dem Wendepunkte ihres Lebens stand, wo sie zu ihrem Heile die Gemeinschaft mit einem verlorenen Manne lösen mußte? Dame Lutka hatte schon längst die Absicht, gehabt dies zu thun, und läugnete es sich in diesem Augenblicke auch keineswegs ab, daß sie mit dem Vorsatze die traurige Reise nach Magdeburg angetreten habe, hier den letzten Versuch zur gänzlichen Aenderung ihrer zweideutigen Lebensstellung zu machen.

Ohne sich sträflicher Handlungen bewußt zu sein, fühlte sie dennoch das ganze Grausen einer auf ewig Verdammten, von der Gesellschaft Ausgestoßenen und vom eigenen Gewissen Verfolgten, und der Vorsatz tauchte in ihr auf, jetzt gleich alle Gemeinschaft mit dem unseligen Spieler, dessen Helferin sie theilweise abgab, zu vernichten. Aber so leicht ging dies nicht, wie es erzählt wird. Sie hatte erst einen tüchtigen Kampf gegen die Gewohnheit zu bestehen. Ihr abenteuerliches Leben mit seinem erlogenen Glanz, seiner erborgten Stellung, wohinter oft demüthige Entbehrungen steckten, hatte immerhin einen gewissen Reiz für sie. Es gehörtem der That eine Selbstverleugnung, ein heroisches Rückschreiten dazu, um aus den leisen, schmeichelnden Hoffnungen, die sie in Betreff ihrer Zukunft auf Wederstedt gebaut, in die wenig verlockende Wirklichkeit zu treten.

Ihre Pläne waren freilich entworfen, ihre Vorbereitungen ausreichend getroffen, das Ziel, welches sie vor Augen gehabt, glücklich erreicht: dennoch aber würde sie ohne die eben stattgehabte Seelenerschütterung nicht zur Ausführung geschritten sein. Sie hatte ja in Aussicht auf eine mögliche Besitzergreifung des Majors schon wieder ihrer Unschlüssigkeit eine Frist gestattet. Mit der Idee vertraut geworden, in dieser fremden Gegend, wo Niemand ihre Vergangenheit kannte, zu verschwinden, verfiel sie angesichts ihres Zieles wiederum in Schwankungen und machte ihre Handlungen von dem Erfolge des Majors abhängig.

Aber die Gaukeleien ihrer Eitelkeit verschwanden allmählig vor den Gestaltungen der Wirklichkeit, als sie hier am Brückengeländer stand und tiefsinnig über das wallende Wasser hinwegschaute. Jetzt oder nie! flüsterte eine Stimme in ihr. Handle kräftig, reiße dich energisch aus den entsetzlichen Fesseln, die deine Moralität stark in Zweifel stellen, mahnte diese innere Stimme. – O es ahnte keiner der Vorübergehenden, daß diese elegante, hübsche Frau muthig eine Umkehr beschloß, während sie lächelnden Blickes in die rauschenden Wellen schaute; es fiel Niemand ein, dem wehmütigen Blicke, womit sie der sinkenden Sonne einen letzten Gruß an ihren alten Begleiter auftrug, eine tiefere Bedeutsamkeit, zu geben.

Dame Lutka richtete sich plötzlich auf und machte sich bereit in die Stadt zu wandern.

 

Die Stadt Magdeburg befand sich bekanntermaßen im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts noch keineswegs im Rausche einer Entwickelungsbegeisterung.

Man liebte zur Zeit, wo Dame Lutka die alte Strombrücke passirte, noch die Behaglichkeit eines angenehmen Schlendrians und die Gemüthlichkeit der engen und finstern Gassen. Die »gute alte Zeit« fand ungeheuer viel Vertreter bei der Einwohnerschaft, und was an günstiger Regung von der obersten Stadtbehörde herab belebend wirken sollte, das fiel in trockenes und unfruchtbares Land, wo es ohne Erfolg ersticken mußte. Die rasende Schnelligkeit seiner Entwickelungskraft datirt vom zweiten Viertel dieses Jahrhunderts, wo Magdeburg in dem Eisenbahnnetze Deutschlands eine Rolle zuertheilt wurde, die es haben mußte. Mit der Bedeutung des Ortes erhoben sich auch die geistigen Kräfte; das Phlegma der alten Einrichtungen erlosch und machte der Strebsamkeit und Verbesserungslust Platz; Alles, was im Verhältnisse zur Stadt stand, nahm einen andern Charakter an. Die Gemüthlichkeit des Lebens und des Lebenlassens verschwand etwas vor dem Ernste der Geschäftigkeit. Die Zahl der Einwohner mehrte sich, und die Klugheit, die Schlauheit, die List und das Verbrechen in jedweder Gestalt mehrte sich ebenfalls. Die Behörden mußten wachsamer werden, weil die Bevölkerung gewitzigter geworden war. Das galt besonders von der Polizeibehörde.

Damals aber gab es kaum zwei Beamte bei der Polizeibehörde, die eine große Wachsamkeit für sehr nothwendig gehalten hätten. Zu diesen Zweien gehörte der Polizeilieutenant mit dem impertinent blonden Lockenkopf, der Dame Lutka an der Barriere des Kai über die Schuldfrage der Baugefangenen belehrt hatte. Dieser Herr blickte der Dame, die er noch nie in Magdeburg gesehen zu haben sich erinnerte, mit einiger Besorgniß und Bedenklichkeit nach und folgte langsam ihrer Spur, als sie sich anschickte in die Stadt zu gehen.

Ihr Sinnen an der Brücke frappirte ihn von Neuem. Es erhob sich in ihm die Furcht, sie gehe mit Selbstmordgedanken um. Aus diesem Irrthum wurde er geweckt, als die Dame sich plötzlich aufrichtete und behenden Schrittes weiter ging. Was konnte der Herr jetzt, als Polizeilieutenant, wohl Besseres thun, als ihr folgen, um zu sehen, wer und was sie eigentlich sei?

Dame Lutka dachte gar nicht an die Möglichkeit, der Gegenstand einer speciellen Aufmerksamkeit zu sein. Nachdem sie ihren Verstoß gegen des Majors Sicherheitsprincipien durch eine schnelle, gleichgültige Entfernung wieder gut gemacht zu haben meinte, verschwand der kleine Auftritt aus ihrem Gedächtnisse und wurde bei gelegentlicher Erinnerung als höchst unwesentlich betrachtet. Sie hatte Wichtigeres zu bedenken. Es war Größeres ins Werk zu setzen.

Unter Entwürfen, die darauf Bezug hatten, wandelte sie ihres Weges, verfolgt von den Blicken des Polizeilieutenants Georgi, der mit Diskretion ihren Schritten nachspürte. Sein Urtheil über die Dame Lutka verbesserte sich mit jedem Momente. Es giebt eine Anmuth, welche angeboren und welche ganz unabhängig von jeder weltlichen Stellung ist. Ein Gleiches galt von dieser Frau. Ihr äußeres Wesen trug das Gepräge einer noblen Geburt und ihre kunstgerechte, vom Major geleitete Ausbildung vervollständigte die angeborenen Vorzüge desselben. Selbst die leichtfertigen Ausbrüche einer guten Laune beeinträchtigen nicht die Harmonie ihrer ganzen Erscheinung, sondern vermehrten nur das Interessante derselben.

Der Herr Polizeilieutenant Georgi war Menschenkenner genug dies einzusehen. Er wurde immer neugieriger, den Namen und Stand der Dame kennen zu lernen. Für heute mußte er jedoch seine Forschungen aufgeben. Die fremde Dame schritt mit der Sicherheit einer Eingeborenen über den Markt, wendete sich am Ausgange desselben links – nicht rechts, wie die Vorschrift des Majors lautete – und kam ihm dann aus den Augen, weil sich ein unabsehbares Publikum soeben das Vergnügen machte, einen glänzenden Leichenzug den Breitenweg hinab zu begleiten.

Es war dieses Begräbniß von historischer Bedeutung und regte die Schaulust der ohnehin sehr neugierigen Magdeburger um so mehr an, als sich damit ein wunderbarer Zufall verknüpfte. Man weihte mit dieser Feierlichkeit den neuen Kirchhof, der nach vielen Schwierigkeiten endlich eingerichtet war, ein und wunderbar fügte es sich, daß ein geachtetes Ehepaar aus dem Bürgerstande zu gleicher Zeit Todes verblich und nun zusammen in die Erde des neuen Friedhofs gesenkt werden sollte. Neugier und Theilnahme zugleich lockten eine Menge Menschen herbei, und in diesem Gewühl verschwand Dame Lutka. Der Polizeilieutenant glaubte sie späterhin zwar oftmals wiedergefunden zu haben; allein wenn er sich Bahn zu der vermeintlichen Dame gebrochen hatte, so fand er sich getäuscht. Trotz aller Bemühungen sah er sie nicht wieder, und da er sie unbedingt nur in höheren Kreisen finden zu können glaubte, so erstreckten sich seine gelegentlichen Nachforschungen, die er stets mit einer detailirten Beschreibung ihres Anzuges begleitete, auch nur auf diese gesellschaftlichen Regionen.

Der gute Mann würde weit glücklicher in seinen Bestrebungen gewesen sein, hätte er sein Augenmerk auf niedrige Sphären gerichtet. Sein Erfolg würde ihn belehrt haben, daß diese Dame zwar alle Mittel besaß, sich auf legalem Wege zur Einwohnerin von Magdeburg zu machen, daß sie indeß keineswegs zu der Klasse von Damen zählte, welche unbedingt auf Ehrerbietung und Achtung Anspruch zu machen berechtigt sind. Dame Lutka war durchaus nicht unerfahren im Maskenspiel des Lebens. Sie hatte bei ihren abenteuerlichen Herumzügen gelernt, unter dem Deckmantel der Ehrbarkeit ihre Rolle durchzuführen. Um so weniger schwer wurde es ihr – als sie damit umging, ihrem Schicksale eine Wendung zu geben – durch ihre Bühnenfertigkeit eine vertrauenerweckende Unbefangenheit zur Schau zu tragen.

 

Wir müssen Dame Lutka jetzt ihrem Schicksale überlassen und uns nach dem Dorfe Wederstedt wenden, damit es uns gelingt, die Ankunft des Majors in seiner Heimath, die ihm fremd geworden war, zu belauschen.

Bei dieser Gelegenheit will es der Verfasser nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß es Grundsatz von ihm ist, die Namen der betheiligten Personen, sowie die richtige Bezeichnung der Oerter, die mit diesen Persönlichkeiten in wahrheitsmäßigem Zusammenhange stehen, der Willkür seiner Phantasie preis zu geben.

Bei vorliegenden Thatsachen ist es nöthig, jede Rücksichtslosigkeit in dieser Hinsicht zu vermeiden, da noch lebende Personen kompromittirt werden würden.

 

Das Herrenhaus Wederstedt war ein Gebäude, welches nach den Regeln der Aesthetik keineswegs für schön, elegant und zierlich gelten konnte, das aber den Ansprüchen eines zufriedenen Landbewohners vollkommen genügte. Es lag mit der Front dem Hofe zugewendet, der mit feinen Ställen und Scheunen das ganze Besitzthum zu einem sehr unregelmäßigen Viereck machte. Es bestand aus einem Stockwerk, mit einem kolossalen Giebelausbau, worin mehrere Zimmer Platz gefunden. Die Hausthür lag in der Mitte, rechts vom Flure waren drei ganz gleiche Zimmer, mehrere Kammern und ein schmaler Korridor, der sein Licht von einigen hochangebrachten kleinen Fenstern erhielt, die nach der Dorfstraße hinausgingen. Links war ein Eßzimmer, einige Gesindestuben, die Küche und die Vorrathskammer. Die Giebelstuben dienten theils zu Absteigezimmern für Besucher, theils zu Schlafzimmern. Außer den Zimmern befanden sich aber auch noch Dachkammern zu beiden Seiten, die zur Aufbewahrung von Flachs, Heede, Bettfedern und sonstigen Dingen verwendet wurden, wie sie sich eben in einer Laudwirthschaft vorfinden.

Das Rittergut Wederstedt war unbestrittenes Eigenthum eines Herrn von Bohlberg, der die einzige Tochter der Besitzerin geheirathet hatte. Seine Gattin war ihm durch den Willen ihrer Mutter bestimmt gewesen und da es sich traf, daß eine stille herzliche Neigung die beiden Leutchen diesem Willen gefügig machte, so konnte man sagen, die Mutter habe das Glück ihrer Kinder durch weise Umsicht begründet. Seit drei Jahren war sie heimgegangen zu ihren Vätern. Ihre Augen schlossen sich unter der Überzeugung, daß das Glück ihrer Tochter gesichert sei und, ihren Anordnungen zufolge, von keiner Seite erschüttert werden könne.

Wie wenig auf menschliche Berechnung zu trauen ist, sollte sich jetzt herausstellen. Ein schöner frischer Sommermorgen hatte Herrn von Bohlberg frühzeitig zu einem Gange ins Feld gelockt, um Revisionen anzustellen. Er gehörte zu der Klasse von Landwirthen, die arbeitsam, überlegend und sparsam, stets darauf aus sind, ihre Einrichtungen genau so zu treffen, daß die Geschäfte harmonisch in einander greifen. Bohlberg war trotz seiner vierzig Jahre noch ein junger, hübscher Mann zu nennen, dessen stattliches Wesen ganz zu der Würde eines Gebieters paßte.

Als er von seinem Geschäftsgange ins Feld heimkehrte, traf er mit dem Briefboten aus der nächsten Landstadt zusammen, der ihm einen Brief an seine Gattin einhändigte. Etwas verwundert betrachtete der Herr diese Epistel und studirte die schlecht geschriebene, bombastische Aufschrift: »An die gnädige Frau von Bohlberg, geborene Freiin von Thurgau-Wederstedt auf Wederstedt.«

Kopfschüttelnd trat Herr von Bohlberg in's Haus und lauschte in das Wohnzimmer rechter Hand um zu sehen, ob seine Frau dort sei. Sie saß am letzten Fenster eifrig mit Nähen beschäftigt, während am nächsten Fenster zwei junge Mädchen verschiedenen Alters an einem großen Teppich stickten. Die ältere der beiden Künstlerinnen war blond, hatte ein weiches, freundliches Gesicht und zählte ungefähr zweiundzwanzig Jahre. Ihr Anzug verrieth, daß sie nicht gerade zur Familie gehöre, aber doch eine höhere Stellung bekleide, als ein dienstbarer Geist. Sie war als Waise von der früheren Eigenthümerin des Gutes, der Frau von Thurngau, erzogen und man behandelte sie deshalb als Pflegekind des Hauses, wofür sie sich überall nützlich zu machen suchte.

Die zweite junge Dame war ganz augenscheinlich die Tochter vom Hause, die sich ihrer Stellung und ihrer Rechte vollkommen bewußt schien. Sie verhielt sich bei ihrer Beschäftigung keineswegs ernsthaft und ruhig, sondern störte durch ihr übermüthiges Wesen oftmals die nothwendige Besonnenheit des andern Mädchens, wofür sie denn jedesmal durch einen leichten Klapps auf die Hand bestraft wurde.

Diese junge Dame stand auf der Grenze der Kindheit und hatte ihr vierzehntes Jahr eben erst erreicht. Sie war ein frisches blühendes Mädchen, mit sehr gewecktem Geiste, frühreifem Verstande, mit seltener Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit und mit einer merkwürdigen Beobachtungsgabe ausgestattet. Solche Charakteranlagen bilden sich in den früheren Jugendjahren zu einem vorlauten Wesen aus und müssen erst durch die Schule des Lebens die nöthige Politur erhalten, um sich zu einer schätzenswerthen Liebenswürdigkeit umzuwandeln.

Für jetzt laborirte Fräulein Helene von Bohlberg noch stark an den Fehlern ihrer Jugendzeit und trieb ihre Wahrheitsliebe außerordentlich leicht bis zur Naseweisheit. Sie fand in ihrer Pflegeschwester Henriette leider eine viel zu nachsichtige Gefährtin, eine viel zu gütige Vertreterin aller dummen Streiche, die sie sich in Bezug darauf zu schulden kommen ließ, als daß zu hoffen war, ihre Selbstbeherrschung werde alsbald dergestalt erstarken, daß sie ihre Meinung so lange für sich behielte, bis sie gefragt werden würde.

Herr von Bohlberg trat lachend in's Zimmer und durchschritt das weite Gemach bis zum Platze seiner Gattin mit den Worten:

»Was ist denn das für ein Correspondent, der es für nothwendig hält, deinen ganzen Stammbaum auf die Adresse zu setzen, liebe Bertha?«

Frau von Bohlberg blickte überrascht von ihrer Näherei auf.

»Ein Correspondent? Ich wüßte nicht, daß ich mit irgend Jemand in Briefwechsel stände, der so viel Umstände zu machen nöthig hätte.«

Helene war sogleich mit dem vollen Uebermuthe der Jugend aufgesprungen hatte ihre Arbeit zur Erde fallen lassen und rief:

»Zeig mal, Papa, zeig mal!«

»An die gnädige Frau von Bohlberg, geborene Freiin von Thurngau-Wederstedt auf Wederstedt,« las sie, mit komischem Pathos, den Brief hoch emporhaltend.

Alle lachten. Aber diese harmlose Heiterkeit sollte rasch ersterben, als Frau von Bohlberg das schlechte Siegel löste und einen Blick auf die Unterschrift warf. Wie gelähmt sank ihre Hand mit dem Briefe auf den Schooß und noch ehe sie den Inhalt desselben kannte, stammelte sie erschreckt:

»Von meinem Vater, Oswald.«

»Von deinem Vater?« fragte Helene ungeheuer verwundert, »lebt denn dein Vater noch, Mama Bertha?«

»Es scheint so,« sprach die Dame tonlos und reichte dem Gatten den Brief zum Lesen.

»Somit hätte ich einen Großpapa auf Erden und davon erfuhr ich nichts?« fragte Helene weiter. »Das muß eine absonderliche Bewandniß haben!«

Frau von Bohlberg, eine zarte, nervenschwache Dame von äußerst schwächlichem Körperbau, warf nur einen Blick des Einverständnisses auf ihren Gatten, erhob sich dann von ihrem Sitze und verließ das Zimmer. Bohlberg folgte ihr rasch in das Nebenzimmer, ohne eine weitere Bemerkung auf Helenens Ausruf zu machen.

»Das muß ein schöner Großvater sein, Jetty,« flüsterte Helene mit voller Heiterkeit, »ein prächtiger Großpapa, den man vor mir versteckt hält!«

Henriette erhob ihre Augen zu ihr und seufzte hörbar.

»Du scheinst mehr davon zu wissen, Jetty,« fuhr Helene aufmerksam werdend fort. »Beichte mir was du weißt, geschwind.«

Henriette schüttelte leise den Kopf.

»Frag' deine Mutter, Helene,« entgegnete sie sanft.

Helene warf trotzig das Köpfchen auf und strich ihr gelocktes Haar weit aus dem Gesicht, als wisse sie, daß sie dadurch ein verwegenes, knabenhaftes Ansehen bekam.

»Laßt's bleiben, wenn ihr mir's nicht sagen wollt,« rief sie zornig. »Ich will jetzt schon erfahren, was hinter diesem Großvater, der als Schreckbild hier erscheint, verborgen ist.«

Henriette strich schmeichelnd die Söckchen wieder zurecht und drückte einen Kuß auf die weiße, schöne Stirn des wilden Kindes.

»Helene, ich weiß ja selbst nichts Genaues,« flüsterte sie dabei. »Sei doch vernünftig, lieb' Kind, und rege deine Mutter nicht noch mehr auf. Sieh, ich war noch ein Kind, als Herr von Thurngau zum letzten Male hier in Wederstedt war, und ich habe geglaubt, er sei todt.«

»Das scheint ihr Alle sehr gern geglaubt zu haben,« fiel Helene ein. »Warum aber? Das möchte ich wissen.«

»Es fehlte der Ehe deiner Großeltern jede Harmonie.«

»Daran kann meine engelsgute Großmutter nicht schuld gewesen sein.«

»Nein, die Schuld lag an Herrn von Thurngau,« erklärte Henriette ernst und bestimmt.

»Weiter, Jetty, weiter!« befahl Helene. »Wenn du das weißt, weißt du auch mehr!«

»Wahrhaftig nicht, Kleine, wahrhaftig nicht!« betheuerte Henriette. »Die Scenen, welche der gnädige Herr meiner theueren Wohlthäterin machte, verbarg sie stets vor uns, indem sie mit ihm das letzte Zimmer an der Ecke zu solchen Unterredungen wählte.«

»Aber er zankte mit ihr, das hörtet Ihr?«

»Zankte?« wiederholte Henriette mit tief traurigem Blicke. »Ach Gott – er wollte nur Geld von ihr erpressen – sonst that er ihr nichts.«

»Ha jetzt begreife ich Alles!« fuhr das kluge Mädchen wild auf. »Jetzt begreife ich sogar die Adresse, geborene Freiin von Thurngau-Wederstedt! auf Wederstedt.«

Henriette richtete erstaunt ihr sanftes Auge auf das junge Mädchen.

»Was liegt darin?« fragte sie.

»Paß auf! Er nennt sich Thurngau-Wederstedt!« fuhr Helene mit sprühendem Eifer fort. »Paß auf, er will herkommen und den Herrn spielen! Paß auf, er will der Mama ebenfalls Geld abpressen! Paß auf, Jetty! Aber ich kratze ihm die Augen aus, wenn er meine liebe Mama mit Forderungen quält, Jetty!«

Henriette seufzte wieder hörbar, erwiederte aber mahnend:

»Fasse keine Vorurtheile, Helene. Herr von Thurngau ist alt geworden und braucht vielleicht die Unterstützung deiner Mama, die doch sein Kind, seine einzige Tochter ist.«

»Das ist wahr,« erklärte das junge Mädchen, schnell andern Sinnes. »Ich werde meine Mutter fragen, was er schreibt. Ja, er ist alt geworden und mit dem Alter ändert man seine Ansichten. Du hast Recht, Jetty, ich war wieder ein Strudelkopf!«

Während dieses Zwiegesprächs entwickelte sich im Nebenzimmer eine andere ergreifendere Scene. Frau von Bohlberg zog in fieberhafter Aufregung die Thür hinter sich zu und sagte zitternd:

»Großer Gott, Oswald – Er kommt – Er ist schon auf dem Wege hierher – Er kann heute oder morgen hier eintreffen!«

Bohlberg legte seinen Arm um die Gattin und sah ihr besorgt in's Gesicht.

»Warum erschreckt dich der Brief deines Vaters, liebe Bertha? Weshalb zitterst du vor seiner Ankunft? Mein Gott, laß ihn doch kommen! Daß dein Vater noch lebt, obwohl er lange Jahre nichts hat von sich hören lassen, kann dich begreiflicher Weise aufregen, aber Furcht und Angst darf es dir nicht einflößen.«

»Oswald, du weißt nicht was vorgefallen ist,« wendete die Dame ein und lehnte sich in wirklicher Hülflosigkeit fest gegen die Brust ihres Gatten. »Waffne dich, mein Lieber, waffne dich gegen das Mißgeschick, welches in der Gestalt dieses Vaters unserm friedlichen Hause nahet.«

Der Hausherr lächelte bewußtlos.

»Deine aufgeregte Phantasie sieht Gespenster theure Bertha. Ihr Frauen schreckt vor den Bildern zurück, die ihr euch selbst schafft.«

»Oswald, betrachte das Ereigniß nicht mit Gleichmuth, unterschätze diesen Besuch meines Vaters nicht,« rief Frau von Bohlberg mit schmerzlichem Eifer. »Waffne dich, sieh' alle Papiere nach, die dir unser Eigenthum sichern.«

»Nun da hört doch alles auf,« unterbrach sie der Hausherr laut lachend. »Denkst du dein Vater besuche uns in räuberischen Absichten?«

»Ja,« preßte die Dame hervor.

Herr von Bohlberg sah sie groß an.

»Du kennst nicht alle Verhältnisse, wie sie sind,« fügte sie traurig hinzu. »Leider bin ich selbst außer Stande, dir die volle Wahrheit zu enthüllen, meine Mutter ließ mich im Dunkeln über die Gründe ihrer Handlungsweise und ich war zu sorglos und zu jung, um Beobachtungen anzustellen – aber so viel weiß ich, daß Thränen der entsetzlichsten Erbitterung geflossen, daß Verwünschungen über die Lippen meiner lieben Mutter gedrungen sind. Ueberlege doch selber, Lieber, wozu wäre denn die Vorsicht nöthig gewesen, noch bei Lebzeiten Maßregeln zu treffen, die sie ihrer Macht beraubten, über ihr Erbgut verfügen zu dürfen.«

»Ja Liebe, das that sie freilich, um den verschollenen Herrn Gemahl jedes Anspruchsrecht an uns zu rauben,« versetzte Bohlberg ruhig, »allein darin liegt, nach meiner Meinung, immer noch kein Grund, den Besuch dieses Mannes, der dein Vater ist, zu fürchten und vor Entsetzen darüber krank zu werden. Du siehst bleich aus, in Folge deines Schreckens, beste Bertha; trauest du mir so wenig männliche und kräftige Besonnenheit zu, daß du Ursache zu haben glaubst, vor den Ansprüchen eines alten Mannes, der durch sein vagabondirendes Leben seine Gleichgültigkeit gegen die Heimath bekundete, zu zittern?«

»Es walten Verhältnisse vor, die meine Bangigkeit erklärlich machen, Oswald.«

»Du mußt doch zugeben, daß du deinen Vater mehr aus Bruchstücken von Phantasie und Wirklichkeit geformt kennst, als aus eigner Anschauung und Beobachtung?«

»Freilich, freilich! Ich war eben zu jung und zu sorglos, als er zum letzten Male heim kam, um selbst urtheilen zu können, allein es schwebt etwas Gespenstisches um diesen letzten Aufenthalt und die gelegentlichen Aeußerungen meiner sonst so gütigen, liebevollen Mutter bestärken mich in meinen vorgefaßten Meinungen.«

»Empfange den alten Herrn aber nicht mit diesen Vorurtheilen, sondern prüfe nur mit reifem Verstande und erwäge dann die gespenstischen Traumbilder.«

»Oswald, was will mein Vater hier?« fragte die Dame, durchaus nicht beruhigt von diesen Worten.

»Dich, die einzige Tochter besuchen,« antwortete der Hausherr wohlgemuth.

»Stimmt sein Brief, der kurze, entschieden unzufriedene Ton seines Briefes mit dieser harmlosen Absicht überein? Er redet mich mit dem Namen ›Helene‹ an, den meine Mutter führte, er weiß also gar nicht mehr, daß seine Tochter Bertha heißt!«

Bohlberg lachte.

»Das kann er während eines Zeitraumes von fünfzehn Jahren wohl vergessen oder verwechselt haben, ohne daß man ihm böse Absichten zutrauen darf.«

»Es kann jedoch als ein Beweis seiner gänzlichen Entfremdung gelten. Wie reimt sich nun der folgende Satz damit?«

Frau von Bohlberg nahm den Brief wieder vor, und las:

 

»Meine liebe Tochter Helene,

ich komme heim! daß ich nicht früher gekommen bin, liegt an deiner unverantwortlichen Nachlässigkeit, mir den Tod deiner Mutter nicht gemeldet zu haben. Nach Empfang dieses Briefes kannst du mich jeden Tag erwarten und ich hoffe, empfangen zu werden, wie es sich gebührt, damit du es verdienst, daß ich mich nenne

deinen getreuen Vater
Adolph von Thurngau-Wederstedt.«

 

Bohlberg hatte lächelnd zugehört und mehrere Mal verständnißvoll mit dem Kopfe genickt.

»Ja, ja,« sagte er, als Frau Bertha schwieg, den Brief zusammenlegte und gespannt in das Gesicht ihres Gatten blickte, »ja, ja, gnädige Frau haben sich von dem Tone der Epistel verletzt gefühlt und in ihrer Empfindlichkeit alle vorgefaßten Meinungen wieder wach gerufen. Gestehe es, Liebchen, erstens, daß der Vater nicht mehr weiß, wie die Tochter heißt; zweitens, daß sie sich unverantwortlicher Nachlässigkeit schuldig bekennen muß oder wenigstens soll, drittens, daß es von ihrem Betragen abhängig gemacht wird, ob der heimkehrende Vater ein getreuer –«

»Oswald,« unterbrach ihn die Dame mit Thränen und rang ihre Hände, wie im wilden Schmerz, »Oswald, scherze nicht, scherze nicht! Es sind Gewitterwolken, schwere, vernichtungsfähige Gewitterwolken, vor denen ich mich fürchte! Bedenke die Wichtigkeit der Worte: Ich komme heim! Hat er denn ein Recht, heim zu kommen, Oswald? Nein mein Lieber, er hat kein Recht, sonst hätte meine Mutter nicht ihr ganzes Hab und Gut an dich, ihren Schwiegersohn, abgegeben und sich nur eine kleine Rente ausbedungen. Prüfe die betreffenden Papiere, mein lieber Mann, waffne dich – sei vorsichtig – unser Wohlsein, das Glück unserer Helene steht auf dem Spiele.«

Bohlberg ließ seinen Blick schärfer auf der Gattin Antlitz ruhen.

»Willst du mir nicht dein ganzes Vertrauen schenken, liebe Bertha, nachdem du in dem Ausrufe: hat er denn ein Recht heimzukommen? verrathen hast, daß du ihm dies Recht bestreitest? Bitte, sage mir Alles, was du weißt, es ist besser für uns beide. Ich kann sicherer handeln und du wirst dadurch ruhiger.«

Frau von Bohlberg warf sich weinend an des Mannes Brust: »Es sind ja leider, leider nur Vermuthungen, Oswald. Darf ich meinen Vater verleumden? Mir fehlen die Beweise – dunkle, schattenhafte Erinnerungen – eines Tages war unser ganzes Haus ausgeräumt, – alle Wertsachen verschwunden, – meiner Mutter Schatulle erbrochen, – der Hausschatz der Familie Wederstedt, ein bedeutender Vorrath von Silbergeräthe, abhanden gekommen – genug es war eine entsetzliche Entdeckung und kein Mensch glaubte an einen Einbruch. Damals nahm meine Mutter eine bedeutende Summe Geldes auf – gleich danach verschwand mein Vater und kam nie wieder.«

»Ganz recht, in jener Zeit schrieb deine Mutter an mich und bat mich, als Sohn einer Wederstedt, mich ihrer anzunehmen und eine gänzliche Zerrüttung ihrer Verhältnisse abzuwenden. Sie hat mir indeß nie Andeutungen gemacht, die auf einen Verdacht schließen lassen können.«

»O hätte sie dich oder mich doch eingeweiht in die Tragödie ihrer Ehe, Oswald, dann ständen wir nicht rathlos vor diesem unerwarteten Heimkommen eines Vaters, der nach meiner Ansicht unserer Achtung nicht würdig ist,« klagte die Dame. »Nur Vermuthungen leiten mich bei dieser Ansicht, aber es ist fast unmöglich, daß sie täuschen können!«

»Mag's sein, wie es will, Frauchen,« begann Bohlberg nach kurzem Nachdenken mit hellem Blicke, und richtete seine große, kräftige Gestalt straffer auf. »Dein Vater soll in mir seinen Mann finden. Was er sich der schwachen Frau gegenüber erlaubte, wagt er nicht wieder. Meine Besitzrechte sind unantastbar, ohne daß ich mich Bohlberg-Wederstedt unterzeichne. Hebe muthig dein armes Köpfchen, kleine Frau, du hast unter meinem Schutze nichts zu fürchten.«

»Wenn aber mein Vater hierbleiben will?« fragte Frau von Bohlberg halb getröstet.

»Das geht nicht! Ich müßte sonst die Dach-Etage erweitern, um noch ein Wohnzimmer zu erhalten, und dazu habe ich keine Lust und kein Geld,« antwortete der Hausherr kurz.

»Es würde dir auch nichts helfen, denn mein Vater bezieht dort oben kein Zimmer.«

Bohlberg runzelte die Stirn. »Wohin willst du ihn denn bringen?« fragte er besorgt.

Die Dame zeigte mit der Hand auf das letzte Zimmer.

»Dort hat er gewohnt als er zuletzt hier war. Unser Schlafzimmer war sein Schlafzimmer.«

»Und wo sollten wir jetzt schlafen?« fragte der Hausherr sehr verdrießlich, da seine Behaglichkeit in Gefahr kam.

»Ich müßte mit Helene zusammen wohnen oben im Giebel, und du müßtest in dem kleinen Stübchen nach dem Garten hinaus deine Lagerstätte nehmen.«

»Das geht! Ich bin mit dieser Anordnung zufrieden. Ihr Frauen habt mehr Talent zur Einrichtung als wir, Jetty bleibt also in der Stube, wo sie bis dahin mit Helene geschlafen hat?«

»Vorläufig – ja. Bei meiner Kränklichkeit muß ich Nachts Jemand im Zimmer haben, der mir hülfreich ist im Nothfalle, deshalb nehme ich Helene zu mir ins Wohnzimmer.«

»Dann könnte ich ja oben mit hinaufziehen,« rief Bohlberg besorglich.

»Nein,« entgegnete die Dame sehr entschieden, »du mußt unten bleiben, unserer Sicherheit wegen. Zerstreuen sich meine Besorgnisse bei näherer Bekanntschaft meines Vaters, so sprechen wir weiter darüber.«

Bohlberg mochte einsehen, daß Einwendungen fruchtlos blieben, darum fügte er sich nun ohne Widerrede. Der schwankende Gesundheitszustand seiner liebenswürdigen Frau machte es ihm in den Augenblicken fremdartiger Aufregungen und wenn sie bis zum Eigensinn sich erstreckten, zur Pflicht, nachzugeben und ihre Beruhigung abzuwarten.

Sie trachtete nach solchen momentanen Ueberwallungen stets danach, ihm sein Haus zum Himmel zu machen, so daß er vollkommen für seine Nachsicht belohnt wurde. Ihre instinktmäßige Furcht vor dem Vater flößte dem Hausherrn Mitleid ein, und er räumte ihr schon um deswillen das Recht ein, ganz nach Belieben verfahren zu können, damit sie ruhiger würde.

Gemächlich kehrte er in das Wohnzimmer zurück, wo er das zweite Frühstück auf dem Tische bereit fand, und setzte sich so ruhig zu diesem erwünschten Imbiß nieder, als gäbe es nichts auf der weiten Welt, was ihm seinen materiellen Genuß beeinträchtigen könne. Bisweilen flog ein kurzer Gedanke an die bevorstehende Veränderung wie ein Schatten durch ihn hin, allein dieser flüchtige Schatten verdrängte den Sonnenschein seines Lebensglücks durchaus nicht, obwohl ihm dabei einfiel, daß die Vergrößerung seines Haushaltes durch einen Gast von der Beschaffenheit seines Herrn Schwiegervaters sein Budget veränderte. Kummer verursachte ihm indeß der Gedanke daran nicht. Er fühlte sich sicher in seinen Rechten, und dachte viel zu brav und redlich über das, was nun auch seine Pflicht war.

Die beiden jungen Mädchen hatten in der Zwischenzeit das Zimmer verlassen und Helene kehrte erst in dasselbe zurück, als ihr Vater eben das Messer hinlegte, womit er sich ein letztes Schnittchen Käse aufs Butterbrod geschnitten.

»Wo steckst du denn, Helene, daß du deinen Vater allein frühstücken läßt?« rief er dem Töchterchen scheltend entgegen.

Helene, das Köpfchen voll romantischer Ideen über einen Großvater, von dessen Dasein sie nichts wußte, schaute den Vater, der mit unvermindertem Appetit zu frühstücken fähig war, sehr verwundert an.

»Hat der Schreck über den Brief dich nicht verhindert zu frühstücken, Papa?« fragte das junge Mädchen mit einem Anfluge von Keckheit, indem sie an den Tisch trat und die Verheerungen betrachtete, die ihres Vaters Appetit dort angerichtet hatte.

»Der Schreck – Frühstück zu verhindern – Kleine, du träumst wohl! Gehöre ich denn zu den nervenschwachen Damen, denen Schreck, Liebe, Zorn und dergleichen sofort in den Magen fährt, und sie auf unbestimmte Zeit satt macht?«

Helene lachte. Sie glich in der Grundlage ihres Wesens ihrem Vater und verstand sich stets vortrefflich mit ihm. Nur fehlte ihr die Klugheit und Besonnenheit, die er im höchsten Grade besaß, wenn es galt, seine Meinung geltend zu machen.

»Wo ist die Mutter, Papa?« fragte sie hastig.

»Die frühstückt heute und noch ein paar Tage nicht, Kleine,« antwortete der Vater mit gemüthlichem Spott, »denn ihr sitzt der Schreck in allen Gliedern.«

»Was ist das für ein Großvater, der ihr den Appetit verdorben, Papa?«

»Das ist der Mann deiner seligen Großmutter Thurngau, also deiner Mutter ihr leiblicher Vater.«

»Das weiß ich schon!« rief Helene hastig und kräftig.

»Warum fragst du mich denn danach, kleine Thörin?«

»Ich will wissen, warum er niemals hier gewesen ist.«

»Danach mußt du ihn selber fragen.«

»Das werde ich ganz sicherlich thun, wenn du mir's nicht sagen willst,« eiferte das junge Mädchen.

»Ich weiß es ja nicht!«

Helene stutzte und änderte ihren Angriffsplan.

»Was schreibt er, Papa?

»Er schreibt, daß er kommen würde morgen oder übermorgen.«

»Weiter nichts? Weiter gar nichts?«

»Nein. Nicht einmal einen Gruß an dich hat er deiner Mama aufgetragen,« spottete Bohlberg, seinen Schnurrbart mit der Serviette säubernd, während er sich erhob. »Wahrscheinlich hat er gar keine Ahnung deines Vorhandenseins, mein Puttchen, und das entschuldigt seine Grobheit.«

Fräulein Helene warf, abermals hastig und kräftig ihr hübsches Köpfchen zurück.

»Ein Großvater, der nichts von mir weiß, kann mir nur gleichgültig sein, – ich werde ihm dies äußerst schnell bemerklich zu machen suchen, wenn er eintrifft.«

»Wenn er deinetwegen gekommen ist, Helenchen, dann wird ihm dies sehr schmerzlich sein,« neckte Bohlberg sein Töchterchen. »Ich fürchte aber, du bist nicht der Magnet, der ihn mächtig herbeizieht.«

»Necke mich nicht, Papa, mir ist schrecklich ernsthaft zu Muthe,« sagte Helene mit einiger Feierlichkeit.

Sie hatte während der Unterhaltung mit ihrem Vater den Frühstückstisch einigermaßen in Ordnung zu bringen gesucht, den Teller mit Rettigscheiben zierlich zurecht gemacht, die aufgeschnittenen Eier wieder arrangirt, und Brod, Butter und Käse in Reihe und Glied gestellt.

Verwundert über ihr geschäftiges Treiben, was ihrer sonstigen Theilnahmlosigkeit an dergleichen Dingen gänzlich widersprach, fragte ihr Vater lachend:

»Was soll denn werden, Helene?«

»O wir werden wahrscheinlich einen Gast zum Frühstück bekommen,« antwortete das junge Mädchen leicht erröthend. »Edmund sprengte vorhin auf den Hof –«

»Wo ist Jettchen, damit dann für eine Ergänzung des Frühstücks gesorgt wird!«

»Sie stand sehr hastig auf, um Edmund entgegen zu gehen, gewiß nur um ihn abzuhalten, nicht gleich hier hereinzukommen, weil der frühe Besuch dich stören konnte. Ich lief in mein Zimmer, um mir das Haar etwas besser zu arrangiren,« schloß sie mit einer allerliebsten Verlegenheit.

»So! Fräulein Tochter fangen an gefallsüchtig zu werden? etwas frühzeitig, wie mir däucht –«

»O Vater!« unterbrach sie ihn bestürzt und blickte zurück nach der Thür, die sich eben in den Angeln drehte, Ihre Furcht, den besagten Herrn Edmund Ohrenzeuge sehr verrätherischer Neckereien werden zu sehen, verschwand. Henriette trat ein, allein, mit allen Zeichen einer inneren Aufregung, das Auge feucht von vergossenen Thränen.

»Nun?« fragte der Hausherr rasch. »Was giebt es, warum solch traurig Gesicht?«

Henriette durcheilte das große Zimmer und trat nahe an Bohlberg heran.

»Es ist am besten, den Schmerz mit einem male zu tödten, gnädiger Herr,« erwiederte sie mit dem Ausdruck verzweiflungsvoller Festigkeit, die mit der Sanftmuth und Fügsamkeit ihres Wesens nicht in Einklang stand, »Edmund – nein,« verbesserte sie sich, »Herr von Werder war hier, um mich zu fragen, wer meine Eltern seien.«

»Warum fragte der junge Herr danach, Jettchen?« warf Bohlberg stark verwundert ein.

Helene richtete ihr Köpfchen straffer auf und heftete ihr feuriges Auge aufmerksamer auf das schmerzlich verzogene Antlitz ihrer Pflegeschwester.

Ein leichtes Roth bedeckte Henriettens Gesicht.

»Herr von Werder gestand mir offenherzig, daß er bei den Besuchen hierselbst ein tiefes Interesse für mich gefaßt hätte.« –

Helene fuhr zusammen, als hätte ein Stich ihr Herz getroffen, aber sie behielt Geistesgegenwart genug, die Worte, die sich ihr unwillkürlich auf die Lippen drängten, nicht laut werden zu lassen. »Also Ihretwegen kam er, – Ihretwegen!«

Henriette sprach indeß weiter:

»Daß seinem Onkel dies Gefühl nicht entgangen wäre und derselbe es für rathsam gehalten, mit ihm ehrlich darüber zu reden, bevor es zu spät sei.«

»Das ist vernünftig vom alten Herrn von Werder,« schaltete Bohlberg ein.

Helene sagte gar nichts, sondern starrte mit einer Miene halb weinerlich, halb spöttisch immerfort in Henriettens Gesicht. Ihr guter Geist kämpfte mit bösen Neigungen und es blieb ungewiß, was in ihrem Innern Sieger bleiben würde.

»Edmund hat auf diese Weise erfahren, daß mir die Urheber meines Daseins gänzlich unbekannt sind, und aus dem Dunkel der Verborgenheit die Wahrscheinlichkeit auftaucht, hinter dem mystischen Schleier meiner Abkunft seltsamen, nicht ganz ehrenvollen Verhältnissen zu begegnen. Edmund glaubte sich verpflichtet, mit mir selbst über diesen Umstand, der allerdings, wie er offen eingestand, eine Annäherung seinerseits verhindere, zu sprechen. Wir tauschten unsere Erklärungen über unsere Verhältnisse aus, und in Folge dessen hat Herr Edmund von Werder beschlossen, Ihr Haus gar nicht zu besuchen, um sich und auch mich nicht unnöthigen Kämpfen auszusetzen. Ich habe es übernommen, Sie von diesem Entschlusse in Kenntniß zu setzen, damit Sie ihn nicht falsch beurtheilen.«

»So leid mir's thut, Jettchen, daß Ihr Lebensglück an Ihren leidigen Verhältnissen scheitert, so muß ich dennoch erklären, daß Edmunds Entschließungen mit meinen Ansichten übereinstimmen,« sprach Herr von Bohlberg mit sehr bestimmtem Ausdruck. »Er durfte Sie nicht im Unklaren über die Verpflichtungen lassen, welche ihm obliegen, will er sonst sein zeitiges Wohl nicht aufs Spiel setzen. Er darf keine Unebenbürtige heirathen, sonst geht ihm das Majorat verloren, das er eines Tages nach seines Onkels Ableben zu erwarten hat.«

Ein bitteres Lächeln entstellte für einen Moment das sanfte Gesicht Henriettens, als sie erwiederte:

»Und hier handelte es sich nicht um Ebenbürtigkeit, sondern um ein schmachbeladenes Dasein!«

Jetzt kam Leben in Helene. Sie sprang auf das Mädchen zu, legte beide Arme auf ihre Schultern, und ihre schönen, braunen Augen flammten, als sie drohend sagte:

»Sag' das nicht noch einmal, Jetty! Du bist unsere Krone, – du bist unser Stolz, – ohne dich kann weder Papa noch Mama bestehen, und ich vollends gar nicht. Daß ich nicht nochmals solcher Selbsterniedrigung in deinen Worten begegne, – hörst du? Mag Herr Edmund von Werder handeln, wie ihm Ehre und Pflicht gebieten, er braucht gar nicht wieder in unser Haus zu kommen, – er soll nicht wieder kommen! Er soll nicht! Wir sind glücklich gewesen, bevor er uns besuchte, und wir werden auch ferner glücklich sein, wenn er uns nicht mehr besucht. Ich will ihm das schon begreiflich machen!«

»Schmähe Herrn von Werder nicht, liebe Helene,« wendete Henriette ein, indem sie das eifrige Mädchen an sich zog, »er hat wacker gehandelt, seine Vernunft hat ihm den rechten Weg gezeigt –«

Helene schloß ihr mit der Hand den Mund.

»Meinetwegen! Ich kann aber vernünftige Männer nicht leiden!«

»Oho!« rief Bohlberg dazwischen. »Da muß ich entweder annehmen, von dir gehaßt oder zu den Unvernünftigen gezählt zu werden.«

»Männer von deinem Alter mögen die Vernunft anbeten und pedantisch in ihrer Pflichterfüllung sein,« erwiederte Helene sehr rasch, »wenn jedoch ein Mann von vierundzwanzig Jahren die Fahne der Vernunft aufsteckt, so finde ich das lächerlich!«

»Thörin! Thörin! Man kann nie früh genug vernünftig werden,« schalt ihr Vater. »Ich wollte, du wärst jetzt schon mit deinen vierzehn Jahren so weit! Vernunft schützt vor Uebereilung – Uebereilung aber trägt den Schmerz der Reue in sich, den oft nichts zu stillen vermag.«

Helene öffnete ihre Kinderaugen sehr weit und schaute den Vater mit lachender Bosheit an.

»Wer steht dir denn dafür, daß sich Herr Edmund nicht mit seinen Erklärungen übereilt hat? So viel ich beurtheilen kann, hatte er noch gar kein Recht, an Jetty's Zuneigung zu glauben, nicht wahr, Jetty? Er konnte abwarten, ob seine Liebe und ihre Liebe so heiß wurde, um Erklärungen nöthig zu machen. Er konnte schweigend sich zurückziehen, und Jetty würde daran nicht gestorben sein. Aber es gefiel dem Junker Edmund, Staat mit seiner Ehrenhaftigkeit zu machen, – die alten vernünftigen Männer loben dergleichen Seelenanstrengungen, uns zartfühlenden Frauen behagt es aber nicht, als Gegenstand einer öffentlichen Pflichterklärung betrachtet zu werden. War es denn wirklich nothwendig, daß Junker Edmund, wie ein gejagter Strauß in der Wüste, dahergetrabt kam, um unserer Jetty die Erklärung zu machen, daß er sie niemals heirathen könne? Gelinde gesagt, Papa, ist es albern, sich selber nach so kurzer Bekanntschaft für den Gegenstand einer Herzensneigung zu halten und dem Mädchen zu sagen: nimm dich in Acht, denn ich kann dich nicht heirathen. Jetzt aber bin ich fürchterlich hungrig, und da wir nicht gut ohne die Mama frühstücken können, so werde ich sie herbeiholen.«

Mit diesen letzten Worten war sie nach der Thür des Nebenzimmers geeilt und verschwunden, ehe eine Entgegnung möglich war. Bohlberg schaute seinem Töchterchen mit dem gemischten Ausdrucke von Ver- und Bewunderung nach und brach dann in ein herzliches Gelächter aus.

»Im Grunde hat sie recht!« sprach er zwischendurch. »Es liegt keine Consequenz in dem Betragen des jungen Edelmannes. Entweder ist er ein Fant oder Pedant.«

»Ich hätte bedenken sollen, daß Helenens Verstand den Mangel eines triftigen Grundes zu diesem Schritt Edmunds herausfühlen würde,« sprach Henriette mit beinahe feierlichem Tone. »Sie selbst bildet den Punkt, wovon die Gründe seiner Handlungsweise ausgehen.«

»Sie – meine Helene?« fragte der Hausherr erstaunt.

»Ja. Der Onkel des jungen Herrn wünscht eine Verbindung zwischen Helene und Edmund.«

»Ei was! Das Kind ist ja eben erst der Schule entwachsen.«

»Die Aufmerksamkeiten, welche Edmund mir neulich beim Oberamtmann Hedemann zu Theil werden ließ, haben dies zuwege gebracht. Um auf keine Weise falsch beurtheilt zu werden, mußte ich Edmunds Vertraute sein.«

»Hand aufs Herz, liebes Kind, Sie leiden dadurch?«

»Nicht in der Art, wie Sie fürchten! Ich wußte ja, daß meine Geburt nicht tadellos genug war, um die Gattin eines Edelmannes zu werden. Aber der Makel meines Daseins ist mir noch niemals so schwer aufs Herz gefallen, wie heute! Das schmerzt mich! Sollte es nicht möglich sein, etwas Näheres über meine Abstammung zu erfahren, Herr von Bohlberg?«

»Schwerlich! der Mund, der hätte reden sollen, ist auf ewig geschlossen. Meine Schwiegermutter wollte mir keine Auskunft geben. Sie hat Unrecht gehabt.«

»Ja, auch mir verweigerte sie jede Aufklärung. Sie antwortete stets, daß ich mich als die Pflegetocher ihrer Tochter Bertha und als die Pflegetochter ihrer Enkelin Helene betrachten solle. Aber ich erinnere mich zu deutlich einer sehr ärmlichen Umgebung aus meinen frühesten Jugendjahren, um nicht die Wohlthaten der seligen Frau von Thurngau zu erkennen und daraus den Schluß zu ziehen, daß sie mich dem Elende entrissen hat.«

»Sie sind zu selbstquälerisch, Jettchen. Mein weises Töchterchen hat Recht, wenn es behauptet, wir Alle könnten nicht ohne Sie fertig werden. Beruhigen Sie sich also darüber und vergessen Sie die heutige Erfahrung.«

»Die heutige Erfahrung enthält einen wirklichen Trost für mich. Aus ihr hoffe ich den Faden des Glückes für Helene spinnen zu können!«

»Wie Gott will, Jettchen! Pläne auf Kinderherzen bauen, ist gefährlich!«

Er schickte sich nach diesen Worten zum Fortgehen an. Plötzlich blieb er wieder stehen.

»Apropos! Sie kennen meinen Schwiegervater; was halten Sie von ihm? Haben Sie dieselbe Meinung von ihm, wie meine Frau?«

»Sicherlich, Herr von Bohlberg, denn unser Urtheil stammt aus einer Quelle.«

»Er wird kommen.«

Henriette athmete tief auf.

»Sie seufzen? Er wird bald kommen. Vielleicht heute noch. Meine Frau ist außer sich! Ich begreife diese Furcht vor einem alten Vater nicht.«

»Sehen Sie sich vor, gnädiger Herr!« flüsterte das junge Mädchen schüchtern.

»Wissen Sie einen Grund für diese Warnung anzuführen?«

»Nein! aber dieser Mann ist das Spukgespenst meiner Jugend. Ich war noch im Alter der äußersten Unzurechnungsfähigkeit, als er zum letzten Male hier war; allein der Eindruck ist mir geblieben, daß es eine Unglückszeit für uns Alle war. Sein Einfluß auf das ganze Hauswesen vernichtete jeden Frieden und störte jede Freude. Was ich Spezielles davon weiß, ist freilich nur durch Erzählungen anderer Personen in mir frisch erhalten. Dazu gehört absonderlich die Geschichte strafbarer Erpressungen. Wollen Sie darüber Näheres erfahren, so wenden Sie sich direkt an den alten Oberamtmann Hedemann, der hat mir Einiges oberflächlich mitgetheilt. Ich wiederhole Ihnen: hüten Sie sich vor diesem Manne vom ersten Augenblicke an, damit er Sie nicht fängt.«

Bohlberg lachte.

»Was Ihr Frauenzimmer Euch nur denkt! Glauben Sie, er könne mich geistig zwingen, geistig überlisten?«

»Reden Sie mit Hedemann,« bat Henriette dringlich. »Der alte Herr wird Ihnen mehr sagen.«

»Die Sache fängt an mich zu interessiren,« sprach Bohlberg und verließ das Zimmer.

Henriette blieb eine Weile allein. Sie ließ sich gleichsam ermattet von den unerwarteten Gemüthsaufregungen auf einen Stuhl nieder und dachte über das Erlebte nach. Das Bild des jungen Mannes, dessen Neigung sie so schnell gewonnen und fast eben so schnell erwiedert hatte, stellte sich im vollen magischen Zauber vor ihrer Seele auf und sie letzte sich mit geduldiger Trauer an der Erinnerung, die seine offenherzigen Geständnisse geheiligt hatten. Zwischen Adelsfamilien groß geworden und durch den Umstand, daß Frau von Thurngau sie Henriette von Wederstedt nannte, zum engen Kreise derselben gezählt, war es dem jungen Herrn v. Werder gar nicht eingefallen, sie anders als zur Familie Bohlberg auf Wederstedt zu rechnen.

Daß sie dort eine untergeordnete Stellung einnahm, schrieb er ihren Vermögensverhältnissen zu. Er hatte sich, darüber völlig unbekümmert, der schnell erwachten Neigung zu ihr um so mehr hingegeben, als er ihr Lebensloos sicher gründen konnte. Bedeutungsvolle Worte, bindend für den Ehrenmann, waren am Abend ihres letzten Zusammenseins gefallen. Henriette hatte keine Hoffnung darauf gebaut, aber sie waren ihr als ein Stern in der dunklen Zukunft erschienen.

Das war Alles vorbei! Der Stern war verlöscht – ihre Zukunft düsterer, als zuvor. Ihr sanfter geduldiger Sinn beugte sich willig unter dieser Prüfung. Gab sie ihr doch die beglückende Genugthuung, daß ein edler Mann ihren Werth erkannt hatte und nur der Nothwendigkeit wich, indem er seinen Vorsatz, sie zur Lebensgefährtin zu wählen, aufgab. Beide hatten sich in ehrenwerther Offenheit eingestanden, daß sie nicht zu den Menschen gehörten, welche im Wahne einer ewig dauernden Liebesseligkeit rücksichtslos zu handeln vermöchten. Fräulein Helene würde freilich die Hände über ihrem vierzehnjährigen Strudelkopfe zusammengeschlagen haben, hätte sie von dieser vernünftigen Lebensanschauung Kenntniß erhalten; aber Henrietten gereichte es zum Stolze und dem jungen Herrn Edmund zum Troste, daß sie beide nicht zu den leidenschaftlichen Naturen zählten, die in der Selbstsucht der Liebe Alles zertrümmern, was ihnen hinderlich im Wege steht.

Mit festem Handschlage hatten sie sich Freundschaft und treue Anhänglichkeit gelobt, und wenn der Kuß, den Edmund, vom Schmerze dieser Minute überwältigt, auf Henriettens Mund zu drücken sich erlaubte, auch viel vom Feuer ewiger Liebe und wenig von der Opferwilligkeit ewiger Entsagung an sich trug, so folgte doch diesem ersten und letzten Liebesausspruche ein sofortiger Abschied auf lange und unbestimmte Zeit.

»Ich kann es nicht über mich gewinnen, Jetty, Sie neben dem wilden, unreifen Mädchen, das man mir als Gattin zu bestimmen für gut fand, zu sehen – ich würde Sie lieben und Helene hassen – mögen Sie auch behaupten, so viel Sie wollen, daß in Helene das wirksamste Mittel zu einer Beruhigung liege,« sprach der junge Mann, indem er heftig die Hand Henriettens preßte, »mögen alle Menschen von Helenens Liebenswürdigkeit hingerissen werden. – Ihr Bild würde alle Vorzüge dieser jungen Dame verdunkeln und mein Herz gegen sie erkälten. Helene ist schön – an Freiern wird es ihr nicht fehlen – wenn sie verheirathet ist und ich, sicher vor Mißdeutungen und vor den Planmachereien meines würdigen Onkels, dies Haus wieder betreten darf, dann sehen wir uns wieder und freuen uns im Frieden unserer errungenen Herzensstille!«

Diese Worte standen hell vor Henriettens Seele. Sie war aber nicht mit diesem Entschlusse, der darin lag, einverstanden. Ihre tiefe Liebe zu Helene weckte das Verlangen, ihr ein Lebensglück in der Vereinigung mit dem Manne zu schaffen, den sie für würdig hielt, das reine Kinderherz zu gewinnen. Sie war selbstlos genug, sich in ihrer untergeordneten Stellung als Stütze für dies geliebte Paar nöthig zu finden und in der treuen Behütung ihres Glücks einen Lohn zu suchen. Von Natur dazu geschaffen, von ihren Verhältnissen darauf angewiesen, war Henriette eines jener weiblichen Wesen, die stets zu Dienstleistungen bereit sind, selbst wenn sie Opfer kosten. Die Liebe ihrer Umgebung zeigte, daß man sie hinreichend anerkannte. Sie galt als Geist der Güte und Versöhnung. Zu ihr nahm Jeder seine Zuflucht, wenn ihm das Herz schwer war – zu ihr floh Helene, wenn sie rathlos nach einem dummen Streiche, Hülfe gebrauchte – ihr beichteten vertraulich die Mägde ihre Pflichtübertretungen, und selbst Bohlberg, der geistig kräftige Mann hatte Stunden, wo er Henriettens milde Beschwichtigung nicht entbehren konnte.

Vor Allem aber war Henriette die unentbehrliche Rathgeberin der Hausfrau. Frau von Bohlberg that nichts ohne ihre Zustimmung und Billigung, wodurch sich Helene oft gereizt und zu der Aeußerung veranlaßt fand: Mama wird nächstens von Jetty wissen wollen, ob sie satt und ob sie müde ist.

Um so überraschter war Helene, als sie ihre Mutter zum Frühstück zu holen ging, daß diese beschäftigt war, einen großen Wäscheschrank, ein Familienprachtstück, vollständig auszupacken. Schon lagen sämmtliche Tische, Stühle und was sich sonst Verwendbares zum Darauflegen im dritten Zimmer vorfand, voll zierlich geordneter Tischgedecke, voll rothgebundener Handtücher und gelbgebundener Ueberzüge bepackt, und jetzt stand die kleine, schlanke Dame auf einem Stuhle und begann das oberste Fach auszuräumen.

»Mama, was fällt dir denn ein!« rief das junge Mädchen spottlustig und sprang flink, wie ein Reh, hinzu, um ihr einen Ballast von Linnen aus den Händen zu nehmen.«

»Still, still, Kleine,« flüsterte die Mutter und sah scheu nach der Thür. »Draußen in der Küche sollen sie nicht wissen, daß ach – – Gott, Lena, – daß«

Sie gewann es nicht über sich, die Worte über ihre Lippen zu bringen, die einen Argwohn in Helene zu wecken im Stande waren.

»Mein Gott, Mama, wozu machst du dir eine so große Arbeit, weshalb packst du Alles aus, weiß denn Jetty von dieser großartigen Geschäftigkeit?« plauderte das Mädchen sorglos.

»Still doch!« befahl Frau von Bohlberg. »Aber Jettchen kannst du holen! hörst du?«

Helene sprang indeß nicht so leichtfertig davon, um diesem Befehle nachzukommen, wie sonst wohl. In ihrem Kopfe entspannen sich Vermuthungen, die sie zum Nachsinnen zwangen. Hing diese fremdartige Geschäftigkeit, dies heimliche Treiben vielleicht mit dem Briefe ihres Großvaters zusammen? Aber auf welche Weise? Es war kaum denkbar, kaum möglich. Sie beeilte sich nicht, Jettchen zu holen, denn wenn Jettchen erst da war, so konnte es sich ereignen, daß sie von ihrer Mutter als überflüssig betrachtet wurde.

»Jetty kann jetzt nicht kommen, Mama,« entschied sie keck. »Jetty muß erst mit Anstand eine verloren gegangene Hoffnung betrauern, denn Herr Edmund von Werder hat ihr begreiflich gemacht, daß er sie nicht heirathen dürfe, weil sie nicht beweisen könne, daß sie Eltern habe.«

Frau von Bohlberg wendete sich auf ihrem Stuhle ganz herum und sah sie etwas verwirrt und starr an.

»Kind, was schwatzest du für Unsinn!«

»Bitte Mama, ich rede nur die Wahrheit, und wenn in dieser Wahrheit Unsinn enthalten sein sollte, so rechte nicht mit mir, sondern mit dem klugen und vernünftigen Herrn von Werder,« entgegnete Helene in ironischem Tone.

»Wie kannst du mir zumuthen, daß ich in meiner jetzigen Seelenstimmung Gefallen an deinen boshaften Scherzen finden soll, Helene,« klagte die Dame und stieg von ihrem Stuhle, um sich darauf niederzulassen. »Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß Edmund Werder unsere Jetty zu heirathen Lust gehabt hätte?«

»Auf Ehre!« rief Helene mit verächtlichem Ausdruck.

»Er kennt sie ja kaum! Er hat sie höchstens acht mal gesehen!«

»Er liebt sie aber trotz alle dem und schwört darauf, daß sie ihn wieder liebe!«

Frau von Bohlberg schüttelte mißbilligend mit dem Kopfe. Wie kam ihr junges Töchterchen zu dem Geheimniß dieser Liebe? Warum verhandelte man dergleichen Angelegenheiten im Beisein des Kindes und hinter ihrem Rücken?

Helene sah alle diese Fragen wie Schatten über das mütterliche Antlitz fliegen, und sie beeilte sich, diese Schatten durch eine ausführliche Darstellung des Geschehenen zu verscheuchen, obwohl sie nicht darum befragt wurde. Gespannt hörte Frau von Bohlberg zu. Ihr Mienenspiel zeigte nur Befremdung. Weder Bedauern mit Henriettens Schicksal, noch Theilnahme für dies junge Menschenpaar, das seine Wünsche den Verhältnissen opfern mußte, prägte sich in dem Blicke aus, womit sie in das stark belebte Angesicht ihres schönen Kindes schaute. Ein einziges mal blitzte ein regeres Gefühl aus ihren gleichgültigen Augen, und darin sprach sie die Frage aus: Wie kann ein Mann Henriette in ihrer schattenhaften, sterilen Sanftmuth meinem reizvollen, geistig belebten Töchterchen vorziehen!

»Es ist gut, Lena, daß sich die Geschichte so rasch abgewickelt hat,« sagte sie, als Helene fertig war mit Erzählen. »Onkel Werders Weisheit bewährt sich hier wieder, wie immer. Mir würde es niemals eingefallen sein, in Henriette die Angebetete Edmunds zu suchen. Henriette ist ja viel zu alt für den jungen Werder! Man sieht hier wieder recht deutlich, wie leicht das Herz irre führt. Nach meiner Ansicht paßt Jettchen durchaus nicht zur Gemahlin des feurigen, ritterlichen jungen Mannes, selbst wenn ihre Verhältnisse eine Verbindung mit ihm gestatteten. Daß sie ihn lieb gewonnen, finde ich natürlich, allein wie seine Phantasie sich hat zu ihr verirren können, wird mir ewig unerklärlich bleiben.«

Helene merkte genau auf. In den mütterlichen Anschauungen lag etwas, was ihr wohlthat. Dessen ungeachtet nahm sie für Henriette das Wort und zählte ihre Tugenden an den Fingern her, immer hinzufügend wie liebenswerth sie dadurch sei.

Frau von Bohlberg nickte beistimmend.

»Ganz recht, mein Töchterchen! wenn ein älterer Mann sie deshalb zur Gattin erkoren, so würde ich ganz mit dir übereinstimmen, allein daß Edmund sie der Tugenden wegen liebt, ist nicht naturgemäß,« erklärte sie dann mit voller Ueberlegung eines klugen Mutterherzens.

Sie beabsichtigte durch ihre Beurtheilung eines Verhältnisses, das ihre eigenen stillen Wünsche durchkreuzte, das Gleichgewicht in Helene wieder herzustellen, das zu sichtbar gestört war, um nicht die Befürchtung eines gehässigen Widerstrebens gegen eine spätere Annäherung Edmunds wach zu rufen. Sie kannte dergleichen Aufregungen ihrer Tochter und wußte, daß sie nicht wohlthätig auf ihre Gesinnungen wirkte. Aus eben dem Grunde wollte sie auch vermeiden, das Herz ihrer Tochter gegen den Großvater zu erbittern. Das hierin schon mehr geschehen war, als sie gutheißen konnte, wußte sie freilich nicht.

»Nun aber komm, Mama Bertha, und iß erst Frühstück,« sprach Helene nach dem Schlusse ihrer erschöpfenden Beichte. »Ich falle sonst um vor Hunger und sterbe vor deinen Augen am vergessenen, treulos behandelten Magen!«

Sie schlang lachend die Arme um die Schultern der Mutter und führte sie mit sanfter Gewalt der Thüre zu.

»Kind, sei vernünftig,« bat die Dame, gütig zu ihr aufsehend. »Laß mich hier! Iß, damit dein Magen dir nicht Vorwürfe macht, aber –«

»Ja, ich weiß schon, dir ist der Schreck in den Magen gefahren, Papa sagte es,« fiel Helene rasch ein. »Großpapa Thurngau kommt. Er wird heute oder morgen wie eine Bombe in's Haus fallen. Pah! Mach dir keine Sorgen, kleine Mutter, wir wollen uns schon wehren wenn er uns mit Contributionen bedroht.« –

Frau von Bohlberg fuhr erschrocken zurück.

»Wovon weist du – was sprichst du?«

»Stille, stille, Mama! Ich weiß alles und du brauchst nicht die erwachsene Tochter als ein Kind zu betrachten, das nicht Alles wissen muß. Es ist viel, besser, daß man Bescheid weiß und nicht im Dunkeln tappt, deshalb sage mir nun aufrichtig, weshalb dieser Großvater so lange ich lebe noch nicht hier gewesen ist und seiner auch noch nicht erwähnt ist. Ich will dir deine Geständnisse erleichtern. Nicht wahr, er ist unser nicht würdig? Er hat der lieben seligen Großmama das Leben verbittert? Er hat schmählich gehandelt – er hat sie elend gemacht? Nun aber da er alt geworden ist, will er ihre Verzeihung suchen und sich pflegen lassen? Ist's so?«

»Beinahe,« flüsterte Frau von Bohlberg willenlos.

»Vielleicht noch etwas schlimmer?« forschte Helene weiter.

»Wohl möglich!«

»Ist er ein guter Vater gegen dich gewesen?«

»Ein gleichgültiger Vater. Er hat während seiner Abwesenheit sogar vergessen, daß ich Bertha heiße. Er nennt mich Helene.«

Das Töchterchen lachte auf; es fand ergötzlich, was die Mutter verletzt hatte.

»Wo hat sich Großpapa Thurngau so lange aufgehalten?« fragte sie darauf.

»Ich weiß es nicht, Kind. Hätte ich's gewußt, würde ich ihm den Tod meiner Mutter gemeldet haben. Er macht mir Vorwürfe über diesen Umstand.«

»Also er weiß es jetzt, daß sie todt ist?« fragte Helene mit schlauem Lächeln.

»So viel aus dem kurzen Briefe ersichtlich ist, hat er es kürzlich erst erfahren.«

»Natürlich, sonst wäre er ja früher gekommen,« platzte Helene mit ihrer Weisheit heraus. »Der Tod der lieben Großmama giebt ihm wahrscheinlich die Freiheit, hier wieder wohnen zu dürfen – nichts klarer als das, Mama! Er hat unter Bedingungen seine Heimath aufgegeben und denkt diese Bedingungen euch gegenüber nun umzustoßen.«

»Wovon weißt du das, Helene?« fragte Frau von Bohlberg sehr bestürzt.

»Ich denke mir's! Da ihr mir jede Aufklärung verweigert, so werde ich so lange denken, bis ich das Richtige gefunden habe. Nun, Mama? Willst du mir nicht lieber vertrauen?«

»Geh, Helene, hole nun Jettchen,« entgegnete die Mutter ausweichend.

»Und dann? Willst du mir dann sagen, was es mit diesem Großvater zu bedeuten hat?« fragte die Tochter hartnäckig.

»Nein,« war die eben so hartnäckige Antwort. »Erst wollen wir sehen, wie der Großvater auftritt.«

»Gut! So lange will ich meine Neugier zügeln, Mama.«

»Geh! Geh! Wir versäumen und verplaudern hier die Zeit und jede Minute ist vielleicht von unberechenbarem Gewicht,« drängte Frau von Bohlberg. »Ich muß fertig sein mit meinen Anordnungen, bevor mein Vater eintrifft.«

»Was willst du hier für neue Ordnung einrichten?« warf Helene mit unschuldigem Lächeln ein.

Frau von Bohlberg ließ ihren Blick unruhig über sie hinstreifen. Zuerst wollte sie ihre Pläne nicht offenbaren, man sah dies deutlich in ihrem Mienenspiele. Was half ihr jedoch das Verheimlichen? Besser sie sprach davon mit Gleichmuth und suchte den Argwohn der schlauen Tochter einzuschläfern.

»Ich will den Platz dort, wo der Schrank steht, für's Sopha gewinnen und ihn deshalb anderwärts placiren,« sprach sie ruhig.

»Der Schrank soll aus dieser Stube, wo er mit jedem Möbelstück harmonirt?« rief Helene voller Indignation. »O Mama, das thu doch nicht!«

»Nein,« antwortete sie verlegen. »Der Schrank muß ja hier bleiben, da er deinem Großvater als Kleiderschrank dient, – er soll –« sie zögerte, nahm dann ihren Muth zusammen und schloß hastig: »Er soll vor die Thür gerückt werden, damit dein Großvater von hier aus nicht inkommodirt werden kann.«

»Und wir nicht von ihm!« brach Helene lachend heraus. »Ganz recht, Mama! Sieh, da steht des Vaters Schreibschrank mit wichtigen Papieren – wie oft läßt er ihn offen! Wäre dem Großpapa der Zugang zu diesem Mittelzimmer frei, so würde er sich ein Vergnügen daraus machen, darin herumzustöbern, nicht wahr?«

»Du bist heute einmal wieder unausstehlich superklug, liebes Kind,« meinte Frau von Bohlberg sichtlich verdrießlich. »Wahre deine Zunge, damit sie nicht Unheil anrichte!« –

Helene suchte die üble Laune der Mutter mit einigen Schmeicheleien zu beschwichtigen, als ihr dies indeß nicht gelang, lief sie davon und versprach, Henriette herbeizuholen. Sie fand dieselbe in dem vorhin erwähnten träumerischen Zustande, einer Unthätigkeit hingegeben, die in seltsamem Widerspruche mit Frau von Bohlberg's krankhafter Thätigkeit stand. Helene machte ihr dies bemerklich und schilderte mit komischem Eifer den Unternehmungsgeist ihrer zarten Mutter, womit sie eine nothwendige Veränderung ganz auf eigene Hand begonnen habe.

»Du wirst bald überflüssig im Hause werden, Jetty,« schloß sie mit schelmischem Ernst, »wenn Mama fortfährt, Fortschritte im kühnen Handeln zu machen.«

Henriette hatte sich schon während der neckischen Rede Helenens erhoben und machte sich bereit, in's Nebenzimmer zu gehen. Helene schloß sich ihr an.

»Du siehst, was ich dir schon öfters gesagt habe, daß deine Mutter, ungeachtet ihrer Kränklichkeit, die Seele unseres Hauswesens ist, Helene,« sprach sie während des Fortschreitens. »Deine Mutter gehört zu den stillen Naturen, die in wortloser Energie ihre Maßregeln zu treffen wissen. Eine bessere Idee hätte selbst eine stundenlange Ueberlegung nicht erzielen können, – der Verstand deiner Mutter traf im Moment der Sorge auf der Stelle das Rechte.«

»Ob Mama wohl in jeder Beziehung so klug ist, das Richtige zu treffen?« fragte Helene schlau lächelnd, indem sie an das Urtheil derselben über Henriettens Liebesaffaire dachte.

»Gewiß! Ich getraue mir diese Behauptung aufzustellen!« erklärte Henriette treuherzig.

Mit diesen Worten öffnete sie die Thür des dritten Zimmers und stand vor einem Erfolge menschlicher Thätigkeit, der ihre gespannten Erwartungen bei weitem übertraf.

»Hast du das wirklich allein bewerkstelligt, Bertha?« rief sie mit liebevollen Erstaunen.

»Ganz allein, Jettchen, nur die Verzweiflung hat mir geholfen,« flüsterte die Dame kleinlaut. »Aber ich kriege es nicht fertig, hilf mir, rathe mir!«

»Nachdem du schon so gut vorgearbeitet hast, ist's schon leicht zu helfen,« tröstete das junge Mädchen gutmüthig. »Du bist eine praktische Frau,« fügte sie mit einem bedeutungsvollen Blicke hinzu. »Hätten andere Leute früher diesen guten Einfall gehabt, so würde dieses Gebäude von Schrank nicht Wäsche, sondern Silberzeug enthalten. Willst du die schöne Wäsche wieder hineinpacken, Bertha?«

»Nein. Der Schrank mag leer bleiben.«

Helene spitzte die kleinen Ohren.

»Aha! ein Strafediet für den, der ihn leer gemacht!« sagte sie keck. »Wohin aber mit dem Kram?«

»In die Koffer des kleinen Gartenzimmers, mein Kind. Der Schrank wird, wie Ihr wißt, an der Wand festgeschraubt; besorge einen Menschen, der die Schrauben lösen und wieder befestigen kann, Helene.«

»Kann Papa das nicht?« fragte Helene verwundert. »Er ist doch sonst so geschickt!«

»Dein Vater wird sich weigern, er will sich nicht warnen lassen, darum muß Alles fertig sein, bevor er ein Veto einlegen kann.«

»Mama, ich fange an, dich zu bewundern!« rief Helene in voller Heiterkeit. »Topp, ich helfe dir, und das Werk soll fertig sein, ehe die Mittagsglocke schlägt!«

Frische Kräfte, junge Kräfte, guter Wille und Umsicht brachten richtig zustande, was sonst eine Tagesarbeit gewesen wäre. Als Herr von Bohlberg vom Felde heimkam, fand er die Verbindungsthür zwischen dem zweiten und dritten Zimmer vollkommen gesichert gegen die Möglichkeit eines unberufenen Besuches. Da dies Zimmer fortan nur durch das Familienzimmer zu betreten war, so stand es stets unter Aufsicht, so lange die Damen gegenwärtig waren, und konnte, ohne Befremden zu wecken, verschlossen werden, weil Niemand dort etwas zu suchen hatte.

»Ich will wünschen, daß ich niemals Gelegenheit finde, deine instinktmäßige Vorsicht als eine preiswürdige Klugheit rühmen zu müssen,« sagte Herr von Bohlberg sehr ernst zu seiner Gattin.

»Vorsicht ist besser, als Reue über Nachlässigkeit,« entgegnete sie, sich ihm liebevoll anschmiegend. »Dein Wohlsein ist mein Glück und ich weiß, wie schwer es dir geworden ist, unsere schwankende Stellung wieder so weit zu sichern, daß wir ohne Sorgen der Zukunft gedenken können. Ich sehe ruhiger der Ankunft meines Vaters entgegen, der mir stets mehr Furcht, als Liebe eingeflößt hat, nun ich Vorkehrungen getroffen habe, die ihm unser Mißtrauen klar machen. Er soll fühlen, daß die Sünde der Vergangenheit noch nicht gesühnt ist.«

Herr von Bohlberg folgte abermals seinem Princip, er fügte sich dem, was er kaum durch Einwendungen hätte ändern können, ohne jedoch die Ueberzeugung der Notwendigkeit zu gewinnen.

 

Der Tag verging. Des Abends goldenes Licht lag auf der weiten fruchtbaren Ebene, die nichts von pittoresken Reizen aufwies; kaum daß ein Trupp Bäume die wallenden Getreidefelder unterbrach, kaum daß ein Bach träge seine Wellen zwischen den Ackerbreiten vorgleiten ließ.

Helene ließ sich vom schönen Abendlichte zu einem Gange in den Garten verlocken. Möglich, daß eine stille, hoffnungsvolle Neugierde sie trieb, dort hin zu gehen, wo sie den unbekannten Großvater schon von fern erblicken konnte. Im Garten war ein alter Lindenbaum, dicht am Gehege, das die Landstraße von demselben trennte, von ihrem Vater zu einer Laubhütte verwandelt, indem er die Krone des Wipfels von allen Zweigen befreit und ein Bretthaus hineingesetzt hatte. Hier ließ sich Helene am liebsten nieder, wenn sie einmal wirklich ernsthaft gestimmt war, und hier postirte sie sich auch an diesem Abende, um in die Ferne zu schauen.

Das junge Mädchen war traurig, recht traurig. Worüber, das wußte sie nicht. Sie meinte, es sei Besorgniß, den Frieden des Hauses durch einen unbekannten Großvater gestört zu sehen. Es ist möglich! Aber warum vermied sie es denn so beharrlich, nach dem hübschen Wäldchen rechts ab zu schauen, hinter dem sich Werderswarthe, das Besitzthum des Herrn von Werder, versteckte? Fiel es ihr vielleicht jetzt erst schwer auf's Herz, daß sie seit Edmund's Aufenthalt daselbst oftmals mit stiller Wonne berechnet hatte, wie rasch man von Werderswarthe nach Wederstedt kommen könne, wenn – ja wenn!

Aber halt! Wer kam dort durch die Felder geschritten? Helene dachte nicht im entferntesten an ihren Großvater, den sie in einer anständigen Postchaise ankommen zu sehen erwarten mußte, und dennoch begann ihr Herz zu klopfen, und sie schärfte ihren Blick, ihn gespannt auf den Mann richtend, der eilig daher trabte, als gehe er um Botenlohn. Bald war er näher gekommen. Sie erkannte, daß er fremdartige Kleidung trug. Es schien ihr ein Steuerbeamter zu sein. Ein Grenzjäger, der das Feld durchstreifte, um die armen Leute abzufangen, die den Staat um zwei oder drei Pfennige betrügen wollten. Helene haßte diese Leute wie die Sünde, und sie lachte boshaft, daß keine Menschenseele auf der Landstraße sichtbar war, die den Arm der Steuergerechtigkeit zu fürchten brauchte. Sie amüsirte sich daran, den Mann zu verfolgen und ihn zu kritisiren. Wie er jetzt auf dem Rasenrain an der Feldmarke daherschritt, charakterisirte er in Gang, Geberde und Manier ganz und gar den Mann mit noblen Gewohnheiten. Helene rümpfte ihr Näschen und hielt es für gut, nun nicht weiter auf ihn zu achten.

Natürlich mußte sie nun auch einmal rechts hinab, nach dem Wäldchen blicken, hinter dem Werderswarthe lag, und siehe da, aus dem Gehölz kam ein Reiter gesprengt und schlug den Weg ein, der an ihrem Platze vorüberlief. Ihr Herz begann weit gewaltiger zu pochen, als vorhin, aber sie senkte trotzig den Blick und murmelte:

»Wenn es auch Edmund ist, – wenn er auch hierher zu kommen gedächte, – was kümmert mich Edmund!«

Das Geräusch eines galoppirenden Pferdes kam näher, aber Helene that, als höre sie nichts. Der Reiter sprengte vorüber. Helene bückte sich auf ihr Strickzeug nieder und that, als sei sie tief beschäftigt. Dann, als sie sicher war, nicht mehr von demselben bemerkt zu werden, sendete sie einen verstohlenen Blick durch's Laub ihm nach. Richtig, es war Edmund. Er jagte die Landstraße hinab, vor Wederstedt vorbei, ohne beim Gute anzuhalten, und verschwand dann aus dem Bereiche ihres Blickes.

»Er braucht auch nicht zu kommen!« murmelte das Mädchen trotzig und strickte eifrig weiter, ohne sich um die Aussicht, um die sinkende Sonne und um den Wanderer zu kümmern.

Plötzlich trabte wieder ein Roß daher. Sollte Edmund umgekehrt sein? Willenlos bog sie das Köpfchen weiter. Da hielt der junge Edelmann dicht vor dem Gehege und sein Blick traf den ihrigen, als er grüßte und dann mit ernster Freundlichkeit sagte:

»Sie erlauben mir eine Frage, Fräulein Helene, ist der Major schon länger hier in der Gegend? Ist er öfter in Ihrem Hause?«

»Der Major?« wiederholte Helene höchst erstaunt und ihr heiteres Temperament durchbrach schnell alle Nebel der stillen Trauer. »Ich kenne keinen Major und weiß von keinem Major, Herr von Werder.«

»So verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein! Es war mir, als sehe ich diesen Herrn in den Gutshof schreiten, ich werde mich geirrt haben.«

Der junge Herr machte Miene, mit einem Abschiedsgruße fortzureiten. Da kam der wilde Jugendgeist, das Gelüst sich um Dinge zu bekümmern, die sie nichts angingen, über Helene. Sie erhob sich eiligst von ihrer Bank, trat ganz nahe an die Bretterumzäunung und bahnte ihrem Kopfe einen Weg durch das üppige Laubwerk.

»Sie mögen mir gestatten, mein gnädiger Herr,« begann sie halb ironisch, halb ernsthaft, »daß ich die Gelegenheit benutze, auch eine Frage an Sie zu richten und zwar eine ernste Frage, da sie das Glück meiner lieben Jetty betrifft. Ist es wirklich ihr Ernst, um äußerlicher Dinge willen ein treues, gutes Herz, ein liebenswerthes Gemüth aufzugeben? Wollen Sie nicht erst Versuche machen, Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die zu entfernen möglich sind? Bedenken Sie Edmund, bedenken Sie – Jetty nicht mehr sehen, Jetty nicht mehr besuchen zu wollen! Wie todt, wie öde ist das Leben ohne diese Freude!«

Der junge Mann blickte überrascht in das Gesicht Helenens, das bei diesen Worten sich in lieblicher Verwirrung färbte. Wie schön sah Helene in diesem Augenblicke aus, wo ein verstecktes, schelmisches Lächeln von einem Anfluge von Verlegenheit gleichsam überwunden wurde, wo ihre Augen in einer unerklärlichen Wehmuth erglänzten.

»Das Leben wird mir wohl noch Schwereres zu überwinden geben, Helene,« erwiederte er hastig, als müsse er ihr versichern, daß dieser Entschluß seine Kräfte nicht übersteige.

»Sie haben vielleicht Ihre Ansprüche an dies Glück zu rasch aufgegeben,« sagte sie dagegen.

»Unschlüssigkeit ist eines Mannes unwürdig. Meine Ehre forderte mich zu der Erklärung gegen Henriette auf, ich durfte die Einwendungen meines Herzens nicht beachten.«

»Daß Sie das so kalt sagen können, giebt mir den Beweis eines kühlen Herzens. Hätten Sie Jetty wirklich lieb, so nähmen Sie die Braut auf Ihr Roß und flöhen mit ihr in irgend eine stille Einsamkeit.«

Sie unterbrach ihre ungestüme Rede und senkte plötzlich den Blick vor dem jungen Manne.

»Würden Sie dem Helden Ihrer Herzensphantasie auf diese Weise Ihre Liebe beweisen?« fragte er ruhig.

»Ganz gewiß,« antwortete sie, und schlug blitzschnell ihr Auge wieder auf.

»Henriette würde es nicht thun,« erklärte er rasch und bestimmt, »Adieu, liebe Kleine!«

Dann sprengte er fort. Helene sah ihm ärgerlich nach.

»Liebe Kleine, liebe Kleine?« murmelte sie und ballte die Hände höchst kampfbegierig zusammen. »Dummer Junge!« stieß sie dann hervor, »er nennt mich liebe Kleine, als habe er das Recht, geringschätzig von meinen Geisteskräften zu denken! Es ist gut, es ist sehr gut, daß er nicht wieder in unser Haus kommen will. Aber ich will doch Niemandem meine schmähliche Niederlage erzählen.«

Langsam machte sie sich auf den Rückweg. Sie beeilte sich nicht, den weiten Garten mit seinen vielen Gängen, die theils zwischen Blumenrabatten dahinliefen, zu durchschreiten. Die Sonne war schon vollständig verschwunden, als sie endlich das Wohnhaus betrat.

Henriette schlüpfte im Halbdunkel mit allen Anzeichen von Eile an ihr vorüber.

»Bist du es, Helene?« fragte sie flüsternd. »Geh hinein, dein Großvater ist eben angekommen!«

Helene ließ einen Laut der Ueberraschung hören.

»Still, sei ja recht freundlich und höflich gegen ihn, er ist sehr übler Laune, er hat Unglück gehabt, die Wagenachse ist gebrochen, er hat beinahe drei Meilen zu Fuß machen müssen, er hat geflucht und geschimpft, daß deiner Mutter und mir himmelangst geworden ist.«

»Und dann soll ich das artige und freundliche Kind gegen ihn spielen?« brauste Helene auf.

»Um deiner Mutter willen beschwöre ich dich, Lenchen!« sagte Henriette feierlich.

Helene ließ die Arme schlaff herabfallen.

»Ach, Jetty, mir ist's, als sei mit dem heutigen Tage unsere Glück vernichtet,« sprach sie traurig ergeben.

»Wenn es ohne unsere Schuld vernichtet worden ist, Helene, so müssen wir es als eine Prüfung Gottes annehmen und die trüben Tage ertragen lernen. Nun geh! Halte dich nicht auf, ich muß dem alten gnädigen Herrn ein gutes Abendbrod bereiten.«

Sie eilte in die Küche, Helene holte tief, tief Athem, legte die Hand auf die Brust und trat rasch entschlossen in das Familienzimmer ein.

Ihr Blick fiel auf eine Gruppe am Fenster, die ihr im letzten Tagesschimmer nicht deutlich erkennbar war. Erst nach und nach begriff sie, daß ihre Mutter auf der Erde knieete und einem Manne, der im Lehnstuhle ihres Vaters saß, die Füße mit weißen Tüchern um wickelte. Der Anblick durchbohrte ihr Herz. Ein Weh eigenthümlicher Art machte sie erbeben. Ihre Mutter der Gegenstand der zartesten Aufmerksamkeit und Pflege für's ganze Hauspersonal, zu einer Arbeit erniedrigt, die nur als ein Liebesdienst von ihr gefordert werden durfte.

In demselben Momente, wo sie es dachte, sprach der Mann mit dem Ausdrucke des tiefsten Grolles, obwohl er sich einer feinen, aristokratischen Redeweise bediente:

»Gnädige Frau Tochter sind solcher Dinge nicht gewohnt, aber ich muß daran erinnern, daß ich als Vater verlangen kann, von der gnädigen Frau Tochter selbst bedient zu werden.«

Wie ein Blitz fuhr Helene bis zum Fenster vor und rief keck:

»Wer wagt es, hier im Wederstedter Herrenhause von Diensten zu sprechen, die er von der gnädigen Frau verlangen kann? Wer wagt das? Wage derjenige es noch einmal, wenn er sich –«

»Helene!« rief Frau von Bohlberg im höchsten Schrecken sie unterbrechend. »Helene, es ist mein Vater, es ist dein Großvater!«

Helene stellte sich dicht vor ihn hin, durchbohrte ihn mit ihren Blicken und antwortete:

»Das ist ganz gleich, ob er dein Vater ist, oder nicht, Mama, ich kann dich nicht erniedrigt sehen vor einem Vater, der sich, so lange ich lebe, noch nie um deine Liebe bemüht hat.«

Der Mann im Lehnstuhl, bis dahin nur die beiden sanftmüthigen Frauen des Hauses kennend, war ordentlich zusammengefahren bei der kühnen und zurechtweisenden Anrede Helenens. Er sammelte sich zwar sogleich, allein sein Ton klang merkwürdig verändert, als er antwortete:

»Sieh da, eine angenehme Ueberraschung, das ist also eine Tochter von dir, Helene?« –

»Ich heiße Bertha, lieber Vater,« berichtigte die Dame, »Meine Tochter aber wird nach ihrer Großmutter Helene genannt.«

»Fräulein Enkelin scheint ihren Großvater nicht respectiren zu wollen,« fuhr der Herr sarkastisch fort.

Helene unterdrückte die scharfe Entgegnung, die ihr auf der Zunge schwebte. –

»Verzeihe ihr, lieber Vater,« bat Frau von Bohlberg. »Sie hat sich aus Liebe zu mir übereilt, sie wußte nichts von deiner Ankunft. Helene ist sonst ein gutes Kind.«

»Danke, Mama, für dies Sittenzeugniß,« fiel Helene ein und suchte einen heitern Ton zu erheucheln, während Revolution in ihrem Innern wüthete. »Ich protestire aber gegen dein Lob und erkläre von vorn herein, daß ich des Großvaters Feindin sein werde, wenn er störend in unser Leben und in unsere Rechte einbricht.«

»Hölle und Teufel,« fuhr der alte Herr wüthend auf, hielt aber gleich inne, und lachte hämisch, »hast du mehrere solche Kinder, Frau Tochter?«

Frau von Bohlberg warf einen flehenden Blick zu Helene hinauf, diese Geberde allein genügte, um das junge Mädchen zur Einsicht ihres Unrechts zu bringen und sie willig zum Nachgeben zu machen.

»Gott Lob, Großpapa, Gott Lob, Mama hat nur dies eine hartnäckige und dummdreiste Töchterchen,« sagte sie in voller Heiterkeit, »und ich habe mich thörichterweise von meinem Temperamente hinreißen lassen, mich gleich von meiner unliebenswürdigen Seite zu präsentiren. Laß uns Frieden schließen, ich bitte dir meine Unart demüthig und aufrichtig ab, lieber Großvater, und verspreche dir Besserung. Hier meine Hand darauf.«

Herr von Thurngau schlug unwirsch die Hand Helenen zurück.

»Bleib mir weg, ich mag nichts wissen von dir. Nachdem mir solch Willkommen geboten, gebe ich keinen Pardon! Geh! Aber lieber ist mir's, daß deine Dummheit und deine Arroganz mir zur Einsicht verholfen hat, was ich hier zu erwarten habe. Ist mir lieb! Ist mir sehr lieb, zu wissen, was deine Frau Mama in ihrer scheinheiligen Sanftmuth versteckt gehalten.«

»Großvater, schmähe meine liebe Mutter nicht!« rief Helene warm und kindlich. »Ich bitte dich inständig um Verzeihung, ich bitte dich wahrhaftig aufrichtig um Vergebung, und verspreche, dir deinen Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich zu machen.«

Herr von Thurngau lachte laut auf. Er fiel dabei aus der Rolle eines feinen Edelmanns, die er trotz seines Zornes dennoch bis dahin beibehalten hatte.

»Mein Aufenthalt bei euch, mein Püppchen,« wiederholte er unter immerwährendem Lachen. »Pack nur dein Bündel, Fräulein Enkelin, denn ich werde dir zeigen, wer hier Herr ist!«

In diesem Moment trat Herr von Bohlberg, schon unterrichtet von der Ankunft des unerwünschten Gastes, ein, gefolgt von Henriette, die eine strahlend helle Astrallampe trug. Bohlberg hatte sehr wohl die letzten Worte verstanden, wenn auch nicht im ganzen Zusammenhang, und sie auch begriffen. Klugheit und Wohlwollen schlossen ihm indeß die Lippen, und da er nach Jettchens Berichterstattung auf eine ärmliche Existenz seines Schwiegervaters schließen konnte, so hielt er es für gerathen, diese Worte als einen Anlauf verzweiflungsvoller Eroberungslust zu betrachten.

In diesem Sinne ignorirte er den Ausruf und trat herzlich grüßend dem Fenster näher, wo der Herr Major bequem in seinem Lehnstuhl ruhte.

War es die imponirende Persönlichkeit Bohlbergs, war es das Bewußtsein seiner unrechtmäßigen Ansprüche, genug, der Herr von Thurngau ließ sich herab, aufzustehen und seinen Schwiegersohn mit einem anständigen Kompliment zu begrüßen.

»Willkommen in der Heimath!« sprach Bohlberg herzlich und schüttelte dem alten Herrn die Hand. »Ich habe schon vernommen, daß es Ihnen am Schlusse Ihrer weiten Reise sehr übel ergangen ist, Herr Vater. Sie haben mit Extrapost Schiffbruch erlitten, – ein seltener Fall, absonderlich auf diesen glatten Feldwegen und namentlich im Sommer. War ein warmer Tag, natürlich sind Sie von der ungewohnten Fußtour etwas ermüdet, wird schon vergehen bei guter Pflege! Nun, lassen Sie sich nicht stören! – Bertha, was ist denn das? du knieest und verbindest die wunden Füße deines Papa? O du barmherzige Samariterin, aber ich kann dergleichen Liebesdienste bei deiner Körperkonstitution nicht gestatten und bitte dich hiermit, zu solchen Experimenten deine Leute zu verwenden! Nicht war mein Lieb, du unterwirfst dich meinen Bitten?« schloß er zärtlich, und erwiederte lachend Helenens triumphirenden Blick. »Deines Vaters Anwesenheit in meinem Hause ist mir sehr angenehm, aber sie muß weder unsere Gewohnheiten, noch unsere Bequemlichkeiten stören, dafür wollen wir Sorge tragen.«

Herr Major von Thurngau erwiederte hierauf kein Wort, nur sein Auge sprühete Feuer und Flammen.

Die Gegenwart des Herrn von Bohlberg hatte die Situation wesentlich verändert und verbessert. Der Major (wir behalten die Benennung, um Irrungen zu vermeiden, bei, obwohl Niemand in Wederstedt eine Ahnung von dieser selbstgeschaffenen Rangerhöhung hatte) zeigte sich zwar unwirsch und übel gelaunt, wortkarg und unzufrieden, vermied jedoch schroff aufzutreten, und begnügte sich seinen Herrn Schwiegersohn durch einige Redensarten, wie: davon sprechen wir später, das wird sich ja ausweisen u. s. w. auf das vorzubereiten, was er gegen ihn im Schilde führte. Leider blieben seine versteckten Drohungen ohne allen Eindruck.

Der Abend verging ziemlich friedlich. Frau von Bohlberg, geschützt durch des Gatten Anwesenheit, wurde ruhiger; nur die ängstliche Freundlichkeit, womit sie ihren Vater behandelte, verrieth bisweilen ihre Gemüthsstimmung, sonst wußte sie ihre Beklommenheit ziemlich zu beherrschen. Auch Helene nahm sich zusammen und suchte die Auftritte zwischen sich und dem launenhaften Großvater zu vermeiden. Aber wer sie kannte, merkte den Zwang in ihrem Benehmen und konnte sich der Befürchtung nicht entschlagen, daß ihr feuriges Blut, ihr sprudelnder Geist, gleich einem Vulkan die scheinbare Ruhe abwerfen werde.

Eine gewisse Befangenheit beherrschte die Gemüther Aller. Am wenigsten bedrückt erschien Henriette, deren fügsames Wesen sich den brüsken Anforderungen des unliebenswürdigen Gastes williger unterordnete, als eigentlich gut war.

Sie übernahm es auch, den Major in das für ihn bereitete Zimmer zu führen, als er, müde von seiner Reise, die bekanntlich weit beschwerlicher gewesen war, wie er anzugeben für gut hielt, zu Bett gehen wollte.

Es war eine Erleichterung für Bohlberg, daß er nicht gezwungen war, dem Manne, der es augenscheinlich darauf abgesehen hatte, ihm seine Ruhe zu stören, eine Ruhestätte in seinem Hause anzuweisen. Henriette überhob ihn aller heuchlerischen Redensarten, die der gute Ton von ihm gefordert hätte, indem sie, als verstände sich das von selbst, den Armleuchter ergriff und den Gast bat, ihr zu folgen. Es war aber mehr als eine Erleichterung, es war eine Wohlthat für Frau von Bohlberg, daß Henriette dies Geschäft ohne weitere Erörterungen auf sich nahm. Sie entging dadurch einem gefürchteten Alleinsein mit dem Vater, der es nicht unterlassen haben würde, dasselbe zu aufregenden Scenen zu benutzen.

Henriette hatte nichts zu fürchten vom Major, deshalb erlitt ihre Seelenruhe weniger Schaden. Sie geleitete ihn durch den hintern Corridor, öffnete das früher schon beschriebene letzte Zimmer, und wartete dann in demüthiger Artigkeit, bis er es betreten hatte, bevor sie folgte.

»Hier, gnädiger Herr, werden Sie wohnen, und hier,« sie öffnete die Thür des hübschen, geräumigen Schlafzimmers, das nach dem Hofe lag, »hier werden Sie schlafen.«

Der Major ging langsam vor und betrachtete sich seine Wohnzimmer mit einer gewissen Mißbilligung.

»Man scheint hier Veränderungen vorgenommen zu haben,« sprach er rauh.

»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Henriette mit anscheinender Sorglosigkeit, während ihr Herz zu pochen begann. Sie hatte dies erwarten können, wenn er sonst ein Gedächtniß für seine bösen Thaten haben wollte.

»Wozu wird dies Zimmer jetzt benutzt? Früher habe ich es bewohnt, damals verband eine Thür dies Zimmer mit dem Mittel- und Wohnzimmer, warum ist dies geändert?«

Henriette ließ diese Rede unbeantwortet und beschäftigte sich damit, die Fenster zu schließen.

»Man hat hier gewirthschaftet, als sei man Herr im Hause,« fuhr der Major mürrisch fort. »Ich will ihnen zeigen, wer Herr ist! Dieser naseweise Grünschnabel, dies Fräulein Enkelin mag sich vorsehen.«

»Lernen Sie Fräulein Helene erst kennen, gnädiger Herr,« bat Henriette treuherzig. »Sie ist ein gutes, liebes Kind mit einem festen ehrlichen Gemüthe.«

»Was ehrlich! Was fest! Was gut und lieb! Parken sollen sie alle mit einander, sonst sehe ich die ganze Sippschaft an die Luft! Was sind Sie denn eigentlich für eine Person? Welche Stellung bekleiden Sie im Haushalte? Gehören Sie etwa zur Familie des Hausherrn, der sich anmaßt, Besitzer zu spielen?«

Henriette schüttelte den Kopf und schaute ihn mit ihren sanften, blauen Augen an.

»Erinnern sich der gnädige Herr meiner nicht mehr?« fragte sie. »Ich bin die kleine Jetty, die Pflegetochter der seligen gnädigen Frau von Thurngau.«

»Was? Ich erinnere mich keiner Jetty und keiner Pflegetochter,« fuhr der Major auf.

»Und doch war ich schon damals im Hause, als der gnädige Herr das letzte mal hier waren.«

Der Major runzelte die Stirn und betrachtete sie aufmerksam, ehe er erwiederte:

»Mag sein! Meine Selige hatte die Schrulle, alle Menschen zu bemuttern und zu erziehen, wer sich das nicht gefallen lassen wollte, der war ihr unbequem!«

Er begleitete diese Worte mit einem unangenehmen Lächeln.

»Mir hat die gnädige Frau von Thurngau durch ihre mütterliche Pflege eine große Wohlthat erzeigt. Sie entriß mich dem Elend und einer schlechten Behandlung.«

»Wie alt sind Sie denn?« fragte der Major beiläufig, indem er den Schlüssel im großen Schranke umdrehte und die Thür zu öffnen Miene machte.

»In kurzer Zeit werde ich dreiundzwanzig Jahr,« war Henriettens Antwort.

»Dann können Sie noch wenig wissen von dem, was vor fünfzehn Jahren geschehen,« spottete der Major. »Wozu wird dieser Schrank jetzt benutzt?«

»Porzellan aufzubewahren, zur Hälfte; als Garderobenschrank die andere Hälfte!«

»Da ist dieses Wederstedter Kleinodienarchiv gar sehr degradirt,« wendete der Major ein, und warf einen lauernden Blick auf Henriette. Diese blickte sorglos den Schrank an und lächelte sehr unschuldig. Sie weiß nichts, dachte der Major zufrieden gestellt.

»Wo schläft Bohlberg mit seiner Frau und Tochter,« fragte er abspringend.

»Sonst hier im großen Schlafgemach, heute ist die gnädige Frau oben in's Fremdenzimmer gezogen, um Ihnen dies Quartier einzuräumen, und dem gnädigen Herrn haben wir drüben das Gartenstübchen schnell zurecht gemacht.«

Gegen diese Einrichtung ließ sich nichts einwenden, denn sie zeigte die allergrößte Rücksicht auf des Gastes Bequemlichkeit. Der Major öffnete deshalb ohne Gegenrede den Schrank und betrachtete sich »das Gehäuse,« wie er es murmelnd nannte, das in seiner Leerheit einen gewissen Eindruck auf ihn zu machen schien. Während Henriette sich noch im Zimmer beschäftigte, machte er auch die zweite Thür auf. Hier zeigten sich die Fächer allerdings nicht leer, aber das altertümliche blaue und weiße Tafelservice, welches mit einiger Prätension darin aufgestellt war, erweckte die Idee in ihm, man habe es ihm zum Hohne gethan.

»Verlassen Sie sich darauf, Mamsell,« sprach er erbost und schlug die Thür zu, daß Alles krachte, »in acht Tagen sprechen wir aus einem andern Ton! Mir das – mir das – Hölle und Teufel! Altes Porzellan in dem Wederstedter Silberschrank, Röcke und Hosen in dem Wederstedter Silberschrank und ich soll glauben es sei nur Zufall, ich soll glauben, das Ehepaar Bohlberg sei von meiner Seligen nicht wieder mit Silbergeräthen, wie es sich für eine Adelsfamilie ziemt, ausgestattet? Aber Geduld, Geduld! Ich werde Rache nehmen.«

Henriette legte zitternd die Hand auf seinen Arm und sprach beschwichtigend:

»Gnädiger Herr, Sie verkennen Ihre Tochter und Ihren Schwiegersohn, Sie verkennen die Verhältnisse Hierselbst. Nur durch die sparsame Einrichtung, durch den möglichsten Fleiß ist es Herrn von Bohlberg gelungen, sich in den häufig ungünstigen Erntejahren zu halten.«

»Was reden Sie da von ungünstigen Ernten! Paperlapap! Bin ich nicht selbst zwischen unsern Kornfeldern durchspaziert, daß mir die Halme über den Kopf zusammen schlugen?«

»Ja, ja! in diesem Jahre sind wir auch reich gesegnet und Frau Bertha sieht recht hoffnungsvoll in die Zukunft.«

Der Major lachte hämisch und unterbrach sie:

»Nun dann sagen Sie nur zu meiner Frau Tochter, wir wollten Abrechnung halten und den Ertrag dieses Jahres als Durchschnittssumme nehmen.«

»Wie, gnädiger Herr?« fragte Henriette bestürzt.

»Können Sie nicht hören, Mamsell, oder sind Sie dumm!« fuhr der Major sie an. »Was in diesem Jahre gewonnen wird, soll als Norm gelten und ich stelle danach meine rückständigen Forderungen an das Erbtheil von meiner Seligen. Gleichermaßen gilt dies für die Abfindungssumme in Zukunft, falls mein Herr Schwiegersohn es nicht vorziehen sollte, mir eine beträchtliche Pacht zu bieten nebst unbedingter Gastfreiheit! Verstehen Sie nun, ma belle

»Vollkommen,« antwortete Henriette gefaßt. »Aber ich übernehme diese Botschaft an meine Wohlthäter, die mir Vater, Mutter und Geschwister ersetzen, nicht! Es ist ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, der das ganze Lebensglück dieser theuren Menschen zerstört, und wenn ich Ihre Handlungen auch nicht verhindern kann und will, so muß ich doch meine Mitwirkung bei der Zerstörung eines Lebensglückes versagen, mein gnädiger Herr!«

»Ist mir egal! Ich will schon mein eigener Botschafter sein,« antwortete der alte Herr lachend. »Man sieht, meine Selige hat Sie gut geschult. Wollen Sie es nicht mit mir halten, so können Sie das Vergnügen genießen, mit denen, die Ihnen Vater, Mutter und Geschwister ersetzen, zu arbeiten und schließlich zu betteln.«

»Wie Gott will!« sprach Henriette, mit wahrhaft erhabener Milde die Augen emporschlagend. »Ich gehöre zu denen, die mich ehrten und liebten, als die Welt mich wegen der Schande meiner Herkunft zu schmähen begann und ich werde danach trachten, mich meinen Wohlthätern unentbehrlich zu machen.«

»Exerciren Sie sich nur Ihre Rolle tüchtig ein, damit Sie nicht aus dem Concept fallen,« höhnte der Major. »Wo hat denn meine Selige Sie aufgelesen, um Sie zu Nutz und Frommen der Scheinheiligkeit aufzuziehen?«

»In Magdeburg.« sagte Henriette und ging langsam der Thür zu, um sich zu entfernen.

»Was? Wie ist denn meine Selige nach Magdeburg gekommen? Sie verließ ja ihr Besitzthum nicht einen Tag?«

»Madame Kühne brachte mich hierher, als meine Mutter in Elend und Noth gestorben war und ihr Mann mich grausam behandelte,« sprach Henriette kurz.

»Madame Kühne!« rief der Major stockend. Ein Gemisch von Neugier und Unruhe gab seinem Gesicht einen seltsamen Ausdruck. »Kennen sie Madame Kühne?«

»O ja! Das heißt, ich kannte Sie, denn seit der Zeit, daß ich hier bin, habe ich sie nicht wieder gesehen. Ich habe nach dem Tode meiner Mutter sogar mehrere Monate im Hause der Madame Kühne gelebt. Warum sie mich aufgenommen, ist mir nicht recht klar, da Meister Kühne mich vom ersten Tage an entsetzlich mißhandelte und mir das Stückchen Brod nicht gönnte, das ich von Madame bekam.«

Der Blick des Majors hing unverwandt an dem jungen Mädchen, während es redete. Es war, als studire er die Züge desselben, als wolle er eine Erinnerung in sich wecken, als lüfte sich ein Schleier und zeige ihm Tage aus seiner Vergangenheit.

»Das ist ja eine seltsame Geschichte, Mamsell,« brachte der Major zerstreut hervor. »Und die Trinette, ich wollte sagen, Madame Kühne, nahm Sie mit nach Wederstedt?«

»Ja. Sie reiste mit mir hierher und Frau von Thurngau nahm mich als Pflegetochter an. Ich erhielt Unterricht, als sei ich ihr Kind wie Bertha, und diese behandelte mich, als sei ich ihre Schwester. Nach den entsetzlichen Tagen der Noth erschien mir Wederstedt als Paradies.«

»Wer waren denn Ihre Eltern? Wie hießen Sie? Wie kam Madame Kühne dazu, sich Ihrer anzunehmen?« fragte der Major, noch immer unter der Einwirkung einer seltsamen Ueberraschung.

»Man hat mir angedeutet, daß es besser sei, wenn ich nie danach forsche,« entgegnete Henriette resignirt. »Meinen Vater habe ich nie gesehen. Meine Mutter nährte sich von Sticken und Nähen. Oft hatten wir aber nicht einen Bissen Brod im Hause und dann schickte mich meine Mutter zu Madame Kühne, welche mir auch jedes Mal ein tüchtiges Butter- oder Schmalzbrot schenkte. Meister Kühne durfte das aber nicht sehen.«

»Mamsell, Sie lügen,« fuhr jetzt der Major auf. »Meister Kühne ist ja ein Waschlappen, der sich von Trinetten Alles gefallen ließ!«

Henriette lächelte.

»So lange Madame gegenwärtig war, rührte er sich allerdings niemals. Sah er mich jedoch allein, so stieß er mich mit den Füßen zur Thür hinaus. Meister Kühne ist Bär und Lamm zugleich. So jung ich war, erkannte ich dies dennoch und vermied mit Kinderschlauheit, ihm in den Weg zu kommen. Als aber meine Mutter todt war, hatte ich Niemanden als Madame Kühne, der sich um mich bekümmerte und ich mußte froh sein, daß sie mich in ihr Haus nahm.«

»Das ist eine kuriose Geschichte. Noch finde ich mich nicht hinein, aber –« Er verschluckte diese Worte, welche eine Art Erklärung versprachen. »Wie hieß denn Ihre Mutter?« fragte er plötzlich wieder barsch und rauh.

»Madame Schmidt, antwortete Henriette und faßte nach der Thürklinke.

»Ein schöner, deutscher Name,« lachte der Major verächtlich. »Sie können stolz darauf sein!«

»Frau von Thurngau nannte mich aber sogleich: Henriette von Wederstedt,« setzte Henriette hinzu.

Der Major fuhr zurück und starrte das Mädchen an. Henriette bemerkte es nicht.

»Wünsche wohl zu ruhen, gnädiger Herr,« sagte sie und wendete sich zum Gehen.

»Gute Nacht, Mamsell,« antwortete der alte Herr mechanisch.

Hätte sich das Mädchen nach ihm umgesehen, so würde sie den Wechsel seines Mienenspiels auffallend gefunden haben. Als sie die Thür geschlossen hatte, hörte sie ihn sagen:

»Hölle und Teufel! Und sie hat dies Kind groß gezogen und gut behandelt.«

Henriette seufzte und dachte:

»Wer weiß, ob es nicht gut war, daß ich dem alten Manne in's Gedächtniß zurückgerufen, wie edelmüthig die liebe Frau von Thurngau stets gehandelt.«

Sie ging unverzüglich in's Wohnzimmer zurück, wo sie Bericht von dem erstattete, was zwischen ihr und dem alten Herrn vorgefallen war, so weit es die Interessen des Hauses berührte. Niedergeschlagen hörte Frau Bertha zu. In Helene regte sich die Lust zur Empörung. Herr von Bohlberg hingegen wurde zum thätigen Widerspruch entflammt.

»Das geht nicht so,« sagte er aufstehend, als Henriette endlich mitgetheilt, daß sie ihre Vermittelung in der Regulirungsangelegenheit rundweg abgeschlagen halte. »Das geht nicht! Die Sache muß meinerseits schärfer in Angriff genommen werden, bloß um seine Einschüchterungstaktik zu durchkreuzen. Komm, Bertha, laß uns mitsammen die Papiere durchsehen, die uns von deiner seligen Mama mit großer Feierlichkeit übergeben worden sind. Bis dahin habe ich dieselben als einen Beweis ihrer übergroßen Sorge und Güte betrachtet, vielleicht enthalten sie aber die Schutzmittel gegen diesen Mann, der nichts weniger als väterlich gesinnt scheint.«

»Papa, laß mich mitgehen,« bat Helene und hing sich an seinen Arm.

»Nein! Was wir vorhaben, ist nicht für Kinderaugen gemacht,« meinte Bohlberg.

Trotzig zog sich Helene zurück.

»Meine Kinderaugen würden schärfer sehen, als die von Thränen verdunkelten Augen der lieben Mama,« sprach sie mit kühner Mahnung.

Frau Bertha küßte ihre Tochter.

»Ich werde nicht schwach sein, Lena,« flüsterte sie. »Geh schlafen. Was du heute träumst im ungewohnten Schlafzimmer, das trifft ein – merke dir also deinen Traum!«

Die beiden Gatten verließen das Wohnzimmer und begaben sich in das Mittelzimmer, wo das Bureau stand, in welchem alle wichtigen Papiere und das baare Geld verwahrt wurden.

»Wie gut, daß die Thür zugesetzt ist,« flüsterte sie kaum hörbar, während Bohlberg leise das Schloß öffnete und den Mechanismus löste, der die innere Einrichtung des Bureaus noch verwahrte.

Henriette blieb mit Helenen noch eine Weile sitzen, ehe sie Anstalt traf, die Ruhe zu suchen. Mittlerweile wurde es immer stiller auf dem Hofe und im Dorfe. Die Ruhe der Nacht trat ein. Der Schlummer deckte die innern Regungen der Menschen mit den Augenlidern zugleich zu. Helene kämpfte mit dem Gott des Schlummers. Sie wollte wach bleiben, bis ihre Eltern die Revision der betreffenden Papiere beendet hatten. Es ging nicht. Ihre Augen starrten müde in die Weite, sie hoben und senkten sich von der schwindenden Macht ihrer Willenskraft gelenkt, aber der Augenblick nahte, wo sie sich schließen würden.

Henriette mahnte mitleidig zum Aufbruch, löschte die große Lampe und geleitete unter liebevollen Scherzen das junge Mädchen oben hinauf in das Zimmer, wo es fortan mit ihrer Mutter schlafen sollte.

Helene sah sich schauernd rings um.

»Jetty, mir ist's als laure hier das Unglück!« sagte sie, heimlich flüsternd.

»Das bringt der ungewohnte Aufenthalt jedesmal mit sich,« tröstete diese. »Morgen früh lachst du darüber.«

»Weise Dame,« scherzte Helene. »Gieb mir meine Nachtwäsche, damit Mama sich über ihr Kind freut, wenn sie heraufkommt.«

Henriette nickte.

»Versteht sich, Kleine, bist ja heute unser Gast im Gastzimmer.«

»Sage nicht Kleine,« schalt Helene. »Ich kann's nicht leiden. Junker Edmund erlaubte sich's auch – dieser Knabe, dem der Bart noch nicht einmal vollständig gewachsen ist.«

»Warum sprichst du so bittere Worte, Helene? Was hat Edmund verbrochen?«

»Morgen will ich dir's sagen!«

»Sag's heute. Sag's jetzt.«

Helene schüttelte hartnäckig den Kopf.

»Was meinst du zum Großpapa? Aber ehrlich und ohne Umschweife, Jetty!«

»Er ist noch schlimmer als früher – er scheint verwildert – ich weiß kein passendes Wort für seinen Seelenzustand, wie er sich mir offenbart,« flüsterte Henriette.

»Von fern sah er aus wie ein Menschenquäler und in der Nähe wie ein Mörder,« murmelte Helene halb im Schlafe.

»Um Gottes Willen, was sind das wieder für Ideen, Kleine,« rief Henriette strafend.

Helene warf sich ins Bett und zog die Decke übers Gesicht.

Eine kleine Weile blieb es so. Henriette konnte sich nicht entschließen, das Zimmer zu verlassen, weil sie wußte, daß ein inneres Grauen die Seele ihres Lieblings gefangen hielt. Sie machte sich allerlei zu schaffen, um den Moment abzuwarten, wo die tiefen Athemzüge Helenens verrathen würden, daß sie fest schlafe.

Plötzlich aber richtete sich diese auf, streckte die Arme nach ihr aus und sagte weich:

»Wie engelsgut du bist, Jetty! Denkst du, ich wüßte nicht, weshalb du hier noch kramst?«

Henriette setzte sich auf den Bettrand.

»Meine süße Lena,« flüsterte sie und legte den schönen Kopf des jungen Mädchens sanft in die Kissen zurück. »Wie lieb du aussiehst, wie eine Braut.«

»Warum denn nicht gleich lieber wie eine Großmama!« schmollte Helene, anmuthig erröthend, »was sind das wieder für Ideen, Jetty,« hohnneckte sie die schwesterliche Freundin mit ihren eigenen Worten.

»Man muß erst Braut werden, bevor man Großmama wird.«

»Jawohl. Das erste Stadium zum Glück oder Unglück ist der Brautstand.«

»Weise Dame!« hohnneckte jetzt Henriette. »Gieb mir einen Kuß und schlaf! Ich bleibe hier, bis deine Mutter kommt!«

Helene lächelte kindlich zufrieden. Sie schlief ein.

 

Drunten im Mittelzimmer waltete das Ehepaar Bohlberg noch in unveränderter Geschäftigkeit. Haufen von entfalteten Papieren lagen schon abseits. Unhörbar öffneten beide Gatten ein Packet nach dem andern, scheue Blicke nach der Thür werfend, wohinter ein böser Geist gebannt lag. Nur durch Zeichen verständigten sie sich, wenn etwas Bemerkenswertes sich fand.

Mitternacht war nahe, als Bohlberg noch ein Schubfach entdeckte, das dicht über dem Geldschränkchen angebracht und nur zu öffnen war, wenn man es von hinten vorschob. Ein Papier lag darin, weiter nichts. Kaum hatte Bohlberg einen Blick hineingeworfen, so faltete er seine Hände und reichte es seiner Gattin hin. Zitternd warf sich diese an seine Brust.

»Meine Ahnung! Meine Ahnung!« flüsterte sie. »In meinen Träumen spielte die Erinnerung an dieses Dokument eine Rolle – etwas Gewisses, etwas Sicheres wußte ich nicht.«

»Es soll unser Rettungsanker – es soll die letzte Karte sein, die wir dann ausspielen, wenn die Noth uns dazu zwingt,« murmelte Bohlberg. »Weiß dein Vater von diesem verborgenen Schubfach?«

»Gewiß. Aber ich habe keinen sichern Ort zur Aufbewahrung!«

»Laß uns alle wichtigen Documente, das Testament, die Uebergabe, diesen Schein und noch einige Briefe und Vorladungen zusammen in dies Schubfach legen und es stets unter Obhut behalten. Nun wollen wir Alles wieder ordnen und dann die Ruhe suchen.«

Schnell beseitigten sie beide die entstandene Unordnung, – leise verschlossen sie die Schränke und verließen dann, wie Diebe schleichend, das Gemach, welches sie ebenfalls sorgsam verschlossen. Erst im Wohnzimmer wagten sie ein leises Gespräch zu beginnen. Mit einem tiefen, erleichternden Athemzuge umschlang Frau Bertha ihren Gatten.

»Gott Lob, die Klugheit unserer Mutter rettet uns vor Armuth und Elend, Oswald. Wer hätte an Alles das gedacht! Wer hätte mit solcher Umsicht Alles vorher bestimmt, wie diese Mutter es gethan!«

»Ihre bittern Erfahrungen sind die Wegweiser ihrer Handlungen gewesen,« meinte Herr von Bohlberg. »Also der Oberamtmann Hedemann und der Drost von Werder auf Werderswarte sind Zeugen seiner Verzichtleistung gewesen. Sie müssen sonach eingeweiht sein in die Vorfälle, auf die sich das Verfahren deiner Mutter gründet. Ist dir dies damals unbekannt geblieben?«

»Nicht ganz, Oswald, nicht ganz! Ich erinnere mich der Konferenzen dieser Herren und weiß, daß Henriette, die man unbeachtet gelassen, mir damals zugeflüstert hatte: Dein Vater darf nicht wiederkommen! Später suchten wir eines Tages den Oberamtmann Hedemann auszuforschen, allein was wir dadurch erfuhren, reichte nicht aus, mein Urtheil über diese Angelegenheit festzustellen.«

»Warum deine Mutter, die mir so unbedingtes Vertrauen geschenkt, die mir ihr einziges Kind, ihr ganzes Hab und Gut anvertraut hat, mir diese leidige Geschichte verhehlt haben mag?«

»Sie hielt es für abgemacht auf ewig, lieber Oswald, und wollte das Andenken des Mannes schonen, den ich Vater nennen muß. Hedemann und Werder sind Ehrenmänner, die ein vertrautes Wort heilig halten – meine Mutter hat sicherlich im Einverständniß mit diesen beiden bewährten Freunden gehandelt.«

»Die aufgefundene Verzichtsurkunde giebt mir ein Recht, diese Herren nach dem Thatbestande zu befragen, und ich werde dann der Wahrheit auf die Spur kommen. Im Nothfalle kann mir die Hülfe derselben nicht fehlen, aber ich hoffe noch immer, daß es Herr von Thurngau nicht zu öffentlichen Deklarationen wird kommen lassen. Schlage ich seinen ersten Angriff sicher ab, so wird er sich zurückziehen, und an unsere Güte appelliren. Was da geschehen kann, soll und muß geleistet werden. Rechnen wir auch immerhin auf ein paar tausend Thaler, es ist zu beschaffen, mein Lieb.«

Frau Bertha schmiegte sich fester an seine Brust.

»Du bist so gut, ich überlasse dir mit Zuversicht die Regulirung der Sache.«

 

Daß trotz der wiedergewonnenen Sicherheit beide Gatten in dieser Nacht wenig schliefen, ist nicht zu verwundern. Frau von Bohlberg empfand es als ein Glück, in ihren Rechten gesichert zu sein; allein die Furcht vor der Zukunft verlor sich damit nicht; ebenso erging es dem Hausherrn. Seine Geisteskraft war wohl im Stande, ihn den unverständigen Ansprüchen seines Schwiegervaters gegenüber muthig zu erhalten, nur bemächtigte sich seiner eine gewisse Besorgniß, wenn er an die Aufregungen dachte, denen seine arme, kleine Frau bei seinen öfteren Abwesenheiten ausgesetzt war. Er liebte seine Gattin noch mit der frischen zärtlichen Liebe eines jungen Ehemannes. Obwohl schon fünfzehn Jahre verheirathet, kannte er kein innigeres Behagen, als im Familienzimmer neben seiner Gattin zu weilen, und gerade die Zartheit, die Hülfsbedürftigkeit ihres ganzen Wesens, wob das Band, welches sie vereinte, mit jedem Tage fester und unauflöslicher. Er hatte Niemand auf der weiten Welt, der ihm so lieb war, wie seine Gattin, und sie hatte Niemand, der ihr lieber war. Seine Gedanken weilten bei ihr, wenn er durch seine Geschäfte von ihr entfernt gehalten wurde, und sie ersehnte im Stillen den Augenblick, wo er wieder im Hause sein werde. Den Mittelpunkt ihrer Sorgen und Freuden bildete Helene, ihr einziges Kind, und die Eigenthümlichkeit dieses Mädchens gab ihrem stillen Leben Glanz und Bedeutung.

In diesem Familienkreise mußte freilich eine so diabolische Erscheinung, wie der Herr von Thurngau, als ein Giftgewächs erscheinen, das schon durch seine Nähe die reine Atmosphäre zu vernichten im Stande ist, worin Seelenadel, Unschuld und Friede gedeiht. Der Wunsch, diesen Mann wieder aus den Räumen seines Hauses verschwinden zu sehen, ist leicht erklärlich, und man kann, selbst mit Rücksicht auf die strengsten Pietätspflichten, dem Hausherrn nicht verdenken, wenn er noch vor dem Einschlafen den Gedanken aussprach, »daß er den Tag segnen werde, wo er ihn auf immer scheiden sehe.«

Was mochte während dessen in dem Innern des Herrn Majors vorgehen?

In seiner Seele wälzten sich Entschlüsse, die noch erst der Ueberlegung bedurften, und es ist anzunehmen, daß er Alles aufbieten würde, sich wieder in den Besitz eines Gutes zu setzen, welches er durch seine Vergehungen verwirkt hatte. Dazu war besonders nöthig ein Papier zu vernichten, dessen gerichtliche Kraft er anerkannt wußte. Alle anderen Schritte, vom Kaufkontrakt, Ehepact und Verschreibungsdocumente an, bis zum Testamente konnte er nichtig machen, indem er lebend seine Ansprüche erhob, während man ihn als todt betrachtete.

Der Major hatte sich gründlich informirt, bevor er sein letztes Heil in dieser beschwerlichen armseligen Reise versuchte. Alles nichtig, Alles umgestoßen, Alles zertreten, was seine kluge Frau aufgebaut und gegen ihn verklausulirt hatte! Er lachte fast laut, als er mitten in der Nacht erwachte und sich mit Behaglichkeit in seinem eigenen Hause, und in seinem erb- und eigenthümlichen Bette wiederfand. Nur seine Verzichtleistung auf Alles, was seiner Gemahlin gehörte, nur seine unumstößliche Verzichtleistung gegen eine ganz erkleckliche Summe baaren Geldes, in Gegenwart unbescholtener Zeugen gerichtlich aufgenommen und von ihm eigenhändig unterschrieben, nur diese Verzichtleistung mußte aus dem Wege geräumt werden, dann stand ihm Alles frei.

Er schlief ruhig wieder ein, denn er traute sich Verwegenheit, Schlauheit und Scharfsinn genug zu, um das nöthige Werk zu vollbringen, falls seine »gnädige Frau Tochter« nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte.

Der Morgen dämmerte schon herauf, als er sich nochmals recht behaglich in die Kissen zurecht rückte.

Er hatte sein Ziel erreicht und konnte füglicherweise behaupten, jetzt schon auf seinen Lorbeeren zu ruhen. Darauf schlief er dann bis in den hellen Tag und kam erst, mit frischen, bedeutenden Vorsätzen ins Familienzimmer, als Herr von Bohlberg, vom Felde kommend, sich daran machte, sein zweites Frühstück zu verzehren.

»Bon jour, mes enfants,« rief er wohlwollend ins Zimmer hinein. »Das nenne ich die Zeit verschlafen. Ihr haltet gewiß den alten Großpapa für eine Schlafmütze!«

Das Erstaunen, womit diese unerwartete Begrüßung aufgenommen wurde, zu beschreiben, ist kaum möglich. So viel mag bemerkt werden, daß kaum eine Spur von Freude sich bei irgend Jemand regte. Vielmehr glich das Gefühl, welches sich Aller bemächtigte, einem Schrecken, demjenigen ähnlich, der uns plötzlich angesichts eines Naturereignisses erfaßt, wo wir fürchten, daß uns Gefahr droht. Indeß waren sie alle gefaßt genug, um den Formen der Höflichkeit ausreichend zu genügen, und dadurch ihre eigentliche Herzensmeinung zu verbergen.

»Haben Sie gut geschlafen, Herr Vater?« fragte Bohlberg treuherzig.

»Vortrefflich, vom Abend bis zum lichten Morgen,« war des Majors Antwort. »Es ist doch etwas Schönes um eine Heimath, um ein gemüthliches Daheim! Es thut mir jetzt leid, dies durch eigene Schuld so lange entbehrt zu haben. Nun, mein Püppchen,« wendete er sich zierlich lachend an Helene, die ihn mit ihren Blicken durchbohren zu wollen schien. »Du kannst wohl dem Großpapa seine gestrige böse Laune noch nicht verzeihen? Ja, Kind, alte Männer sind doch nicht mehr so ritterlich gesinnt, daß sie ihren Verdruß vor jungen Damen verstecken. Heute habe ich meinen Aerger über alles Ungemach verschlafen, heute bin ich aufgelegt, mit der trotzigen Enkelin Frieden zu stiften. Topp, schlag ein, auf gute Kameradschaft, auf ewigen Frieden, auf ewige Freundschaft! Nun, heute hast du, wie mir scheint, keine gute Laune?«

»O ja, Großvater,« entgegnete Helene, freimüthig in sein Gesicht schauend, das wie lauter Sonnenschein glänzte, »ich leide nicht an Launenhaftigkeit. Aber, ehrlich gesagt, ich traue dem ewigen Frieden und der ewigen Freundschaft noch nicht, und will mein Wort nicht eher verpfänden, bis ich meiner Sache sicher bin.«

»Denken Sie auch so, liebes Jettchen?« fragte der alte Herr in auffallend weichem Tone, indem er Henrietten die Hand reichte.

Das junge Mädchen ergriff diese Hand hastig und wollte sie in einer Aufwallung von Gefühl küssen. Sie ließ sich wirklich von dem veränderten Wesen des Majors gefangen nehmen und hielt es für ein Resultat ihrer Unterhaltung mit ihm.

»Lernen Sie Ihre Enkelin nur kennen,« sprach sie, wie in jener Unterhaltung, »dann werden Sie das Ihnen verpfändete Wort erst zu schätzen wissen.«

Herr von Bohlberg hatte während dessen überlegt, ob bei so veränderten Umständen sein Vorsatz, die Sache in's Reine zu bringen, wohl ausführbar sei. Seine Meinung schwankte. Sollte er das Betragen seines Schwiegervaters blos für eine neue Taktik nehmen? Was verschlug es ihm denn, wenn er weder heute noch morgen das mittheilte, was diese Angriffskünste vollständig unnöthig machte! Er ließ seine Augen fragend auf seine Gattin gleiten, sie lächelte beruhigt und friedlich.

Des Majors Zweck war somit erreicht. Er hatte die Furcht seiner Tochter beschwichtigt, das Mißtrauen seines Schwiegersohnes eingeschläfert, Henriette für sich gewonnen, und Helene? Darüber war er nicht ganz mit sich im Klaren. Helene war zu jung, als daß er ihr so viel Verstand zutrauen konnte, wie sie wirklich besaß. Helene hatte viel zu wenig Lebenserfahrung, als daß sie ihm, den durch Wasser und Feuer gehärteten, gestählten und polirten Weltmann, gefährlich zu werden vermochte. Nein! nein! es war eitel Laune, pure Kinder-Ungezogenheit, womit sie ihm zu vergelten strebte, was er gethan.

Durch diese Meinung suchte er sich zu beruhigen, als ihm Helenens Blicke ungemein deutlich zu verstehen gaben, daß sie eine wirkliche Sinnesveränderung bezweifle, seinen Versicherungen in Rücksicht darauf keinen Glauben schenke, sondern Alles für eine Komödie halte, die einen ernsten Zweck verbergen solle.

Trotz ihrer feindseligen Anschauungen erfüllte die junge Dame jedoch alle Pflichten, die ihr, als Tochter des Hauses, oblagen, versorgte den Großvater mit Frühstück und amüsirte sich über den gesegneten Appetit, womit er Unmassen von Wurst, Eiern, Brod, Butter und Käse vertilgte.

Herr von Bohlberg schien die kindliche Freude über des alten Herrn guten Magen nicht zu theilen. Mit seltsamer Spannung beobachtete er die Hurtigkeit, womit sein Schwiegervater einen gewaltigen Hunger zu stillen suchte. Er mochte als guter und sparsamer Landwirth wohl unverzüglich begreifen, daß ein solcher Gast manchen Ochsen, manchen Hammel, manches Schwein und manches Kalb kosten würde. In Folge dieser Erkenntniß bemächtigte sich seiner ein gewisser Kleinmuth; er begann zu fürchten, daß seine Pietät auf eine harte Probe gesetzt werden könne, wenn sich aus dem zeitweiligen Gaste ein permanenter Hausgenosse entwickeln sollte. Bescheidenheit schien nicht zu den Tugenden des Herrn Schwiegervaters zu gehören, das bewies er schon jetzt, indem er sich mit der liebenswürdigsten Unverschämtheit noch ein Eiback von einem Dutzend Eier bestellte und dabei bemerkte, er werde zu seiner früheren Gewohnheit zurückkehren und alle Morgen ein halb Schock Spiegeleier zum Frühstück nehmen.

Helene brach in ein muthwilliges Gelächter aus.

»Großpapa ist ein zweiter Münchhausen,« flüsterte sie Henriette zu. »Er liebt die Aufschneidereien, wer könnte wohl ein halb Schock Eier essen, ohne daran zu sterben!«

»Fräulein Enkelin belieben mich auszulachen wegen meines Appetites,« sagte Herr von Thurngau im gemüthlichsten Tone. »Lache nicht, Kleine! Ich bin berühmt wegen meiner Eßkunst und habe schon manche Wette dadurch gewonnen.«

»Da mag sich Gott meiner Ställe erbarmen und mich mit Jungvieh segnen!« rief Herr von Bohlberg mit komischem Eifer. »Sie essen wohl zur Uebung, um Wetten gewinnen zu können? Nun, ein Hammel täglich steht ihnen zu Dienst, wenn Sie ihn vertilgen wollen.«

»Mit Vergnügen« scherzte Herr von Thurngau, auf den Vorschlag eingehend. »Geben Sie mir täglich einen Hammel oder das Geld dafür, so lasse ich meine Ansprüche an Wederstedt fallen, Sohn.«

»Diese Angabe möchte schwerlich mit Ihren Ansprüchen an Wederstedt in Einklang zu bringen sein,« meinte Bohlberg lachend.

»Wissen Sie das gewiß, Herr Sohn?« warf Herr von Thurngau mit einem liebenswürdigen Lächeln ein.

»Hoffentlich ja,« erwiederte der Hausherr friedlich, aber bedeutsam.

»Halten Sie sich um's Himmels willen nicht für sicher!« rief der Major mit lustigem Tone. »Ich habe die Absicht, Ihre Rechte zu bestreiten!«

»Thun Sie das, es wird Ihnen nichts helfen!« antwortete Bohlberg in demselben Tone.

»O ich habe Ausdauer! Rom ist ja nicht in einem Tage erbaut,« sagte der Major mit Pathos.

»Und Karthago nicht in einem Tage zerstört,« war Bohlbergs prompte Antwort.

Der Major lachte herzlich.

»Bravo, Herr Sohn! Sie sind mir gewachsen, das freut mich! Wenn der Gegner ebenbürtig an Geist und Körper ist, wird der Kampf zur Lust!«

»Dies Vergnügen kenne ich noch nicht,« erwiederte Bohlberg, abermals bedeutsam, »aber so wenig ich Kämpfe liebe, für meinen Muth, für meine Entschlossenheit und für meine Rücksichtslosigkeit stehe ich ein. Mein Gegner wird sich also stets zu wahren haben!«

»So ist's Recht! Feigheit ist verächtlicher als Verbrechen und Laster, und ich für meinen Theil würde mich stets lieber niederhauen und vernichten, als schonen lassen!« rief der Major mit einem feurig wilden Blicke.

»Ob's Ernst ist, Großpapa,« sprach Helene dazwischen.

»Stelle mich auf die Probe, Kleine! wenn das Feuer erst brennt, kann man seine Zerstörungskraft nicht mehr zügeln.«

Helene warf, plötzlich zu einem neuen Ideengange überspringend, ihre Blicke auf ihre Mutter, die still und freundlich dem scherzhaften Streite der beiden Herren gelauscht hatte.

»Mama, weißt du, wovon mir die Nacht geträumt hat?« fragte sie hastig.

»Nun?« forschte diese, gleichgültig vom Nähzeuge aufschauend.

»Von Feuer, es brannte ein Haus.«

»Brannte es hell oder qualmte das Feuer?«

»O es brannte hell, lichterloh, hoch auf, als wolle es bis zu dem Himmel reichen.«

»Dann bedeutet es Glück!« rief Henriette jubelnd.

»Aber ich weinte dabei, Jetty, ich suchte dich und weinte,« fiel Helene wehmüthig ein.

»Tröste dich nur! liebe Lena, tröste dich nur! Wenn du Glück hast, werde ich schon kommen und mich mit dir freuen,« entgegnete Henriette liebkosend.

»Was hast du geträumt, Großpapa?« fragte Helene den Major, der theilnahmlos zugehört hatte und jedenfalls mit andern Gedanken beschäftigt war.

»Ich? Was ich geträumt habe in der ersten Nacht meiner Heimkehr?« wiederholte er langsam, sinnend oder auch überlegend. »Ja jetzt erinnere ich mich. Ich saß im Traume vor dem alten Familienbüreau und durchlas meine Briefe an deine selige Großmama.«

Alle Anwesenden richteten überrascht ihre Blicke auf ihn.

»Hast du denn jemals Briefe an Großmama geschrieben?« fragte Helene, ihrem Erstaunen naive Worte gebend.

»Ei freilich!« antwortete der Herr feierlich.

»Und doch hielt man dich für todt? und doch erfuhr ich niemals, daß Großmamas Eheherr noch am Leben sei?« fuhr Helene fort.

»Es war ein Abkommen zwischen der Seligen und mir, daß wir für dies Leben getrennt bleiben wollten. Hat deine Mutter dir niemals den geheimen Beweggrund unserer Uebereinkunft enthüllt, meine Tochter?« wendete er sich vollkommen ruhig und bewußtvoll an Frau von Bohlberg.

Diese erröthete und sagte, verlegen und schüchtern den Blick senkend:

»Nein! Niemals hat meine Mutter auch nur eine Andeutung gewagt, sie besaß ein viel zu großes Tactgefühl, um dergleichen zu thun.«

»Ihre Ehre erforderte ein unverbrüchliches Schweigen,« fügte der Major großartig hinzu und ließ seinen Blick sehr bedeutungsvoll nach Henrietten hinüber schweifen.

Niemand verstand diesen Blick. Niemand beachtete ihn und legte ihm die Bedeutung unter, die er ausdrücken sollte. Herr von Bohlberg erhob sich, um dies Gespräch zu enden, das ihm einiges Unbehagen verursachte. Ueberhaupt kein Freund von Geheimnißkrämerei, dabei eine gerade, stolze und offene Natur, die nicht Freundlichkeit heucheln kann, während gehässige Empfindungen im Innern wach werden, lag ihm daran, alles Ueble in das Reich der Vergessenheit zu schleudern und auf neuem Grund und Boden ein Verhältniß zwischen den Familiengliedern zu stiften, das bei einiger Vorsicht befriedigende Resultate brächte.

Indem er die ersten Schritte zu einem geheimnißvollen Anlaufe durchkreuzte, glaubte er dem Herrn Schwiegervater deutlich zu beweisen, daß er keine Lust habe, sich Mährchen erzählen zu lassen, deshalb erhob er sich und sagte äußerst artig und bestimmt:

»Was geschehen ist, das mag ruhen! Was geschehen soll, das wollen wir mit ruhiger Ueberlegung beschließen.«

»Dazu würde es jedoch nöthig sein, daß ich, wie das schon in meinem Traume geschah, die Papiere, meine Briefe und einige sehr wichtige Dokumente ausgeliefert erhielte, wozu ich mir die Schlüssel des fraglichen Familienbüreaus erbitte,« sagte der Major mit gleicher Artigkeit und Bestimmtheit.

Herr von Bohlberg sah ihm freimüthig ins unstäte Auge.

»Es thut mir sehr leid, Ihrem Wunsche nicht willfahren zu können, Herr Vater. Seit dem Tode meiner Schwiegermutter ist dieser Schrank in meinen Besitz übergegangen; er enthält meine Papiere, meine Documente, meine Briefe und mein Vermögen. Sie kennen die Konstruktion dieses vortrefflichen Schrankes und wissen, daß es keinen sicherern Verwahrungsort für wichtige Dinge geben kann. Meinem Prinzip zufolge gebe ich den Schlüssel dazu niemals in andere Hände und Sie werden sich an meiner Versicherung auf Ehrenwort genügen lassen müssen, wenn ich Ihnen sage, daß sich nichts in dem Büreau befindet, was Ihnen ein Recht zur Durchsicht desselben gäbe.«

»Davon müßte ich mich erst selber überzeugen, um es zu glauben,« antwortete der Major mit einer Geberde heiteren Erstaunens. »Ich kann mir nicht denken daß meine selige Frau alle Briefe von mir vernichtet hat und es ist, in Rücksicht auf mancherlei ›Verhältnisse‹,« er betonte das Wort und sah dabei so auffallend nach Henrietten hin, daß Bohlberg innerlich zusammenschrak, »sehr wünschenswerth, nach diesen Briefen zu forschen, die Aufklärungen aller Art enthalten. Sie, mein Herr Sohn, kennen die Konstruktion dieses vortrefflichen Schrankes noch lange nicht genug, um all die geheimen Behältnisse auf doppelten Boden und eingeschobenen Kasten zu finden, wo die Briefe von meiner seligen Frau aufbewahrt sein werden, die Bezug auf unsere gefährlichen Geheimnisse haben. Ich bin allein eingeweiht in die Konstruktion dieses Schrankes und ich verpfändete der Verklärten mein Ehrenwort, nach ihrem Tode heilige Verpflichtungen zu übernehmen und mit Discretion Verhältnisse zu ordnen, die ihr sonst so edles Leben umdüsterten.«

Wiederum flog sein Blick bezeichnend über Henriette hinweg, die ahnungslos an ihrer bunten Stickerei saß.

In Bohlbergs Brust wogten Zweifel auf, die ihn schmerzten. Er horchte unter erwachender Befürchtung mit gesteigerter Spannung auf die Andeutungen, die ihm ein Verhältniß erklärten, das er von einem falschen Standpunkte betrachtet hatte. Henriette galt als Pflegetochter seiner verstorbenen Schwiegermutter; schnell berechnete er, daß dieselbe unmittelbar nach der ersten Trennung des Thurngau'schen Ehepaares geboren sein müsse. O es ist bitter für ein edles Männerherz, Glorien von Frauen fallen sehen zu müssen, die ihnen durch Sympathie heilig gesprochen waren.

Das Antlitz Bohlbergs verrieth was er dachte und ein Strahl des Frohlockens brach aus den Augen des Majors, als er erkannte, daß der Argwohn das Andenken an eine gütige, seelenreine Frau vergiftete. Wo der Zweifel zu nisten beginnt, da schmilzt die Verehrung, und wenn die Lüge Eingang gefunden, so führt die Neugier eher eine Anknüpfung herbei. Es muß Alles versucht werden, um in sichere Geleise zu kommen.

»Darüber würde ich dem Herrn Sohn sogleich Beweise liefern können, wenn mir die Schlüssel zum Bureau eingehändigt werden,« setzte der Major sorglos hinzu, während er mit dem Ausdrucke des Verständnisses Bohlbergs Blick suchte.

Bohlberg blickte düster und schwieg.

Der Major warf eine augenblickliche Verstimmung aus seiner Seele und sagte heiter:

»Wir wollen sehen, wer besser Bescheid im Bureau weiß, Herr Sohn, aber die Sache eilt nicht. Was lange Jahre geruht hat mag warten, bis eine günstige Stunde Aufklärungen herbeiführt.«

»Müssen wir nicht die Denkungsart einer Mutter respektiren? Dürfen wir jetzt Verhältnisse entschleiern, die du, mein lieber Vater, selbst als gefährliche Geheimnisse bezeichnest?« wagte Frau von Bohlberg einzuschalten.

»Wir fünf Menschen, die wir hier beisammen sind, gehören zu diesem Geheimniß und werden es zu bewahren wissen,« erwiederte der Major leichthin. »Deine Mutter hatte allerdings Gründe, darüber zu schweigen, diese Gründe fallen jetzt fort.«

Ein bedenkliches Schweigen folgte diesen Worten. Vielleicht war Bohlberg der einzige, der sich von den verdächtigenden Aeußerungen des Majors zu falschen Muthmaßungen verleiten ließ. Sein Töchterchen mindestens bewies ihr felsenfestes Vertrauen auf die wackere Großmama durch den sarkastischen Ausruf:

»Wenn Großmama Geheimnisse bewahrt hat, liebe Mutter, so hat sie es ganz gewiß weniger ihretwegen als Anderer wegen gethan. Ihr Leben mag schwer genug gewesen sein, aber sie hat Niemandem geklagt, wovon es so getrübt wurde. Ich glaube nicht, daß sie nun schließlich noch schriftliche Beweise ihres Unglückes aufbewahrt hat, so thöricht kann ich mir meine kluge Großmama nicht denken.«

Herr von Bohlberg athmete erleichtert auf.

»Hast Recht, mein Töchterchen.« neckte er die kluge, junge Dame, die mit ihrer Weisheit nie Haus zu halten verstand. »Aber wir wollen dennoch eines Tages nach ihren Briefen Nachsuchung halten, Herr Vater.«

 

Damit war der Major mit seinen schlauen Plänen ab- und zur Ruhe verwiesen. Er tröstete sich mit der Gewißheit, das Rom gebaut und Carthago zerstört worden sei, wenn auch nicht in einem Tage. Seine Liebenswürdigkeit erlitt dadurch keine Veränderung. Er behielt gute Laune, trat mit allen seinen Prätensionen bescheiden auf und ließ mehrere Tage verfließen, bevor er dem Zwecke seiner Anwesenheit näher zu treten versuchte.

Endlich aber drängte ihn Herr von Bohlberg selber zu einer Entscheidung, indem er Besorgnisse laut werden ließ, daß sein Koffer noch immer nicht angelangt sei.

»Reisen Sie nach Magdeburg, Herr Vater, auch Postillone können unzuverlässige Leute sein, und wenn der Mann, der Sie auf glattem Wege umgeworfen, Ihre Adresse verloren hat, so sind Sie Ihres Eigenthums quitt. Sehen Sie sich nach Ihrer Garderobe um, ehe es zu spät wird!«

»Sie haben Recht, Herr Sohn,« entgegnete der Major bedenklicher, als er zu sein nöthig hatte, da er am besten wußte, daß er weder einen Koffer mit Kleidungsstücken besessen hatte, noch durch einen Postillon auf dem Wege nach Wederstedt umgeworfen war. »Sie haben sehr Recht, wenn Sie bei der befremdlichen Verzögerung einem Verdachte Raum geben. Die Welt liegt im Argen. Meine Sorglosigkeit könnte mir einen großen Verlust bereiten, da meine ganze Baarschaft im Koffer liegt.«

Bohlberg ließ einen Ausruf tadelnden Erstaunens hören. Seine Gattin blickte ängstlich von ihrer Arbeit auf und prüfte das Mienenspiel ihres Vaters. Helene hielt Henrietten, die eben aufstand, um das Zimmer zu verlassen, schäkernd am Kleide fest und flüsterte ihr zu:

»Bleib hier, Jetty. Jetzt beginnt der zweite Akt des Trauerspiels, betitelt: Die Heimkehr nach Wederstedt!«

»Warum Trauerspiel,« erwiederte Henriette in derselben Weise, »wenn es mit deiner Hochzeit endet, so ist's ja mehr ein Lust-, als Trauerspiel!«

Helene wollte etwas erwiedern, was jedenfalls mehr dem Charakter eines Lustspieles entsprach, aber ihre Aufmerksamkeit wurde von der Entgegnung ihres Großvaters in Anspruch genommen. Der Major glaubte hinlänglich festen Fuß gefaßt zu haben, um seine Rechtsansichten entfalten zu können, ohne das freundliche Familienverhältniß zu gefährden, daß er für den Augenblick aufrecht halten mußte.

»Wenn ich aber nach Magdeburg reisen soll, Herr Sohn, so möchte ich vorher eine kleine Auseinandersetzung unserer Verhältnisse, den Besitz und das Einkommen von Wederstedt betreffend, nöthig finden, damit ich meine Einrichtungen darnach treffen könnte,« sagte der alte Herr wohlwollend und würdig zugleich.

»Das ist leicht gemacht, Herr Vater,« antwortete der Hausherr artig und sehr bestimmt.

»Sollte es wohl?« warf der Major gütig ein. »Es sind wohl mancherlei Erörterungen damit verknüpft, die Ihnen beweisen werden, das nicht Sie, sondern ich der Herr auf Wederstedt bin.«

»Ich habe Wederstedt gekauft, Herr Vater!« sagte Bohlberg, frei in sein Auge schauend.

»Gekauft?« wiederholte der Major, ein klein wenig überrascht, denn auf diesen Einwand war er nicht vorbereitet. Er faßte sich aber sogleich. »Durfte meine liebe, selige Frau das Gut verkaufen, ohne mein Wissen? Soviel ich vom Landesgesetz verstehe, kann eine Frau bei Lebenszeiten ihres Mannes über nichts bestimmen, was ihm mit gehört. Wenn meine Frau im guten Glauben, Wederstedt gehöre ihr erb- und eigenthümlich, gedacht hat, sie könne nun auch damit machen, was sie wolle, so befand sie sich in einem Irrthum, und dieser Irrthum macht Ihren Kauf nichtig, das heißt: er hebt alle Rechte auf, die Sie zu haben meinen.«

»Ich glaube nicht, Herr Vater,« unterbrach ihn Bohlberg ganz seelenruhig. »Verlassen Sie sich auf meine Worte – so ist's! Aber,« fügte er mit der Miene der Großmuth hinzu, »aber besorgen Sie nichts von mir, fürchten Sie keine feindselige Absichten – nur mein Recht an Wederstedt wollte ich Ihnen auf dem kürzesten Wege darthun, um dann in Unterhandlungen mit Ihnen zu treten.«

»Ihr Recht bestreite ich,« war Bohlbergs Antwort, »ich bin aber bereit, solide Wünsche zu erfüllen, im Falle sie nicht meine Kräfte übersteigen. Doch würde ich bitten, dazu eine Unterredung unter vier Augen anzuberaumen.«

»Warum?« fragte der Major gütig lächelnd und blickte mit herzlichem Vertrauen im Kreise rund um, den drei Damen, die sich im Zimmer befanden, freundlich zunickend.

»Weil geschäftliche Diskussionen nicht für Frauen und Kinder passen,« sprach Bohlberg einfach.

»Ich wünsche aber Zeugen bei unsern Unterhandlungen zu haben, die meiner Gattin die Beruhigung geben können, daß ich so gehandelt, wie es ihr edles, uneigennütziges Herz gewünscht hat,« entgegnete der alte Herr, jedes Wort bedeutungsvoll betonend.

»Ihrer Gattin?« wiederholte Bohlberg, im Zweifel ob er recht gehört habe, und auf den Gesichtern der Damen prägte sich die Ueberraschung, nach der Eigenthümlichkeit einer jeden, sehr bemerklich aus. Helenens Auge strahlte in vollem Triumphe, es verkündete ohne Worte, daß sie den zweiten Akt dieses Schauspieles höchst ergötzlich finde und von der großartigen Entdeckung entzückt sei.

Ganz ihren Empfindungen entgegengesetzt, zeigte der Ausdruck im Antlitze ihrer Mutter ein stilles, starres Entsetzen, eine Furcht vor der weiteren Aufklärung dieser ehelichen Verbindung. Henriette hingegen fand eine Beruhigung in dem Gedanken, Herrn von Thurngau unter dem Einflusse einer braven Gattin zu wissen.

»Ja, meine Lieben,« erklärte der Major, von Freude und Begeisterung scheinbar durchglüht, »ja, ein edles liebenswürdiges Wesen, die Gräfin Lutka Wonska, hat mir seit vorigem Herbst ihr Herz und ihre Hand geschenkt.«

»Das muß ein kurioses, edles und liebenswürdiges Wesen sein!« brach Helene voll Uebermuth heraus. »Es sollte mich wundern, wenn diese Gräfin Lutka nicht bucklig, rothhaarig und zahnlos wäre.«

»Du irrst in deinem Muthwillen,« entgegnete der alte Herr in würdiger Ruhe, »meine zweite Gemahlin ist kaum so alt, wie deine Mutter und bildschön und klug.«

»Aufrichtig gestanden, Großpapa, dann begreife ich sie nicht und erkläre sie für wahnsinnig!« rief Helene in toller Laune. In ihren Augen war ein Mann von sechzig Jahren ein ungeheuer alter und häßlicher Mann, keiner jungen Frau werth.

Der Major lächelte mitleidig.

»Meine Gattin würde dich dafür halten, hörte sie so eine unpassende Erklärung aus dem Munde eines Kindes,« sagte er. »Kommen wir indeß auf die Hauptsache unseres Gespräches zurück. Meine Lutka wünscht hier in Wederstedt zu residiren.«

»Das geht nicht,« unterbrach ihn der Hausherr. »Für zwei Familien bietet das Haus nicht Raum genug.«

»Es käme nun freilich darauf an, festzustellen, wer den Platz hier behaupten könne,« warf der Major friedlichen Tones ein. »Schlimmsten Falls müßte angebaut oder ein Stockwerk aufgesetzt werden.«

»Dazu habe ich kein Geld,« erklärte Bohlberg einfach.

»Meine Lutka würde vielleicht nicht abgeneigt sein, die Wirtschaft zu überwachen, dann könnten Sie anderwärts eine Pachtung übernehmen,« meinte der alte Herr in so gemüthlichem Tone, daß man auch nicht eine Spur von Ironie darin entdecken konnte.

Bohlberg war wie versteinert.

»Ist das Ihr Ernst, Herr Vater,« fragte er schwer athmend.

»Gewiß, aber ich beharre keineswegs auf diesem Vorschlage.«

»Das ist gut, sonst müßte ich zu Maßregeln meine Zuflucht nehmen, die Ihnen meine rechtmäßigen Ansprüche an Wederstedt sehr deutlich machen würden.«

»Sie sind zornig – worüber denn? – Jeder sucht sein Recht auf seine Weise. – Machen Sie mir doch Vorschläge, wie Sie mich für den Verlust meines schönen Gutes zu entschädigen gedenken, Herr Sohn.«

»Seitdem ich gehört habe, das Sie von Neuem verheiratet sind, fehlt mir der Muth, mit meinen Vorschlägen hervorzutreten. Ich muß also darauf verzichten, eine Uebereinkunft zu erzielen, und verweise Sie mit Ihren Forderungen an's Gericht, welches die Kompetenz besitzt, unsern Zwiespalt zu schlichten.«

Der Major sah ihn verblüfft an.

»Sie übereilen sich Herr Sohn. Ich verlange von Ihnen eine gütliche Vereinbarung, und Sie verweisen mich an's Gericht?«

»Ja. Ich kann nicht anders, Herr Vater! Verklagen Sie mich, wozu ich verurtheilt werde, dem unterwerfe ich mich; auf Ehre!« versicherte Bohlberg mit so festem entschlossenen Wesen, daß gar kein Widerspruch möglich war.

»Rom ist nicht in einem Tage erbaut und Carthago ist nicht in einem Tage zerstört,« sprach der alte Herr auf gewinnende Weise lachend. »Ich werde meiner Frau das Resultat dieser Unterhandlung mittheilen und sie bitten, auf Wederstedt von vornherein zu verzichten.«

»Machen Sie ihr besonders bemerklich, Herr Vater, daß solche Verzichtleistungen, wenn sie auf Ehrenwort gegeben und vor ehrenvollen Zeugen vollzogen sind, für ewige Zeiten Kraft behalten!« fügte Bohlberg mit erhobenem Tone hinzu.

Der Major hielt es für gut, darauf gar nicht zu antworten. Er verstand die Andeutung. Für ihn enthielt sie die Gewißheit, daß seine Verzichtsurkunde noch vorhanden war und in dem wohlverwahrten Bureau steckte.

»Wo ist denn deine Frau Gemahlin, Großvater?« fragte Helene keck, als das Gespräch zwischen den beiden Herrn zu stocken begann. »In Magdeburg etwa?«

»Nein, aber sie wollte dorthin kommen, wenn ich ihr eine günstige Entscheidung melden könnte. Sie mag nun in Berlin bleiben!«

»O, als Gast wird Ihre Frau Gemahlin mir sowohl, als meiner lieben Bertha sehr willkommen sein,« fiel Bohlberg artig ein.

»Nein, nein!« sprach der Major ablehnend, aber durchaus gemüthlich, ein Beweis, wie sehr er sich in der Gewalt hatte, wenn er wollte. »Wozu Sie belästigen? Lutka ist in großem Style erzogen und würde mit ihren fürstlichen Gewohnheiten das ganze Hauswesen umkehren. Ich will nach Magdeburg, um meinem Koffer nachzuspüren – geben Sie mir Ihren Jagdwagen auf zwei Tage und schießen Sie mir zwanzig Louisd'or vor, Herr Sohn.«

Bohlberg zog erschrocken die Augenbrauen in die Höhe. Zwanzig Louisd'or waren für den sparsamen Landwirth ein hübsches Sümmchen, das er ungern riskirte. Und sein Jagdwagen? Seine schönen Pferde? Er beschloß, gute Miene zum bösen Spiele zu machen, aber seinen allerklügsten und allerzuverlässigsten Knecht als Kutscher mitzugeben, damit er mindestens nicht noch diesen Verlust zu beklagen habe, wenn er das baare, Geld geopfert sähe. Man verabredete noch flüchtig, an welchem Tage das Fuhrwerk zur Disposition des Majors stehen solle und trennte sich dann in ruhiger Artigkeit. Herr von Bohlberg ging in's Feld, der Major in sein Zimmer.

Kaum hatten sie Beide die Thür hinter sich geschlossen, so brach Helene in ein lustiges Gelächter aus.

»Eine Gräfin?« sprach sie, unter komischem Pantomimenspiel immerfort lachend, »eine Gräfin? Eine junge, bildschöne Gräfin? Eine kluge Gräfin? Es ist rein zum Todtlachen, daß Großpapa uns das vorzulügen wagt.«

»Warum sollt' er's denn sagen, wenn es nicht wahr ist?« fragte Henriette treuherzig.

»Jetty, du glaubst es?«

»Ich finde keinen Grund zum Zweifel. Herr von Thurngau ist ein liebenswürdiger alter Herr –«

»Gott stärke und beschütze deinen Glauben, Jetty! Wer, wie ich, diesen liebenswürdigen Herrn durch die Feldmarken hat schreiten sehen, der glaubt nimmermehr, daß eine Gräfin, im großen Style erzogen, jung, bildschön und klug, diesen Herrn zum Gemahl nehmen wird. Es ist alles eitel Komödie, Jetty, und ich freue mich kindisch auf den Ausgang dieses Trauerspieles.«

»Helene!« rief Frau von Bohlberg strafend.

Das junge muthwillige Dämchen sprang zur Mutter hin, umschlang sie, küßte sie und flüsterte:

»Haben wir aber nicht einen prächtigen Vater, Mama? Wie schön er seine Rolle durchführte, als er sagte: ich habe Wederstedt gekauft!«

»Du irrst, wenn du annimmst, dein Vater habe eine Rolle gespielt, erklärte die Mutter mit leichtem Stirnrunzeln. »Meine Mutter hat ihr Gut an meinen Mann verlauft!«

»Das muß Gründe gehabt haben, da du es doch jedenfalls geerbt haben würdest.«

»Ich war stets bescheiden genug, nie nach den Gründen zu fragen, wenn meine Mutter handelte,« entgegnete Frau von Bohlberg vorwurfsvoll.

»Ach, Mama, das tadle ich!« rief das junge Mädchen keck. »Hättest du doch gefragt, dann wüßtest du besser Bescheid. Ich werde nie blind in der Welt umhertappen, Mama, sondern so lange fragen, forschen, prüfen, lernen und beobachten, bis ich klug genug bin für diese Welt.«

»Beginne aber diese Beobachtungen, diese Schule des Lebens nicht jetzt bei deinem Großvater,« wendete Frau von Bohlberg sanft tadelnd ein.

»Gerade jetzt ist der rechte Zeitpunkt dazu, Mama,« behauptete Helene etwas arrogant. »Ich verlasse den Großvater mit keinem Blicke, so lange er sich außerhalb seines Zimmers, das ihn wie ein Käfig umschlossen hält, befindet; ich habe schon mehrmals verhindert, daß er sich mit der Untersuchung des Schreibschrankes beschäftigt. Er muß wohl den Schlüssel dazu sehr genau kennen, denn er fand ihn aus deinem Schlüsselkorbe heraus und zwar mit einem Griffe. Was für besondere Interessen dies Bureau hat, begreife ich nicht, denn an den Briefwechsel mit der Großmutter glaube ich durchaus nicht.«

»Es ist traurig, daß diese Familienverhältnisse eingetreten sind, Helene, sie zerstören die Achtung, die du deinen Eltern und Großeltern schuldest,« sagte Frau von Bohlberg traurig.

Helene sah ihre Mutter betroffen an.

»So wäre es ein Fehler, wenn ich mich bemühete, Euch vor Unheil zu schützen?« sagte sie. »Und doch bestärkte mich Edmund – der Herr von Werder wollt' ich sagen – in meiner Ueberzeugung, recht zu handeln.«

»Edmund? Kind, du träumst wohl! Edmund hat seit meines Vaters Ankunft Wederstedt nicht besucht,« meinte Frau von Bohlberg.

Henriette warf ihr einen Blick zu, der eine gewisse freudige Theilnahme verrieth.

»Ich habe jedoch Herrn Edmund zweimal seitdem gesprochen,« gestand Helene freimüthig und ohne Erröthen ein. »Das erste mal, ich sah die Sonne im Lindenhäuschen untergehen, fragte er mich im Vorüberreiten: ob der Major schon länger in dieser Gegend sich aufhalte und ob er öfter in unserm Hause?«

»Der Major? Wen meinte er damit?« fragte Henriette hastig.

»Darüber erklärte sich Edmund nicht weiter. Er glaubte, sich geirrt zu haben, als ich keinen Major kannte, und ritt davon. Gestern saß ich abermals in der Lindenlaube und sah den Schnittern zu, die unsere Weizenfelder mäheten. Da kam abermals Herr Edmund geritten, diesmal querfeldein, gerade auf mich zu. Er mußte mich von fern erblickt haben. Als er sein Pferd zum Stehen gebracht und mühsam beruhigt hatte, sagte er fast feierlich zu mir, daß es ihm leid thue, mittheilen zu müssen, wir beherbergten in dem Major einen bösen Gast, vor dem zu warnen er expreß herangeritten sei. Ich mochte ziemlich dumm bei dieser Warnung aussehen. Junker Edmund suchte mir sehr umständlich darzuthun, daß hier ein Irrthum obwalte, daß er erst jetzt von seinem Oheim erfahren habe, der Major von Thurngau sei der lange verschollen gewesene Vater der Frau von Bohlberg und daß der alte Herr Werder sehr in Sorge um uns wäre und beständig wiederhole: wenn sich Bohlbergs nur in Acht nehmen –«

»Der alte Werder erinnert sich also der früheren Begebenheit?« unterbrach Frau von Bohlberg die eifrige Berichterstattung ihrer Tochter.

Helene nickte statt der Antwort wichtig mit dem Kopfe.

»Er muß wohl sich erinnern, sonst würde er nicht zu Edmund geäußert haben, daß er sich scheue, hierher zu kommen und daß Edmund versuchen solle, Jemand vom Wederstedter Herrenhause aufmerksam zu machen, welch' ein böser Geist ihnen nahe sei. Ich dankte Herrn Edmund für seine Warnung, ließ ihm jedoch merken, daß wir Alle nicht auf den Kopf gefallen seien, dann sagte ich noch, er möge mir doch mittheilen, weswegen er den sogenannten Major einen bösen Gast nenne? Edmund wich mir aus, räumte mir indeß nach und nach ein, daß er Gründe zum schweren Mißtrauen habe.«

»Danach kennt er meinen Vater?« unterbrach die Mutter wieder der Tochter Rede.

»Unbedingt sind sich diese Herren schon einmal auf ihren Lebenswegen begegnet und Edmund hat dadurch einen wahren Abscheu vor Großpapa erhalten. Als ich demselben mittheilte, wie wenig Sympathie ich für den Großvater fühlte, wie abstoßend mir sein ganzes Wesen erschien, wie ich aus allen Worten und Werken Lug und Trug hervorschimmern sähe, da sagte Edmund eben so feierlich wie im Beginn unseres Gespräches, daß er das Geschick meiner Eltern in meine Hände lege – ich solle der Schutzgeist derselben werden und auch ferner die Augen offen behalten.«

»Warum kommt Herr Edmund von Werder nicht zu mir und offenbart mir, was er von meinem Vater weiß?« sagte Frau von Bohlberg gereizt.

»Er will nicht seine Wege kreuzen, er will nicht sein Ankläger werden, Mama.«

»Es ist aber thöricht, einem Kinde so Wichtiges aufzuerlegen.«

»Edmund bewies dem Kinde mehr Zutrauen als die eigene Mutter.«

»Er betrachtet es vom falschen Standpunkte aus und bedenkt nicht, daß er das ganze Fundament der Pietät in dir zerstört.«

»Beruhige dich, Mama, es hat sich Niemand die Mühe gegeben, mich für diesen Großvater zu begeistern, also befindet sich keine Grundlage zur Achtung vor. Ich bin Herrn von Werder sehr dankbar, daß er sich herbeigelassen, meine tiefe Abneigung gegen deinen Vater zu sanktioniren. Sein Wort der Wahrheit hat einen Zwiespalt in mir gehoben. Ich verachtete und verabscheute den alten Mann und wußte nicht warum. Jetzt ist mir wenigstens klar, daß er meine Liebe nicht verdient.«

»Dein wildes, ungestümes Wesen wird dir noch schweres Leid bereiten, ehe du es bewältigen lernst,« sagte Frau von Bohlberg.

Helene warf sich auf's Knie vor ihr und barg schmeichelnd den Kopf an dem Mutterherzen. Sie wußte, daß dies für ihr Leid stets einen Trost haben würde.

*

Der Major hatte sich grollend in sein Zimmer begeben. Er war längst mit sich einig geworden, daß unzeitige Ausbrüche von Zorn bei der Sinnesart seines Schwiegersohnes nichts fruchten würden, daß es sogar die Energie desselben herausfordern hieße, wollte er seinem heftigen Temperamente folgen. Darum behielt er die Maske der Freundlichkeit selbst in kritischen Versuchungen vor und tobte erst insgeheim, wenn er allein in seinem Zimmer war, wo ihn Niemand belauschen konnte.

Wüthend durchmaß er, nach dem zweiten mißlungenen Versuche, Bohlberg einzuschüchtern, das Gemach, bald Verwünschungen murmelnd, bald die Fäuste drohend emporhebend. Er sah ein, daß er diesem Manne gegenüber machtloser war als er es jemals gedacht. Seine Pläne scheiterten, bevor er sie zur Ausführung gereift erblickte und verwandelten sich durch die kluge Ruhe Bohlbergs in Hirngespinste, die jeder reellen Grundlage baar waren.

Aber dieser Widerstand empörte ihn. Grauenhafte Gedanken zuckten durch seinen Geist und entzündeten seine Phantasie. Wenn er ruhiger geworden war, verwarf er diese Idee und belächelte die thörichten Einflüsterungen seines Jähzornes, doch der Dämon der Wuth führte ihn immer wieder darauf zurück und machte seine Seele vertraut damit. Bohlberg zu verderben wurde ihm der liebste Gedanke, und dessen Tochter Helene allen Höllenqualen zu überantworten das Labsal seines Gemüthes. Wie dies zusammen geschehen könne, das wußte er noch nicht; allein daß es eines Tages geschehen müsse, darüber war nicht der geringste Zweifel in ihm. Er hatte schon vielerlei in der Welt zuwege gebracht, wozu ein absonderlicher Muth – der Muth eines schleichenden Raubthieres – gehörte, also mit dergleichen Fähigkeiten konnte er aufwarten.

Für jetzt war es nothwendig geworden, sich um seine Reisegefährtin Lutka Wonska zu bekümmern, die er in den Mauern Magdeburgs sicher geborgen wähnte.

*

Am bestimmten Tage fuhr der Major, hinreichend mit Geld versehen, von Wederstedt weg, im Stillen von den Wünschen begleitet, daß er nicht wiederkommen möge. Wollte Gott, diese Wünsche wären in Erfüllung gegangen! Es war jedoch im Rathschlusse eines höheren Wesens schon darüber verfügt, was geschehen sollte.

Der Major kam wohlbehalten in Magdeburg an und fuhr großartig und vornehm nach Stadt London, notorisch der eleganteste Gasthof in der Stadt in damaliger Zeit.

Anspruchsvoll trat er in das große, allgemeine Gastzimmer, wo ihm ein Mann mit sehr dunklen, buschigen Haaren, die augenscheinlich nicht auf seinem Kopfe gewachsen waren, entgegentrat.

» Ah,bon jour, Monsieur Dreifuß,« begrüßte ihn der Major höchst herablassend. »Noch immer am Platze, noch immer der alte Liebenswürdige?«

Herr Dreifuß, der Rechnungsführer des Hotels, musterte mit unsicherem Blicke den Ankommenden, seinem geübten Blicke kam die ganze Erscheinung nicht harmonisch vor, auch konnte er sich nicht entsinnen, den Herrn, welcher so zutraulich that, jemals gesehen zu haben. Er erwiederte indessen die Begrüßung des Majors mit gebührender Unterthänigkeit, ohne sich bei Grübeleien aufzuhalten.

»Reserviren Sie mir ein Zimmer vorn heraus, auf einige Tage,« befahl der Major hochfahrend, »ich wünsche um fünf Uhr zu speisen, da Geschäfte mich abhalten zur Zeit der Table d'hôte hier zu sein. Natürlich speise ich auf meinem Zimmer, ich trinke Rüdesheimer Berg, natürlich auf Eis gesetzt. Für jetzt Adieu! Meine Geschäfte leiden keinen Aufschub!«

Er stolzirte bei diesen Anordnungen im weiten Gemache umher, nahm weder Notiz von dem darin befindlichen Fremden, noch vom eben eintretenden Besitzer des Hotels und verließ, ohne zu grüßen, nach vollendeter Bestellung das Gastzimmer, um sogleich den Breitenweg hinabzuschreiten.

Der Hotelwirth sah ihm bedenklich nach und wendete sich dann an Herrn Dreifuß.

»Kennen Sie den Mann, Dreifuß?« fragte er flüsternd.

»Kann mich nicht besinnen, Herr Reiners,« flüsterte dieser wieder.

»Eine kuriose Figur, halb fein, halb arm.«

»Eine reducirte Erscheinung, wollen aufpassen.«

»Wissen Sie, es taucht eine Erinnerung in mir auf, Dreifuß.«

»Lassen Sie hören, Herr Reiners.«

»Vor Jahren, prächtige Spielpartieen, die Grafen Wollmarsburg und Consorten –«

»Erinnere mich sehr wohl,« murmelte der Rechnungsführer sinnend. »Davon wär's Einer?«

»Nicht doch, aber es kam Einer hinzu, den sie Alle Major nannten.«

»Blitz, Herr Reiners, das ist er! Was Sie für ein Gedächtniß haben! Der Herr Major rupfte sie tüchtig, die Gesellschaft roch endlich Lunte; eines Tages, es war freilich Nacht und nicht Tag, setzten sie das Kerlchen an die Luft. Heidi, das ist der Major, jetzt ist mir seine ganze Physiognomie gegenwärtig. Was thun wir?«

»Wir passen auf, Dreifuß. Er ist mit eigener Equipage gekommen, einfach Geschirr, Handwagen, aber köstliche Pferde.«

»Woher?« fragte Dreifuß lauernd.

»Aus Wederstedt.«

Beide Männer wechselten noch einen Blick des Einverständnisses, dann zeigte sich auch nicht eine Spur von Besorgniß mehr. Die Sache war abgemacht, jeder wußte, was ihm oblag.

*

Mittlerweile war der Major geraden Weges nach der Jakobsstraße Nr. 26 marschirt. Er wußte gut Bescheid in Magdeburg.

»Das alte Nest sieht noch genau so aus, wie vor neun Jahren,« murmelte er, an der Jakobskirchmauer entlang schreitend, vor dem Hause Nr. 26 stand er still. »Hölle und Teufel, das sieht verwünscht barackenmäßig aus,« brummte er, in den alten Thorweg blickend, der halb offen stand.

Ein dunkler, weiter, schmutziger Hausflur, breite aber unreinliche Treppen – das Ganze machte den Eindruck, als habe die Wohlhabenheit früher ihr Quartier hier gehabt und sei von der Armuth verdrängt worden. Ein Rudel halb nackter, schmutziger Kinder spielte lärmend vor der Thür. Einige derselben verließen den Kreis ihrer Spielgenossen, kreuzten die Hände auf den Rücken und starrten den fremden Mann dummdreist an.

Des Majors Blick fiel auf sie.

»Die Schlingel scheinen mein Signalement aufnehmen zu wollen,« brummte er und eilte ohne Aufenthalt in die mystische Dunkelheit.

Er stieg die Treppe hinauf, wendete sich links der ersten Thür zu und öffnete sie leise, um das Terrain zu recognosciren. Er fand sich auf der Schwelle einer Tischlerwerkstatt. Mehrere Gesellen arbeiteten darin und ihr Hobeln, Raspeln und Klopfen verursachte einen solchen Lärm, daß sie vom Oeffnen der Thüre nichts hörten. Endlich blickte einer zufällig auf. Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, rief er einem Burschen zu, er solle den Meister holen, es sei Jemand da, der ihn sprechen wolle.

»Das ist nicht wahr!« sprach der Major lakonisch. »Ich will zur Madame Kühne.«

Der Geselle deutete mit dem Finger auf eine schmale Thür rechts, der Major folgte dem stummen Wegweiser und verfügte sich dorthin.

Auch diese Thür öffnete er leise und ohne anzuklopfen. Da stand Madame Kühne und wickelte von zwei zusammengestellten Stühlen Garn ab. Einen Augenblick richtete sie forschend das Auge nach der Thür, dann war sie, trotz einer jahrelangen Trennung ihrer Sache sicher und trat rasch der Thür näher, mit einem vorschriftsmäßigen Knix den Eintretenden begrüßend.

»Dienerin, gnädiger Herr, himmlischer Gott, wo kommen Sie denn hierher? Das ist ja ganz gegen die Abrede! Nun, seien sie willkommen, aber Aerger habe ich genug schon von der Geschichte gehabt!«

Der Major sah sie frappirt an. Das war ein sonderbarer Empfang! Was sollte er davon denken? Er wußte recht gut, mit wem er es zu thun hatte; er kannte diese kleine, gnomenhaft kleine Person durch und durch; er hatte Gelegenheit genug gehabt, ihre Schlauheit und Hülfsbereitwilligkeit zu prüfen, und er war ihrer Ergebenheit sicher. Schon damals, als sie noch im Hause der seligen Frau von Thurngau war, hatte sie ihm vielfach genützt. Trinette hatte immer die löbliche Eigenschaft besessen, über Alles Auskunft geben zu können, was im Hause geschah. Sie war stets so glücklich gewesen, Alles zu hören und Alles zu sehen. Wie sie dies bewerkstelligt hatte, wußte der Major nicht, aber er konnte es sich denken, daß sie horchen ging, und daß sie durch's Schlüsselloch guckte, um zu sehen, was im Zimmer vorfiel. Ihre kleine zierliche Gestalt unterstützte sie bei solchen menschenfreundlichen Forschungen. Sie war viel zu flink, viel zu schlau und viel zu gewandt, um sich jemals ertappen zu lassen, darum kam es auch niemals zur Sprache, daß sie dem damaligen Hausherrn von Wederstedt als Spion diente.

In Folge dieser angenehmen Rückerinnerung mußte es den Major stark befremden, von Madame Trinette also begrüßt zu werden. Die Empfindlichkeit, die sich schon in den ersten Worten kund gegeben, trat noch schärfer hervor, als sie ihm einen Platz im Sopha offerirte und gleich hinzufügte:

»Wenn Sie Ihren Platz geändert, gnädigster Herr, so konnten sie mir's doch nur mit einigen Worten melden, Sie haben doch erst meinen Aufenthalt ausfindig machen können, als Sie Nachrichten über die jetzigen Verhältnisse in Wederstedt einzuziehen wünschten; Sie haben mir Befehle ertheilt, die mir Geld gekostet und dann lassen Sie mich wie eine Närrin hier warten und kommen selbst, statt Ihre Frau Gemahlin zu schicken. Das ist Alles nicht in der Ordnung und mein Mann hat mir das Leben schwer genug gemacht, weil ich mich von meinen vornehmen Bekanntschaften an der Nase habe herumführen lassen.«

»Nun hole erst einmal Athem, Plappermaul,« sagte der Major, mit der Manier gemeiner Vertraulichkeit auf ihren Kopf klopfend. »Bist noch kleiner geworden, Trinette, hast aber das Sprechen nicht verlernt seit unserer Trennung. Begriffen habe ich bis dahin nichts von deinem Gewäsch, das thut jedoch nichts. Vor allen Dingen hole mir mal die Frau Majorin her oder thu' mir kund, wo ich sie finde, alles Andere hat Zeit.«

Madame riß ihre braunen Augen sehr weit auf und fragte unglaublich naseweis:

»Wen soll ich holen? beliebte dem gnädigen Herrn, mit mir zu scherzen?«

»Ei so schlag ein Donner drein!« fuhr der Major wild auf. »Wo ist Lutka? Wo ist die Frau Majorin? Was hab' ich mit dir zu scherzen, kleine Kröte? denkst du, du hast deinen Mann vor dir, von dem du mir meldest?«

Trinette erschrak, blickte nach der Thür und machte eine Geberde, die ihn zum Schweigen aufforderte.

»Warum machst du mich ärgerlich,« brummte er und schaute ebenfalls ein wenig ängstlich rückwärts. »Ich muß vor allen Dingen die Lutka sprechen, wo ist sie?«

»Hier bei mir ist Niemand! Frau Majorin ist noch gar nicht bei mir gewesen, also kann ich auch keine Auskunft geben, wo sie ist,« sprach Frau Trinette mit überlegenem Tone.

Jetzt erheiterte sich endlich das Gesicht der kleinen Frau. Sie war also nicht mit Absicht getäuscht worden, es waltete ein Mißverständniß vor.

»Und damals haben Sie Ihre Frau Gemahlin an mich adressirt?« forschte sie aufmerksamer als bisher.

»Freilich! Freilich! Aber das laßt nur, mit der Frau Gemahlin, Trinette, das ist so ein Gaukelspiel für Dumme, Lutka ist meine Frau noch gar nicht und wird es unter bevorstehenden Umständen auch gar nicht werden wollen.«

»Ah! Jetzt versteh' ich die Geschichte! Die Dame ist Ihre Geliebte?«

»Bewahre! Darüber bin ich hinaus, Trinette! Sie ist meine Helfershelferin. Heiliges Kreuzdonnerwetter und nun ist sie nicht zu dir gekommen? Nun ist sie mir abhanden gekommen? Nun ist sie mir entwischt?«

»Ich weiß nicht recht, was ich davon denken soll, gnädiger Herr. Sie erlauben mir die Frage, war es Ihre Absicht, diese Dame mit nach Wederstedt zu nehmen, wenn es Ihnen glückte, dem Herrn von Bohlberg das Gut abzujagen, wie Sie mir schrieben?«

»Wenn mir das geglückt wäre, so hätte ich mich den Kuckuck um das Frauenzimmer gekümmert! Aber damit sieht es windig aus, Trinette. Bohlberg ist ein Mann von eiserner Beharrlichkeit.«

Madame nickte als Zeichen ihrer Beistimmung.

»Ich versuchte es auf verschiedenen Wegen, ihm beizukommen, vergebens!«

»Konnte es mir denken!«

»Auch nicht einen Schritt verdrängte ich ihn aus seiner Position.«

»Es sieht ihm ähnlich!«

»So fein ich es anfing, er ließ mich kurzweg ablaufen.«

»Ich habe es gar nicht anders erwartet.«

»Nun muß ich andere Saiten aufziehen.«

»Spannen Sie diese Saiten nicht zu scharf.«

Der Major lachte hämisch und fuhr sich wild mit beiden Händen durch's graue Haar.

»Wenn ich nur die Verzichtsurkunde erhaschen könnte,« sprach er lauernd.

Madame Kühne schüttelte leicht mit dem Kopfe. Ihr schien die Erlangung dieses Dokuments nicht sehr wichtig. Es veränderte nach ihrer Meinung wesentlich gar nichts.

»Ein Funken im Zunder und ein Schwefelfaden würde mir dann helfen.«

»Glauben Sie es nicht, gnädiger Herr. Ihre selige Frau Gemahlin war eine kluge Dame, sie hat ihr Gut an den Schwiegersohn verkauft. Würden Sie die Kaufsumme zurückerstatten können?«

»Wie dumm du bist, kleine Kröte,« fuhr der Major ärgerlich auf. »Ist die Verzichtleistung meinerseits nicht nachzuweisen, so darf bei meinen Lebzeiten das Gut ohne meine Genehmigung nicht verkauft werden.«

»Das ist freilich etwas Anderes!«

»Wäre nun Lutka hier, sie könnte mir außerordentliche Dienste leisten.«

»Lutka ist wohl sehr klug.«

»Allerdings, aber, was noch mehr sagen will, Lutka ist eine vollendete Schauspielerin, sie ist gar nicht zu durchschauen, wenn sie eine Maske vornimmt, sie ist, was sie sein will und dabei sieht sie arglos aus, wie ein Kind. Lutka ist genial im Betrügen, dabei verwegen, wenn es gilt. Ihr würde es glücken, die verwünschte Verzichtleistung zu erlangen, und wenn sie oben am Himmelszelte hinge.«

»Wollen Sie nicht lieber auf dem Wege der Güte etwas zu erlangen suchen?«

»Bohlberg ist zu knauserig.«

»Er ist aber ein nobler Mann. Er würde Ihnen gewiß das Leben in Wederstedt nicht verbittern. Bleiben Sie doch vor der Hand dort.«

»Ich? In Wederstedt? Trinette, ich dächte, du wüßtest aus Erfahrung, daß meines Bleibens dort nie sein kann. Wenn ich nur wüßte, wo Lutka wäre!«

»Sie werden alt, gnädiger Herr, werfen Sie meinen Vorschlag nicht so weit weg.«

»Bleib' mir mit deinen Sentimentalitäten vom Halse. Dazu bin ich nicht hergekommen. Wenn ich nur Lutka aufzufinden wüßte.«

Es entstand eine kleine Pause.

»Suchen Sie doch nach ihr,« nahm Madame empfindlich wieder das Wort. Es verdroß die kleine Person, daß ihre Hülfsleistungen nicht ausreichend befunden wurden.

»O, in Magdeburg ist Lutka nicht! Bewahre! Hier ist sie nicht! Ich begreife nur nicht, warum sie ihren Plan geändert und hier bei dir nicht abgewartet hat, wie sich meine Geschäfte in Wederstedt abwickeln würden.«

Madame Kühne lächelte etwas verächtlich.

»Vielleicht hat sie einträglichere Geschäfte machen können,« murmelte sie.

Der Major zermarterte noch eine kleine Weile sein Gehirn mit allerhand Vermuthungen, dann griff er zur Mütze und stürmte mit den Worten: »Ich komme wieder, Trinette!« aus der Stube.

 

Madame blieb nachdenklich mitten im Zimmer stehen und ließ die ganze Scene nochmals an ihrem Geiste vorüberziehen. Recht klar war sie sich ihrer eigenen Empfindungen nicht bewußt. Im Grunde freute sie sich, daß es dem Major nicht geglückt war, mit seiner abscheulichen Schlauheit die Redlichkeit Bohlbergs zu bezwingen. Und doch stachelte sie ihr Ehrgeiz wieder, diesem Manne zu helfen, um ihm zu beweisen, daß sie ihm eine treue Verbündete geblieben sei. Für so schlecht, wie er in Wahrheit war, hielt sie ihn nicht. Sie entschuldigte schon um deswillen seine Schwäche, weil sie sich geehrt von seiner Vertraulichkeit fühlte und weil sie sich einbildete, ihrer Klugheit wegen von ihm geachtet zu werden.

Diese schmeichelhafte Ueberzeugung hatte soeben einen empfindlichen Stoß erlitten. Sie war zweifelhaft geworden, ob sie hinlänglich von dem gnädigen Herrn gewürdigt würde und ihre Galle begann sich zu regen.

»Wenn der gnädige Herr ohne mich fertig werden kann,« murmelte sie mißmuthig und begann das Geschäft des Garnabwickelns wieder mit einer verrätherischen, gefährlichen Hast und Hurtigkeit, »so ist's mir um so lieber, ich brauche seine Hülfe, Gott sei gedankt, nicht, wohl aber steht er noch tief in meiner Schuld. Das hat man von solchen vornehmen Gönnern, mein Mann hat ganz Recht, erst miethe ich zur Aufnahme der Frau Majorin« – sie lachte sehr höhnisch – »noch ein Zimmer neben an und –«

Es klopfte leise und anständig an der Thür, die derjenigen gegenüber lag, durch welche der Major eingetreten war. Madame Trinette fuhr erschreckt zusammen.

»Ah, die arme Frau hat gewiß gehört, daß der gnädige Herr angekommen ist und fürchtet nun, fort zu müssen,« flüsterte sie, ihrem Selbstgespräch eine andere Richtung gebend.

Sie legte ihr halb fertiges Knäuel wieder auf den Stuhl und eilte die Thüre zu öffnen, die ihr Stübchen von einem daneben liegenden größeren Zimmer trennte, welches vom Hauswirthe als chambre garnie vermiethet wurde.

»Treten Sie näher, Frau Erlang, treten Sie näher! Sie sind gewiß gestört von dem Lärm, den Herr von Thurngau zu machen beliebte,« sagte sie mit sanftem, bedauerndem Tone.

 

Frau Erlang trat langsam und gebückt, mit allen Zeichen von Hinfälligkeit und Schwäche, über die Schwelle und ließ ihre Augen matt das Stübchen durchlaufen. Es war von Statur wohl eine große und schlanke Frau, diese Madame Erlang, es war auch wohl noch eine junge Frau, aber ein tief liegendes, inneres Leiden hatte den Nacken der Armen gebeugt, und ihrem sonst wohl geformten Körper den Stempel des Alters aufgedrückt. Ihr Geist schien unter diesen Leiden gelitten zu haben, denn eine krankhafte Schüchternheit, ein fortwährendes Bangen vor der Zukunft und eine beständige Angst lästig zu fallen, gab ihr das Ansehen einer Halbirren, während sich doch im Gespräche bisweilen die Reste einer guten Verstandesbildung geltend machten. Es schien ein bedauernswerthes Geschöpf, so weit man ihren Zustand äußerlich beurtheilen konnte, und Madame Kühne widmete ihr aus Mitleiden alle Pflege, die sie gebrauchte.

Dafür liebte Frau Erlang die kleine Madame auch nach Kräften und schenkte ihr ein ganz unbedingtes Vertrauen. Aus der Gegenseitigkeit ihrer Gefühle entstand dann auch bald ein Verlangen, ja man möchte sagen, ein stetes Bedürfniß der Mittheilung. Beide Frauen priesen es als eine Himmelsfügung, zusammen geführt worden zu sein, und an diese Hymne der Freude schloß sich stets die Klage der kranken Frau: »Was soll aus mir werden, wenn nun Ihre Frau Majorin ankommt!«

Wie waren diese Frauen denn bekannt geworden?

Das könnte eigentlich eine einfache Geschichte genannt werden, obwohl es Frau Erlang als ein wunderbares Zusammentreffen anzusehen liebte.

Frau Erlang war nach Magdeburg gekommen, um einen berühmten Arzt, den Doktor Hase, zu consultiren. Er hatte ihr wenig Hoffnung auf Genesung gemacht, aber gerathen, sie möge einige Zeit in der Stadt verweilen und durch vorschriftsmäßige Bäder in seiner neuerrichteten Badeanstalt auf dem Fürstenwalle das Uebel zu mildern suchen.

Ihre Mittel hatten den kostspieligen Aufenthalt in einem Hotel oder auch nur in den vornehmen Stadtvierteln nicht erlaubt und sie war denn eines Tages ganz betrübt durch die engen und dumpfen Straßen gewandelt, um sich ein billiges und doch freundliches Quartier zu miethen. Auf ihrer Wanderung kam sie schließlich in die Region, die vom Volke das Wollspinnviertel genannt wurde; dort lag die Jakobskirche, dort blieb sie an der Kirchmauer stehen und betrachtete sehnsüchtig die vom Abendscheine verklärten, sehr einfachen, fast baufälligen Häuser.

Besonders fiel ihr das Haus Nr. 26 in die Augen und eine innere Stimme trieb sie an, dort nachzufragen, ob kein Stübchen für eine arme kranke Wittwe zu bekommen sei. Der Wirth hatte sie barsch angelassen, ihr aber dann gesagt, es sei ein hübsches Zimmer in der zweiten Etage zum Vermiethen an junge unverheirathete Leute eingerichtet, aber er habe es zur Zeit auf zwei Monate an die Tischlermeisterin Kühne vermiethet, da dieselbe eine vornehme Dame zum Besuch erwarte. Die Dame sei aber, trotz der bestimmten Anmeldung, nicht angekommen, und sie könnte ja nachfragen, ob nicht vielleicht andere Anordnung wegen des Besuchs getroffen sei.

Darauf war Madame Erlang, die arme krüppelhafte Wittwe zu der kleinen, schlauen Madame Kühne hinaufgestiegen und Beide waren einig geworden, daß Madame Erlang Besitz von dem Zimmer nehmen solle, bis die gnädige Frau Majorin einzutreffen beliebe.

Das war die einfache Geschichte ihrer gegenseitigen Bekanntschaft, die von der armen Madame Erlang als Gottes-Fügung betrachtet wurde. Jedem, der es hören wollte, erzählte sie diese Geschichte haarklein, und jeder glaubte sie. Es wäre also ein himmelschreiendes Unrecht, wollten wir den mindesten Zweifel daran laut werden lassen.

 

Madame Erlang schaufelte unter leisem Aechzen quer durch die Stube und ließ sich langsam und bedächtig in das Sopha sinken.

»Mein Kreuz, meine Füße! Ach! es wird bald mit mir vorüber sein, liebe Madame Kühne. Ich schlief, da hörte ich im Schlafe eine Stimme, liebe Frau, wer schrie denn hier so fürchterlich, daß ich aus meinem Todesschlafe geweckt wurde?«

»Gott, wie mir das leid thut, meine Liebe,« sprach Madame Trinette. »Herr von Thurngau ist angekommen.«

»Ach! Ach! dann muß ich ausziehen!« klagte Erlang weinerlich.

»Nein, nein. Seien Sie ohne Sorge! Das ist eine wunderliche Geschichte,« sagte Trinette zögernd und überlegte, ob sie dies Geheimniß ihrer neuen Freundin wohl enthüllen dürfe.

Diese erhob sich ein wenig aus ihrer bequemen Lage im Sopha.

»Ich falle wohl lästig,« meinte sie schüchtern.

»Nicht doch, liebe Erlang, nicht doch! Sehen Sie, ich bin eine zuverlässige Frau, und was mir anvertraut ist, davon kommt kein Wort über meine Lippen.«

»Ach, wie engelhaft von Ihnen!« unterbrach Frau Erlang sie schwärmerisch.

Die kleine Madame reckte geschmeichelt ihr Köpfchen etwas höher und fuhr fort:

»Aber wenn man mich kränkt, wenn man mich hintenansetzt, wenn man alle meine Verdienste gering anschlägt, dann fühle ich keine Veranlassung, fernere Rücksichten zu nehmen. Sie sind meines Vertrauens gewiß werth – so was fühlt sich ja gleich heraus – und nun will ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen.«

»Ach, meine Theure, wie danke ich Gott, der mich zu Ihnen geführt hat!« rief Frau Erlang und faltete in frommer Inbrunst ihre Hände zusammen. »Wenn ich mein elendes, langweiliges Leben betrachte, das ich geführt vor Ihrer Bekanntschaft! – Leider, leider werde ich wieder fort von Ihnen müssen – wann kommt denn die Frau Majorin?«

Ein inneres Schluchzen verhinderte sie, weiter zu sprechen.

»Sie armes, verlassenes Wesen!« entgegnete Frau Trinette gerührt. »Ich werde mit meinem Manne Rücksprache nehmen – Sie sollen bei uns bleiben! Die Majorin hat ausgespielt, Liebste! Herr von Thurngau hat mir eröffnet, daß die Person seine Gemahlin nicht sei und auch niemals sein werde. Ich kann Ihnen gerade nicht genau sagen, was diese Dame für eine Personage ist, aber Herr von Thurngau nannte sie selbst eine heillose Schauspielerin, eine vollendete Betrügerin! Sehen Sie, muß ich nicht dem Himmel danken, daß er mich vor der Bekanntschaft mit dieser Canaille bewahrt und mir Sie zugeführt hat?«

Frau Erlang neigte ihren Kopf noch ein wenig tiefer, als es sonst wohl ihr Leiden verlangte.

»Es giebt doch recht schlechte Menschen,« sprach sie weinerlich. »Herr von Thurngau scheint mir ein sehr edler Mann zu sein, aber er hat eine fürchterliche, eine gemeine Stimme.«

»Ja, das hat er!« bekräftigte Trinette. »Aber ein sehr edler Mann ist er nicht! Er hat Dummheiten genug auf seinem Gewissen, und wenn er vernünftig wäre, so ließe er es bei den alten Sünden bewenden und fügte nicht noch neue hinzu.«

»Was hat er denn gethan?« fragte die Erlang mit dem Ausdruck einer kindischen Neugier.

»Davon spreche ich nicht gern! Aber jetzt will er seiner Tochter das Gut abjagen, will einen Eid brechen den er seiner seligen Frau geschworen hat.«

»Was? Einen Eid?« fragte die Erlang furchtsam dazwischen.

»Ja. Er hat vor ungefähr fünfzehn Jahren geschworen, nie wieder nach Wederstedt zu kommen und nie den geringsten Anspruch an das Erbe seiner Frau zu machen.«

»Warum hat er denn das geschworen?« fragte die Erlang noch furchtsamer.

»Davon spreche ich nicht gern!«

»Ah, ich möchte es für's Leben gern wissen!«

»Können Sie auch schweigen, sonst kommt nicht ein Wort über meine Lippen,« antwortete Madame Trinette mit imponierendem Ernst.

»Ach, meine Lippen werden bald gar nichts mehr sagen können,« begann Frau Erlang seufzend.

»Es ärgert mich zu sehr, daß der Herr von Thurngau seine Lutka für klüger und anstelliger hält, als mich,« murrte die kleine Dame erbittert. »Er weiß doch am besten, wer ihm damals beigestanden hat; wenn ich freilich nicht überzeugt gewesen wäre, es geschähe ihm Unrecht, so hätte ich ihm die Hand nicht geboten; ich denke auch jetzt noch immer, daß er, als Mann, im Hause thun konnte, was er wollte. Wozu diente denn das unmenschlich viele Silberzeug, das da verwahrt lag? Na, Sie verstehen mich wohl nicht, Liebste,« unterbrach sie sich selbst, als sie bemerkte, daß Frau Erlang stumpfsinnig den Blick geradeaus richtete.

»O ja, Herr von Thurngau hat wahrscheinlich das Silberzeug verkauft,« antwortete diese.

»Ja wohl! Er hatte mich und das Fräulein schon früher für diesen Plan zu gewinnen gesucht, aber als Alles bereit war, brachte ihn das Fräulein durch Bitten davon ab.«

»Was für ein Fräulein?« fragte Frau Erlang merkwürdig schnell.

»Fräulein von Wederstedt, eine entfernte Verwandte der Frau von Thurngau, die ihren Vater im Franzosenkriege verloren hatte. Sie lebte in Wederstedt, als der gnädige Herr noch zu Hause war. Fräulein von Wederstedt hatte viel Gewalt über ihn, nun ja, man kennt das, es zeigte sich auch später, von welcher Beschaffenheit ihr Verhältniß gewesen war, genug, das erste Mal rettete Fräulein von Wederstedt das Silberzeug aus seinen Klauen, aber als er wieder kam, war sie todt, und da benutzte Herr von Thurngau alle die Rathschläge die ich ihm damals gegeben. Er erhielt von dem Silberarbeiter Kaman, dem ich weis gemacht hatte, die Familie wolle den Verkauf Schulden halber bewerkstelligen, eine beträchtliche Summe dafür.«

»Was sagte aber Frau von Thurngau dazu?« fragte Frau Erlang sehr schüchtern.

»Es soll ein Heidenscandal gewesen sein, sagte mir der gnädige Herr später, als er einmal auf kurze Zeit hier war. Frau von Thurngau sollte ihre Ehe trennen lassen, der Landdrost von Werder wollt's durchaus haben, aber die Dame konnte sich nicht entschließen, als geschiedene Frau vor der Welt dazustehen. Da machten die Herrn aus der Umgegend einen Pakt mit dem gnädigen Herrn, wonach er vor Gericht und Zeugen noch zweitausend Thlr. baar erhielt, und damit als vollständig abgefunden sich erklären mußte. Er erzählte es mir lachend, daß er sein Ehrenwort gegeben, und einen Schwur geleistet habe, jedoch nicht willens sei, darnach sich zu richten, wenn sich Gelegenheit darbiete, eine neue Anleihe zu bewirken. Sehen Sie, Liebste, das gefiel mir nicht und ich schrieb's eines Tages der gnädigen Frau nach Wederstedt, die unterdeß schon schleunig einen jungen, wackern Anverwandten, Herrn Oskar von Bohlberg, zu ihrem Schwiegersohne gemacht hatte.«

»Da haben Sie aber doppeltes Spiel gewagt,« sagte die arme Frau Erlang ganz anders wie sonst, setzte jedoch erschrocken hinzu: »Das war edel von Ihnen!«

»Es trug wenigstens Früchte. Die Dame verkaufte in aller Form ihr Gut, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, an Herrn von Bohlberg, der Drost von Werder gab diesem Käufer pro forma das Geld dazu, und dies Alles ist so glatt, so sicher gekittet, daß Herr von Thurngau gar nichts thun kann. Aber er hat mir eben gesagt, daß Eigenthum seiner Frau dürfe nicht ohne seine Einwilligung verkauft werden und nur die vorhandene Verzichtsurkunde stände ihm hinderlich im Wege, sonst würde es ihm ein Leichtes sein, Herr in Wederstedt zu werden. Ich glaube das nicht! Er aber ist überzeugt davon und wüthet, daß seine Lutka, die verwegen genug zu allen Streichen sein soll, nicht angekommen ist.«

»Sie ist also nicht seine Frau?« fragte Frau Erlang wieder kläglich.

»Bewahre!«

»Aber er hat sie doch noch?«

»Bewahre! Ist nicht seine Absicht gewesen! Ich möchte nur wissen, wo er sich dies Frauenzimmer aufgelesen hat. Schade, daß sie sich mir nicht präsentirt hat, ich würde bald ihre Maske, und wenn sie sie noch so natürlich spielte, durchschaut haben.«

»Ach, eine so kluge Frau wie Sie, giebt's nicht mehr!« schmeichelte Frau Erlang, »Kommt denn der Herr Major wieder zu Ihnen?«

»Der Herr Major?« wiederholte Frau Trinette spöttisch. »Ich möchte wohl wissen, wer den Herrn von Thurngau zum Major gemacht hat? Als der alte Fritz starb, war Thurngau Fähnrich! er quittirte den Dienst und heirathete in die Wederstedt'sche Wirtschaft hinein. Als er seine Frau durch seine Verschwendung beinahe zu Grunde gerichtet hatte, verließ er sie heimlich und kam erst wieder, nachdem die arme Frau, mit Hilfe ihrer treuen Nachbarn, ihre Angelegenheiten geordnet hatte. Nach dieser Zeit soll er vergleichsweise vernünftiger gehandelt haben, bis …«

»Nun? Ach, ich falle wohl lästig, liebe Madame,« flüsterte die Erlang mattherzig. »Sie sind immer die Güte selbst, und ich unbescheidene Person belästige Sie durch meine Theilnahme für Ihre Freunde.«

»O nein, aber Sie müssen auch schweigen über das, was Sie von mir hören.«

»Wie das Grab!« rief Madame Erlang in beschwörendem Tone.

»Nun so will ich Ihnen mein ganzes Herz öffnen, obwohl ich einer Verstorbenen gelobt habe, das Geheimniß zu bewahren!« erwiederte Madame Kühne mit Pathos. »Also, der Herr von Thurngau blieb ziemlich vernünftig, bis er sich in das Verhältniß zu Fräulein von Wederstedt verstrickte. Damals kam ich in's Haus.«

»Das war die Zeit, wo der Major das Silberzeug –«

»Verkaufen wollte,« fiel Madame Kühne ein, »wo er aber durch Fräulein von Wederstedt daran gehindert würde. Er verließ seine Heimath abermals und trat als Lieutenant in westphälische Dienste. Gleich nach seiner Entfernung mußte Fräulein Wederstedt auch fort; und ich brachte sie hier bei einer Bekannten unter.«

»Hatte Frau von Thurngau diese Dame fortgewiesen?«

»Bewahre! die Arglosigkeit rechtschaffener Menschen grenzt oft an Dummheit,« entgegnete Madame Kühne lächelnd. »Als ich der Wederstedter Dame eines Tages, ungefähr fünf oder sechs Jahre später die kleine Tochter dieses Fräulein brachte und sie bat, für das arme hülflose Geschöpfchen Sorge zu tragen, da fiel die gnädige Frau aus den Wolken und wollte zuerst durchaus nicht glauben, daß zwischen ihrem Herrn Gemahl und ihrer Cousine ein derartiges Verhältniß stattgefunden habe.«

»Wo ist dies Kind jetzt?« fragte Madame Erlang.

»In Wederstedt. Die selige Frau nahm mir das Wort ab, nicht darüber zu plaudern und wollte das arme Kind unter dieser Bedingung als Halbschwester ihrer Tochter, der jetzigen Frau von Bohlberg, betrachten.«

»Frau von Thurngau muß eine gute Frau gewesen sein!« sprach Frau Erlang unwillkürlich.

»Ja wohl! Gut, klug, aber für den gnädigen Herrn zu schwach und zu dumm. Ich würde mir von meinem Manne das nicht bieten lassen.«

»Nicht jede Frau ist mit einem so festen Herzen und mit einem so scharfen Verstand bedacht, wie Sie,« schmeichelte die arme Kranke, indem sie sich mühsam erhob.

Madame nickte stolz mit dem Köpfchen.

»Frau von Thurngau mochte das auch wohl merken, denn sie sagte mir damals, als unser Herr das Haus verließ, um hierher zu gehen und in Dienste bei dem lustigen Könige Jerome zu treten, ohne alle Veranlassung den Dienst auf. Als ich fragte, weshalb ich von ihr entlassen werden sollte, antwortete sie mir, daß es mir bei meiner Klugheit nicht fehlen würde, eine bessere Stelle zu bekommen. Nun, sie hatte Recht! Ich heirathete darauf meinen Mann und bin glücklich geworden.«

Inzwischen hatte Madame Erlang ihren Rückzug nach ihrem Zimmer in gewohnter, schwerfälliger Weise begonnen und war, geleitet von ihrer Wirthin, der Thür näher gekommen.

»Ich will mich zurückziehen,« sagte sie schüchtern, es könnte doch sein, daß Ihre Frau Majorin trotz alledem käme, und für diesen Fall muß ich ja meine Stube räumen.«

»Dummes Zeug! Sie bleiben!« entschied Madame Kühne sehr energisch. »Die Frau Majorin soll mich kennen lernen, wenn sie kommt! Ich will mit der ganzen Wederstedt'schen Sache nichts mehr zu thun haben, man hat keine Ehre davon und keinen Vortheil, sagt mein Mann!«

»Ich werde zur Sicherheit meine Thüre verriegeln,« flüsterte die Erlang zutraulich.

»Ja, ja! Herr von Thurngau ist oft ein Hans Taps! Wenn ich etwas von Ihnen will, so poche ich drei Mal!«

Madame Erlang bezeigte ihre Zufriedenheit mit diesem Vorschlage und schaufelte schwerfällig durch die Thür. Madame Kühne verließ eilfertig ihr Stübchen, um ihrem Manne mitzutheilen, was sie für nöthig fand. Alles brauchte er ja nicht zu wissen.

 

Nach einer kleinen Weile, als Alles still war, öffnete sich Frau Erlangs Thür wieder, sie überblickte durch eine schmale Ritze den kleinen, wohlgeordneten Raum und machte leise wieder zu. Jetzt schob sie vorsichtig den Riegel des Schlosses vor, verstopfte das Schlüsselloch mit einem Stückchen Kattun, schlich zur andern Thür, die nach der Treppenflur ging, um dasselbe Manöver, auszuführen, schlurfte zu den Fenstern, ließ die Rouleaux herunter und setzte sich dann still überlegend auf das kleine Kanapee, das ihrem Bette gegenüber stand.

»So weit wären wir also!« murmelte sie. »Ganz wie ich's gedacht habe! Diese kleine Meisterin Kühne ist eine giftige Kröte! Sie ist eitel auf ihre Klugheit« – ein kurzes, frisches Lachen drang aus der zusammengedrückten Brust hervor, – »sie ärgert sich, daß der Major seine Lutka für klüger hält! Kastanien für Andere aus dem Feuer holen, ist ein schlechtes Vergnügen! Mag der Herr Major sehen, wie er seine Verzichtsurkunde aus dem Kasten seiner Frau Tochter hervorholen kann. Madame Trinette wird aus Selbstüberschätzung dumm. Hoffentlich währt diese Selbstüberschätzung noch ein Weilchen!«

Sie lachte wieder mit der frischen Heiterkeit eines Kindes, dem ein Streich gelungen ist.

Von nun an dachte die arme, krüppelhafte Frau nicht mehr laut, sondern überlegte still und ruhig, was sie zu thun habe. Plötzlich erhob sie sich und trat vor den Spiegel, der über der Komode thronte.

»Ich würde mich selbst nicht erkennen,« flüsterte sie und strich über die tiefen Falten oberhalb der Nase, die ihrer Stirn ein altes grämliches Ansehen und ihren Augen eine ganz veränderte Stellung gaben. Sie strich spielend die Stirn glatt, sie hob das wirre Haar von der Stirn, sie band das Mullhäubchen, das mit breiten Bändern ihr Gesicht bis zum Kinn einhüllte, auf, sie warf es muthwillig ab, hob elastisch den Kopf, reckte den Hals gerade, hob die Brust und sprach:

»Gott sei Dank, noch ist's eine Lüge, wehe mir, wenn eines Tages Gottes Zorn mich zu einem Wesen machte, sich und Andern zur Qual!«

Hurtig zog sie den entstellenden Anzug ab und betrachtete mit heiterer Selbstgefälligkeit ihre schöngeformten Arme, ihren blendend weißen Nacken.

»Diese Madame Trinette ist eine kleine Schlange. Wie sie in ihrem Aerger dem armen Major die Worte verdrehete. Hab' ich's nicht gehört, daß er sagte, Lutka sei eine vollendete Schauspielerin? Und Frau Trinettchen verkehrte es in eine Betrügerin! Bah! Brüstet Euch nur in Eurem Tugendmuthe, so wie Ihr, könnte diese Lutka Wonsky doch nicht handeln, Betrügereien gegen gute, arglose, rechtschaffene Menschen? Pfui! Pfui, Major, das scheidet uns für immer!«

Sie hatte ihr schönes Haar gelöst, daß es wie ein Schleier ihre Büste umwallete. Es diente augenscheinlich zu ihrer Beruhigung, als sie einsah, ihre Gestalt, ihr Gesicht und alle die kleinen Vorzüge ihres Körpers hätten nicht unter dem Drucke ihrer Verstellung gelitten. Mit der freien kräftigen Manier, womit sie durch die Felder von Gorwisch nach Biederitz geschritten war, bewegte sie sich in dem Gemache hin und her. Es war ihr eine Lust, die Arme zu bewegen und die Füße zu regen im Wohlsein und Wohlbehagen.

»Lange ertrüge ich die Qual nicht!« flüsterte sie. »Aber für jetzt muß es sein!«

Sie streifte ihr Korsett ab und hüllte den Oberkörper in ein Tuch. Das Korsett legte sie auf den Tisch und nahm eine große Stecknadel und zog einen rothseidenen Faden, womit das Leibchen kreuz und quer durchnähet war, vorsichtig auf. Dann hob sie das Korsett und schüttelte es leise. Zwei Doppellouisd'ors fielen in ihren Schoß. Vergnügt legte sie ihr Korsett wieder an, schnürte es zu und fühlte mit Behagen die harten Goldstücke, die noch darin eingenäht waren.

»Ich könnte fliehen müssen,« schloß sie ihr Selbstgespräch. »Mein kleiner Schatz hält sich gut, mein Incognito als arme Frau kostet wenig. Nun flink, ehe Madame Trinette kommt.«

Und sie flocht ihr Haar wüst über der Stirn zusammen, sie zog die Haube über diesen reichen Haarschmuck, sie bog den Nacken, krümmte den Rücken, preßte die Mundwinkel zusammen, thürmte die Wolken zwischen ihren Augenbraunen auf, da stand das junge hübsche Weib wieder als Madame Erlang, bereit, mit weinerlichem Tone allen Menschen ihr Leid zu klagen.

Sie setzte sich schlaff auf den Stuhl, holte aus der Komode einen mächtig großen Pompadour hervor und legte die Goldstücke in eine Ecke desselben.

»So, nun wären wir gerüstet! Mag's kommen, wie es will, ich sage mich los vom Major, ich will mein Leben in Frieden beschließen! Meine Hülflosigkeit führte mich in des Majors Schlingen und machte mich zu seiner Schülerin, mein Eigennutz und meine Eitelkeit fesselten mich an ihn, meine Gutmütigkeit zwang mich, ihn in seiner hülflosen Armuth zu dem Hafen zu geleiten, wo er unter bescheidenen Ansprüchen eine Versorgung für sein Alter finden könnte, weiter geht meine Verpflichtung nicht, in der That, weiter kann er nichts verlangen! Wüßte er, daß ich in den Tagen des Ueberflusses zurückgelegt habe, um eines Tages, fern von ihm, ein solides Leben zu beginnen, so würde er nicht ruhen, bis er meine Ersparnisse hätte! Nein, Herr Major, unser Contrakt ist gelöst, die Kastanien, die Sie allein zu verspeisen gedenken, hole ich Ihnen nicht aus dem Feuer.«

Frau Erlang schlurfte leise, ganz ihrer Rolle getreu, zur Mittelthür und zog den Kattunlappen aus dem Schlüsselloche.

»Madame soll mich durch's Schlüsselloch beobachten, ich muß heute sehr leidend sein,« murmelte sie.

Sie legte sich wieder in's Kanapee und ächzte bedeutsam.

»Lutka Wonsky ist doch klüger, als Frau Trinette,« dachte sie, innerlich belustigt, »aber Lutka Wonsky ist viel weniger falsch und hinterlistig, sie würde nie ihre Freunde verrathen, nie die Geheimnisse derselben Fremden erzählen!«

 

Es wurde Abend, es wurde Nacht. Herr von Thurngau erschien nicht wieder bei Frau Kühne. So gespannt, so aufmerksam Frau Erlang auf jeden Tritt, auf jedes Geräusch, auf jedes Wort horchte, sie vernahm nichts, was sie zu Befürchtungen anregte. Sie hatte freilich bei ihrer Ankunft in Magdeburg Alles vermieden, was eine Spur ihres Daseins hinterlassen konnte, allein der Zufall vermittelt ja so oft eine Entdeckung! Traf ihre Befürchtung ein, so war ihr Entschluß gefaßt. Aeußerte der Major die geringste Hoffnung sie aufzufinden, so verschwand sie vom Schauplatz ihrer Thaten und floh weit genug, um nicht gefunden werden zu können. Auch für diese Möglichkeit hatte sie schon Sorge getragen und alle Papiere bereit, die nothwendig waren, sie als eine ehrbare Reisende zu legitimiren. Sie hatte nur abwarten wollen, wie sich die Wederstedter Geschichte entwickelte.

Der Morgen des nächsten Tages sollte sie etwas in Allarm bringen.

Die Mittagsstunde war allmählich näher gerückt. Frau Erlang saß in ihrer Stube, natürlich, ohne das Schlüsselloch verstopft zu haben, denn sie wollte von Frau Kühne beobachtet sein und wußte recht gut, daß die kleine Meisterin von Zeit zu Zeit hindurchlugte, um zu sehen, was sie eigentlich beginne, sie sah matt und schläfrig auf ihre kleine Handarbeit nieder, die innerliche Spannung zu verstecken.

Nach der Verabredung zwischen beiden Frauen war die Thür verriegelt. Plötzlich pochte es drei Mal.

»Sind Sie's, Madame?« fragte Frau Erlang ganz ruhig, während ihr Herz furchtbar zu klopfen begann.

»Machen Sie 'mal auf, er ist dagewesen!« rief Frau Trinette eifrig.

Frau Erlang schlurfte zur Thür, als würde es ihr blutsauer, die Füße zu heben.

»Mein Himmel, dagewesen? Mit der Frau Majorin?«

»Schweigen Sie doch von dieser Person! Gott Lob! die ist verschollen! Aber denken Sie nur, der Major hat das Gespann seines Schwiegersohnes nach Wederstedt zurückgeschickt und wird einige Tage hier bleiben. Er hat einige seiner früheren Freunde gefunden.«

»Wen denn zum Beispiel?« fragte Frau Erlang so hastig, daß es der kleinen schlauen Meisterin auffiel.

»Das kann Ihnen doch egal sein,« antwortete sie schnippisch.

»Ganz egal, wenn er nur nicht hierher ziehen will,« verbesserte Frau Erlang ihre momentane Selbstvergessenheit.

»Er denkt nicht d'ran!« sprach Madame Trinette laut lachend. »Er wohnt in Stadt London oben am Breitenwege, und hat sich herausstaffirt, wie ein Jagdjunker. Der alte Mann wird sein Lebtage nicht klug, die paar Louisd'ors, die er dem Herrn von Bohlberg abgedrückt hat, werden bald zerflossen sein, mein Mann hat ihn auch um zwei Stücke leichter gemacht, indem er unsere Auslagen liquidirte. Nun sollen Sie umsonst hier wohnen und nur Ihre Beköstigung bezahlen, Liebste.«

»Ach, sie engelsgute Frau!« rief Frau Erlang begeistert.

»Was übrigens seine Freunde betrifft,« flüsterte Trinette geheimnißvoll, »so sind das nur Spielkumpane. Herr von Thurngau spielt nämlich fürchterlich!«

»Er spielt?« fragte Frau Erlang naiv. »Zum Spielen ist er doch jetzt zu alt und seine Spielgefährten auch.«

Frau Trinette wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Was Sie doch unerfahren sind!«

»Lieber Himmel, in meinem Heimathsstädtchen kann man durch Erfahrungen nickt klug werden.«

»Herr von Thurngau spielt Karte, er spielt um große Summen.«

»Da kann er wohl auch gewinnen?« fragte die kranke Frau etwas kindisch.

»O ja! Aber er kann auch stark verlieren, er kann auch falsch spielen, um zu gewinnen, ach, was kann einer nicht Alles, wenn er erst einmal ein echter Spieler ist. Seine Lutka wird im Gewinnen ihm wohl geholfen haben, wenigstens vermuthe ich dergleichen aus seinen Reden. Nun sie ihm abhanden gekommen, wird er wohl verlieren, wenn ihm nicht gerade ein dummer reicher Junge in den Weg läuft, der leicht gerupft werden kann.«

»Sie haben enorm viel Verstand, liebe Madame!« seufzte Frau Erlang. »Schade, daß Sie nicht in Verhältnissen leben, wo Sie damit glänzen könnten.«

»O, mir nützt mein Verstand hier auch. Fragen Sie nur meinen Mann, was er davon denkt. Wenn der Mann arbeitet und die Frau besorgt die Geschäfte, dann kommt etwas heraus. Wir denken in kurzer Zeit ein Haus zu kaufen und als Partikuliers zu leben.«

Frau Erlang affectirte ein sprachloses Erstaunen.

»Ja ja! Klein anfangen und Groß aufhören, heißt die Devise des Handwerkerstandes, und blanke Kragen, nichts im Magen, heißt's bei den Vornehmen. Wer Gelegenheit gehabt hat, wie ich, hinter die Coulissen zu gucken, Liebste, der weiß, daß der Schein trügt und der Glanz lügt!«

»So wird's auch wohl mit Herrn von Thurngau sein,« wendete Frau Erlang schüchtern ein.

»Mit dem?« fragte Madame Kühne verächtlich. »Mein Mann sagt, den sähe er noch eines Tages am Galgen, wenn er nur die Hälfte von dem ausführte was er vor hat.«

»Am Galgen? das wäre freilich ein trauriges Ende.«

»Nun freilich, damit hat es nichts zu sagen, vornehme Verbrecher kommen nur auf die Citadelle und werden Staatsgefangene,« fügte Madame Trinette eilig hinzu.

»Das sind die Männer mit den gelben und grauen Anzügen?« fragte Frau Erlang.

Die kleine Meisterin lachte überlaut.

»Nein, Liebste, das sind Baugefangene! Es müßte sich kurios ausnehmen, wenn unser gnädiger Herr mit einem gelben Arm und einem gelben Beine in den Straßen Magdeburgs einherstolzirte! Aber möglich ist Alles in der Welt! Schlecht genug ist er, wahrhaftig, schlecht genug ist er. Für so schlimm, wie er sich heute gezeigt, hätte ich ihn nicht gehalten. So schlecht ist er erst geworden. Denken Sie nur, er hat bei allen Höllen und Teufeln geschworen, daß er binnen vier Wochen Herr in Wederstedt sein müsse und solle er auch zu diesem Zwecke die ganze Familie Bohlberg massakriren! Was heißt nun wohl massakriren anders, als todtmachen?«

»Ach, das sind gewiß nur prahlerische Redensarten,« meinte Frau Erlang ängstlich.

»Na! Na! Sie haben ihn in Wederstedt gereizt! Sie haben ihm die Thür zur guten Stube zugesetzt, passen Sie auf, wir erleben etwas! Er war wüthend!«

»Wo hatten Sie denn die Konferenz mit ihm, daß ich seine fürchterliche Stimme nicht gehört habe?«

Madame Trinettchen machte sich etwas zu schaffen, um die Antwort schuldig bleiben zu können. Dann besann sie sich eines andern und sagte schnell:

»Wir waren hinten in der kleinen Werkstatt, wo mein Mann arbeitet, Sie sollten nicht gestört werden. Nun, er darf uns aber nicht wieder über die Schwelle kommen!«

Damit schloß sie ihre Berichterstattung und ging eilig hinaus.

Frau Erlang schaute ihr mit eigenthümlichen Blicken nach.

»Sonderbar! Es sollte wohl etwas verhandelt werden, was Niemand zu hören braucht! Ihr Mann spielte ja heute eine große Rolle im Gespräche, Madame Trinettchen hat geheime Versuche gemacht, die arme Lutka Wonsky aus dem Sattel zu heben, ich will darauf wetten, daß es so ist. Den Major hat sie aber ablaufen lassen. Also, er bleibt hier! Wenn es nur nicht so lange dauert, sonst falle ich aus der Rolle oder muß fort. Lange halt' ich's nicht mehr aus! Das ist in der That die schwerste Rolle, die ich jemals gespielt! Ob ich es wage, seinem Leben hier nachzuspüren? Er ist nur der Gefahr nicht werth, welcher ich mich aussetze. Madame Trinettchen kratzte mir die Augen aus, käm' es heraus, wer Madame Erlang ist!«

Sie lachte still vor sich hin, ehe sie fortfuhr:

»Wer fände aber wohl einen Zusammenhang zwischen der armen, krüppelhaften Frau Erlang und dem Herrn von Thurngau! Es wäre spaßhaft, Madame Trinettchen zu attrapiren, wenn sie wirklich darauf ausginge, meine Stelle zu ersetzen und ihm bei der Eroberung von Wederstedt Hülfe zu leisten.«

 

Madame Erlang setzte richtig ihren Einfall in's Werk. Sie gab vor, eine magnetische Kur gebrauchen zu wollen, die ihr Arzt für heilsam erachtet, und schlich täglich durch die Straßen der Stadt, um das Leben und Treiben des Majors zu beobachten. Nur selten sah sie ihn von fern. Er befand sich stets in der Gesellschaft mehrerer nobler Herrn, die ihn cordial behandelten. Da er um eine bestimmte Stunde in ein bestimmtes Haus ging, so ließ sich erwarten, daß seine Geschäfte im Schwunge waren.

Während Frau Erlang durch ihr Spionirsystem zu diesen Resultaten gelangte, traf Madame Kühne andere Vorbereitungen. Sie erklärte eines Tages nach Wederstedt reisen zu müssen, um einem heiligen Versprechen gemäß, das sie dem verstorbenen Fräulein von Wederstedt geleistet, zum 24. Geburtstage ihrer früheren Pflegetochter dort zu sein, da sie derselben mündliche Aufklärungen über ihre Eltern geben solle.

Von dieser Verpflichtung machte Frau Trinette jetzt plötzlich sehr viel Aufhebens; sie legte derselben eine große Wichtigkeit bei und wiederholte dabei häufig mit großem Nachdruck, daß der Herr von Thurngau sehr in ihrer Achtung gesunken sei und ihre Schwelle niemals wieder betreten dürfe. Es war augenfällig eine Absicht mit ihren Reden verbunden, und wenn Madame Erlang wirklich eine einfache, kranke Person von beschränktem Verstande gewesen wäre, so würde sie ihr unbedingt Glauben geschenkt haben.

 

Im Wederstedt'schen Herrenhause war seit der Abreise des Majors Friede und Ruhe wieder heimisch. Mit seiner Entfernung war der Alp der Sorge, der unbewußt alle Gemüther bedrückte, verschwunden, und Herr von Bohlberg fühlte sich geneigt, die stille Furcht, welche sie beherrscht hatte, lächerlich zu machen.

Helene sagte mit bezeichnendem Uebermuthe:

»Sei gefeiert, holder Friede, sei willkommen, Heil der Welt!«

Nach ihren kindlich treuherzigen Begriffen glaubte sie der Kampf sei vorbei, der Feind habe seinen Rückzug angetreten und werde sich nun auf Kapitulationen einlassen.

»Papa wird dann als großmüthiger Sieger handeln,« sagte sie stolz, dem Vater sich anschmiegend.

Noch mehr wurde das junge Mädchen in der Meinung bestärkt, als am zweiten Abend die Jagdkalesche zurückkam und der pfiffige Knecht mit Schmunzeln bestellte:

»Der gnädige Herr von Thurngau würde einige Wochen in Magdeburg bleiben.«

Herr von Bohlberg sah dem Burschen an, daß er sehr gern noch etwas hinzugefügt hätte. Deshalb nahm er eine leutselige Miene an und ermunterte ihn durch einen freundlichen Blick. Das half.

»Mit dem gnädigen Herrn von Thurngau muß es eine kuriose Bewandtniß haben,« sagte er flüsternd, »der Herr Gastwirth kam erst in den Stall und musterte meine Pferde, dann fragte er, ob ich dabliebe. Natürlich, sagte ich ja. Dann kam sein Herr Rechnungsführer und fragte, was meine Pferde wohl werth wären. Und heute früh mußte ich zum gnädigen Herrn von Thurngau in's Zimmer kommen, wo er mir denn befahl, mit dem Gespann nach einem andern Gasthof zu fahren, weil es ihm in Stadt London zu viel kosten würde. Er nannte mir den Gasthof zum Handfaß. Ich faßte mir ein Herz und fragte, wie lange die Geschichte dauern solle. Als er antwortete ein paar Tage, da wußte ich, was zu thun war. Ganz still führte ich die Pferde aus dem Stalle, schirrte sie an die Kalesche, kein Mensch war auf dem Hofe, und fuhr ab. Aber nicht nach dem Handfaß, sondern in die Vorstadt nach dem Regenbogen, wo ein Knecht aus Wederstedt dient. Dem übergab ich mein Fuhrwerk und ging eilends wieder nach Stadt London zurück. Herr von Thurngau stand vor der Thür, auf dem breiten Steine, und wollte ausgehen. ›Mit Verlaub, Gnaden,‹ sagte ich. Er drehte sich um, und sah ganz vergnügt aus. ›Abgemacht?‹ sprach er. ›Was sagt der Mann zu den Pferden?‹ ›Gar nichts!‹ antwortete ich. ›Ich wollt' nur gehorsamst melden, daß ich nach Haus muß, und wollt' nur fragen, wann ich wieder kommen soll!‹ Da fluchte Gnaden mörderlich! ›Fahr zum Teufel,‹ schrie er. ›O nee, nur nach Wederstedt,‹ sagt' ich und ging meiner Wege.«

Herr von Bohlberg nickte ihm zu.

»Brav von dir! Zurückholen sollst du ihn nicht!«

»Ich denk' auch, es wird am besten sein, wenn Gnaden nicht wiederkommen,« entgegnete der Knecht und ging im Bewußtsein, seinem Herrn die Pferde gerettet zu haben, stolz nach den Ställen.

Für den Augenblick waren sie also den bösen Geist los.

 

Auch die alten Freunde des Hauses athmeten froh auf. Der alte Oberamtmann Hedemann und der Landdrost von Werder, welche beide vermieden hatten, während des Majors Anwesenheit Wederstedt zu besuchen, kamen in den nächsten Tagen, nachdem sie erfahren, daß der Major auf ungewisse Zeit das Feld geräumt.

Zuerst traf der Oberamtmann ein. Es war ein stattlicher alter Herr, mit einer kleidbaren Korpulenz, rothbraunem Gesichte und schneeweißem Krauskopf. Die Gutmütigkeit leuchtete ihm aus den blauen Augen und fröhliche Zufriedenheit lagerte auf den vollen Wangen und auf den lächelnden Lippen.

»Ist er fort? Gott sei Dank, daß ich euch Alle noch lebend finde,« sagte er beim Eintreten. »Ich durfte ja nicht her, um ihn mores zu lehren, ich hätte ihn wahrhaftig niederschießen müssen, wie einen tollen Hund. Kinder,« fügte er hinzu, mit grimmiger Gemüthlichkeit Herrn von Bohlberg die Hände schüttelnd, »wahrhaftig, ich hätte es thun müssen, denn ich habe es ihm in's Gesicht geschworen. Also, ihr seid Alle mit heiler Haut davon gekommen, aber ihr Geldkasten, Bohlberg, ihr Geldkasten?«

»Der ist um zwanzig Goldstücke leichter geworden,« antwortete Bohlberg heiter.

»Lassen Sie ihn damit laufen! Und die Pferde sind glücklich wieder im Stalle?«

»Das danke ich meiner Frau, denn sie hatte den Knecht instruirt!«

»Schön, schön! Habe auch schon gehört, daß Frau Bertha den Familienschrank als Barrikade benutzt hat. Vortrefflich! Gut, daß er weg ist und uns Zeit läßt, unsere Maßregeln zu treffen. Vorläufig haben wir, der Drost und ich, schon Beschlüsse gefaßt, die aber freilich Ihrer Unterschrift noch bedürfen.«

»Ich fürchte nur, daß alle Vorsätze an der schlangenähnlichen Hartnäckigkeit meines Herrn Schwiegervaters scheitern,« antwortete Bohlberg. »Ich glaube, er stellt sich, wie die Boa constrictor, schlafend, um den Zeitpunkt abzuwarten, wo er auf sein Ziel losschießen kann.«

»Möglich! Wissen Sie, daß ich mir Vorwürfe mache, der seligen Frau von Thurngau nachgegeben zu haben, als sie verlangte, wir sollten Ihnen und Ihrer Gattin verhehlen, was vorgefallen ist in früherer Zeit?«

»Allerdings möchte ich Ihnen dies auch zum Vorwurf machen.«

»Wer konnte aber denken, daß der ehrvergessene Mann es wagen würde, wie eine Bombe in's Haus zu fallen und somit alle Vorkehrungen unmöglich zu machen? Ich habe Todesangst ausgestanden. Ich kenne ja den Herrn und mußte das Aeußerste fürchten. Nur die Verzweiflung des Elends kann ihn hergetrieben haben, sonst wäre er nicht gekommen.«

»Nun? Sie könnten irren, Habsuchtsgelüste schienen mir die Ursache seiner Belagerung, er möchte Wederstedt als sein Eigenthum betrachten.«

»Glauben Sie doch das nicht, glauben Sie doch das nicht! Geld will er von Ihnen erpressen. Natürlich muß er sich dabei das Ansehen geben, als hätte er ein Recht dazu. Das Recht hat er verloren. Sie haben doch alle Papiere Ihrer seligen Schwiegermutter sicher verwahrt?«

»Ganz sicher!« versicherte Bohlberg heiter. »Jeden Morgen und jeden Abend hat meine Frau nachgesehen, ob noch Alles da sei.«

»Nun kommen Sie zu Ihren Damen,« sprach der Oberamtmann beruhigt. »Ich habe eine Einladung für Sie Alle. Meine Frau Gemahlin will meinen Geburtstag feiern, weil nun das Schock Jahre vollzählig wird. Es soll auf dem See gegondelt, es soll gesungen, gegessen, getrunken und getanzt werden zur Feier meiner sechzig Jahre. Kurioser Freudenspektakel über die Begebenheit, daß der Mensch alt wird,« fügte der Oberamtmann herzlich lachend hinzu, »ja, wenn man vom sechzigsten Jahre an rückwärts ginge und wieder jung würde! Nun, meine Alte freut sich aber über ihren weißköpfigen Alten und da wollen wir uns Alle mit ihr freuen!«

Die Herren verfügten sich in's Wohnzimmer, wo die Damen saßen. Die Einladung auf den Dienstag der nächsten Woche wurde angebracht und angenommen, der Major und alle Schrecknisse der letzten Zeit gehörig durchsprechen und schließlich erschien Allen das Phantom der Furcht, das sie geängstigt hatte, gar nicht so gefährlich. Die Heiterkeit verjagte die Grillen.

»Wenn mein Schwiegervater zurückkommen sollte,« sprach Bohlberg wohlgemuth, »so fasse ich die Sache kräftiger an. Es wird meinerseits eine Konferenz anberaumt, wozu ich die alten Beschützer und Freunde meiner Schwiegermutter einlade, und unter Zuziehung der nöthigen Gerichtspersonen soll dann eine kleine Rente für den Schwiegervater ausgesetzt werden.«

»Thörichte Großmuth!« rief der Oberamtmann ärgerlich. »Das nenne ich Sünden bezahlen.«

»Aber mein Papa handelt recht!« sagte Helene in ihrer voreiligen Manier. »Je mehr wir ihn verabscheuen, desto großmüthiger müssen wir sein, wir kaufen damit unsere Pflichten der Liebe los.«

Der Oberamtmann wendete sich und sah sie gutmüthig an.

»So? So? Hat dir das Herr Edmund etwa eingepredigt, Kleine?«

»Nein! Ich habe es, als meine Meinung, ihm vorgepredigt,« antwortete Helene ruhig.

»Ich kann dir sagen, daß er deine Predigt gut behalten hat und danach seine Grundsätze zu bilden sucht.«

»Wie so?« fragte Helene und ein flüchtiges Roth freudiger Regung zuckte über ihr Gesicht.

»Herr von Werder stellte mir als erste These seines Glaubensbekenntnisses rücksichtlich Herrn von Thurngau diese vortreffliche Redensart als Norm auf,« sprach der alte Herr lächelnd. »Die Uebereinstimmung Eurer Meinungen will mir sehr gefallen, Kinder!«

Helene lachte unbefangen. In ihrem Kindergemüthe gab es noch kein Verständniß für solche Neckereien und außerdem betrachtete sie Herrn Edmund noch viel zu sehr als Eigenthum Henriettens, der seine Besuche gegolten hatten.

 

Am andern Tage kam der alte Drost von Werder angefahren. Es war eine ganz verschiedene Erscheinung wie der Oberamtmann Hedemann. Zierlich von Gestalt, fein im Wesen, äußerlich wie innerlich Aristokrat, aber nicht einer von der schlimmen Sorte. Seine feine und elegante Toilette kennzeichnete den Junggesellen und man sprach heimlich davon, daß seine Verehrung für die selige Frau von Thurngau ihn jedenfalls zu ihrem Gatten gemacht haben würde, wenn sich diese würdige Dame zu einer Scheidung hätte entschließen können.

Als seine Equipage hielt, eilte Bohlberg, der ihn wahrhaft verehrte, hinaus, um ihn zu bewillkommnen.

»Ist er weg?« fragte der alte Herr zum Wagen hinaus. »Ich hörte es von meinem Neffen, daß er einige Zeit wegzubleiben gedenkt. Lassen Sie uns diese Zeit benutzen, lieber Bohlberg; daß ich nicht gekommen bin, während er hier hauste, hat seinen Grund. Ich hätte ihn ohne weiteres verhaften lassen müssen, ich habe mein Ehrenwort gegeben, es zu thun, wenn er sich jemals in Wederstedt blicken ließe. Wie denkt Ihre Gemahlin über die Sache? Ich möchte nicht verletzen –«

Bohlberg beruhigte ihn darüber mit wenigen Worten.

»Wir müssen rückhaltlos die traurigen Mißverhältnisse Ihres Hauses besprechen,« fuhr der alte Herr, im Aussteigen begriffen, fort. »So lange es möglich war, habe ich derselben mit keiner Silbe erwähnt, jetzt drängt mich die Nothwendigkeit dazu. Ich kann es Ihrer Frau, ich kann es Ihrer Tochter nicht ersparen, das Bild dieses Mannes in seiner abschreckenden Wirklichkeit zu schildern. Weniger nöthig wäre es für Henriette, aber es können Umstände eintreten, die es auch für dies arme Mädchen heilsam machen, wenn sie es zur rechten Zeit erfahren hat, wie verächtlich er ist.«

Bohlberg schaute frappirt auf. Er gedachte der sonderbaren Verdächtigung, die der Major versucht hatte.

»Sie wissen etwas Näheres über Henriettens Verhältnisse?« fragte er dringlich. »Ja! Aber ich spreche nur in der größten Noth davon.«

Er brach ab und streckte mit dem allerfreundlichsten Gesicht seine Hand Helenen entgegen, die ihm vom Flure aus ein Willkommen zurief.

»Endlich! Endlich, Herr von Werder,« sagte sie schmollend und drückte ihr Köpfchen an seine Brust, während er sie an sich zog und ihre Stirn küßte. »Sie verdienen es gar nicht, daß ich mich freue!«

»O, ich habe täglich meine Nachrichten von hier gehabt und die Grüße, die mir meine Helene schickte, sind mir Bürgschaft ihrer fortdauernden Liebe gewesen.«

»Täglich?« wiederholte Herr von Bohlberg mit komischer Verwunderung.

»Nein, täglich nicht!« eiferte das junge Mädchen nicht ohne alle Verlegenheit. »Herr von Werder übertreibt, Papa! Edmund ist nur zuweilen am Gartenzaun gewesen und hat nur zuweilen mit mir geredet, wenn ich zufällig in dem Lindenhäuschen saß.«

»Ei, dann hat mich Edmund betrogen mit den Grüßen,« neckte Herr von Werder, »denn seit vier Tagen hat er mir täglich Grüße gebracht.«

»Ja,« antwortete Helene zögernd und schien die Tage zu berechnen, »ja, seit vier Tagen habe ich Edmund auch täglich gesprochen. Er forderte mich auf, zur bestimmten Stunde im Lindenhäuschen zu sein, da es ihn sehr interessire, zu erfahren, was im Hause vorfiele.«

Herr von Bohlberg wechselte mit dem alten Herrn einen Blick.

»Stören wir diesen Kinderfrieden nicht,« flüsterte letzterer ganz leise, als Helme voraussprang, um die Thür zu öffnen.

»Warum kommt Ihr Neffe nicht in's Haus?« flüsterte Bohlberg dagegen.

»Edmund ist ein sonderbarer Kauz, der seine Uebereilung und Irrthümer mit dem Entschlusse eines Märtyrers büßt. Lassen wir ihn seine Wege gehen, sie führen ihn schon noch zeitig genug zum Ziele; die Rose muß erst noch erblühen zur vollen Pracht, ehe er sie brechen darf.«

Sie traten jetzt in's Zimmer. Herr von Werder küßte Frau von Bohlberg mit der ritterlichen Courtoisie der Vorzeit die Hand und fragte mit der höchsten Umständlichkeit nach ihrem Befinden. Dann aber wechselte er den Ausdruck seiner Gesprächsweise und nahm einen Geschäftston an.

»Ich bedaure, meine Gnädige,« sagte er mit würdigem Ernst, »daß mein Besuch für heute sehr traurige Erklärungen mit sich bringen wird. Es läßt sich fernerhin nicht mehr umgehen, von vergangenen Dingen zu sprechen, da die Gegenwart uns die Vergangenheit nahe führt und für die Zukunft bangen läßt. Bis zu diesem Zeitpunkte mußte ich schweigen, so lautete mein Versprechen. Jetzt muß ich reden, und ich bitte im Voraus um Vergebung, wenn meine Aufklärungen heilige Gefühle in Ihnen verletzen sollten.«

»Reden Sie, bester Herr,« unterbrach ihn Frau von Bohlberg mit fieberhafter Spannung, »ich ahne, daß Sie im Namen meiner Mutter reden werden!«

»In ihrem Namen und in ihrem Geiste! Wollte ich meiner Empfindung nachgeben, so würde die Empörung meine Worte färben. Ich will aber im Andenken an meine treuste und liebste Freundin, denn das war die selige Frau von Thurngau, meinen Zorn zügeln und einfach die Thatsachen darstellen. Zuerst muß ich Ihnen eröffnen, daß schon die Werbung des Herrn von Thurngau ein Werk des Eigennutzes war.«

»Wo hat meine Mutter den Mann, den ich Vater nennen muß, kennen gelernt?«

»Hier in Wederstedt, meine Gnädige! Ihre Mutter war ein unschuldiges, reines, seelenvolles Kind, das arglos die Huldigungen Thurngau's für Liebe nahm. Sie war die einzige Erbin ihres Vaters, also Besitzerin dieses Gutes. Dieser Umstand mußte dem Herrn von Thurngau zu Ohr gekommen sein, genug, er kam hierher unter einem Vorwande und reiste als Verlobter der jungen, reizenden Helene von Wederstedt wieder ab. Seine erste Lüge war die, daß er sich für einen Husaren-Lieutenant ausgab, während er als Fähndrich wegen Infamien aus dem Dienst gejagt worden war.«

Frau von Bohlberg seufzte und barg erschreckt die Augen in den Händen.

»Meine arme Mutter! Wann erfuhr sie den Betrug?«

»Erst nach Jahren. Aber daß sie in der Wahl ihres Gatten nicht glücklich gewesen war, erkannte sie schon im ersten Jahre ihrer Ehe. Herr von Thurngau verließ Monate lang das Haus, ohne zu sagen, wohin er gehe; er raffte vorher alles baare Geld zusammen, suchte durch den Verkauf des Viehes, durch Holzschlagen und so weiter so viel zu bekommen, wie möglich und kam bisweilen gänzlich abgerissen und entblößt vom Unentbehrlichen wieder.«

»Wodurch versetzte er sich denn in diese Trübsal?« fragte Frau von Bohlberg erschrocken.

»Durch rasendes Spiel! Er war dieser Leidenschaft auf's Entsetzlichste verfallen und hatte damals noch nicht die Kunstgriffe erlernt, womit sich Spieler von Profession zu halten suchen. Späterhin, als er von Rußland zurückkehrte, rühmte er sich, von einem Polen gelernt zu haben, wie man spielen müsse.

Genug davon, meine Gnädige. Ihre arme Mutter empfand einen entsetzlichen Abscheu vor diesem Manne, als sie ihn erkannt hatte. Aber der Stolz hielt sie ab, öffentlich einzuräumen, daß sie elend sei. Sie kaufte sich durch unzählige Opfer von jeder Gemeinschaft mit ihm los, dies gerade gab sie jedoch um so sicherer in seine Hände. Sie, meine Theure, waren im zweiten Jahre der unglücklichen Ehe geboren und Ihretwegen brachte Ihre Mutter gern die Opfer, weil sie hoffte, Ihnen einen unbescholtenen Vaternamen zu erhalten. Herr von Thurngau kam und ging. Bisweilen blieb er Jahre lang weg. Er nahm auch Dienste unter Jerome, dem Könige von Westphalen, wurde wirklich zum Lieutenant ernannt, brachte es indeß keineswegs zum Major, obwohl er sich jetzt so nennt.«

»Also wirklich – wirklich!« rief Helene dazwischen. »Es ist der Major?«

»Die Hauptbegebenheiten seines Lebens, die ihm jeden Anspruch und jeden Aufenthalt in Wederstedt verbieten, fallen in die Zeit, meine Gnädige, wo Sie eben zur Jungfrau erblühet waren.«

»Ich weiß genau, daß meine Mutter einem Anfall von Ohnmacht unterworfen war, als er unvermuthet eintrat,« sagte Frau von Bohlberg dumpf.

»Er wirthschaftete fürchterlich, er verkaufte Alles, er räumte den großen Silberschrank aus und verkaufte die kostbaren Gerätschaften für ein Lumpengeld – alle Werthgegenstände, die in einem Bureau von sicherer Construction aufbewahrt gewesen, waren fort; Herr von Thurngau sprach mit frecher Stirn von einem ungeheuern Diebstahle – da trat ich in's Mittel und beorderte meine Gensd'armen, diesem Unfug nachzuspähen. Ich hatte längst gehört, in wie traurigen Eheverhältnissen die junge schöne Frau von Thurngau lebte, aber so arg hatte ich mir ihre Lage nicht vorgestellt. Ich kam eines Tages unvermuthet hier an, um eine Ocularinspection zu halten. Ich fand eine greuliche Zerstörung. Einer Scene maßlosen, wilden Zornes war die Kraft der armen Dame erlegen. Frau von Thurngau war entschlossen, mit Ihnen, gnädige Frau, zu entfliehen und ihr ganzes Hab und Gut dem gewissenlosen Ehemanne preiszugeben. Das sagte sie mir, als ich sie endlich im Gartenstübchen auffand, wohin sie sich vor dem tobenden Manne gerettet hatte. In dieser gänzlichen Hülflosigkeit erschien ihr endlich der Zuspruch eines Freundes als eine Quelle des Trostes. Ich packte Frau von Thurngau, Sie, meine Gnädige, und die kleine Jetty in meinen Wagen und schickte Sie alle Drei nach Groß-Heilungen zum Oberamtmann Hedemann.«

»Ja, ja!« flüsterte Frau Bertha. »Wir dankten Gott, als wir Wederstedt verlassen hatten. Ich wagte zum ersten Male dringend nach der Ursache der häuslichen Sorgen zu fragen, die meine arme Mutter sichtlich darnieder beugten. Sie wich allen Fragen aus, sie vertröstete mich auf die Hülfe ihrer Freunde. Wir mußten den Oberamtmann nach Wederstedt schicken. Drei Tage blieben wir in Heilungen. Der Oberamtmann kam schon am ersten Abende mit freudigem Gesicht wieder und erklärte meiner Mutter, die Sache stünde gut, Freund Werder habe das rechte Mittel ergriffen. Weiter habe ich nichts über die Geschichte erfahren.«

»Nach meiner Meinung,« erwiederte der Drost, »sollten Sie eingeweiht werden, aber Ihre Mutter wollte es nicht. Ihrem Willen zufolge, darf ich auch nicht speciell Alles enthüllen, was geschehen ist. Nur das will ich andeuten, daß die Gewissenlosigkeit Thurngau's Alles überschritt, was mir jemals in meinem Amtsleben vorgekommen war. Ich zähmte ihn nur durch die Kraft des Gesetzes, das mich verpflichtet hätte, seine Räubereien und Betrügereien anzuzeigen. Er hatte den Namen seiner armen Frau nachgeahmt, hatte Dokumente von Wichtigkeit mit dieser falschen Namensunterschrift angefertigt, kurz und gut, er hatte seine Frau zu Grunde gerichtet. Wir mußten nun vor allen Dingen diesen Patron unschädlich zu machen suchen. Es gelang uns. Er verzichtete auf jedes Recht, das er als Ehegatte der Besitzerin von Wederstedt zu haben meinte, und erklärte sich für vollständig befriedigt mit der Abfindungssumme von fünftausend Thalern, die Freund Hedemann der bedrängten Frau von Thurngau bereitwillig zur Disposition stellte. Nochmals drang ich in unsere Freundin Thurngau, daß sie die Ehescheidung zur Bedingung machen solle, vergebens, es war der einzige Eigensinn, den ich jemals an der liebenswürdigen Dame wahrgenommen habe.«

»Ob Großpapa wohl wiedergekommen wäre, wenn unsere liebe Großmutter noch lebte?« fragte Helene, die ungemein aufmerksam zuhörte.

»Nein! dieser Abschnitt seines Lebens war unwiderruflich abgeschlossen. Aber er scheint den Tod der Dame als den Anfang eines neuen Rechtes zu betrachten und verblendet sich augenscheinlich über die Gefahren, denen er sich durch sein Wiedererscheinen aussetzt. Wir, die Zeugen seiner Ruchlosigkeit, leben ja noch. Was er auch vornehmen will, kann er sich einbilden, daß wir so schwach von Begriffen sind, die Gründe seiner That nicht einzusehen?«

»O sein Plan umgeht Ihre Macht, Herr von Werder,« fiel Bohlberg ein. »Bei seinem Eintreffen ging er darauf aus, uns in der kindlichen Demuth zu üben. Diesen Exercitien machte ich ein Ende durch Hindeutungen auf Documente, die uns schützen würden. Danach ging er zur Rolle eines liebenswürdigen Gastes über und sprach plump genug sein Verlangen aus, Korrespondenzen im Bureau zu suchen, die für ihn Interesse hätten. Aus allen seinen Masken schimmerte nur die Sehnsucht hervor, sich in den Besitz seiner Verzichtsurkunde zu setzen, um dann nach Vernichtung derselben sagen zu können: Seht, ich will Euch ein liebevoller Vater sein, wenn Ihr mir meinen Willen thut. Er muß durch die Noth zu seinen Plänen gedrängt werden sein!«

»Wohl nicht!« war Werder's Antwort. »Mein Neffe hat ihn im vorigen Jahre auf seiner Reisetour irgendwo angetroffen, wo er im höchsten Glanz florirt hat. Edmund weiß es nicht mehr ganz genau, aber er glaubt damals auch von einer Majorin von Thurngau gehört zu haben.«

»Also ist es wahr?« fragte Helene überrascht, während Henriette, die bisher bescheiden geschwiegen hatte, lebhaft rief:

»Herr von Thurngau hat uns gesagt, daß er seit vorigem Herbst wieder verheirathet sei. Er sprach mit großem Enthusiasmus von seiner Frau.«

»Darin liegt keine Empfehlung für die Dame« erwiderte Werder trocken. »Wer von Thurngau gelobt wird, muß ihm gleich stehen an Bösartigkeit. Daß er sein Leben als Spieler fortgesetzt, bekundet die furchtbare Katastrophe, von der Edmund Augenzeuge gewesen ist. Er hatte systematisch einem jungen Manne, Sohn eines geadelten Schneiders, Namens Scheffler, die Börse leichter gemacht, indem er ihn in den Kreis seiner hochadeligen Gesellschaft zog, wo stets stark gespielt wurde. Dieser Herr von Scheffler war kürzlich verheirathet mit einer Banquierstochter. Sein Schwiegervater setzte alles Vertrauen in den jungen, etwas eitlen und hochmüthigen Mann. Daher kam es denn, daß er nicht beobachtete, was in seinem Comptoir respective in seinem Geldschrank vorging. Eines Abends wo grande fête bei Thurngau gewesen war, entsteht plötzlich ein wilder Lärm vor seinem Quartier, man fragt, man ruft, man will in's Haus dringen. Ein Schuß ist gefallen, die Kugel ist durch's Fenster gefahren und hat beinahe einen alten Herrn getroffen. Ein zweiter Schuß folgt, ein Kreischen von Frauenstimmen hatte dies Ereigniß, das sich unglaublich schnell entwickelt, noch unheimlicher gemacht.

Endlich öffnete sich die Hausthür dem ungestüm Einlaß begehrenden Publikum, es drängt sich in den Hausflur, voran der alte Herr, der Genugthuung für das unvorsichtige Schießen, daß ihn bedrohte, zu fordern gedenkt. Wild und verworren ist die Scene, welche sich den Augen der Eindringenden darstellt. Damen in blendendem Putz, aber nicht zu den achtbaren Zirkeln der Stadt gehörend, Offiziere, Beamte, Kaufleute, Alles bunt durch einander, rennt, wie gejagt vor Schrecken und Furcht, davon – man erkannte jedoch trotz ihrer Eile fortzukommen, daß man eine Gesellschaft von Leuten sehr zweifelhaften Rufes vor sich habe. Mein Neffe kam willenlos zu der Ehre, Zeuge eines Spektakelstückes zu werden, wodurch ihm ein Einblick in diese geselligen Verhältnisse zu Theil wurde. Vorwärts geschoben, sah er sich in einem großen Salon, vor sich einen jungen Mann mit zerschmettertem Kopfe, Pulverdampf hing noch um die Kronleuchter. ›Mein Schwiegersohn!‹ rief der alte Herr, der im Eifer des Zorns geglaubt hatte, einem jugendlichen Uebermuthe auf die Spur zu kommen. ›Um Gottes willen, was ist hier geschehen?‹ ›Fragen sie den Major, mein Herr,‹ antwortete ihm ein bleicher, vor Aufregung zitternder Offizier, der sich bemühte, die Leiche aufzurichten. ›Fragen sie den Major, weshalb er seit Monaten diesen jungen Mann täglich aufgefordert hat, Revanche für die verlorenen Summen in seinem Hause zu suchen – jetzt hat er sich die letzte Revanche genommen und die Majorin mit seinem Blute bespritzt.‹

Eine bedeutsame Aufregung brach sich nach diesen Worten Bahn im versammelten Publikum. ›Greift den Major! An die Laterne mit dem falschen Spieler, er ist ein Hallunke, o meine Tochter, du armer Sohn, warum hattest du kein Vertrauen zum Schwiegervater!‹ rief der alte Herr. ›Gehen Sie nach Hause und sehen Sie erst nach, was Ihnen fehlt,‹ sprach ein anderer Herr der Gesellschaft. ›Nur mein Tod kann sühnen was ich gethan!‹ waren die letzten Worte des Herrn von Scheffler.«

Der Drost hielt inne.

»Was wurde aus Thurngau? Griff man ihn?« fragte Bohlberg empört.

»Er war sogleich nach dem Schusse verschwunden. Man suchte ihn vergeblich in seiner Wohnung, er hatte sich eilends aus dem Staube gemacht und dadurch seine Schuld eingeräumt. Edmund hatte ihn nur einige Male auf der Promenade gesehen, aber seine Erscheinung hatte einen so widerwärtigen Eindruck gemacht, daß er ihn sogleich erkannte, als er hier auf den Gutshof zugeschritten war.«

»Vielleicht ist er aber doch nur aus Noth zu uns gekommen,« sprach Frau Bohlberg, die mit innerem Grauen der Erzählung Werders gelauscht hatte. »Vielleicht hat das gewonnene Geld, welches Gottes Rache herabrief, nicht hingereicht, ihn vor Noth zu schützen, denn seine Bekleidung ließ dergleichen vermuthen.«

»Wahrscheinlich hat er sich seitdem nicht hervorgewagt mit seinen Künsten,« wendete Bohlberg ein.

»Mir machte Großpapa schon von fern her den Eindruck eines Mannes, der sich in den niedrigen Sphären zu bewegen gewohnt ist,« entgegnete Helene keck. »Dazu paßt aber seine Vermählung mit einer jungen, schönen Gräfin nicht.«

»Wenn die Gräfin ein abenteuerndes, leichtsinniges Frauenzimmer ist, warum nicht?« warf der Drost ein. »Es giebt dergleichen Damen im höchsten Stande. Man findet vulkanische Elemente in dem Wesen der Frau, die jeder Zucht und Ehrbarkeit spotten und die unsittlichste Stellung in der Welt einem normalen Lebenskreise vorziehen.«

»Solche Frau paßt für ihn,« erklärte Helene, fügte aber gleich hinzu: »Wenn Herr von Thurngau nun solche Frau hierher bringt und respektvolle Liebe für sie beansprucht? Wie dann, Herr von Werder?«

»Dem muß vorgebeugt werden!« entschied der alte Herr mit strengem Ernste.

»Aber wie? Er kommt und bringt seine Gemahlin, was nun?« fuhr Helene fort.

»Wir wären dann auf demselben Punkte, wie vor langen Jahren, wo Sie mich, meine Mutter und Jetty in den Wagen packten und zum Oberamtmann Hedemann schickten,« meinte Frau von Bohlberg mit traurigem Spotte.

»Seid ohne Sorgen!« rief Bohlberg sehr sicher, »mit offener Gewalt tritt Thurngau hier nicht wieder auf und gegen seine List können wir uns durch ein öffentliches Verfahren schützen. Ich bin nicht der Meinung meiner lieben, seligen Schwiegermama, die lieber den innern, faulen Schaden mit Ergebung ertrug, um nur die Rederei der Leute zu vermeiden. Ich fürchte das Urtheil der Welt gar nicht. Die Edeldenkenden wissen, daß wir die Schmach unverschuldet tragen, einen gebrandmarkten Mann zu dem Kreise unserer Freundschaft zählen zu müssen. Ich habe beschlossen, dies öffentliche Geheimniß zur Sprache zu bringen und meinen unbefleckten Namen den unsichtbaren Einflüssen schandvoller Thatsachen entgegenzustellen.«

»Dazu ist nöthig, daß Sie dem Major Ihr Haus verbieten!« fiel Werder mit lebhafter Zufriedenheit ein. »Die Consequenz Ihres Betragens würde stark beeinträchtigt werden, wollten Sie nicht jede Gemeinschaft mit diesem mißachteten Manne abbrechen.«

»Allerdings, meine Consequenz könnte angezweifelt werden, wenn ich ihn hier dulden würde; aber wäre es edel, ihm mein Haus zu verbieten?« fragte Bohlberg.

Helene erhob sich leise, schlich zu ihrem Vater und drückte ihre Lippen auf seine Hand.

Dieser Zoll kindlicher Verehrung, dieser Beweis eines vollkommenen Verständnisses rührte den Vater. Er umschlang sein Töchterchen und hielt es fest an sich gedrückt während des folgenden Gespräches, das äußerst lebhaft geführt wurde.

»Ich verstehe Ihre Absicht nicht ganz, lieber Bohlberg,« antwortete der Drost. »Bitte um Belehrung! Sie können unmöglich dem Publikum sagen: Mein Schwiegervater ist ein Schuft! und ihn dessenungeachtet als Familienglied betrachtet wissen wollen.«

»Beide Voraussetzungen sind falsch, Herr von Werder. Ich habe weder die Absicht, so böswillige Erklärungen abzugeben, noch den alten Herrn in meinem Hause zu dulden. Ich bin ganz einfach nur Willens, denselben dahin zu bringen, daß er von selbst mein Haus verläßt und in der Ueberzeugung seines Unwerthes niemals wieder die Neigung verspürt, dasselbe zu betreten. Und dazu, mein Verehrtester, sollen Sie mir behülflich sein.«

»Recht gern,« antwortete Werder in seiner trockenen ironischen Manier, die er annahm, wenn er seine Mißbilligung ausdrücken wollte. »Recht gern, mein junger Freund, insofern Sie mir erst die Mittel anzugeben vermögen, besagten Thurngau zur Ueberzeugung seines Unwerthes zu bringen.«

»Darlegungen von Thatsachen werden das bewirken.«

»Meinen Sie? Sie sprechen vom Fuchs und kennen keinen Fuchs.«

»So überzeugen wir ihn davon.«

»Versuchen Sie nur Ihr Heil!«

»Er räumte doch gleich willig den betretenen Weg der Anmaßung, als ich zeigte, daß ich Herr im Hause und Gatte seiner Tochter sei.«

»Deswegen hat er nun und nimmermehr seinen ursprünglich bestimmten Weg verlassen.«

»Weswegen denn sonst?«

»Um andere Wege zu versuchen.«

»Gut, kommen wir ihm auf diesen andern Wegen friedlich entgegen.«

»Wie Sie wollen! Meine Verantwortung hört mit meinen Geständnissen über die schuldbeladene Vergangenheit Thurngau's auf. Was Sie beschließen, müssen Sie vertreten. Hülfe in allen Fällen verspreche ich Ihnen auf Ehre!«

»Ich nehme dies Versprechen an, Herr von Werder, und bitte Sie, einer Conferenz beizuwohnen, wenn Herr von Thurngau zurückkommen sollte. Wir wollen als ehrliche Feinde unser Visir aufschlagen.«

»Er schlägt es nicht auf –mein Wort darauf.«

»Dann zwingen wir ihn durch unsere Dokumente.«

»Wenn er diese bis dahin nicht in seine Gewalt gebracht hat.«

»Das soll ihm nicht gelingen!« rief Bohlberg triumphirend.

Helene rief beistimmend:

»Wir sind wachsam und behutsam!«

Der Blick des alten Herrn von Werder ruhte mitleidig und ironisch zugleich auf Bohlberg und seiner Tochter.

»Ach, ihr armen Menschenkinder, die ihr mit dem Teufel zu kämpfen gedenkt,« sagte er halb lachend, halb ernst. Dann plötzlich von einem Gedanken erfaßt, der eigentlich sehr nahe gelegen, fuhr er hastig fort:

»Geben Sie mir Ihre wichtigen Papiere in Obhut, Bohlberg, ich nehme sie mit und bringe sie mit herüber, wenn es zur Conferenz kommen sollte.«

Bohlberg machte eine abwehrende, stolze Geberde. Helene stützte ihre Hände auf seine Schultern. »Vater, das ist ein guter Vorschlag!« sagte Helene.

Jetzt warfen sich auch die beiden andern Frauen in's Mittel.

»Nimm Werders Vorschlag an, lieber Oswald!« bat Frau von Bohlberg. –

»Weisen Sie dies Anerbieten nicht zurück, gnädiger Herr,« flehte Henriette.

»Es wäre das leichteste Mittel, mir meinen ruhigen Schlaf wiederzugeben, bester Oswald!«

»Aber es wäre eine Feigheit von mir, deren ich mich schäme!« erklärte Bohlberg.

»Lieber Freund, Sie mögen verzeihen, was ein alter Freund ihres Hauses Ihnen jetzt sagt,« entgegnete der würdige Drost und erhob sich von seinem Platze. »Ihre Entschlüsse gleichen denen Ihrer seligen Schwiegermutter obwohl sie verschieden auftreten. Diese Entschließungen wurzeln in einem gewissen Eigensinn. Hätte Ihre Schwiegermama auf meine Rathschläge vor der Katastrophe Rücksicht genommen, würde die Familie Wederstedt nicht so bittere Erfahrungen und so herbe Verluste zu beklagen haben. Sie befinden sich, trotz der verschiedenen Verhältnisse, im gleichen Falle und ich wünschte wohl, daß Sie meinem Rathe Gehör geben und dem Herrn von Thurngau gerichtlich auf Grund der vorhandenen Dokumente, das Herrenhaus Wederstedt verbieten ließen.«

»Herr von Werder, das kann, das werde ich niemals thun!«

»Gut. Sie sind ein Mann von Verstand, mögen die Lehren der Welterfahrung und Menschenkenntniß nicht zu hart ausfallen. Ich wiederhole nun nur noch in aller Form die Bitte: geben Sie mir Ihre wichtigen Papiere mit!«

Bohlberg zögerte. Es kam ihm unmännlich vor, sich von bloßen Vermuthungen einschüchtern zu lassen. Ihm war nichts fürchterlicher, als lächerlich zu erscheinen, als sich gegen etwas zu wehren, was sich später als ein Phantom blinder Furcht herausstellen konnte.

»Dringen Sie nicht in mich, verehrter Freund,« sagte er ausweichend. »Erkenne ich die Gefahr, so nehme ich Ihr Anerbieten an. Vorläufig muß ich dergleichen Vorkehrungen als den Kampf eines Mannes mit Windmühlenflügeln betrachten.«

Herr von Werder verschmähte es, sich für den Augenblick mit seinen Rathschlägen aufzudrängen. Er verabschiedete sich und sprach gegen die Damen seine Freude aus, sie am Dienstag beim Oberamtmann wiederzusehen.

Bohlberg geleitete ihn ehrfurchtsvoll bis an den Wagen. Als er wieder in's Haus zurückkehren wollte, fand er sich unerwartet seiner Tochter gegenüber.

»Papa!« flüsterte sie innig bittend.

»Nun, was will denn mein muthiges Töchterchen von mir erschmeicheln?« fragte er zärtlich.

»Papa, sende ihm die Papiere nach! Ich sah Thränen im Auge der Mutter, diese Thränen müssen dich bestimmen, lieber Vater.«

»Ich will mich besinnen bis Dienstag.«

»Und wenn es am Dienstag zu spät wäre? Wenn ein –«

»Still, Helene!« unterbrach er das junge Mädchen auffahrend. »Das sind Weibergrillen! Geschieht ein Unglück, so wird sich Abhülfe finden lassen und im eventuellen Falle trage ich dann, was ich verschuldet habe.«

Er küßte seine Tochter und ging von dannen.

 

Wir übergehen den Zeitraum, der zwischen diesem eben beschriebenen Besuche und dem Dienstage lag, welcher die befreundeten Familien im Amthofe von Groß-Heilungen wieder zusammenführen sollte.

Zu den eingeladenen Gästen gehörte natürlich Edmund von Werder ebenfalls, aber er hatte sich erst nach dem ernstlich ausgesprochenen Wunsche seines würdigen Oheims entschließen können, einem Feste beizuwohnen, das ihn mit Henrietten wieder in Berührung brachte. So lange er mit heiterer Unbefangenheit in den ländlichen Kreisen seine Unterhaltung da hatte suchen dürfen, wo er sicher gewesen war, sie zu finden, so lange hatte er sich nie vor Langeweile gefürchtet. Nachdem sein Onkel zu seinem Wohle einen Schleier von seinem Herzen gerissen und ihm bewiesen hatte, daß die fröhlichen und herzinnigen Huldigungen, die er Henrietten fast ausschließlich geweiht, nicht seinen Wünschen entsprächen, verlor er viel von seiner Selbstzufriedenheit und von seinem Selbstbewußtsein und zog sich verletzt in sich selbst zurück. Er kam zwar schon im Laufe der nächsten Woche zu der Ueberzeugung, daß sein Gefühl für Henriette ein Irrthum seines Verstandes gewesen war und daß sein Herz durchaus nicht Miene machte, darüber zu brechen, als es Henriettens liebliches Lächeln und ihren warmen, sanften Blick entbehren mußte, indeß weiter erstreckte sich seine Selbsterkenntniß zur Zeit noch nicht.

Edmund von Werder war noch zu jung, um sich durch Reflexionen in dem hindern zu lassen, was sein rasch erregtes Gemüth für recht und gut erkannte. Bevor nicht der junge Mann mit gestählter Geisteskraft einen geregelten Lebensweg betritt, giebt er sich ja leicht den Eindrücken des Augenblickes hin und läßt sich zu Entschlüssen verführen. Hierin liegen die Lehren der Erfahrung für denselben und ein schneller Wechsel seines Gemüthszustandes kann in dieser Lebensperiode keineswegs befremden, da sich der Charakter erst zu bilden beginnt.

Das Innere des jungen Mannes ist mit diesen leichten Andeutungen hinreichend bezeichnet, und wenn es befremdlich erscheint, daß er den außergewöhnlichen Weg einer rückhaltlosen Erklärung gegen Henriette einem sanctionirten diplomatischen Zurückziehen von dem Gegenstande seiner Huldigung vorzog, so läßt sich eben daran die ganze Fülle ungeschulter Ehrlichkeit erkennen. Er hatte auch hier unter dem Eindrucke des Augenblickes gehandelt und hatte damit die ruhige Verfassung seines Gewissens mit erhandelt. Nur seine Stellung in der Gesellschaft erschien ihm nicht gerade lockend und er hätte gern die Gelegenheit vermieden, welche den Wechsel seiner Empfindungen an's Tageslicht bringen mußte.

Henriette zu begegnen, fürchtete er sich nicht. Sie hatten sich friedlich zum Abschiede die Hände gereicht, als der kurze Traum ihrer Wahlverwandtschaft ausgeträumt war. Aber ganz unbewußt fürchtete er das Zusammentreffen mit Helene unter den Augen Henriettens. In ihm regte sich etwas, das eine schmerzliche Verletzung für Henriette sein konnte. Ganz dunkel empfand er einen Unterschied zwischen dem Gefühle, das ihn Henrietten nahe gebracht, und demjenigen, das ihn willenlos auf heimliche Wege zog, wo er in einem Lächeln, in einem Blicke eine ganze Welt voll Seligkeit fand. Für jetzt genügte ihm die stille Verheißung aus Helenens sternenhellen Augen. Er wußte wohl kaum, warum er mit diesem neuen Gefühl lieber die einsame Natur suchte, als die fröhliche Gesellschaft.

Erst spät am Nachmittage ritt er langsam auf den Amthof zu Groß-Heilungen. Hof und Haus waren festlich geschmückt und das gemüthliche Geburtstagskind kam ihm in voller, frischer Laune entgegen.

»Sie kommen spät, junger Herr,« sagte er drohend, »das ist eine Großstädterlaune, die Sie sich abgewöhnen müssen. Wir haben schon das Vergnügen mit vollen Zügen genossen, sind unter Musik und Gesang auf dem See gefahren und haben einen ländlichen Tanz auf dem Rasen am See gehabt. Das haben Sie also versäumt; nun, den Tanz können Sie nachholen, das junge Volk ist nach der Tenne gelaufen und hat die Musik mitgenommen. Passen Sie auf, es währt gar nicht lange, so ist das ganze Dorf auf den Beinen und tanzt sich mir altem Knaben zur Ehre krumm und lahm. Soll ich Sie zur Tenne führen?«

Edmund dankte und wollte erst die Gäste im Hause begrüßen. Während sie dahin schritten, fragte der junge Herr, ob einer der Gäste mit Extrapost gekommen wäre.

»Nein!« sprach der Oberamtmann überrascht. »Das wäre ja neu und noch nie gewesen,« fügte er auflachend hinzu. »Es könnte mir schon gefallen, setzte einer meiner Freunde meinen sechzig Jahren zur Ehre ein Posthorn in Bewegung. Wie kommen Sie zu dem närrischen Einfall, Herr von Werder?«

»Ich hörte ein Posthorn Signale geben, als ich daher ritt,« erwiederte Edmund gleichgültig.

Der Oberamtmann blieb stehen und faßte den jungen Herrn am Rockknopfe fest.

»Es wird doch – der Thurngau –« stammelte er betroffen. »Stören Sie mir meine Freude nicht, sagen Sie im Zimmer nichts vom Posthorne.«

»Ich glaube nicht, daß der Schall vom Wederstedter Wege zu mir herüberdrang, sondern gerade entgegengesetzt,« beruhigte ihn Edmund.

»Umso besser; mich sollten Bohlbergs dauern, wenn sie bei ihrer Heimkehr die leidige Ueberraschung hätten, den alten Schuft wieder vorzufinden.«

Von der Tenne aus sahen die tanzlustigen Damen mit Verdruß den jungen Edelmann nach dem Hause gehen. Edmund war allerdings unbestreitbar interessant und bedeutend. Eine hohe Gestalt, ein edelgeformtes Gesicht, schöne Augen und eine auffallende Sicherheit in Manier und Form zeichneten ihn aus und machten seine Erscheinung zu einer der nobelsten des Kreises.



 << zurück weiter >>