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Einleitung


Die Phantasie der Eskimos

Die Dämmerung hatte uns überrascht, und da von Westen drohende, schwarze Wolken heraufzogen, suchten wir Schutz in einer kleinen Bucht und schlugen dort unser Zelt auf. Es war nicht ratsam, bei dem heraufziehenden Unwetter über den Fjord zu setzen.

Trotz des weißen Neuschnees, der das ganze Land bedeckte, war es ungewöhnlich dunkel. Ein frischer Ostwind hatte tagsüber alles Großeis ins Meer gefegt, und darum lag das Wasser des Fjords von Felsen umgeben ganz schwarz da, ohne den Widerschein der gleitenden Eisflächen. Der Himmel war in schwarze Wolkenfetzen zerrissen, die vor dem Sturm hertrieben; durchschnitt sie der Mond, so zeigte sich für einen kurzen Augenblick die wilde große Landschaft, die ihr strahlendes Lächeln verloren hatte und in barscher Unzugänglichkeit dalag. Hohe Felsen mit grimmigen Spitzen schossen drohend in die Höhe: die Berge, bar aller Schönheit, standen in tiefem Schweigen, nackt, wie Gerippe. Ueber den offenen Schlünden der Abgründe dröhnte schon der Gesang des Sturmes. Alles ließ eine furchtbare Abrechnung ahnen, und stummes Entsetzen legte sich auch auf uns. Bei den äußersten Schären begann die Brandung zu lärmen, eine Warnung für die Menschen, die noch draußen waren. Jetzt hieß es Deckung suchen, um sich vor dem Unwetter zu schützen.

Wir wußten nicht, wie lange das Wetter uns auf der kleinen Felseninsel festhalten würde, wo wir uns vorläufig niedergelassen hatten, und obgleich wir nicht in Gefahr waren, wurden wir doch auf seltsame Weise von der Stimmung des Himmels und der Landschaft beeinflußt. Immer dichter legte sich die Dunkelheit um uns, und immer stärker wurde unser Verlangen nach Licht.

In aller Eile wurden große Haufen von Zwergweiden und Kassiope zusammengetragen, und bald knisterte ein großes Feuer in der kleinen Felsenkluft, wo wir uns gelagert hatten. Es war, als ob Feuer, Licht und Wärme uns der unheimlichen Stimmung des Wetters wieder entrückten; unsere geblendeten Augen sahen nicht mehr die Drohungen um uns herum, alles Grauen war vom hellen Feuer verzehrt. Unsere Unterhaltung belebte sich, seltsamerweise aber blieben unsere Gedanken dennoch an das gebunden, was wir zu fliehen suchten. Es flüsterte und tuschelte um uns herum, und eine phantastische Atmosphäre zog uns in die Mystik der Herbstnacht hinein: es war, als ob wir das Herz der Welt schlagen hörten, und ich begriff, warum ein Eskimo nie allein ist, selbst wenn er die Einsamkeit zwischen den Eisbergen sucht. Seine Umgebung macht ihn zum Geisterbeschwörer, vorausgesetzt, daß er den Mut hat, sich dem Uebernatürlichen hinzugeben. Die Natur selbst diktiert ihm seine Religion, alles um ihn her gewinnt Leben; Abenteuer und Zauberei, Riesen und beschwörende Geister lösen sich aus der Umgebung, deren Großartigkeit ihn in die Knie zwingt.

Darum gibt es keine Märchenwelt, so mannigfaltig und voll unheimlicher Zauberei wie die hier oben zwischen Fels, Meer und Gletschern in der großen Polarnacht. Der Menschengeist verkrüppelt hier nicht, sondern wächst mit den unglaublichen Visionen, denen eine fruchtbare Einfalt Schwingen verleiht. Die Wunder der Welt entschleiern sich, die großen Rätsel nehmen die Gestalt von Gnomen und Riesen an, und aus dem Uebernatürlichen wachsen die Sagen mitten hinein in die handgreifliche Wirklichkeit des täglichen Lebens der Eskimos. Sie glauben selbst, daß alle Orgien der Phantasie Botschaften aus einer großen Welt sind, die dem Menschen unverständlich ist …

Ich war zum erstenmal im Lande der Angmagssalikken. Der erste Eindruck hatte mich schwer enttäuscht, weil ich bei der Kolonie begonnen hatte, in der die Verlogenheit einer unverdauten Zivilisation sich immer am stärksten bemerkbar macht.

Ich zweifelte, ob es mir wirklich in dieser Umgebung und bei diesen Menschen glücken würde, mich zu der unberührten Ursprünglichkeit durchzuarbeiten, die zu finden ich so weit gereist war. Darum war ich so bald wie möglich zu den kleinen Wohnplätzen aufgebrochen, wo das alte Leben noch am tiefsten wurzelt.

In meinem Boot fuhren Männer und Frauen; andere Männer folgten in eigenen Kajaks; außerdem gehörten zwei ehemalige Geisterbeschwörer zu uns und ein paar alte Sagenerzählerinnen, die getauft worden waren, und in der Taufe Namen von so feinem Klang bekommen hatten, daß sie sie selbst kaum aussprechen konnten; ich will nur Klementine, Barbara und Apollonia nennen, weil sie es waren, die uns ihre Visionen verdolmetschten und dadurch der Stimmung in unserem improvisierten! Lager Farbe gaben.

Auf der kleinen Insel, im Sturmesbrausen der Natur, fühlte ich mich plötzlich mitten in das große grönländische Märchen versetzt, und meine Freude darüber war um so größer, als ich von vornherein meine Erwartungen nicht sehr hoch gespannt hatte. Befand ich mich doch hier an der Quelle von Gustav Holms wunderbaren und unübertrefflichen Eskimoschilderungen, und in derselben Gegend hatte William Thalbitzer sein gründliches und gewichtiges ethnographisches Material gesammelt.

Und dennoch – unter dem Eindruck der gewaltigen Umgebung gab ich mich der Hoffnung hin, daß ich nicht umsonst gereist sei, denn alles, was ich jetzt erlebte, war ja Beweis genug dafür, daß die alten Traditionen noch im Gedächtnis der Geschlechter lebten. Die Ur-Religion und die Geschichte des Volkes waren ineinander übergegangen, Märchen und Wirklichkeit hatten sich im Bewußtsein des Volkes zu einer großzügigen Geschlechtssage verwoben und waren zu Volksmärchen und Volksliedern geworden; ich zweifelte nicht, daß, wer das Vertrauen dieser einfachen und unverdorbenen Naturmenschen gewonnen hatte, auch in die Seele ihres Volkes Einblick gewinnen konnte.

Plötzlich hören wir ein Wimmern, das wie fernes verzweifeltes Kinderweinen klingt. Es kommt aus dem Eis, einem Ueberbleibsel vom vorigen Winter, das der Sommer nicht zu schmelzen vermochte und das das Innere unserer kleinen Bucht einschließt. Während das Hochwasser jetzt darüber hinwegspült, knirscht es, in seinen Grundfesten erschüttert, gegen die Schären. Dadurch entstehen jene menschlichen Seufzern ähnlichen Laute. Wir können uns ihrem Eindruck nicht entziehen, das Gespräch stockt. Nur die alte Klementine, die die unheimliche Stimmung von sich abzuschütteln versucht, richtet sich auf und blickt prophetisch durch die Dunkelheit. Ihr Mund bewegt sich, irgendwo muß etwas Schreckliches geschehen sein, wenn die Unterirdischen weinen, und wir wissen, daß sie uns mit einer kräftigen Beschwörung einkreist.

Klementine, die viel von geheimen Dingen weiß, erzählt uns von ihren verschiedenen Begegnungen mit den Unterirdischen, die sie vor ihrer Taufe gehabt hat. Alle wollten sie bezaubern und zum Bleiben bewegen, sie aber war die Stärkere. Von dem Augenblick ihrer Taufe an hatten sie ihren Weg nicht mehr gekreuzt, denn sie fürchteten sich vor ihr. Keiner von uns bezweifelte die Wahrheit dessen, was sie erzählte, denn die Unterirdischen leben in ihrer Welt wie die Menschen auf Erden. Doch nur ein Heide kann ihnen begegnen.

Schlimmer aber als diese gutmütigen und den Menschen stets hilfsbereiten Unterirdischen, sind ihre Verwandten, eine Art Riesen, die aus tiefen Klüften und Abgründen emporwachsen, ganz plötzlich, aus der großen Stille, unter Gelächter und Hohngeschrei, häufig ganze Bootsbesatzungen, lauter Männer, die sich auf einsame Reisende stürzen. Oder sie erscheinen im halben Kajak und töten alle, die ihnen begegnen. Einer der Riesen im halben Kajak heißt Sarquiserassak und ist mit einer Frau verheiratet, die noch gefährlicher ist als er; sie wohnt hoch oben in den Bergen, hat lange eiserne messerscharfe Nägel an Händen und Füßen, mit denen sie imstande ist, selbst in den härtesten Granit Löcher zu graben.

Klementine schweigt, als sie ihr Teil zu der unheimlichen Stimmung beigetragen zu haben meint; Apollonia aber, die jüngere, hat voll Ungeduld gewartet, und nun beginnt sie von dem übernatürlichen Leben in den Einöden zu erzählen.

Sie erzählt von den Makakajuit, jenen kleinen nackten Wesen, die auf den höchsten Felsgipfeln wohnen und von dort das Treiben der Menschen beobachten, um ihnen den Fang zu rauben.

Von Aqarorsiopua, dem lebenden Stein in Riesengestalt, der ganze Wohnplätze allein durch sein Erscheinen zu Tode erschreckt.

Von den Erqitaliten, den gefährlichsten Feinden des Menschen, die, halb Mensch halb Hund, nur aus Freude an Mord und Vernichtung töten.

Und sie erzählt vom Mond, der am meisten gefürchtet ist.

Wenn jemand sich der Weisheit und den Sitten der Vorfahren nicht beugen will, steigt der Mond zur Erde herab, um den Ungehorsamen zu züchtigen, und wem kein Geisterbeschwörer mit vielen und mächtigen Hilfsgeistern beisteht, der ist verloren.

Der Mond gebietet über Ebbe und Flut. Wenn die Ebbe nicht kommt, und den Tang längs der Küste aufdeckt, haben die Menschen in den mageren Zeiten nichts zu essen. Auch über die Fangtiere des Meeres und der Erde gebietet er: denn er sorgt dafür, daß die Tiere sich vermehren und mannigfaltig werden, damit es den Menschen nicht an Nahrung fehle.

Und dann berichtet Apollonia von der Mutter des Meeres, Imapukua, die auf dem Grunde des Ozeans wohnt. Die Sünden der Menschen sammeln sich als Schmutz und Scherben in ihrem Haar und auf ihrem Lager, und aus Zorn darüber hält sie die Fangtiere zurück. Dann muß ein Geisterbeschwörer sie aufsuchen und reinigen, worauf sie aus Dankbarkeit von neuem die Tiere zu den Menschen zurückkehren läßt.

Auch Asiaq, die Gebieterin über Wind und Regen, muß ein Geisterbeschwörer aufsuchen, wenn das Eis im Frühjahr nicht aufbrechen will, und er muß sie überreden, daß sie Regen über die Erde strömen und den Föhnwind über das Eis des Meeres wehen läßt …

Barbara erzählt ohne weibliche Zungenfertigkeit; sie legt nur feierlich Zeugnis ab von Dingen, die wie ferne Erinnerungen wirken – und indem sie erzählt, erleben wir alle die unheimliche Nähe der übernatürlichen Wesen, mit denen die Phantasie der Eskimos die Natur bevölkert.

Ein großer Eisberg segelt langsam an der Mündung unserer Bucht vorbei, seine scharfe, weiße Silhouette gegen die Dunkelheit abzeichnend, wie ein Flüstern in der Nacht; er gleitet langsam vorbei und wiegt sich wie ein lebendiges Ungeheuer in den Dünungen des Atlantischen Ozeans, die jetzt ihre gewaltigen Rücken durch den Fjord schieben. Der Eisberg erhitzt Barbaras Phantasie, sie meint den Bären des Meeres zu sehen, das größte aller Ungeheuer, von dem die Sage zu berichten weiß. Er gleicht dem Eisbären, ist aber so riesengroß, daß er durch das Meer wie durch eine Wasserpfütze watet, nur die Beine sind unter Wasser. Wenn er den Kopf auf seinem langen Hals nur ein wenig reckt, kann er den Schnee von den höchsten Berggipfeln lecken, und wenn er atmet, erheben sich Wirbel auf dem Meere, und große Eisblöcke und ganze dichtbesetzte Boote fliegen ihm in die Nasenlöcher.

Mehr Holz wird ins Feuer geworfen, und indem wir die Flammen mit Speckstücken nähren, recken sie sich knisternd in die Höhe und werfen unsere Schatten weit über die Felsen, wo sie zu lebendigen Riesengeistern werden, die sich im Kreise um uns lagern.

Es wirkte wie eine Erlösung, als der Schneesturm endlich über uns kam. Die Beherrscherin des Windes bedachte sich nicht länger, heulte ihren Gesang aus vollen Lungen über die Kluft und löschte unser Feuer in einem Wirbel von Schnee.

Das Meer wälzte sich mit schweren weißen Bergen heran, die an den Klippen zerbarsten und vor unseren Füßen zerfielen.

Das Weinen der Unterirdischen war nicht mehr zu hören, es wurde von dem Unwetter übertönt, das jetzt über die Berge kam und jede Aussicht in dem weißen Schneegestöber vergrub.

Wir aber waren wieder wache Menschen, fern von Zauberei und ungesunden Träumen, und krochen unters Zelt, um Schutz gegen die Nacht zu suchen.


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