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I. Das Marmorbild

Eine Geschichte aus dem Cinquecento

Ich schwöre, als ich Giulietta del Rocco begegnete, hätte ich nie gedacht, sie nackt zu sehen.

Es war an einem schönen Sommernachmittag, wenn auch die Luft nicht von solcher vollkommenen Reinheit und Klarheit war, wie zuweilen, wo ihre Schönheit schier göttlich ist. Kein Wölkchen stand am Himmel, aber ein trockener Dunst trübte das strahlende Licht. Die Schwüle war nicht gewitterhaft, aber drückend. Und ich fühlte meine Ermüdung, denn ich hatte die Stadt schon lange hinter mir.

Gleichwohl setzte ich meinen Weg fort. Das Gelände stieg plötzlich steil an. Trotz meiner Müdigkeit schlug ich den Querweg ein, der nach den hochgelegenen Höfen von Rocco führt. Von oben genießt man eine weite Aussicht über die Ebene und die sumpfige Schlangenlinie des Motterone. Auch ein Pinienhain ist da. Die Luft ist gesünder als in der Niederung, und ich gedachte mich dort bis zum Abend im Schatten der Bäume hinzustrecken und den Heimweg zur Stadt erst anzutreten, wenn es auf den Straßen dunkelt und kühl wird. Ich hoffte in den Höfen etwas zum Abendbrot zu bekommen, eine Satte Milch, Oliven und eine Traube.

Um den Weg abzuschneiden, mußte ich durch den Weinberg des alten Bernardo. Nach meiner Rechnung war es mehr als fünf Jahre her, daß ich den Biederen nicht gesehen hatte, und in diesen fünf Jahren hatten Fleiß und Arbeit mich ans Haus gefesselt. Alles war dieser plötzlichen Neigung zum Opfer gefallen, meine Vergnügungslust und meine gewohnte Trägheit, ja selbst meine Feinschmeckerei. So begierig ich sonst auf Speisen und Früchte war, ich hatte mich nicht einmal mehr zu Tische gesetzt. Ein Stück Brot, im Stehen genossen, ein Glas Wein, hastig hinabgeschlürft, bildeten meine ganze Nahrung. Und wie hatte ich vordem auf den alten Bernardo gelauert, bis ich ihn mit seinem Esel aus einem Winkel des Gemüsemarktes auftauchen sah!

Er schwang seinen dicken Dornstab über der grauen Kruppe des Esels, dessen trockene Hufe auf den flachen Steinen trippelten. Zwischen den Körben, in die er ihn eingezwängt hatte, um ihn zum Markt zu führen, hörte ich die kleine Giulietta lachen. Das Kind trug in seinen Händen Schwertlilien, die es am Motterone-Ufer gefunden hatte, und drehte sich bei den Flüchen seines Großvaters und dem Farzen des Esels um. Bernardo brachte mir Früchte und Gemüse und legte die schönsten von allen, die er zu Markte trug, für mich zurück.

Der anmaßliche, spruchweise Alte war stolz darauf, daß ich ihm Beachtung schenkte, aber mit dem Tage, wo ich dem Schritt seines Esels nicht mehr Gehör gab und nicht selbst an den Korb trat, um mir das Beste eigenhändig herauszusuchen, fühlte er sich in seinem Gärtnerstolz gekränkt und stellte seine Dienste allmählich von selbst ein. Ich sah ihn also nicht mehr und hatte ihn vielleicht auch nie wieder erblickt, denn er war sehr alt, und die Jahre sind in seinem Alter schwer und tückisch.

Die fünf, die ich in der Zurückgezogenheit meines häuslichen Lebens verbracht hatte, waren Gott sei Dank recht fruchtbringend für mich. Wenn der Garten des alten Bernardo in dieser Zwischenzeit schöne irdische Früchte trug, so war die Ernte des Geistes, die ich machte, nicht minder kostbar; denn ihr müßt wissen, daß ich in diesen fünf Jahren zum Meister in meiner Kunst geworden bin.

Ich empfand, um die Wahrheit zu sagen, über die Schnelligkeit meiner Fortschritte eine große Freude und auch eine große Furcht. Jetzt galt es, mich dieser großen Gnade würdig zu erweisen und sie in meinen eignen Augen durch den rechten Gebrauch zu rechtfertigen, denn die ernstlichste Pflicht des Menschen ist nicht die, zu der man ihn zwingt, sondern die, die er sich selbst auferlegt.

Seitdem ward mir im Drang und in der Ungewißheit meiner Gedanken das Haus zu eng. Ich lief ungeduldig und aufgeregt durch die Stadt, ging aufs Land hinaus und suchte einen einsamen Ort auf, bald an den Ufern des Motterone, bald in den Bergen. Ich erklomm die Berglehnen und setzte mich auf einen Felsen, oder ich lag am Ufer und lauschte dem Rauschen des gelben Lehmwassers und dem Flüstern der trockenen Schilfblätter an ihren feuchten Stengeln. Das Schweigen der Felsen und das Murmeln der Wellen war die abwechselnde Unterhaltung meiner einsamen Stunden.

Es war ein Zufall, daß ich bis zu dem Tage, von dem ich euch erzähle, nicht wieder nach den Höfen von Rocco und dem Pinienhain gekommen war. Früher ging ich oftmals dorthin. Er war voller Holztauben, und ich liebte, sie mit der Armbrust zu erlegen. Ich war sehr geschickt in dieser Kunst. Nie verfehlte der Bolzen sein Ziel, aber ich hatte diesem müßigen Spiel schon lange entsagt. Ich hatte das scharfe Auge nicht mehr und die sichere Hand, als ich mich heute ängstlich an die roten Baumschäfte zu lehnen gedachte. Ich wollte mich hier mit geschlossenem Ohr und Auge niederstrecken und die Verwirrung meines Geistes für ein Stündlein verschlafen.

Ich hatte Bernardos Weinberg erreicht. Er war terrassenförmig angelegt. Reife Trauben hingen an den Spalieren. Ich kostete eine Beere, aber ich fand keinen Geschmack an ihrer faden, lauen Flüssigkeit und spie die süßliche Schale wieder aus. Ich hörte hinter mir lachen und wandte mich um.

Ein junges Mädchen stand vor einem großen Korb voller Weintrauben. Wie sie den Arm nach einer Traube reckte, schien sie mir schlank und stark zugleich. Die Schönheit ihres Leibes schimmerte durch ihr Hemd und ihren Rock von grobem Linnen.

*

Von Kindheit an war ich ein aufmerksamer Beobachter der Form von Dingen und Wesen. Ich konnte lange Stunden sitzen und die flüchtigen Wolkenbilder, die Adern der Kieselsteine, die Knoten der Baumrinde betrachten. Ich erkannte alles Unbestimmte und Geheimnisvolle, was man bei langer Betrachtung den Dingen enträtselt. Ich liebte den Anblick der Landschaften und der Tiere. Auf der Jagd, wenn ich sie verfolgte, bewunderte ich ihren Lauf oder Flug.

So lebte ich, indem ich dem Leben zusah. Ich diente Mars und Amor. Die Art, wie sich zwei Degen kreuzen und zwei Lippenpaare berühren, begeisterte mich gleichermaßen. Eines Tages umarmte mich meine Geliebte mit einer so holden Gebärde, daß ich die Erinnerung daran noch wo anders als in meinem Gedächtnis bewahren wollte. Denn das menschliche Gedächtnis ist so ungewiß, daß selbst die köstlichsten Bilder, die es aufgenommen hat, vergänglich und flüchtig sind. Aus der Erkenntnis dieses Unbestandes sind die Künste entstanden und aus dem Verlangen, das zu verewigen, was ohne ihren Beistand vergänglich ist. Ich wollte dem nacheifern, was andre so trefflich verstehen. Aber ach, ich besaß die göttliche Kunst nicht. Mein Papier trug nur formlose Linien und bewahrte nur unbezeichnende Gestalten. Ich weinte in ohnmächtiger Wut.

Ich mußte alles lernen. Und ich lernte. Zwanzigmal war ich nahe daran, zu verzweifeln. Aber ich ließ nicht nach. Als fünf Jahre verflossen waren, wußte ich die Farben zu mischen und den Stein zu meißeln und alles, was ist, abzubilden. Es blieb mir nur noch die Wahl dessen, was ich verewigen wollte. Und ich hatte mich entschlossen, einen Frauenleib zu wählen, im Angedenken an das Weib, dessen Kuß mir die Augen geöffnet ...

*

Inzwischen hatte die Winzerin die Traube gepflückt, nach der sie gegriffen, und warf sie zu den andern in den Korb. Sie lachte nicht mehr und blickte mich an.

»Sie sind zu heiß, gnädiger Herr, um Euch den Durst zu löschen,« sagte sie mit sanfter und ernster Stimme. »Sie werden erst im Kühlen wieder munden. Aber wenn Euer Herrlichkeit dürstet, so geruhet nur, mit mir in das Haus zu kommen. Unser Brunnen ist kalt, und mein Großvater wird frohen Mutes sein, Euer Herrlichkeit wiederzusehen, wenn Ihr den alten Bernardo noch nicht vergessen habt.«

Und sie begann wieder zu lachen. Mich deuchte, daß ich sie erkannte.

»So bist du denn die kleine Giulietta,« antwortete ich, »die mir einst auf dem Esel Oliven, Melonen und Schwertlilien brachte. Du saßest zwischen den Körben. Wie groß und schön bist du geworden!«

»Ja,« antwortete sie errötend, »ich bin Giulietta, die Großtochter des alten Bernardo. Und ich bin groß geworden.«

Sie hob den Korb auf, daß das Weidengeflecht sich stöhnend unter der Traubenlast bog. Aber sie ergriff die Henkel mit fester Hand und hob die Bürde auf ihre Schulter. Ihr ganzer Körper ward steif, um das Gewicht zu tragen. Ich sah, wie ihre Hüfte den Rock spannte. Sie begann vor mir herzugehen.

Ich folgte ihr. Ihre Haare waren auf ihrem Nacken zusammengeknüpft und wanden sich in schweren Flechten. Sie ging mit festen und gleichmäßigen Schritten.

Ihre kräftigen Lenden wölbten sich prall; der rauhe Stoff ihres Rockes bog sich wie weicher Stein, und der Körper schien in starken und edlen Linien gemeißelt. Das Fleisch ihrer Arme und des bloßen Nackens vollendete das Bild der Statue. Da es sehr heiß war, trug ihr Hemd zwischen den Schultern einen feuchten Fleck.

Das Gehöft war ein viereckiges Gebäude in der Mitte eines kiesbedeckten Hofes. Ein Hund bellte uns beim Kommen entgegen, ein Rind blökte im Stalle. Aus dem Schafstalle drang das klägliche Geblök der Hämmel. Der alte Bernardo erschien auf der Schwelle der Haustür.

Er hatte sich in diesen fünf Jahren nicht verändert, nur sein Bart war noch länger und weißer geworden. Ich bewunderte seine breiten, erdbraunen Hände. Der ganze Mann gemahnte an einen alten Baum. Sein Haar kräuselte sich auf seiner Stirn wie trockenes Moos, und sein Bart hing herab wie ein strähniges Kraut. Seine nackten Füße klebten am Boden wie Wurzeln, und sein gefurchtes Antlitz glich einer rauhen Borke, in welcher der Mund einen Spalt und die Nase einen Astknoten bildete. Die lebhaften Augen glänzten wie Regentropfen, und die Ohren glichen jenen knorpeligen Pilzen, wie sie am Fuße alter Stämme wachsen. Er hatte etwas Wald- und Pflanzenhaftes an sich.

Er empfing mich freundlich, aber mit gemessenem Ernst. Vielleicht sah er es ungern, daß ich derart mit Giulietta zurückkam, und er traute mir dieselben galanten Absichten zu, wie sie die vornehmen Herren sich schönen Landmädchen gegenüber nicht nehmen lassen. Giulietta hatte, ohne ein Wort zu sagen, einen strohumflochtenen Fiasco und einen irdenen Krug frischen Wassers auf den Tisch gestellt, daneben eine Schüssel mit schwarzen Oliven. Dann war sie plötzlich fort, und wir blieben allein. Bernardo schwieg und blickte mich an, wobei er an seinem langen Bart kaute. Das Schweigen währte eine gute Weile.

»Findest du sie schön, unsre Giulietta?« fragte er plötzlich, indem er mir einschenkte.

Ich antwortete nicht.

»Sie ist schön, nicht wahr?« wiederholte er und hielt einen Augenblick inne. Dann stemmte er seine Ellbogen auf, und als ich das Glas wieder vor mich hingestellt hatte, fuhr er fort:

»Warum machst du ihr Bild nicht in Holz oder Stein?«

Seine Zunge war plötzlich losgebunden, als rühmte er mir schon lange die Güte einer Frucht, die er mir mit seiner rauhen Hand über das borstige Rückgrat seines Esels hinhielt.

»Die beiden Herren von Corcorone, deine Freunde, haben mir oft von dir erzählt, seit man dich selbst nicht mehr zu Gesicht bekommt. Du weißt, die beiden Corcorone? Ich bin mit ihrem Großvater im Krieg gewesen, und darum grüßen sie mich auch und reden mich leutselig an. Es sind gute Herren. Der große ist schlank wie ein Bogen und der kleine schnell wie ein Pfeil. Sie haben mir gesagt, du würdest jetzt so gelehrt im Malen und Bildschneiden, und du könntest, wenn du nur wolltest, ein Altarbild machen wie das, das beim Brande von Santa Chiara untergegangen ist, oder die Apostel an den Türen von San Michele ausbessern, denen in schlimmen Zeiten die Nase und die Arme abhanden gekommen sind. Giulietta ist schön und klug, und ich möchte sie wohl auf einem Heiligenbilde sehen. Ihr Gesicht wäre dann immer von Gebeten, Weihrauch und Kerzen umgeben, das würde ihr Glück bringen und ihre Weisheit und Frömmigkeit mehren.«

»Ei, du täuschest dich, Bernardo,« erwiderte ich. »Ich male und bilde keine Heiligen, das überlasse ich Geschickteren und Frömmeren, als ich es bin. Mir ist es genug, das Antlitz der Dinge genau abzubilden, und mehr noch Körper und Gesicht der Menschen.«

Er ließ seine Hand über den Bart gleiten.

»Die Corcorone haben dir Falsches berichtet, Bernardo,« fuhr ich fort.

»Ich habe alte Steinbilder ausgraben sehen,« sagte der Greis ganz leise, als spräche er zu sich selbst. »Sie ruhten seit Hunderten von Jahren in der Erde. Sie trugen weder Kleider noch Haarputz, sie waren ganz nackend. Und doch lachte keiner darüber, und alle behandelten sie mit Ehrerbietung. Ich glaube, es war, weil man sie schön fand.«

Und leiser noch setzte er hinzu:

»Ich habe auch Gräber öffnen sehen und eherne Särge aufbrechen. Sie bargen Skelette in goldenen Gewändern. Aber alles hielt sich die Nase zu, und etliche traten die Gebeine mit Füßen. Es war in Kriegszeiten, als wir Guescia einnahmen und die Herzogsgräber plünderten ...«

Und der alte Bernardo erzählte mir von verschiedenen Waffentaten aus seiner Jugendzeit, damals, als er den Fahnen des großen Corcorone folgte. Ich hatte die Oliven inzwischen verzehrt und die Flasche ausgetrunken. Der Greis geleitete mich zur Tür.

»Entschuldige, daß ich nicht weiter gehe,« sagte er; »meine Beine sind schwer.«

Ich war allein und ging nach dem Pinienwäldchen. Als ich es betrat, erschraken die Tauben und hörten auf zu girren. Etliche flogen mit lautem Flügelschlag von dannen. Ein schuppiger Pinienzapfen fiel mir zu Füßen.

*

Nein, wahrlich, ich habe es schon einmal gesagt, und ich wiederhole es nun: Als ich Giulietta im Weinberg begegnete, da dachte ich nicht, daß ich sie je nackten Leibes sehen würde, noch, wie ich hinzusetzen muß, daß ich sie in ihrem Fleisch und Bein erblicken würde, ohne in dem meinen nach ihr zu verlangen.

Sie erschien jeden Morgen bei mir zur selbigen Stunde wie das erstemal. Es war am zweiten Tag nach meinem Besuch bei dem alten Bernardo, da betrat sie zum erstenmal meine Werkstätte. Ich glaubte, sie wollte mir etwas Verlorenes wiederbringen, und ich wartete, daß sie sprechen würde, indes ich sie lächelnd anschaute.

Aber ohne etwas zu sagen, begann sie ihre Kleider abzulegen. Dies geschah, als ob sie einem Befehl gehorchte. Als ich sie nackend sah, schaute sie mir in die Augen und blieb regungslos stehen.

Lange Tage blieb ich in den Anblick ihrer Schönheit versunken. Meine Tür war für jedermann verschlossen. Marmorhändler kamen und Verkäufer bunter Tonerden, das waren meine gewöhnlichen Besuche. Auch die beiden Herren von Corcorone verlangten mich zu sehen und gingen erstaunt wieder von dannen, als sie nicht vorgelassen wurden.

Sonst pflegten sie zu kommen, wie es ihnen beliebte. Selbst in den Tagen meiner strengsten Abgeschlossenheit drangen sie in meine Einsamkeit.

Ich liebte sie. Unsre Väter waren sich bekannt und hatten stets zu denselben Parteien gehalten. Auch wir hatten in unsrer Jugend das Schwert für die gleiche Sache gezogen, und unser Blut war in den nämlichen Schlachten geflossen.

Die beiden Vettern, denn sie stammten von zwei Söhnen des großen Corcorone, unter dem Bernardo gedient hatte, sahen sich nicht ähnlich, doch eine enge Freundschaft verband sie besser als die Bande des Blutes oder die sichtbare Gleichheit des Anblicks. Der eine war groß, der andre klein, aber beide sehr schön. Sie bewohnten zwei benachbarte Paläste, und alles war bei ihnen gemeinsam, selbst die Frauen, in die sie sich mehr denn einmal brüderlich teilten. Erlangte der eine von ihnen mehr Liebe, so entlockte der andre ihnen mehr Wollust. Alberto von Corcorone, der Kleine, war sinnlich und gewaltsam, Conrado von Corcorone, der Große, schien sanft und träumerisch. Alberto behandelte seine Geliebten mit Leidenschaft, Conrado mit Zärtlichkeit, auch vergaßen die des Conrado seine Liebe sehr bald, wogegen die des Alberto sich ihrer noch lange entsannen.

Sie waren meine Freunde, und ich hatte Freude an ihrer Gesellschaft. Ich arbeitete unbekümmert in ihrer Gegenwart. Sie nahmen Anteil an meinem Streben. Sie standen beide hinter mir, Conrado die Hand auf Albertos Schultern gelegt, Alberto den Arm um Conrados Hüfte geschlungen, denn sie waren von ungleichem Wuchse wie von verschiedener Gemütsart. Sie trugen sich reich, aber einfach, und jeder führte einen Dolch an der Seite. Der Albertos hatte am Griff einen großen Rubin, an dessen Stelle Conrados Dolch eine längliche Perle trug.

Trotzdem mußte ich mich ihres Besuches entschlagen, denn Giulietta nahm alles in Anspruch, meine Hände wie meine Gedanken. Ich schrieb ihnen also und teilte ihnen die Notwendigkeit meiner Einsamkeit mit. Sobald meine Aufgabe erfüllt sein würde, sollten sie den Grund derselben erfahren.

Leidenschaftlich hatte ich den wundervollen Leib betrachtet, den Giulietta Tag für Tag unbeweglich und schweigend meinen Blicken darbot. Ich hatte ihn abwechselnd gezeichnet, gemalt und in Wachs gebildet, um seine Verhältnisse, seinen Bau und seine Linien genau zu erfahren. Es blieb mir nur noch übrig, ihn in Marmor zu meißeln.

Ich ließ mir einen reinen Marmorblock kommen, zart rosig wie ein festes Fleisch, das man verletzen konnte, ohne daß Blut floß. Giulietta hingegen zitterte bei jedem Meißelhieb, als ob es ihr Leib war, den ich da im Stein berührte, und als ob ein geheimes Gefühl ihr lebendiges Fleisch mit dem Stoffe verband, dem ihre Gestalt allmählich Leben verlieh.

Indessen schuf ich mit Lust und Leidenschaft. Die Statue war in dem kleiner gewordenen Block schon erkenntlich. Die Gestalt trat langsam hervor. Ich eilte mich, ihre geheimnisvolle Befreiung zu vollenden. Ich schlug die rauhe Rinde Stück für Stück herunter. Endlich lebte der Stein.

Giulietta folgte mir ängstlich und unablässig mit den Augen und wohnte schweigend dieser Selbstgeburt bei. Noch eine Woche verging, und am Freitag der folgenden abends ließ ich den Hammer sinken. Mein Werk war vollendet; die Statue ragte schlohweiß im sanften Abendschein.

Ein leises Geräusch ließ mich aufblicken.

Giulietta ging langsam auf die Statue zu, umschlang mit zärtlichen Armen den Marmor, der ihre Liebe zu erwidern schien, und preßte ihre vergänglichen Lippen auf die ewigen des Steins. Beider Lächeln berührte sich. Nach diesem Abschied legte sie ihre Kleider wieder an. In dem Augenblick, wo sie zur Tür schritt, erschienen auf der Schwelle die beiden Corcorone. Ich hatte sie am Tage vorher benachrichtigt, daß sie mich an diesem Abend besuchen sollten. Sie traten zurück, um Giulietta vorbeizulassen, und sie ging zwischen beiden hindurch.

»Das ist die Großtochter des alten Bernardo,« sagte ich zu ihnen. »Nach ihrem Körper habe ich die Statue gebildet.«

Ich hatte ein wenig Marmorstaub zwischen die Finger genommen. Die blanken Körner rieselten hindurch wie in einer aus dem Stegreif geschaffenen Sanduhr, und ich ahnte nicht, daß ihr Entweichen einer feierlichen Stunde galt.

*

Ich verspürte eine große Ermüdung. Die Arbeit hatte meine Kräfte erschöpft, und ich versuchte, ihnen durch Schlaf und Nahrung wieder aufzuhelfen. Ich schlief und aß bis zum Ueberdruß. Nie deuchte mir das Fleisch saftiger und das Obst leckerer. Ich dachte an die Früchte, die mir der alte Bernardo einst auf seinem Esel zugetragen. Ob wohl eine darunter von so saftigem Fleisch war wie der herrliche Leib Giuliettas?

Ich hatte sie nicht mehr gesehen, ebensowenig wie die Corcorones. Mein einsames Leben hatte mich allen Freunden entfremdet. Ich lebte ohne Kenntnis dessen, was in der Welt geschah; ich wußte nicht, was hinter meiner Gartenmauer vorging. Bisweilen flog eine Holztaube am Himmel entlang. Ich sah ihren flüchtigen Schatten auf dem Wasserbecken und dachte an das Pinienwäldchen, an das Gehöft von Rocco, an Bernardo und Giulietta.

Schon lange hatte ich mir vorgenommen, dem Mädchen zum Dank für seinen Beistand und seine Beharrlichkeit ein Geschenk zu machen. Ich ging also zum Juwelier und suchte einen Ring und Korallenohrringe aus. Es war recht wenig neben den kostbaren Steinen, die der Handwerker eben einfaßte. Er zeigte mir eine Halskette von Rubinen und eine von Perlen. Jede war von einem der Herren von Corcorone bestellt.

Ein paar Tage darauf machte ich mich auf den Weg nach Bernardos Gehöft. Ich verließ die flache Niederung des Motterone, klomm den steilen Pfad bergan und schnitt quer durch den Weinberg ab. Als ich oben ankam, fand ich alle Türen geschlossen. Nur der Stall stand offen, aber leer. Das Haus war verödet.

Ich rief. Niemand antwortete. Wo mochten Bernardo und Giulietta weilen? Ich entschloß mich, nach dem Pinienhain hinaufzugehen. Kein Vogel sang in den Aesten. Das durchsichtige Harz rann in langen Tränen an den rotbraunen Stämmen herab. Die Nadeln bedeckten den Boden wie mit Filz und dämpften den Schall meiner Schritte.

Ich setzte mich nieder. Ein Kind kam und sammelte Pinienäpfel in ein großes Netz, das es wie einen Sack auf dem Rücken trug. Es war ein Knabe von etwa zehn Jahren. Ich rief ihn an. Er blieb stehen.

»Weißt du nicht, wo der alte Bernardo ist?«

Das Kind bekreuzigte sich. Ich begriff, daß Bernardo gestorben war. Er war seit einer Woche tot. Der kleine Kirchturm des Dorfes, der zwischen den Bäumen durchblickte, hatte zu seinem Begräbnis geläutet. Also Bernardo schlief unter den Zypressen des Kirchhofs. Was war einfacher? Er war alt, und wir müssen alle sterben.

Das Kind fuhr fort, Pinienäpfel auszulesen.

»Und Giulietta?« fragte ich.

Der Knabe fing an zu lachen und zeigte seine weißen Zähne. Dann schnalzte er mit der Zunge, wie einer, der ein Pferd antreibt, und machte mit der Hand die Bewegung eines fortfliegenden Vogels.

Schweigen herrschte im Walde. Keine Holztaube girrte mehr.

*

Giulietta war des Alberto von Corcorone Geliebte geworden. Er führte sie prächtig gekleidet und reich mit Kleinodien geschmückt durch die Straßen. Das schwere Rubingeschmeide umschloß ihren weißen Hals. Alle Welt wußte das, außer mir vielleicht. Durch Zufall erblickte ich sie einige Tage darauf alle beide, als ich über die Motteronebrücke ging. Ich war ausgegangen, um den Jungen von neulich aufzusuchen und mit seiner Familie zu verhandeln, daß er zu mir kommen und Modell stehen sollte. Ich plante ein Basrelief, auf dem ich einen Reigen von Wald- und Seekindern darstellen wollte, die sich Pinienäpfel und Algen, Moose und Muscheln darboten. Aus dem Rückwege begegnete ich Alberto und Giulietta. Es war ein schöner Wintertag. Der Herbstregen hatte aufgehört, und das zu jener Zeit oft trübe Wasser des Flusses war jetzt von Regen und Schlamm geklärt. Grün und durchsichtig floß es unter dem Brückenjoch durch. Ich lehnte mich über das Geländer und sah dem unmerklichen Schwinden der Woge nach. Langgezogenes Kraut trieb wie Haargesträhn stromab. Es war, als ob unsichtbare Nymphen unter der durchsichtigen Wasserfläche einherschritten und nur ihre fließenden Haare emportauchten. Das langgezogene, gleitende, seidene Rauschen wiegte mein Denken in ungewisse Träume ein. Plötzlich erscholl Hufschlag. Ich merkte, daß Reiter die Brückenrampe heraufkamen. Ich erkannte Alberto und Giulietta. Sie hielten hinter mir an, um ihre Tiere verschnaufen zu lassen. Er ritt einen Rappen, sie eine Fuchsstute. Die Pferde berührten sich mit den Flanken. Alberto hatte den Arm um Giuliettas Hüfte geschlungen. Ich zauderte, ob ich mich ganz umdrehen und sie anreden sollte, aber unwillkürlich hielt ich mich zurück und beugte mich noch tiefer über das Geländer, um dem Spiel der Wellen zu folgen. Als ich mich wieder aufrichtete, waren die beiden Liebenden verschwunden, ohne mich erkannt zu haben, denn die Liebe sieht nichts als sich.

Ich kehrte heim, in Gedanken an diese Dinge versunken und an die Wald- und Meereskinder denkend, die ich zum Liebesreigen verschlingen wollte, um den Sockel von Giuliettas Statue zu schmücken. Ich sah ihre Marmorgestalt im Geist vor mir. Als ich zu Hause anlangte, stand Conrado von Corcorone vor mir. Wenigstens glaubte ich, daß er es war, denn seine Züge waren bis zur Unkenntlichkeit verändert. Seine hohe Gestalt war gebrochen, das Gesicht von fieberhafter Blässe leichenfahl. Er antwortete kaum auf meine Reden. Ein großer Kummer schien ihn zu bedrücken. Er ging mit unruhigen Schritten auf und ab. Ich wagte ihn nicht zu fragen, als er mit schmerzlicher Selbstüberwindung das Schweigen brach. Mit leiser, fast gebrochener Stimme, obwohl wir allein waren, fragte er mich, wo Giuliettas Statue wäre.

Ich führte ihn vor den nackten Marmor, der zu atmen und zu leben schien. Als er ihn erblickte, glaubte ich, er würde umfallen, und ich sah, wie er weinte.

Es war eine einfache, furchtbare Geschichte, die Conrado mir erzählte.

An dem Tage, wo die beiden Vettern mich verlassen hatten, nachdem sie Giuliettas Marmorbild gesehen, trennten sie sich plötzlich, sie, die sonst stets gemeinsam zu dem doppelten Palast auf der Piazza Vecchia zurückzukehren pflegten. »Von diesem Augenblick an,« sagte Conrado zu mir, »fühlte ich, daß unser beider Schicksale sich schieden. Giulietta stand zwischen uns. Wir liebten beide dasselbe Weib, und diesmal fühlten wir uns als Feinde.« Und wirklich war eine stumme Nebenbuhlerschaft zwischen ihnen entstanden. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Alle beide suchten Giulietta auf. Unter dem Vorwand, den alten Bernardo während seiner Krankheit zu besuchen, erschienen sie allabendlich im Gehöfte von Rocco. Sie lösten sich am Bette des Greises und bei Giulietta ab. Bisweilen kreuzten sich ihre Wege, der eine kam, der andre ging. »Es waren mörderische Blicke, die wir austauschten. Ich weiß nicht, warum wir nicht aufeinander losstürzten. Ich weiß noch weniger,« sagte Conrado, »wenn ich Alberto mit seiner Geliebten an meinen Fenstern vorbeigehen sehe, was mich zurückhält, nicht auf ihn loszugehen und ihm sein freches Glück zu stören.«

»Giulietta,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »haßte mich nicht, aber ich war auch nicht sicher, ob sie Alberto liebte. Bald jedoch hatte ich die quälende Gewißheit.«

Am Tage nach Bernardos Tode war Conrado mit seiner Geliebten im Pinienhain, als Alberto erschien. Die beiden Männer ließen ihr die Wahl zwischen einander.

»Ach,« rief Conrado, »ich liebte sie ... Aber sie lächelte Alberto zu, und ihr Lächeln spottete meiner. Sie liebte Alberto. Er sollte diesen schönen Mund küssen, seinen Atem trinken, diesen Leib umschlingen, und ich, ich ...«

Er stand auf der Schwelle und wollte gehen. Aber er konnte den Blick nicht von der Statue wenden. Eine längliche Träne rollte über seine Wange. Mir tat das Herz weh vor Mitleid und Wehmut. Des Nachts sah ich ihn im Traum. Die Träne auf seiner fahlen Wange war noch nicht getrocknet.

Am nächsten Morgen ließ ich Giuliettas Statue zu ihm bringen. »Nimm sie,« schrieb ich ihm. »Sie ist Dein. Möge sie Dich in Deiner Einsamkeit trösten. Danke nicht. Möge die Ewige Dich von der Lebenden heilen.«

*

Alljährlich, wenn der Lenz wiederkehrte, gab man Maskenfeste in den Städten. Die einen waren für die vornehmen Herrschaften mit ihren Damen. Man suchte möglichst prunkvoll aufzutreten; aber ich zog diesen majestätischen Vergnügungen den einfachen Mummenschanz vor, wo die jungen Leute ihre Geliebten mitbrachten und die Kurtisanen an Stelle der Matronen traten. Unter ihnen fand ich zu meinem Staunen auch Alberto von Corcorone. Als er meiner ansichtig ward, stand er auf und setzte sich an das andre Tischende. Giulietta saß neben ihm und nickte mir freundlich zu. Sie schien mir von wunderbarer Schönheit, aber auffällig blaß.

Als man in den Garten ging, um frische Luft zu schöpfen, trat ich auf die Terrasse. Der Motterone rauschte voll und sanft am Fuß der Mauer. Ein Lichtschein zuckte in seinem Spiegel auf. Ungesunde Wasserdünste stiegen aus ihm empor und mischten sich heimtückisch in die Düfte der Nachtblumen. Als ich wieder in das Haus gehen wollte, vertrat mir Alberto an einer Biegung der Allee den Weg.

»Ich habe mit dir zu sprechen,« raunte er mit leiser, hastiger Stimme, in der es wie dumpfer Groll zitterte.

Wir setzten uns auf eine Bank. Ich hörte im Dunkeln, wie die Dolchscheide auf dem Stein scharrte; seine unsichtbare Hand mußte den Griff gewaltsam pressen.

»Du hast also die Statue an Conrado verschenkt?« fing er plötzlich noch kurzem Schweigen wieder an.

Ich nickte bejahend, aber er sah es in der Dunkelheit nicht und glaubte wohl, daß ich nicht antworten wollte.

»Du hast die Statue an Conrado verschenkt?« wiederholte er unwirsch.

»Ja.«

Ein leichter Wind ging durch die Blätter. Eine Hängelaterne warf hin und wieder ihren ungewissen Schein auf uns. Alberto blickte mich wütend an. Der Rubin am Dolchgriff funkelte wie ein Blutstropfen.

»Du bist eifersüchtig,« sagte ich.

Ich sprach lang mit Kraft und Strenge auf ihn ein. Er blieb finster und verschlossen. Plötzlich lachte er laut auf.

»Du hast recht und ich unrecht. Ich habe dir gezürnt. Aber was liegt zuletzt daran, ob die Statue hier oder dort ist? Was bedeutet eine eitle leblose Figur? Ich habe daran gedacht, bei Conrado einzudringen und ihm dieses Bild zu rauben. Aber wenn ich ihn sähe, würde ich ihn töten. Nein, ich schlage mich nicht für ein Marmorbild, wenn ich mich für ein Weib aus Fleisch und Bein nicht geschlagen habe!«

Er schien höchst aufgeräumt über diesen Gedanken und legte mir die Hand auf die Schulter, indem er mir ins Ohr flüsterte:

»Welche Qual muß es für ihn sein! Er liebt sie, und sie ist kalt und unbeweglich, schweigsam und fühllos. Er spricht zu ihr, sie antwortet nicht. Er mag um sie herumgehen, ihre leeren Augen folgen ihm nicht. Sie sieht aus wie ein lebendiges Wesen und wird es doch niemals sein. Ja, fürwahr, ich hatte unrecht! Armer Conrado! Er liebt sie und ich liebe sie. Aber ich habe sie auch. Schau nur, wie schön sie ist!«

Giulietta kam auf uns zu. Der Mond war aufgegangen, breit und gelb stand er am Himmel. In der Ferne erklang Musik. Giulietta setzte sich neben Alberto. Er ergriff ihre Hand und legte sie in die seine, während er die andre auf ihren entblößten Nacken legte. Er liebkoste ihren runden Hals, maß seinen Umfang mit den gespreizten Fingern und ließ dann die zarte, fleischige Wölbung ihrer Brüste zwischen zwei Fingern hervorquellen, wie aus der Einfassung eines Ringes. Dabei blickte er mich von unten an und beobachtete mich scharf. Ich denke, wenn ich das geringste Zeichen von Begierde geäußert hätte, so hätte er mich getötet.

Indessen fuhr er fort, Giuliettas wollustvollen Busen auf mannigfache Art zu liebkosen. Ich blieb regungslos sitzen, ohne die Blicke zu senken.

Wir verließen den Schatten der Bäume und gingen alle drei ins Haus zurück. Die Laternen wiegten sich im Winde. Es war schwül und fiebrig, verdächtig, um nicht mehr zu sagen. Die Stadt war übrigens oft ungesund, besonders zur Frühlings- und Herbstzeit. Die verpesteten Ufer des Motterone erzeugten dann gefährliche Miasmen. Zu dieser Jahreszeit herrscht immerfort Fieber, und darum sind die hiesigen Frauen auch oft schlaff, hinfällig und kränklich. Darum hatte die gesunde Schönheit Giuliettas es mir auch besonders angetan, als ich sie im Weinberg des alten Bernardo den schweren Korb mit Weintrauben auf ihre Schultern heben sah. Es war die Bergluft, der Stallgeruch, der harzige Pinienduft, denen sie ihr prachtvolles, blühendes Fleisch verdankte. Aber die Farben ihrer Wangen waren erloschen. Schattenringe zogen sich um ihre Augen; das Gesicht war bleich; und wenn ich sie jetzt in dem rechten Stoff hätte verewigen wollen, so durfte es nicht das blendende Weiß des Marmors sein, sondern die düstere Farbe der Bronze.

*

Die Wirkungen der Malaria machten sich noch vor dem Herbst geltend. Mit den ersten Sommergluten brach plötzlich eine verheerende Seuche aus. Die Krankheit trat ebenso heftig wie schnell auf; jeden Tag läuteten die Glocken für einen unversehens Gestorbenen. Eines der letzten Opfer dieses Uebels war Giulietta. Ich hatte seine Anzeichen schon auf ihrem Antlitz gelesen. Sie starb dahin.

Man legte sie in den Sarg, nicht als bleiche Tote, sondern als gelbliche Leiche. Sie nahm nicht jenen letzten Hauch von Schönheit mit ins Grab, der uns die, welche uns verlassen, bisweilen als friedlich schlummernde Lebende erscheinen läßt. Man mußte den fahlen, widerlichen Körper aus Albertos Armen reißen und seine Lippen von den verwesenden Lippen trennen. Er klammerte sich verzweifelt an das, was die Sehnsucht seiner Liebe gewesen war. Als das Grab die sterbliche Hülle der schönen Giulietta aufgenommen hatte, mußte man ihren Geliebten taumelnd und halb irr von dannen führen. Ich half den Unseligen stützen. Unser trauriger Zug ging langsam durch die Straßen. Endlich erreichten wir die Piazza Vecchia. Ich blickte unwillkürlich hinauf zu dem Nachbarpalast, wo Conrado wohnte. Die sonst geschlossenen Fenster standen heute weit offen, während die von Albertos Palast sich über seinem Schmerze schlossen. Er lebte in der Tiefe seiner Wohnung. Er floh das Tageslicht und blieb tagelang unbeweglich, die Augen auf ein unsichtbares Bild geheftet.

Ich ging oft hin, um ihn in seiner Trübsal aufzurichten. Das erste Mal begegnete ich Conrads auf dem Platze. Sein Anblick überraschte mich ungemein. Eine geheime Freude leuchtete aus seinem Antlitz. Ich wollte auf ihn zugehen, doch er machte mir ein rätselhaftes Zeichen und verschwand, den Finger auf die Lippen legend. Sein Gebaren verwunderte nur mich. Alle, die ihn sahen, kannten es. Ich erfuhr, daß er oft so durch die Straßen strich. Er sprach mit niemand, aber bisweilen sang er im Gehen. Es geschah auch, daß man ihn unter dem Weingerank einer Gartenlaube sitzen sah. Er ließ zwei Gläser aufsetzen, füllte beide und trank nur eines aus. Diese Tatsache erregte meine Neugier. Ich ging zu ihm, wurde aber nicht vorgelassen. Nach ein paar Tagen erhielt ich einen Brief von ihm. »Freund,« schrieb er, »Giulietta ist wiedergekehrt. Das eitle Fleisch, in dem sie wohnte, modert jetzt in der Erde. Sie wohnt fortan in der ewigen Form, die Du ihr aus unverweslichem Marmor geschaffen hast. Dank! Ich bin glücklich!«

*

Alberto stand auf, machte mit Anstrengung einige Schritte durch das Gemach und ließ sich wieder in einen Sessel fallen.

»Es ist zu Ende«, sagte er zu mir; »die Würmer haben ihr unterirdisches Werk vollendet. Ich habe mit allen Kräften dagegen angerungen, ich kann nicht mehr. Sie haben Giuliettas Körper in ihrem Sarg verzehrt, sie haben ihn in meiner Erinnerung zerstört. Sie ist Staub, sie ist vergessen. Ich habe diesem doppelten Hinschwinden Stunde für Stunde beigewohnt. Ich habe das Fleisch sich auflösen sehen und die Erinnerung verblassen. Wenn ich ihren Sarg öffnete, würde ich nur noch formlosen Staub darin finden, der Asche gleich, die sie in meiner Erinnerung zurückgelassen hat. Schließe ich die Augen, so sehe ich sie nicht mehr; sie ist mir dunkel und finster geworden.«

»Könnte ich sie wiedersehen,« fuhr er am nächsten Tage fort, »und wäre es nur für einen Augenblick, selbst regungslos und leblos, in dem Marmor, in dem du sie dereinst gebildet hast: ich glaube, sie würde neu in mir erstehen. Meine Augen würden dem Stein seine Gestalt erborgen, und meine Seele würde ihr wieder Leben einhauchen. O, warum hast du die Statue an Conrado verschenkt!«

Nach ein paar Tagen sagte er noch zu mir:

»O, du hast ein großes Unheil angestiftet!«

Dann murmelte er unverständliche Worte und knirschte mit den Zähnen. Er ging hastig auf und nieder; als er erschöpft war, setzte er sich wieder, und ich hörte, wie er murmelte:

»Ich gehe doch hin, ich gehe doch hin!« ...

Und er ging hin. Was zwischen den beiden Corcorone vorging? Wie Alberto bei Conrado Einlaß finden konnte? Niemand weiß es. Aber man fand sie eines Morgens alle beide tot am Fuß von Giuliettas Marmorbild. Der eine hatte im Herzen die Spitze eines Dolches mit perlengeschmücktem Griff, der andre in der Kehle die eines Dolches mit rubingeschmücktem Griff, und ihr beider Blut bildete auf den Fliesen nur eine einzige rote Lache.

Sie war noch zu sehen, als ich, vom Kirchhof kommend, Conrados Palast betrat. Ich trat ein, ohne irgendwem zu begegnen. Ich hatte einen kräftigen Hammer unter meinen Kleidern verborgen. Als ich in den Saal kam, in dem die Statue stand, warf ich einen letzten Blick darauf, dann erhob ich den Arm und ließ den Hammer niedersausen.

Bei jedem Schlage sprang der Marmor splitternd ab und bildeten sich weiße Schorfe. Der edle Stein schrie oder stöhnte über den Schimpf, je nachdem das Eisen ihn nur streifte oder voll traf. Er widerstand meiner Anstrengung mit seiner ganzen lebensvollen Festigkeit. Es war mehr ein Kampf als eine Zerstörung. Ein spitzer Splitter sprang mir gegen die Stirn, daß sie blutete. Eine Wut überkam mich, die sich bald zu Raserei steigerte. Manchmal schämte ich mich, als schlüge ich ein Weib. Dann wieder war es mir, als wehrte ich mich gegen eine Feindin. Ich empfand einen seltsamen Zorn, etwas Unsinniges und ganz Unbekanntes. Ich hämmerte mit Wut auf die Brüste los, deren Wölbung endlich klaffte. Die Arme brachen ab; ich machte mich an die Kniee; ein Bein brach, dann das andre. Die Statue wankte und fiel vornüber auf die Steinfliesen. Es war nur noch ein formloser Block. Der Kopf, den ich bisher geschont, brach ab und rollte mir vor die Füße. Ich hob ihn auf; er war unbeschädigt und schwer. Ich hüllte ihn in meinen Mantel und verließ die Stadt. Der Motterone leuchtete fahl in der ockerfarbenen Flußniederung. Ich lenkte meine Schritte nach dem Gebirge. Als ich den kleinen Pinienwald erreicht hatte, kniete ich nieder und scharrte eine Grube in die Erde. Ich legte den Kopf hinein, nachdem ich die todbringende und verderbliche Schönheit von seinen Lippen geküßt hatte. Dort ruht er noch unter den roten Stämmen, an denen das Harz in duftenden, durchsichtigen Tränen herabrinnt.

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