Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bartel, das Knechtlein

1. Kapitel.
Ein Knabe soll auf Reisen und wird von einem Räuber eingefangen

Leise, lieber Leser; viele, viele Jahre sind vorüber, wir treten über die Schwelle eines Hauses, darin wir einst so manche Leiden und Freuden teilnahmsvoll mit angesehen haben – können wir wissen, welche ernste Stunde unser Eintritt stören mag?

Vor der Kammertüre steht das Hofer-Käthchen in der Haltung einer Horchenden, ihr Gesicht ist von schelmischer Heiterkeit gerötet, ein Lächeln spielt um ihren Mund, während sie gar ernste Worte entweder vor sich hin oder zurück nach der Mitte der Stube spricht, wo im Halbkreis einige Männer sitzen, die Beine übereinander geschlagen, die Hüte feierlich auf den Knien; die Männer horchen den Worten Käthchens, als hätten sie das Schicksal eines Weltteils zu entscheiden, wechseln dazwischen miteinander manchen Schelmenblick.

Voran unter den Männern sitzt der alte Hofer da, um die Schläfe und im Nacken leider schon graue Locken, aber im Herzen noch frisch und froh und kaum den Zwang des äußeren Ernstes ertragend; gleich neben ihm hat der ältere Mulderer Platz genommen, ernst wie immer, nur um den Mund ein stilles Lächeln; an den Mulderer reiht sich Käthchens Mann, dann sein Bruder Anton, sodann mehrere Nachbarn, darunter der Stedtiner; hinter den feierlichen Männern stehen noch zwei Knaben des Hauses mit einigen Genossen und harren entblößten Hauptes der Dinge, die da kommen sollen!

»Ja, liebe Männer«, fährt das Käthchen eben fort, »ihr meint wohl, ich habe nicht Worte genug ausgegeben, ihr denkt, ich hätt' ihn doch noch halten können, sei es schon, wie es sei. Gefehlt! Ich habe gebeten und verwarnt; ich habe auch geweint sogar, wie es einer Mutter ansteht – alles aber nur umsonst! Johannesle will nicht bei und bleiben, so lassen wir ihm auch seinen Willen, mag er in Gottes Namen in die Fremde gehen. Sollen wir noch länger klagen, dass er vom Morgen bis zum Abend außer Hause bleibt, dort in ein laufend Wasser fallen, hier im finstern Walde sich verlieren könnte? Wenn wir das ruhig tragen wollen, dann ist's ja gleich so gut, wir lassen ihn, wohin er will, selbst in die weite Welt! ... Und so haben wir ihm ein Ränzlein machen lassen, einen Reisehut mit Wachsleinwand dazu, haben ihn mit einem Staubrock versehen und ihm die Stiefel mit Nägeln beschlagen; wir übergeben ihn dem Schutz des Himmels, er ist in Gottes Hand, mag er denn wandern und zusehen, wo er einen besseren Vater, eine bessere Mutter findet!«

Käthchen hatte bei diesen Worten die Kammertüre weiter aufgedrückt, dass ja von ihrer Rede nichts verloren gehe ...

»Es tut mir leid«, sagte der alte Hofer jetzt, »ich hätte doch gemeint, ich sei ihm etwas wert, ich, der so lange sein guter Kamerad gewesen; – jetzt aber seh' ich, der so lange sein guter Kamerad gewesen; – jetzt aber seh' ich, es ist anders; er verlässt ja mich, wie er Vater und Mutter verlässt! Hm ... Halbe Tage sind wir oft auf einem Rain, auf einem Heuschober gesessen, er hat mir von neuen Peitschen, von Lerchennestern erzählt oder von frischen Rädern am Weidenwägelchen! Hat er ein Butterbrot von seiner Mutter bekommen, und wäre nicht zu mir gelaufen: Großvater, esst doch mit? Ich hab' ihm treulich essen helfen, hab' ihn auch wieder eingeladen auf Milch und Semmel; ich hab' ihn schnupfen lassen wie einen Mann, wo geschieht ihm das gleich wieder? Und jetzt darf ich' ja auch sagen: keine vier Wochen sind es her, da hab' ich ihm einen Ulmer Kopf gekauft, ein weißbeinernes Mundstück an dem Rohr: dacht' ich, wenn er einmal größer ist, dass ich ein Präsentle damit mache; – das ist nun freilich auch vorbei: Johannesle will durchaus in der Fremde erst rauchen lernen!«

Mulderer hob den Hut ein wenig und ließ ihn wieder fallen; dann fuhr er fort:

»In vierzehn Tagen haben wir Johannifest, ich steh' nicht gut, dass ich alle Taschen voll Trompeten, Ringle und Bilder vom Jahrmarkt heimführ', weil ich vermein', Johannesle sei noch da; er wird aber nicht mehr da sein und all' die Sachen werden verteilt werden, dem was und jenem, unter andere Kinder. Wenn's aber schon nicht anders ist, wenn uns Johannesle mit Gewalt verlassen will – ich werde mich auch nicht länger stemmen, ich sag' nichts mehr – geb' ihm Gott eine glückliche Reise!«

»Amen«, meinte Käthchens Mann, »da stimm' ich auch mit ein: eine glückliche Reise ist alles, was wir ihm noch wünschen können!«

Während dieser heiter-ernsten Reden stand in der nahen Kammer ein blonder Knabe bleich und unbeweglich da, die linke Hand weinerlich verlegen an die Wange drückend, und der rechten Hand einen Reisestock haltend, welcher unverhältnismäßig schwer und lang, oben wie ein Bischofsstab gekrümmt und am unteren Ende mit einem langen Eisenspieß versehen war; der Knabe war Johannesle, Käthchens jüngstes Kind, etwa vier Jahre alt. Um seinen Reiseanzug zu vollenden, waren Anne-Marie, Anton Multerers fröhlich Weib und Röschen, Johannesles Schwester beschäftigt; jene hing ihm eben das gelblederne Ränzlein um und gab wohl acht, dass der Riemen breit anfassend auf der Schulter lag; Röschen hielt den Hut, der mit Wachsleinwand überzogen war, in der Hand und drückte ihn jetzt dem Brüderchen lächelnd auf den Kopf.

»So, mein Kind, jetzt bist du fertig«, sagte sie; aber Anne-Marie fiel ihr schnell ins Wort und bemerkte: »Halt! mach's nicht gar so eilig, Röse; wenn es auf eine weite Reise geht, muss man ja nicht über Hals und Kopf so eilen. Wie, wenn wir etwas vergessen hätten, wer läuft gleich Tagereisen nach und bringt ihm, was er haben muss? Sieh', sieh', da merk' ich gerade, Johannesle hat noch kein Schnupftuch im Sack – spring hin, dort auf dem Bette liegt's, der Vater hat das Seine verschneiden lassen, so ist grad ein Dutzend daraus geworden – nun – was fehlt jetzt noch?«

Röse sagte:

Ich meine, wir sind fertig und Johannesle darf gehen.«

Niederkniend und des Knaben Staubrock spannend, dass er keine Falten mache, dann das Höschen sorgfältig um die Stiefel legend, sagte Anne-Marie hierauf:

»Also, ins Himmels Namen denn, Vetter – behüt' euch Gott!«

Käthchen hatte diese Worte gehört und drückte nun ganz die Kammertüre auf.

»Ist alles fertig? Nichts vergessen? Kann mein Knabe gehen?« sagte sie.

Johannesle kam mit kurzen Schritten der Kammertürschwelle näher und hatte plötzlich die ganze feierliche Versammlung von Männern vor Augen; seine Lippen zuckten, das Weinen stand ihm nahe, er fasste sich aber doch zur Not.

Ach, einen solchen Ernst des Abschieds hatte die kindliche Phantasie desselben nicht vorausgesehen, als sie die ungebundene Freiheit zu wandern, durch sonnige Feld- und Wiesenstrecken hinzuschlendern träumerisch malte! Jetzt sollten die geträumten Freuden rasch und ganz genossen werden – aber ohne Vater- und Mutternähe, mit Zurücklassung aller Menschen, die ihm so sehr am Herzen lagen: – was für ungeahnte wunderbare Schauer brachen aus der Tiefe des Kindesherzens empor und stiegen verwirrend auf und nieder!

»Gib mir und den Männern die Hand, Johannesle«, sagte Käthchen nun, die Schürze über die Augen schlagend, als weine sie – »sag' allen Lebewohl!«

»Ja, deine Hand, mein Sohn«, rief der alte Hofer – »und mögest du glücklich sein auf deiner weiten Reise. Hier hast du einen Kreuzer Reisegeld zum anderen; lass ihn ja nicht wechseln, solange es nicht nötig ist, dieweil gerade gewechseltes Geld leichter durch die Finger läuft. Kommst du in Wien oder in Konstantinopel an, so meine nicht etwa, dass schon ein Brief von uns auf der Post liegen soll, du wirst lange nichts von deiner Mutter hören: ich und der Mulderer können wohl gar sterben. Aber jetzt behüt' dich Gott, mein Freund; auf deiner Wanderung fürchte dich vor wunderlichen Menschen nicht zu sehr; bete alle Morgen, wenn du aufstehst und alle Abend, wenn du zur Ruhe gehst; liegst du allein wo auf einem fremden Heu oder in einer fremden Kammer und siehst vor stockfinsterer Nacht nicht, was da Weißes hin und her geht, seufzt und rasselt – du brauchst dich vor Gespenstern nicht zu fürchten; kommt dir ein fremder Mensch ohne Kopf entgegen, vor dem brauchst du schon gar keine Scheu zu haben, der ist froh, wenn du ihn selbst in Ruhe lassest; will dich einer zum Schlechten verführen, so verführ' du ihn zum Guten, und du hast es recht gemacht. Das sagt jetzt der Großvater zum Abschied, schau ihn an, wie er aussieht, kann sein, du siehst ihn nimmer!«

Ein unwillkürliches Lächeln ging durch die Versammlung bei dieser Rede; nun reichte der Mulderer dem Knaben die Hand und sagte:

»Ich will dir zu allererst meinen Segen geben, liebes Kind, und mögest du alles Gute auf der Reise erleben! Merke dir, was ich dir noch sage: Gehst du einmal über Feld, so gib acht, dass dein Fuß nicht rechts oder links vom Weg in Getreide oder sonstigen Anbau tritt; gehst du bei einem Blumengarten vorüber, so lange nicht zwischen den Zaun hinein und wolle dir eine Rose auf den Hut stecken; gehst du unter einem Obstbaum weg und hängt die schönste rotwangige Frucht herunter, greif nicht hinauf um das kleinste Stück: es ist eines Fremden Gut, und du kannst nicht wissen, wie schlimm das die Menschen nahmen, man pfändet oft einen um den Hut dafür oder gibt einem Schande und Grobheit mit auf den Weg! Gehst du aber durch Weinland, Freund, da merke dir besonders: durch einen Weigarten, wenn die Trauben am Stocke hängen, geht keiner ohne Strafe, es steht auf Tafeln zur Verwarnung – und da ist' nun freilich traurig, dass du nicht lesen kannst. bleib überall lieber auf der breiten Straße, da geht es sich am sichersten, wenn es auch weiter ist und jetzt noch eins: trink' niemals in die Hitze, behüte dich vor Streit mit einem Fuhrmann, auch bewahre dich vor jedem Rausch. Hörst du eine Glocke, die zum Beten läutet: herunter mit dem Hut und die Hände zusammen! Bete dein Vaterunser. So, mein Hannesle – behüt' dich Gott und sei mit dir sein Segen!«

Jetzt hob Vater Georg seinen Sohn mitsamt dem Ränzchen, Hut und Rock empro,küsste ihn, stellte ihn wieder nieder und sagte:

»Gehört hast du genug – bleib' gesund – und wenn du Heimweh hast, so kehr' um, wo du auch bist, zu Hause bei Vater und Mutter bist du immer gern gesehen!«

Während Johannesle von Mann zu Mann noch weiterschritt und freundlich angeredet und verabschiedet wurde, ging die Stubentüre auf, zwei derbe Hände klammerten sich an die Kante, und ein wunderlicher Mannskopf steckt sich neugierig forschen herein: es wäre schwer zu sagen gewesen, wie viel Gutmütigkeit, wie viel liebenswürdige Beschränktheit, wie viel Humor und Unruhe sich in den seltsamen Mienen des Gesichtes aussprach. Weil die Stubentüre leise aufgegangen und alle Aufmerksamkeit in der Stube um den Knaben beschäftigt war, so entdeckte niemand den neugierigen Lauscher, bis nach einer Weile der Stedtiner zufällig nach der Türe sah.

»Ei, da hat ja das Wunder meinen Knecht zwischen der Türe«, dachte er; »und wie hab' ich ihn gesucht vor einer Stunde!«

Stedtiner beschloss, den Gesellen nicht mehr aus den Augen zu lassen, während der Lauscher sich wenig um die Nähe seines Meisters kümmerte und nur flimmernden Auges nach dem knaben und dessen Benehmen sah ...

Der Abschied von Eltern und Gästen war genommen – und an der Hand der Mutter ging der kleine Wanderer der offenen Stubentüre zu, wo der wunderliche Kopf sofort verschwand. Ohne Aufenthalt ging es nun weiter zur Türe hinaus, und Käthchen mit ihrem Knaben folgten paarweise und feierlich die versammelten Männer und Weiber nach. Bald war man unter dem Dache des Hauses weg bis zu dem nahen Weideplatze gekommen, wo die Gesellschaft wieder Halt machte und ihr ernstes gemeinsames Lebewohl sagte:

»Behüt' dich Gott, Wanderbursche – du bist auf geradem Weg – schreit' aus, und das Glück sei mit dir!«

Erschütternd drang dies Lebewohl dem Knaben in das Herz.

Mit einer Last der Wehmut auf dem Herzen, kaum zu sagen, ging nun der Knabe allein seines Weges. Seine Schritte maßen, einzeln genommen, einige Zolle, wie bleiern lastete es in seinen Füßen. Im Dorfe hinter sich hörte Johannesle die Kinder freudig lärmen, wohlbekannte Stimmen von Erwachsenen drangen bald dort, bald da aus einem Haus heran: scherzend, lachend oder singend. Vater Pahlsen fuhr eben auf einem Wägelchen aus der nächsten Stadt, wo er seinen Studenten besucht, zwischen den sonntäglich ruhenden Feldern heim – ach heimwärts, während Johannesle fortwandern sollte, fort von Vater und Mutter, fort von Geschwistern und lieben Bekannten! Wie lustig musste das Spiel der Kinder im Dorfe sein, welches eben unter so frohem Lärm gespielt wurde; wie sangen die Lerchen, deren unzählige eben die heimatliche Luft erfüllten! Wo ein Vogel neben Johannesle aufflog, er lenkte richtig immer seinen Flug gegen das Dorf hin; selbst ein menschenscheuer Hase, der aus einem Krautfelde aufsprang, entfloh in der Richtung nach dem Dorfe. So hatten die Wohnungen seiner Lieben und Bekannten selbst für Tiere ihre Anziehung; der Knabe fühlte, wenn er nicht freiwillig gegen das Dorf hin seine Schritte lenke, dass es ihn bald mit unsicherer Macht zurückziehen werde.

Da rauschte auf einmal, einige Schritte vor ihm, eine Heidelerche empor und erinnerte den Wanderer an sein liebes Lerchennest in der Nähe, mit den fünf hungrigen flaumzottigen Junge; – ach, dort am Rain, im Schatten einer fetten Wolfsmilchstaude, wusste er, dass es sich befinde – plötzlich schien nun vollends aller Möglichkeit weiter zu reisen ein Ziel gesetzt zu sein! Johannesle blieb stehen, blickte nach der Stelle des Lerchennestes und horchte nach dem Dorf zurück; – aufquellend stieg seine Herzenswehmut immer höher, es drückte ihn im Halse, es schoss ihm in die Augen, er legte beide Hände über die Augenbrauen – und laut schluchzend ließ er einen Strom von Tränen stürzen; – aber das Überwältigendste stand noch aus: – die Mutter rief auf einmal hinter ihm: »O Kind, mein Kind! So ist es wahr, so willst du wirklich reisen?« – da hielt Johannesle nicht länger stand: er drehte sich gegen das Dorf zurück und kam ins Gehen und kam ins Laufen und kam immer mehr ins laute Weinen und warf den großen Reisestock hinweg und verlor den Hut mitsamt der Wichsleinwand darüber – »O Mutter, Mutter, o Mutter!« rief er schluchzend – und das Ränzlein flog ihm weitaus vom Rücken in die Luft und hinter ihm zu Boden.

Bevor er aber unter großem Jubel der Versammlung noch die ausgebreiteten Arme der entgegeneilenden Mutter erreichte, stürzte ein lustiger, frohbewegte Räuber hinter einer Holunderstaude hervor und auf den weinenden Knaben zu, hatte ihn mit einem geschickten Wurfe auf den Armen und entführte den kleinen Liebling zur heitern Verwunderung, zum großen Ergötzen vieler.

Nur Stedtiner beachtete den Knabenraub erschrocken-ärgerlich, weil es sein wunderlicher Knecht war, der die Tat vollführte.

»Bartel, Bartel!« rief er dem Knechte nach – »Was soll das wieder heißen?«

Aber Bartel kehrte sich an kein Rufen und Lärmen, er selbst schlug ein entzücktes Gelächter auf und verschwand mit dem Knaben hinter einem Kornfeld.

Die allgemeine Heiterkeit vermehrte es nicht wenig, als man jetzt das Käthchen über den gutmütigen Streich so herzlich lachen hörte, dass sie sich auf ihre Freundin und Schwägerin stützen musste.

»Ich seh' schon«, rief sie endlich, und das hellste Vergnügen strahlte aus ihrem Auge: »Ich seh', dass ich zu meinem Kind nicht anders kommen kann, als dass wir eine große Jagd anstellen! Geht einige dort ums Feld herum, einige den Rain entlang, so müssen wir ja den Räuber mit meinem Kind erjagen!«

Der Vorschlag wurde angenommen und ausgeführt. Bald hatte mau die zwei Kornfelder umgangen und begann die weitere Verfolgung; aber nicht lange, so brach Bartel aus dem Kornfeld hervor und mit Gelächter zwischen zwei wachehaltenden Männern hindurch; – Johannesle hatte er zurückgelassen. Diesen fand man am Rain in einer Erdengrube sitzen und ein zierliches Mühlrad im Gang erhalten, indem er feinen Staub durch eine schiefe Rinne stürzen ließ. Neben der Mühle war eine Stube ausgegraben, darinnen alle häusliche Einrichtung, aus braunroter Föhrenrinde geschnitzt, zu sehen war: ein Ecktisch, einige Stühle und Wandbänke, ein Ofen, ein Wandschrank mit allem nötigen Geschirre; um den Ecktisch saß eine geschnitzte Versammlung von Männchen und Weibchen und glotzte eine Schuppenschüssel an. Neben der Stube war ein langer, schmaler Stall in den Rain gegraben, und zwei Pferde, vier Öchslein und sechs Kühe, alle aus Föhrenrinde, standen darin. Als man den Knaben bei dieser lieben Wirtschaft fand, rief man auch die Mutter und Anne-Marie; man konnte sich bei aller Heiterkeit einer gewissen Rührung nicht erwehren. Käthchen besonders war innig bewegt und überrascht und dachte ernsthaft daran, dem aufmerksamen Knechte dankend wieder eine Freude zu machen.

»Ein solches Spielzeug«, sagte sie, »wird mein Kind vom Davonreisen eher abhalten als alle Bitten und Ermahnungen; Bartel hat das Allerrichtigste getroffen!«

Bei diese Worten blickte Käthchen nach dem Stedtiner um, damit sie ihm ein freundliches Wort über seinen Knecht sagen könne; aber dieser war inzwischen seinem Knechte nachgejagt und trat bald hinter ihm in sein Haus ...

»Er ist da«, sagte er in die Stube tretend zu seinem Weibe – »geh' ihm nur gleich auf den Hausboden nach, dort wird er wahrscheinlich eben sein; bring' den Auftrag an, liebe Alte, wir müssen zu seinem Seelenheil schon etwas Übriges tun!«

»Ja, freilich, freilich«, erwiderte sein Weib, »ich geh' sogleich!«

»Mach's nur ernsthaft und recht dringend –«

»Ja, ja!«

»Sag' ihm, dass Se. Hochwürden schon vor einer Stunde einen Extraboten geschickt habe –«

»Das soll er hören!«

»Dass er noch vor Abend ganz gewisse drüben bei Sr. Hochwürden sein soll –«

»Gut, gut, vor Abend!«

»Wenn ihm sein eigenes Seelenheil noch wie einem Christen am Herzen liege –«

»Sein Seelenheil am Herzen – gut, lieber Mann!«

»Nun dann – ich geh' in Gottes Namen voraus, es tut nichts, dass ich Se. Hochwürden erst jetzt von dem Handel unterrichte. Tu' das Deine, Weibchen, ich will das Meine tun!«

Stedtiner ging nach diesen Worten eine Weile im Haus herum, dann draußen um die Scheuer durch den Garten, dann etwas weiter durch die Felder – und als er glaubte, nicht mehr bemerkt zu werden, trachtete er mit schnellen Schritten dem Pfarrhofe zu, einen gutgemeinten Plan zur Besserung des Knechtes im Herzen.

Die Stedtinerin aber fand den Bartel unter dem Dach auf seiner Kleidertruhe sitzen, den Kopf in die Hand gelegt und in wunderliches Hinstarren versunken.

Sie brachte ihren Auftrag nun gewissenhaft an Mann, ohne dass der Bursch sich regte oder einen andere Miene machte als zuvor; sein Zeichen, dass er die Botschaft vernommen und nichts dagegen einzuwenden habe, war anfangs nur ein leichtes Nicken mit dem Kopfe, ohne aufzublicken; nach einer Weile, als er merkte, dass die Stedtinerin noch immer auf einen ausdrücklichen Bescheid wartete, sagte er, wieder ohne aufzublicken:

»Ja, ja, Meisterin, es soll nicht fehlen, dass ich zur rechten Stunde drüben bin; ich danke für die Botschaft…«

Zweites Kapitel.
Ein Rätsel, das ein Knecht abgibt.

Der Herr Pfarrer ging in seinem Studierzimmer hin und wider und hörte mit Aufmerksamkeit den Bastian Stedtiner an; beinah' eine Stunde schon dauerte die Audienz.

Der Stedtiner sprach sehr angelegen, sehr besorgt; es handelte sich um das irdische und ewige Seelenheil eines Menschen, dem er wohlwollend zugetan war.

»Hm«, sagte der Herr Pfarrer jetzt »also weder Euer Ermahnen, Warnen und Drohen, noch Euer Bitten will bei ihm fruchten? Was hat er für Antwort gegeben, wenn Ihr so geredet habt?«

»Dagelehnt ist er an der Stalltür wie angenagelt und hat den Tauben auf dem Dache zugesehen oder hat den Hut aufgesetzt, nicht »ja« und nicht »nein« gesagt – und ist einem Geschäft nachgegangen! Neulich sag' ich, er soll ein wenig »raupen«; der Kirschbaum, sag' ich, geht uns sonst Grund; denk' ich, dass ich ihn recht commod über mir habe, wenn ich wieder eine Gewissensanred' halt'. Nun, Bartel, sag# ich, wie er oben ist und die Raupen in ein Sieb, das ich halt', herunter strählt: nun, wie steht's mit uns? Werden wir bald auch wieder ein Aug' fürs Gotteshaus und ein Ohr für 'ne Predigt haben? Läuten hör' ich jeden Morgen, kein Mensch erwehrt sich und geht der Kirche nach, wie steht's mit uns? Werden wir auch wieder einmal die Kirche von inwendig sehen? Ich – ich tu' so was freilich – das weißt du; aber dich mein' ich, dich; ob du denn nicht auch wieder dahin zurichten wärst wie ein anderer Mensch? Was? Glaubst du nicht?«

Wie ich noch so fortfahr' – sagt der Sünder auf einmal:

»Meister!«

»Was?« sag' ich.

»Möchtet Ihr das Sieb mir nicht selbst überlassen? Ich strähl da manchen Wurm daneben – gebt mir's auffer!«

»Da«, sag ich, »wenn's dir lieber ist.« Ich schütte die Raupen weg und verstampf' sie und lange ihm das Sieb hinauf; – so kann ich auch besser reden, denk' ich, wenn ich nichts in Händen hab', gut so, auch recht, meinetwegen. Ich geb' ihm das Sieb, er nimmt's; ich hust' ein wenig und mach' mich fertig; – muss mich recht ansetzen diesmal, denk' ich, will ihn scharf anschauen, wie der Pfarrer die Gemeinde vor der Predigt.«

Hier lächelte der Pfarrer.

»Was geschieht? Wie ich ihn so scharf betrachten will, seh' ich ihn auf einmal wie ein Eichhorn bis zum Kirschbaumgipfel steigen – und jetzt hätt' ich schon fürs ganze Dorf predigen müssen, wenn er mich hätte hören sollen ... Ich muss sagen, es hat mich scharf verdrossen; aber gleich bin ich wieder beim Zeug gewesen – dachte: ich steig' ihm nach, jetzt muss es biegen oder brechen! Also seh' ich mich um und guck', wo die Leiter ist; die Leiter find' ich in der Scheuer, ich lad' sie mir auf und – hott! sag' ich zu mir selber, wie man ein paar Stiere treibt – gut, so predigst du auf dem Baum ein bisschen höher als auf dem Boden, was macht es? Gut. Wie ich um die Scheuer komm', was muss ich aber sehen? Ist der Bartel vom Baume ganz und gar herunter und sagt jetzt wieder:

»Meister!«

»Was?« sag' ich.

»Ich will doch erst die kleinen Bäume raupen, die Nacht ist vor der Tür – der große Kirschbaum ist nicht mehr zu zwingen.«

»Gut«, sag' ich, »wenn du meinst, so raup' die kleinen Bäume, mir ist's recht – und trag' die Leiter langsam wieder in die Scheuer: denk' ich, wart'! Komm ich zurück! Doch was geschieht? Ich komm' zurück und stell' mich, als wolle ich ihm helfen –

»Gelt, Bartel«, sag' ich, »jetzt können wir reden, wie's lieb und wert ist?«

»Ja«, sagt er, »wenn nur dem Christopher, alle Teuxwl, sein Scheck nicht ausgekommen wär'.«

»Wo?« sag' ich.

»Dort!« sagt er.

»Wo dort?« sag' ich.

»Nun, dort, dort!« sagt er und zeigt herum, dass sich keine Katz' ausgekannt hätte.

»Ich seh' nichts«, sag' ich.

»Vogelbeertausendsappermentowara!« sagt er und stellt dasSieb nieder – und kommt ins Gehen – und geht und geht immer stärker – und kommt noch ganz und gar ins Laufen; – ich seh' auch gar kein Ross und keinen Christopher irgendwo – und bald darauf auch keinen Bartel mehr; – Hochwürden, das hab' ich von meiner wohlgemeinten Christenlehr gehabt!« ...

»Und damit ist' getan gewesen? Er hat seine Sünden nicht weiter zu Herzen genommen?« fragte der Pfarrer.

»Ei«, fuhr der Stedtiner fort, »es ist ihm dennoch nachgegangen, das hab' ich bald gesehen ... Ich bin denselbigen Abend noch ins Wirtshaus und ein wenig lange dageblieben; – wie ich aber endlich heim will und bis zum Röthelhof komme – steht auf einmal der Bartel da und wartet auf mich ...

»Meister!« sagt er.

»Was?« sag' ich, »bist du auch da, Bartel?«

»Ich erwart' Euch«, sagt er.

»Ihr werdet einen schönen Zorn auf mich werfen«, sagt er.

»Ich?« sag' ich. »Doch – Jaja – Nun sag' mir nur, Bartel, willst du wirklich nicht anders werden? Deine Arbeit tust du, ich kann nicht klagen, ein braver Knecht bist du, ich wünsch' mir keinen anderen; du bist vor der Sonne auf und legst dich erst wieder nach der Sonne; du gehst in kein Wirtshaus, auch ein ganzes Jahr zu keinem Spielmann; du hast keine Schulden und nimmst von deinem Lohn nichts voraus, nicht einmal Tabak magst du rauchen – das alles wäre recht und heilsam; – aber du gehst in keine Kirche, Bartel – und das ist ein großer Schaden; am End' ist doch der Himmel mehr wert als alles andere!«

»O, lasst mich sein, wie ich bin – mit mir und mit der Kirche ist's doch für immer aus.«

»Warum? Warum?« sag' ich hitzig.

»Es ist einmal zu spät«, sagt er, »ich sehe keine Kirche mehr!«

»Teuxel owara!« sag' ich, »warum denn nicht? Christ, Heid, Türk! Was bist du denn nachher? Was willst du sein?«

»Ich bin so schon zu oft davon geblieben«, sagt er, »jetzt ging's doch so nimmermehr!« ...

»Wer sagt denn das?« poltr' ich.

»Nehmt nur den Pfarrer an«, sagt er, »was ich nur mit dem zu tun hätte, en er dahinterkäm', dass ich so lange in keiner Kirch' gewesen; und sagen müsst ich ihm's doch, wenn ich wieder umkehren wollte – kurzum, ich tu' es nicht.«

»Nachher«, sag' ich, »weißt du was?«

»Was?« sagt er.

»Nachher kannst du mein Knecht nimmer sein!«

Der Herr Pfarrer blieb jetzt stehen.

»Da seh' ich aber noch immer keine Reue, lieber Stedtiner«, sagte er.

»Ja, weil sie erst kommt, Hochwürden«, fuhr dieser eifrig fort: »Auf das sind vierzeht Tage vorübergangen, und mein liebes Knechtlein hat wieder keine Kirch' gesehen, ist mittlerwei' am Sonntagvormittag im Sonnenschein gelegen oderzwischen den Feldern gegangen – und wenn ihm ein Mensch begegnet wär', dem ist er ausgewichen. Jetzt ist die Zeit gekommen, und er hätt' aus meinem Dienst fort sollen; das ist gestern gewesen –

»Meister«, ist er zu mir gekommen, »muss ich aus Euerm Dienst fort? Kann ich Euer Knecht nicht länger bleiben? Heute ist der Tag, sagt mir's noch einmal!«

»Bartel«, sag' ich, »du musst aus meinem Dienst, ich seh' nicht, dass du dich bessern willst. Du hast wieder vierzehn Tage nachdenken können, aber hast noch immer keine Kirch' gesehen; so geht's mit uns nicht länger.«

Auf diese Antwort ist er betrübt von mir gegangen, hat seine sieben Sachen eingepackt und ist verschwunden; ich habe schon gemeint, er habe sich ein Leid getan – bis er heute in aller Früh auf einmal wieder vor mir steht und zu mir sagt:

»Meister!«

»Was« sag' ich: »Du hier?«

»Ja, ich«, sagt er.

»Nun mich freut's«, sag' ich, »du bist ja gestern fort, man hat gar nicht gewusst, wohin? Grad wie die Wilden sollten wir doch nicht voneinander gehen.«

»Ja«, sagt er, »ich hab' mir's auch überlegt, ich kann lieber gar nicht fort.«

»So hast du dir zu Herzen genommen, was ich dir wie ein Vater geraten habe?«

»Ja«, sagt er.

»So willst du wieder in die Kirche gehen und dem Herrn Pfarre deine Sünd' bekennen?«

»Ja«, sagt er und schlägt die Augen nieder.

»Nachher sind wir wieder gut Freund«, sag' ich, »und wir bleiben beisammen. Wenn willst du zum Herrn Pfarrer? Du musst je eher, je lieber.«

»Ich geh' heut noch«, sagt er.

»Da ist mir gleich eingefallen, dass ich vorausgehen muss und Ew. Hochwürden davon sagen. Wie ich fort bin und das letzte Mal umgesehen habe, hat er sich gerade Gesicht und Hände im Bach gewaschen; es wird nicht lang mehr dauern, Hochwürden, werden wir ihn kommen sehen!«

»Ha – sagt, lieber Stedtiner«, fragte der Pfarrer nach einer Pause, »wisst Ihr denn gar keinen Grund, warum der Bursche angefangen hat, den Gottesdienst zu versäumen.«

»Wenn mir recht ist«, sagte der Stedtiner, »so setzt es einen geheimen Herzenshandel zwischen ihm und meiner Magd, dem Röschen. An ihr kann ich zwar nichts bemerken, sie ist ein Mal wie das andere, sie begegnet ihm nicht übel, und wenn er nicht mehr wollte als freundliche Gesichter, so könnt' er wohl zufrieden sein. Aber der Bartel, der verbirgt sich nicht so meisterlich; an ihm hab' ich schon manches ins Reine gebracht; seine Launen haben mir's verraten. Denn da ist ein gewisser Schächen-Peter, ein keckes Bein, der ist wie ihr Schatten, immer wo das Röschen ist, und wenn ich auch nicht weiß, ob der den Vorzug hat, so gibt er sich doch alle Müh', den Bartel auszustechen, der dagegen nichts tut, als ganz still zu verzweifeln, verbittert zusehen und den Gottesdienst versäumen. Erst ist er freilich wie ein Wilder im Haus herumgefahren, hat alles angeschnauzt, was ihm in Weg gekommen, hat den Kindern kein gutes Wort mehr geben wollen und auch mir nicht, bis er auf einmal wieder nachgelassen hat, still und traurig geworden ist und zu meinem Verwundern das Kirchengehen aufgegeben hat; ich habe schon gar geglaubt, er hab' dem Himmel bloß einen Ärger antun wollen.«

»… Seh' ich recht, so kommt er dort«, sagte der Pfarrer, durch das Fenster blickend.

»Ja, Hochwürden, das ist er auch«, bestätigte Stedtiner.

»So seht, wie Ihr aus dem Pfarrhofe kommt, ohne dass er Euch erblickt.«

»Ich will hinter der Gartenmauer warten, bis er herein ist; – aber ich bitt', Hochwürden – nur streng, nur streng! Der Bursch muss wieder auf den rechten Weg; es ist ein guter Bursch, aber da hilft nichts, er muss ein paar Mal scharf überfahren werden.«

Jemand klopfte; der Pfarrer sagte:

»Herein!«

Ein Nachbar desselben trat herein.

Bei dessen Anblick verdüsterte sich des Pfarrers Stirne, und der Stedtiner dachte:

»Das kommt recht; mit dem wird sich Se. Hochwürden brav überwettern, dann kommt ihm der Bartel gerade recht in den Wurf; o, es darf schon auch hageln mitunter, diesmal ist's gar nicht zu viel!«

In solchen Gedanken verließ der Stedtiner die Studierstube des Pfarrers, schlich durch die Hofpforte nach dem Garten und durch den Garten bis an die Gartenmauer, wo er sich so aufstellte, dass er seinen herankommenden Knecht beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden ...

Bartel kam die Halbstraße daher, ernsten Schrittes, den Hut in die Augen gedrückt, die linke Hand in der Hosentasche und die rechte schwerfällig vor- und rückwärts lenkend.

Es arbeitet gewaltig in seinem Gemüte, denn er sah sich im Geite schon arg verwickelt in ein Gespräch mit dem Herrn Pfarrer. Wenn wir in das schwermütig-heftige Hin- und Herfahren seiner Empfindungen und Gedanken einige Methode bringen wollten, so dürfte etwa Folgendes davon zu sagen sein:

»Ihr, Herr Pfarrer«, hörte er sich zu Sr. Hochwürden mit bitterem Lächeln sagen, »mit Euch redet sich ein Bürschlein wie ich nur schwer; wir verstehen einer den anderen nicht recht. O, was wisst denn Ihr? Ihr lebt ja schon gar nicht wie ein anderer armer Mensch. Ihr steht auf und legt Euch nieder in lauter heiligen Sachen dahin; Ihr esst gut, Ihr trinkt gut, Ihr schlaft gut; wo Ihr hinkommt, da rennt man schon von Weitem und macht Euch alle Türen auf und schmatzt Euch die Hände, sticht Euch Hühner und Tauben ab und köchelt und kocht, was gut und teuer ist. Wer Euch etwas zu Liebe tut, der tut es gern und tut ein gutes Werk damit; Ihr habt alles: ein schönes Haus, das schönste Gewand, immer gewichste Stiefel mit guten Sohlen d'ran, in Euern Büchern steht' geschrieben und gemalt, schwarz und rot gedruckt, lateinisch und auch deutsch: so soll's sein, so wär's halt in der Ordnung, handle so und so, und du wirst heilig. Morgens in aller Früh könnt Ihr schon in ein solches Buch hineingucken, dann les't Ihr Eur' heilige Mess', die wirft Euch auch nicht wenig Segen ab – und in Himmel habt Ihr auch näher als ein anderer Mensch. Nichts für ungut; aber so ist es. Habt Ihr auch ein Verlangen nach etwas, und es wär' für Euch da? Sagt jemand »nein«, wenn Ihr »ja« sagen wollt? ... Da denk' ich mich nun gleich daneben. Ich könnt' ergehen. Meine Mutter ist tot, mein Vater lebt und weiß sich kaum zu retten, von meinen Geschwistern ist alles ausgestorben, nur ein Bruder ist noch da, das ist mein ganzer Reichtum. Weh tut es; lieber freilich wär' es mir, es wär' zum Wenigsten die Mutter noch bei Leben, und es ging gut, aber es ist einmal nicht anders; was nicht zum Ändern ist, das muss man tragen. Aber hab' ich deshalb nur mein Herz voll Messer? Das ist' nicht, davon red' ich nicht. Aber sagt mir, was ist ein Mensch wie ich? Für was wird er herumgestoßen wie ich? Für was legt er sich nieder, für was steht er auf? Für was schindet, für was zerplagt er sich? Für was spart er und dient er? Wird er auch einmal ein Haus haben? Wird er auch einmal Ruh und Frieden haben? Wenn er ein wenig um und um guckt, was gehört ihm denn als ein einziges gutes Gewand und ein Paar gute Sonntagsstiefel? Ein Pfarrer – ein Pfarrer hat kein Weib, darf keins haben, braucht auch keins, er hat andere gute Sachen genug; wir Sündenkinder aber sind gar niemals zu arm, und dürften die Fetzen und Trümmer von unten und oben herunter hängen – ein Weib sollte halt dennoch sein, ein Weibchen möchten wir dennoch haben! Kann ich mit Euch reden davon? Nein, nein, das versteht Ihr wieder nicht; nur so viel sag' ich: ein Bürschlein wie ich redet sich schwer mit Euch, wir verstehen einer den anderen nicht recht, Ihr könnt Euch nicht denken, wie mir ist, und ich weiß mit Euch nicht wohin. Redet jetzt in mich hinein, was Platz hat, ich lehn' mich nur an und denk' mir mein Teil. Ich red' mich nur leicht mit einem, der nicht besser daran ist als ich. Schreit, stampft, verflucht mich nur – tauschen wir mit unserem Leben, und in einem Jahr wollen wir wieder davon reden ...«

So gefasst und tapfer diese Sprach auch klingen mochte, dem Bartel klopfte das Herz doch immer höher, je näher er dem Pfarrhofe kam; aber je banger ihm zu Mute wurde, umso ernster rüstete er seine Gedanken zum Widerstande. Er ging deshalb immer langsamer, um für alle Fälle eine Antwort fertig zu haben.

Schon aus ziemlicher Entfernung hörte er lebhafte Stimmen aus dem Pfarrhof dringen, und als er etwas aufmerksamer hinhorchte, erkannte er ganz deutlich die zornige Stimme des Herrn Pfarrers.

Er blieb einen Augenblick stehen und wankte.

Die Stimme, welche er stets mit Ehrfurcht, Bewunderung und Liebe in der Schule, von der Kanzel, vom Altar und im Beichtstuhl gehört hatte, verfehlte auch jetzt eine tiefe Wirkung auf Bartels Seele nicht. Dieser Stimme sollte er nun trotzigen Widerstand bieten – und ihr bloßer Klang durchdrang ihm schon alle Glieder! Es fehlte nicht viel, dass sich seine tapferen Vorsätze in wilde Flucht auflösten und seinen vorwärts gerichteten Schritt unaufhaltsam rückwärts wieder nach Hause trieben.

Aber noch im rechten Augenblick ergriff sein Herz die gesunkene Fahne seines Mutes wieder und schwang sie vorwärts winkend über seinen zagenden Gedanken.

Und so ging es denn nach kurzem Zaudern wieder leidlich vorwärts.

Bartel mochte noch etwa zehn Schritte bis zum Pfarrhof haben, als er halt machte, um gleichsam eine letzte Heerschau über seine tapferen Gedankentruppen zu halten; hier ermutigte er sich ungefähr durch folgende Gedanken:

»Ich weiß, was ich weiß. Da soll nur ja kein Mensch glauben, dass ich mich schrecken lasse! Ich hab' zu viel gelitten – und zu bekehren bin ich nicht mehr – Kinder vorwärts!«

Ein heftiger Zornruf des Pfarrers durchschütterte ihn in diesem Augenblicke wieder, er konnte nicht verhüten, dass sich einige Linienregimenter seiner Gedanken auflösten und in Scharen desertierten.

Mit einem schwermutsvollen: »Kinder, mir nach!« führte er hierauf den Rest seines Mutes todverachtend gegen den Pfarrhof vor.

An der Pfarrhofpforte machte er zum dritten Male halt und sendete sein Gehör ins feindliche Lager, um zu erfahren: was die Feinde schmieden oder spinne? Hier wendete er sich auch noch einmal an seine tapferen Gedanken, welche blassen Antlitzes ihm treu geblieben waren, und hielt es für gut, noch einige letzte Worte an sie zu richten. »Kinder – hätten seine Gedanken in der Soldatensprache ungefähr gelautet – Kinder, meine Kinder! Haben wir noch nicht genug gelitten in diesem Leben, dass wir uns noch schlagen müssen auf Tod und Leben? Es ist doch sehr traurig; es ist zu viel. Allein – meine Kinder, wir wollen lieber auf dem Schlachtfelde sterben als auf demselben – untergehen«, schloss die Rede schwankend.

In Folge dieser unmusterhaften Rede löste sich das achte Regiment Hohenschwangau-Kürassiere seiner Gedanken auf und riss den ganzen Nachtrab mit sich fort.

Desto fester aber hielt der Rest von Bartels Mut zusammen, und wankenden Knies stieg er nun die Stufen nach der kühlen Vorhalle des Pfarrhofes empor ...

Drinnen in der Studierstube des Herrn Pfarrers war indes der Streit bis zur Erbitterung gestiegen. Se. Hochwürden war außer sich, einen Menschen vor sich zu haben, der sich wie ein unverrückbarer Fels vor ihn hingepflanzt hatte und sich weder durch Vernunft und Güte noch durch Ermahnungen und Drohungen über den Widersinn seiner Behauptungen zuechtweisen ließ.

Der Herr Pfarrer mochte dem »begriffstutzigen« Nachbarn etwas zugeben oder es bestreiten und widerlegen – dieser erwiderte nur immer ruhig:

»Nun ja, das sag' ich ja, das ist ja meine Red' von alleweile her!«

Hielt ihm der Pfarrer vor: »Gestern habt Ihr ja gewollt, dass ich den Grenzstein meiner Wiese etwas weiter hinaufrücken solle?« so erwiderte der Nachbar. »Sag' ich anderst? Hinaufrücken solltet Ihr den Grenzstein!«

Setzte Se. Hochwürden hinzu: »Nun gut, wie könnt Ihr dann so unverschämt sein und heute verlangen, dass ich den Grenzstein weiter heruntersetzen solle?« so antwortet der Nachbar: »Sag' ich anderst? Das ist ja immerfort meine ewige Red', herunter muss der Markstein kommen!«

Nachdem sich der Streit noch um viele andere Dinge gedreht hatte, ohne einen andern Erfolg zu haben als den immer höher gesteigerten Zorn des Pfarrers, sagte dieser endlich kurz und gut:

»Meierhofer, bisher habe ich Euch in alle Euern Willen getan, ich habe geglaubt, Euch durch Güte und Nachgiebigkeit eher auf den rechten Weg zurückzuführen; ich sehe aber jetzt, das alle ist umsonst – und so will ich Strenge gelten lassen. Wisst Ihr, was auf heimlich weiter gesteckte Zäune und Marksteine für eine Strafe gesetzt ist? Gut, wenn Ihr's wisst und auch gut, wenn Ihr's nicht wisst, Ihr werdet es in Kurzem erfahren. Ich will Euch nicht mehr überführen, dass Ihr unrecht habt; ich will Euch strafen lassen, weil Ihr ein Verbrecher seid! Jetzt geht! Wollt Ihr noch ein gutes Wort zu Herzen nehmen: so sei es das: fangt bei Zeiten wieder an, den Gottesdienst zu besuchen, denn, seit Ihr vom Gebet und Gottesdienst gelassen, hat Euer Lasterleben angefangen. Erst habt Ihr eine Predigt um die andere versäumt, dann auch eine Messe um die andere, Ihr seid immer unzufriedener mit Euch selbst geworden und habt angefangen, die Leute zu necken und zu plagen, denn weil in Euerm Herzen keine Ruh' gewesen, so habt Ihr auch andern Leuten keine Ruhe gegönnt. Merkt Euch's, macht binnen acht Tagen Euer Unrecht wieder gut und versäumt den Gottesdienst nicht länger, sonst wird es Euch hier und dort noch schlimm ergehen!«

Nach diesen Worten ging der Herr Pfarrer mit raschen Schritten in das Nebenzimmer und machte die Türe hinter sich heftig zu.

Es folgte eine Totenstille in der Studierstube, bis nach einer Weile der Meierhofer schwer ausschreitend sich der Türe nach der Vorhalle näherte und schweißglänzenden Angesichtes herauskam. Ein Lächeln des Sieges und doch auch der Erschütterung schwebte um seinen Mund; er sagte noch, indem er von der Vorhalle auf den Anger heraustrat, vor sich hin: »Das ist ja ewig meine Red'; sag' ich's denn nicht, sagt' ich's nicht immer?«

Wer aber bei den letzen Worten des Herrn Pfarrers am allermeisten gelitten hatte, das war unser Bartel; namentlich die Schlussworte: versäumt den Gottesdienst nicht länger, sonst wird es euch hier und dort noch schlimm genug ergehen, verfehlten die allertiefste Wirkung nicht.

Drittes Kapitel.
Ein rechter Pfarrer ist es, der das Rätsel löst.

Das sah nun Bartel klar genug: Sr. Hochwürden gegenüber werde sich der Rest seines Mutes höchstens verteidigungsweise halten können; angriffsweise zu verfahren, dazu war fast jede Aussicht abgeschnitten ...

Der Herr Pfarrer kam nach einer Weile wieder in das Studierzimmer zurück und ging mit lebhaften Schritten auf und nieder.

Bartel aber stand noch einige Augenblicke draußen vor der Türe und krümmte den Zeigefinger, um anzuklopfen, unterließ es aber immer wieder.

»Jetzt lass ich ihn noch vier Mal hergehen, dann klopf' ich«, dachte er; und als die vier Male vorüber waren, fügte er hinzu: »Er darf mich nicht gleich seh'n, ich klopf' und geh' hinein, wenn er grde gegen das Fenster hinspackt!«

Im nächsten Augenblicke rückte der Herr Pfarrer einen Sessel und setzt sich drinnen.

Bartel kannte aus früherer Zeit, wie die Gegenstände in der Studierstube geordnet standen und vermutete, dass sich Se. Hochwürden zum Schreibtisch gesetzt habe.

»Das ist grade recht«, dachte er, »da hat er den Buckel gegen die Tür gerichtet, da kann ich prächtig hinein, und er sieht mich nicht gleich.«

Nach einer Weile bog er den Zeigefinger wieder und klopfte wirklich.

Ein lautes wohlklingendes »Herein« erscholl.

Heiß und kalt durchlief es Bartels Glieder. Wankend öffnete er die Türe und trat herein. Er hörte sein Herz klopfen und fühlte, wie ihm an den Schläfen der Blutandrang die Adern spannte. Hinter sich drückte er die Türe behutsam zu und ärgerte sich, dass sie etwas knarrte; an der Türe blieb er dann stehen: – ein langer, schwerer Atemzug, um sich die Brust zu erleichtern, war das Erste, was Bartel in dieser neuen Stellung zum Besten geben konnte; er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Inzwischen machte der Herr Pfarrer keine Bewegung, um sich nach dem neuen Gaste umzusehen, er schrieb nur ruhig weiter, und das Rauschen seiner Feder und das Picken einiger Uhren bildeten die einzigen Laute in dem schönen, weihevollen Zimmer.

»Bitte, Platz zu nehmen«, sagte endlich der Pfarrer, ohne aufzublicken, als wüsste er nicht, wer gekommen sei; so schrieb er weiter.

Bartel stand bewegungslos da, in den gefalteten Händen den Hut; er dachte: Der Herr Pfarrer weiß wohl nicht, wer da ist, sonst hätt' er nicht »ich bitte, Platz zu nehmen« gesagt.

Nach einer Weile lehnte sich Se. Hochwürden im Sessel zurück und verharrte so einige Augenblicke in Gedanken. Es schien, als sehe er zum Fenster hinaus, während er doch in einem Spiegel den Bartel aufmerksam betrachtete. Als feiner Menschenkenner übersah er nicht, dass trotz der befangenen Außenseite in des Burschen Seele ein entschiedener Widerstand sich rüste und dass hier ein Menschenschicksal auf dem Spiele stehe. Es galt also einen wohlbedachten Plan, diese verdüsterte Seele zu behandeln.

»Wer da?« rief der Herr Pfarrer nach einer Weile mit scharfer, durchdringender Stimme.

Nach einem leichten Hüsteln erwiderte Bartel mit umflorter Stimme:

»Ich.«

»So!« sagte der Herr Pfarrer kurz und wieder, ohne sich umzusehen.

Eine lange Pause folgte.

Dem Bartel lief der Schweiß in Tropfen von der Stirne, aber seine Seele ermannte sich dennoch zum Widerstande, alle Pulse schwollen; jede Härte und Gewalt wollte er mit wildem Trotz erwidern. In dunklem Aufruhr druchwogten ihn gute und böse Gedanken und wuchsen und drängten sich umso heftiger, je mehr Zeit ihm der Pfarrer ließ, ihnen nachzuhängen.

»Ich weiß, was ich weiß«, wiederholte er mit düsterer Fassung – »mich anschreien und verfluchen ist leicht, aber soll nur einer erleben, was ich!«

Der Herr Pfarrer schrieb wieder eine Weile und legte sich dann wie zuvor im Lehnstuhl zurück; erst betrachtete er so stillschweigend den Bartel im Spiegel, dann sah er durch das Fenster, auf welches die Abendsonne fiel; plötzlich sagte er mit milder Stimme:

»Wie schön die Sonne untergeht! Kein Wölklein schwebt am ganzen Himmel. Es geht uns doch das Herz auf, wenn wir hinaussehen und alles grünt und blüht so lieblich. Der warme Regen gestern hat alles sichtbarlich erquickt; ach, was lebt für ein gütiger Vater über uns allen! ... Lieber Strasser, öffnet doch hinter mir die andern Fenster auch, dass wir die Vöglein besser singen hören.«

Diese unerwartet sanfte Anrede fiel wie milder Sonnenschein in Bartels Herz und vertrieb für einen Augenblick Schatten und Gewölk.

Unwillkürlich und mit Rührung blickte Bartel auch der Abendsonne nach und war von dem großen Schauspiel des Himmels ergriffen; dass ihn Se. Hochwürden ‚lieber Strasser' nannte, machte ihn zwar stutzen, aber er sprang doch schnell hin und öffnete die Fenster, denkend: »Strasser hin, Strasser her; Sr. Hochwürden einen Dienst tun, ist schon etwas wert.«

Als die Fenster geöffnet waren und Bartel in eigentümlich freudiger Aufregung zurücktrat, besann er sich wieder und nicht ohne Wehmut, weshalb er eigentlich da sei und dass er nun allen früheren Trotz in sein Gemüt zurückrufen müsse, denn Se. Hochwürden habe doch nur so milde Worte geredet, in der Meinung, dass vor Johann Strasser aus Brunnen im Zimmer sein.

»Weil jetzt einmal alles im bessern Gange ist«, dachte er, »sollte Se. Hochwürden doch mit mir auf Frieden denken. Muss denn gleich gewettert und verflucht sein? ... Aber«, dachte er seufzend weiter – »es wird nichts helfen, und so will ich mich auch wieder gegen alles stemmen.«

Nach einer Weile sagte der Herr Pfarrer wieder:

»Strasser ...«

Verlegen hüstelte und sagte Bartel: »Hier« – und machte einige langsame Schritte vorwärts.

»Strasser«, fuhr Se. Hochwürden fort, ohne sich umzusehen: »nicht wahr, Ihr verzeiht mir schon, dass ich Euch so lange warten lasse? Ich habe da etwas sehr Dringendes aufzusetzen, aber ich bin gleich fertig. Indessen könntet Ihr mir einen großen Gefallen tun ...«

»Ja, Hochwürden«, sagte Bartel schnell, noch einen Schritt vorwärts gehend.

»Ihr könntet so gut sein und mir ein Lot Peramuzinertabak holen; ich glaube, Ihr werdet ihn im Dorfe kriegen.«

»Ja, Hochwürden«, sagte Bartel mit Freuden und langte nach der silbernen Dose.

In diesem Augenblicke sah der Pfarrer auf – und sagte mit liebevoller Verwunderung:

»Ach, seh' ich recht, du bist es, lieber Bartel? ... Nun, auch gut, willst du so gefällig sein? ...«

Die hellste Glut der Freude übergoss Bartels Angesicht bei dieser freundlichen Rede – er hatte die Dose in der Hand, war zur Türe hinaus und stand auf dem Anger vor dem Pfarrhofe, ohne zu wissen, wie. – Fort eilte er dann mit großen Sätzen dem Tabakladen zu und rief schon von Weitem der Krämerin, die an der Haustüre stand, entgegen:

»Däumlin, ich bin so gut und soll dem Herrn Pfarrer ein Lot Peramuziner holen; hier ist seine Dosen – mich schickt der Herr Pfarrer.«

»Peramuziner?« sagte die Däumlin und steckte den aus der Tasche genommenen Schlüssel zur Tabakkammer ruhig wieder ein;

»Peramuziner hab' ich gar nicht!«

»Was?« rief Bartel ärgerlich. »Nicht einmal Peramuziner haben? Ihr wollt dem Herrn Pfarrer den Gefallen nicht tun? Was seid Ihr dann für eine Krämerin? Pfi Teuxel owara – für den Herrn Pfarrer nicht einmal Peramuziner haben?«

»Recht gern«, erwiderte die Däumlin; »aber haben ist eine andere Wurst. Seit wann schnupft denn der Herr Pfarrer diesen verteuxelten Peramuziner?«

»Das geht Euch gar nichts an«, sagte Bartel hitzig – »Ihr sollt haben, was der Herr Pfarrer verlangt! Doch der Tausend – jetzt muss ich schon ein Haus weiter!«

Und ohne Umstände beschloss er nun, ins nächste Dorf zu eilen, in der Hoffnung, den verhängnisvollen Peramuziner dort zu finden, allein auch hier war er nicht zu haben.

Der Abend brach herein; ohne Tabak, meinte Bartel, Ehren halber nicht zurückkehren zu dürfen. Er fasste nun einen großen Gedanken, von dessen Ausführung er sich keine geringe Wirkung aus Se. Hochwürden versprach. Der Wunsch, sich mit dem Pfarrer auszusöhnen, war nun bereits mit aller Gewalt in seiner Seele wach geworden, und er war überzeugt, wenn er ausführe, was er sich in diesem begeisterten Augenblick erdacht, da könne der Friede nicht lange auf sich warten lassen.

So eilte er denn nach Hause, zog seine langen Sonntagstiefel an, um leichter ausschreiten zu können, steckte sich einige Groschen Geld in die Tasche und sagte dann: »In Gottes Jesu Namen!«, indem er die Bodentreppe in den Stall hinunter stieg.

Niemand, der fragte, was das bedeute, wohin er so eilig wolle, bekam eine Antwort; selbst an Röschen stürzte er, ohne aufzublicken, vorüber. Nur dem Stedtiner, der ihm an der Stalltüre den Weg verstellte, hielt er auf einige Worte stand.

»Bartel«, sagte dieser.

»Peramuziner«, antwortete Bartel eilig.

»Wohin denn so sausig?«

»Für den Herrn Pfarrer ...«, erwiderte Bartel.

»So bist du wirklich dort gewesen?«

»Ach, mit unsern Krämerinnen ist kein Hanf zu spinnen!«

Und nach diesen Worten griff Bartel so mächtig aus und ging davon, dass es von Seiten Stedtiners nutzlos gewesen wäre, ihn weiter auszufragen; dieser blickte ihm auch nur überrascht nach, er wusste sich das Wunder gar nicht zu erklären.

Desto besser verstand das Wunder jemand anderer, der vergnügt lächelnd hinter dem Pfarrhof stand und den in leiser Dämmerung dahin eilenden Bartel noch wohl erkannte; – es war der Herr Pfarrer. Mit innigem Behagen dachte er über das schwere, aber schöne Amt einer wackeren Seelsorge nach und freute sich, wie er hier auf ein schlichtes Gemüt durch da einfachste Mittel gewirkt habe.

»Nicht lange ermüdende Sittenlehren habe ich hier angewendet«, dachte er wahrhaft weise, »weil Sittenlehren auf felsigen Boden fallen, wenn nicht Milde vorher den harten Boden des Gemütes empfänglich gelockert hat. Nicht mit dem strengen Vorwurfe seiner Sünden habe ich sein trotziges Gemüt erschüttern wollen, denn empfänglich ist das Gemüt nur, wo es eine unverwahrte, weiche Stelle bietet ...«

Am folgenden Morgen (es war ein Feiertag der Kirche) hielt der Pfarrer eine schöne, sehr schöne Predigt, und die Leute weinten, dass eine Träne die andere schlug.

Am allernächsten unter der Kanzel aber stand Bartel. Er blickte zu Sr. Hochwürden wie zu einem Heiligen, seine Tränen ließ er über die Wangen laufen, so heiß sie wollten, er wusste gar nicht, wie sehr er weinte; das eine nur erfüllte ihn mit unnennbarem Wohlgefühle: dieser liebe, gut, heilige Mann da oben sei nun sein Freund und werde ihn nach dem Gottesdienste freundlich empfangen. Es kam ihm vor, als wäre er von allen Leuten in der Kirche beneidet, dass er Sr. Hochwürden nach dem Hochamte die Dose werde überbringen und – wenn sie auch noch leer war – erzählen können, was für einen Weg er heute Nacht zurückgelegt habe; denn er war fünf Stunden Weges bis nach der Stadt gelaufen, und nachdem er auch dort den fatalen Peramuziner nicht erhalten, ist der die fünf Stundennach kurzer Frist wieder zurückgeeilt. Nur mit vieler Mühe gelang es dem Burschen, diese irdischen Gedanken hinter seine Andacht zurückzudrängen.

Als nun endlich auch das Hochamt zu Ende war, konnte sich Bartel wenigstens diese Eile nicht versagen, dass er Sr. Hochwürden schon in der Sakristei, anstatt erst im Pfarrhofe, entgegentrat.

Der Herr Pfarrer erblickte ihn kaum, als er mir freundlichem Ernste sagte:

»Nun, was bringst du mir Gutes? Gelt, Lieber, der Peramuziner wird schwer zu kriegen gewesen sein?«

Bartel, der noch von der Predigt feuchte Augen hatte, erzählte nun seltsam lächelnd, dass er heute Nacht den Peramuziner sogar in der Stadt gesucht habe.

Der Pfarrer hatte gedacht, der gute Bursch werde höchstens im nächsten Marktflecken gewesen sein – er war daher über die weite und schnelle Fußreise tief betroffen und gerührt.

»Und doch bist du zur Predigt schon wieder zurück gewesen?« sagte er nach einer Pause: »Ich habe dich wohl unter der Kanzel gesehen; nun, du machst mir Freude. Gib nur her die Dose wieder, ich hätte ja den Peramuziner just nicht haben müssen. Besonders schön ist's, dass du auf den Gottesdienst hältst und trotz der Müdigkeit in die Kirche gekommen bist. Jetzt komm mit mir, meine Köchin soll dir zu essen geben, du musst dich stärken.«

Selig und wehmütig folgte Bartel. Es tat ihm wohl, dass die Leuten von allen Seiten verwundert aufschauten; aber es tat ihm weh, dass er das Röschen mit dem Schächen-Peter nach Hause gehen sah.

Als Bartel im Pfarrhofe bereits bei einem Stück Braten saß trat Se. Hochwürden herein und sagte:

»Du wirst wunde Füße haben, Lieber, möchtest du nicht ein Fußbad nehmen und mit dieser Salbe den Schmerz ein wenig lindern?«

Obwohl es dem Bartel nicht anders war, als habe er die Füße im Feuer, so unterdrückte er doch alle Zeichen des Schmerzes und sagte:

»O nein, Hochwürden, das werd' ich schon alles zu Hause tun.«

»So nimm wenigstens die Salbe mit, sie stillt den Schmerz und heilt«, sagte der Pfarrer ...

Als Bartel nach Hause kam und die Stiefel auszog, erschrak er selbst über seine arg zugerichteten Füße. Er wusch und salbte sie und dachte kummervollen Herzens:

»Röschen, Röschen, auch das hab' ich um dich erleiden müssen!«

Etwas frischeren Mutes, an Leib und Seele gestärkt, erwachte er andern Morgens, und sein erster Gedanke war:

»Ach, Gott sei Dank, zum wenigsten bin ich jetzt wieder mit dem Vater im Himmel, mit einem heiligen Freunde auf Erden und mit der Kirche in bessern Stand gekommen; das andere muss ich halt ertragen, wie es geht.«

Er nahm sich vor, mit Nächstem seinem Freunde, dem Herrn Pfarrer, freiwillig ein Geständnis seiner Liebe abzulegen. Die ganze Rede war schon in seinem Kopfe fertig, und indem er sich dieselbe vorsagte, rührte er sich selber zu Tränen.

»… Mit eine solchen Weh im Herzen unter einem Dach mit ihr zu leben, das bedenkt, Hochwürden – wollte er sagen – das ist die größte Pein auf Gottes Erden. Man wird vom frühen Morgen bis in die späte Nacht gespießt, gerädert; sieht man sie nicht, so hört man sie; hört man sie nicht, so reden andere von ihr. Redet jemand gut von ihr, so möchte man ihn halsen wie den liebsten Freund, und schimpft sie wer, so möchte man den Schuft ermorden. Das Röschen kann nicht böse sein! Wir selbst, ja das ist was anderes, wir dürfen oft im Stillen über sie wettern, sie verrufen, sie verdammen, aber alles nur im Zorn, wenn sie den andern bei sich duldet, einen Menschen, der nichts wert ist, der ihr schmeichelt, der uns im Weg ist. Aber unser Zorn kann ihr nichts schaden, niemand hat ihn gesehen und gehört; er verschwindet, und uns lacht das Herz, uns springt die Freude aus den Augen, wen sie uns freundlich ansieht; er verschwindet, und uns lacht das Herz, uns springt die Freude aus den Augen, wenn sie uns freundlich ansieht, mit uns redet, uns einen Dienst erweist. Weinen, Lachen, Jubeln, Springen, alles wär' uns jetzt willkommen, nicht zu nennen ist ein solches Glück. So geht das fort, den ersten Tag, die erste Woche, einen Monat, gar ein Jahr, wir sind zehntausend Mal zum Tode krank und wieder auferstanden, begraben worden und doch am Leben. Wir sind müde, wir sind launisch, wir greifen um ein Messer, dass ein Ende werde; wir sind wieder neugeboren wie ein Kind, wir sind glückselig, freundlich gut; Das fliegt und wirft uns nieder, Das macht uns arm und reich bei Handkehrum; gut geht's, wenn wir nicht Mörder werden und Menschenblut vergießen; schlimm ist's, wenn wir nicht oft Engel sind von ganzem Herzen. O, Hochwürden, was hab' ich verwunden, was hab' ich erlebt! ... Mich wundert's, dass ich noch da bin, mich wundert's, dass ich leb'!« ...

Aber indem er recht in Zug kam, seine Leiden abzuschildern, war es ihm doch wieder, als gehöre das vor keines Menschen Ohr, denn recht zu sagen sei es nicht und recht verstehen könne es selten einer.

»Soll ich Se. Hochwürden damit plagen?« fiel er sich selber in die Rede: »Hat er Zeit für so was? Hat er es selber schon erlebt? ... Nein, nein, es ist nicht für ihn, es ist für keinen andern; ich hab's erlebt, und ich versteh's alleine!«

So schloss er mit sich ab und machte niemand zum Vertrauten.

Von nun an wurde er verschlossener als je; etwas Ungewöhnliches zu tun, wie er früher oft gelaunt war, vermied er jetzt mit aller Sorgfalt; aber in die Fremde, weit, weit weg zu wandern, das wurde nun der feste Wille seiner Seele, denn er fühlte wohl, die Entfernung allein sei es, die ihm endlich den Frieden wieder bringen könne!«

Und wirklich – als bald darauf in einer Nacht der Stedtiner wieder aus dem Wirtshause heimging, vertrat ihm unvermutet Bartel den Weg und sagte:

»Meister!«

»Was? Wer da?« rief der Stedtioner – »Irr' ich oder irr' ich nicht? Bartel, du bist's?«

»Ich bin's«, erwiderte dieser.

»Nun da! Was gibt's, was hast du wieder?«

Bartel teilte nun seine Absicht mit, in die Fremde zu wandern und bat, ihn zu diesem Ende zu entlassen – »Ich hab' Euch einen andern gefunden, wenn Ihr ihn für mich in Dienst nehmen wollt, er wird Euch so treu oder treuer dienen als ich« – schloss er seinen Bericht.

Der Stedtiner war einige Augenblicke stille, dann erwiderte er:

»Ich muss dir nur sagen, Bartel, dies kommt mir gar wunderlich so auf einmal. Gerade, wo ich vermeint hab', wir wären wieder zufrieden und auf immer beisammen – streckst du mir die Hand vor zum Behüt' euch Gott! ... Aber du willst fort – gut, so wird man dich auch nicht halten – so geh' du, geh', weil es sein muss.«

Es lag Empfindlichkeit und Wehmut in dem Tone dieser Worte; Bartel gab sich daher auch Mühe, indem sie weiter gingen, die Stimmung des Meisters zu verbessern.

»Und wann willst du fort?« fragte der Stedtiner endlich wieder.

»Morgen in der Nacht.«

»Ja gut – aber wie willst du fort? Bist du auch wie ein lebendiges Ebenbild Gottes, das im Taufbuch und auf Konskriptionsbogen steht?«

»Nein. Ich muss darum still fort, bei Nacht und Nebel – muss achthaben und unsichtbar bleiben, so viel und gut als ich kann!«

»Nun – nun – so geh'! Und bereu' nie, was du tust…«

In der Tat war der Bursche am zweitnächsten Morgen aus der Heimat verschwunden. Er hatte außer dem Stedtiner und seinem Stellvertreter niemand ins Vertrauen gezogen; auch hatte er von niemand als von seinem Kameraden, dem Hofer-Johannesle, Abschied genommen, den er beim zufälligen Begegnen plötzlich und heftig in den Arm nahm und küsste, ohne dass er sagte, was es zu bedeuten habe. ... Röschen – Röschen sollte am allerwenigsten von seiner Flucht aus der Heimat eine Ahnung haben – aber ach, der gute Bartel hatte leider auch keine Ahnung, welchen Dolch des Grames er dem Mädchen durch die Seele stoße; – denn Röschen liebte ihn ja, liebte ihn so innig als er sie, wenn sie auch Gründe hatte, ihre Liebe noch geheim zu halten! ... Und so ging er ohne Abschied, ohne Händedruck von dannen und versagte sich selbst den wehmütigen Genuss, noch einmal in ihr schönes, braunes Auge zu sehen ...

Bartel war fort – und Stunden, Tage, Wochen und Monate flogen unbemerkt hinter ihm her. Es geschah auch hier, was so oft geschieht: solange Bartel in der Heimat lebte, ward er kaum von jemand beachtet, kaum einer Nachfrage wert gehalten; – jetzt aber fragten viele Leute, manchmal sogar mit Wärme, nach ihm, man hätte gern gewusst, wo in der Fremde er angelangt sei, was er treibe, wie er lebe. Aber was halfen alle Fragen! Wusste doch selbst der Stedtiner Bartels Aufenthalt nicht, viel weniger sein Schicksal. Erst nach Monaten – nach Herbst und Winter – im nächsten März kam ein dunkles Gerücht in Umlauf: Bartel sei in Wien angekommen, habe eine gute Stelle in einem Gasthofe erhalten, es gehe ihm wohl – und er denke sogar, niemals wieder in die Heimat zurückzukommen! ...

Sieh' da, der kecke Flüchtling! So stolz, geheimnisvoll, erhaben lässt er Kunde von sich nach der Heimat gelangen? Wär's nicht wohl getan, ihn aufzusuchen, ihm seinen kühnen Hochmut vorzuhalten? Ei wie – man könnte ja so auch Wien gelegentlich sehen – die vielberufene Kaiserstadt besuchen ... Auf! Entschlossen denn! Das Frühjahr hat begonnen – es lässt sich trefflich an – zu Fuß, zu Pferd oder im Wagen – nach Wien, nach Wien!

Viertes Kapitel.
In Wien.

Wir haben einen warmen Märzregen gehabt, da kam auch über Nacht das junge Gras; reinlich grün sind alle Praterwiesen, und an Baum und Strauch schwellen Frühlingsknospen. Seit dem Regen sind die Tage ruhig, die Lüfte lau, der Himmel wolkenlos, die Sonne freundlich. Jetzt muss der Wiener auch fast täglich seinen Prater sehen; Reiten, Fahren, Gehen macht die Jägerzeile zu gewissen Stunden schon zu enge; – mag man aber auch allein oder mit einem Freund und Liebchen sich ergehen, man sieht doch wieder mit ganz anderen Blicken auf: der Frühling kommt, der Frühling naht!

Gestern Nachts war vor den beiden Cafés anfangs der Jägerzeile ein geheimnisvolles Hämmern und Sägen, bedeutungsvolles Flüstern und Raten, bedächtig ernstes Rücken und Ordnen; die späten Wanderer, die aus der Stadt über die Brücke kommend, hier vorüber mussten, blickten verwundert auf, was so geschäftig hier vollführt werde.

Andern Morgens standen Tische und Stühle in schöner Ordnung da, und bunte Leinwandfirmamente mit farbigen Schnüren und Quasten spannten sich darüber.

Das ist Frühlings Anfang. Wenn die Schwalben kommen und die Kaffehausgäste vor den Häusern sitzen, ist kein Zweifel mehr daran. Die Schwalben kommen: eine zum mindesten ist schon da, Madame Laura de Bach, die ewig junge, unvermeidliche, alljährlich wiederkehrende, treue, unermüdliche; wenn im Praterzirkus ihre Dinge geschehen, da ist der erste Mai nicht weit, der schöne, große, wunderbare erste Mai in Wien – und ihre Dinge geschehen bereits, das zeigt jede Straßenecke in der Stadt, jeder dritte Baum im Prater, das zeigt allnachmittäglich vor dem Zirkus jener Schwarm von Dienern, Proletariern und Buben, welche den Eintritt nicht bezahlen wollen oder können und schon vergnügt sind, wenn sie das »halopp!« der Reiter oder einen Trompetenstoß aus dem Innern des Tempels vernehmen.

Für die Kavallerie beginnt der Frühling nicht sehr glücklich; man hört viel von gebrochenen Beinen, man sieht nicht selten reiterlose Pferde aus des Praters Tiefe nach der volkreichen Jägerzeile rasen; doch lebt Sandór noch (1846). Oft, wenn Zweispänner, Vierspänner, Sechsspänner heller und dumpfer, schneller und bequemer, leichter und majestätischer neben und vor einander fahren, kommt ein unheimlicher Zweiräder daher, schlüpfrig wie ein Aal, geräuschlos wie auf Wolle, durchsichtig wie ein Gitter, biegsam wie von Fischbein, und man hört das Pferd nicht, und man hör die Räder nicht, kaum dass man vor Geschwindigkeit den Wagenlenker sieht; diesem unheimlichen Künstler ist nur zu raten, dass er ja vermeide, zwischen zwei Schwimmschularchen zu geraten, sonst wird man eines Tages ein Fischbeinhäuflein liegen sehen und sagen: da liegt Sandór, der kühne Aal, zermalmt; das Schicksal hat ihn endlich aufgerieben.

Jetzt weiß ich auch, warum das Wort »Herrschftswagen« dem Worte »Equipage« fast allgemein gewichen ist; die langen Reihen vornehmer Wagen, welche täglich vor jeder Sattlerwerkstatt in der Jägerzeile stehen, lösen mir das Rätsel: stehen sie denn nicht da, blank und tadellos, leichträdrig und schwungvoll, von Innen eitel Samt und Seide und gefallen sich, wie vornehme Damen im Affektieren eines Kränkleins, das sie nur reizender machen soll? »Wagen« ist männlichen Geschlechtes, »Equipage« weiblichen, und so heißen sie denn lieber »Equipage«, um gleich vornehmen Damen im vollen Putze ihren Arzt zu rufen, dass er ihren Puls befühle – und gelegentlich die neue Toilette und die frischen Wangen lobe. Es ist nicht zu leugnen, wer im Vorübergehen auf diese schwellenden Samt- und Seidensitze blickt: einer Sehnsucht kann er sich nicht erwehren, darauf zu ruhen und Behagens voll vom brausenden Eifer der Pferde fortgeführt zu werden an Häusern, Menschen, Bäumen, Wiesen und Gärten vorüber, es wäre ein Schauspiel bunter, fliegender Bilder; aber wird man wieder inne, wie milde sich die Frühlingssonne einstellt, wie endlich wieder laue lüfte wehen, wie das Ohr so gern bei jedem fröhlichen Lärm, das Auge so gern bei jeder Erscheinung des Frühlings weilt, da freut es einen doch, dass man dem lieben Gott diese große, majestätisch ruhige Welt, den drängenden Menschen so viele heitere Lebensbilder, sich selber aber eine erquickliche Bewegung verdankt; man will sich ja nicht allein dem rastlosen Fliehen,man will sich auch dem behaglichen Verweilen ergeben, ist man doch nach langen Winterleiden wie ein Kind, alles lockt uns wieder, alles ist uns neu!

Da werden schon Frühveilchen von Bettelkindern ausgeboten; wer greift nicht zu und freut sich an der ersten duftigen Gabe der leiben Mutter Erde? Ist sie doch die Vormelderin der Millionen Wunder eines allgemeinen Frühlings. A propos, von Frühling, Sonnenschein, Frühveilchen, Regen, lauen Lüften – wo bleiben die Regenwürmer unserer Frühlingsfreuden? Eine Verordnung vom Oberjägermeisteramte ist erschienen und verbietet das Reiten und Gehen auf anderen als den gebahnten Praterwegen. Aber ist dieser Befehl auch billig? Ist seine Befolgung wahrscheinlich? Ist seine Überwachung möglich? Wiens ganze Polizeiarmee würde keine solche Ordnung unter Tausende von Menschen bringen, die jetzt täglich nach dem Prater strömen; es hieße, der Prater dürfe hinfüro nicht mehr Prater sein. Doch hat's mit dem Befehl auch sein Bewenden, das sieht man schon jetzt, während er noch von allen Straßenecken donnert: weich über die zarten Frühlingsgräser des Prater schreiten unbekümmert einzelne und Paare und ganze Gruppen ohne Furcht und Tadel.

Gestern so im »Zwielicht«, als es mählig stiller wurde in den Praterauen, kein selig Wesen mehr ihr Dunkel suchte, kam noch ein einsam, elend Fuhrwerk daher und schmachtete dem Prater zu; den Wagen zog ein jammervolles Pferd, gelenkt von einem hageren Fuhrmann, auf dem Wagen lag ein Häuflein Habe: Kisten, Koffer, Bretter, Stangen, eine alte Mutter und ein junges Kind, Strohsäcke, etwas, das wie Betten aussah, und ein Affe und ein treuer Hund; sie wollten in stiller Dunkelheit ihre altgewohnte Heimat wiederfinden, die sie alljährlich im Nebel und im Regen des Herbstes räumen, um auf weiten Winterfahrten ihr Brot durch ihre Wunder, die sie zeigen, zu verdienen; mit dem Frühling sind sie dann immer wieder da, bewohnen ihre Praterhütte, hängen ihre Wunderschilde aus, rufen und trommeln Wiens bunte Völker an: zu sehen, zu staunen, unter ihr Dach zu treten –

»Herein, herein!« heißt es dann vor ihrer Hütte; »kostet nur einen Groschen; hier ist zu sehen ein Linienschiff mit hundertundsechzig Kanonen, wilde Inselbewohner aus allen Meeren, über hundert Köpfe verschiedener Charaktere und menschlicher Leidenschaften, die große Seespinne und Muscheln und Wunder des Meeres über einander!«

Und auf großem Leinwandschilde locken in schreienden Farben abkonterfeit die buntesten Charakterköpfe; da ist gar wunderlich zu sehen: der Denker neben dem Narren, die Freude neben der Verzweiflung, die Unschuld neben der Lüsternheit, ein Lauscher hinter der Frömmigkeit, der Blödsinn neben der Begeisterung, die Begierde neben dem Schlummer, ein Feinschmecker neben dem Hungernden, en Gehenkter über dem ehrlichen Manne, der verdienstvolle Weise unter der hohlen Arroganz, die bleiche Furcht gleich hinter der gedankenvollen Miene, die kichernde Lustigkeit neben dem still abzehrenden Kummer, ein finsterer Mörder über dem heiteren Ehrenmanne, der Zorn gleich bei der Sanftmut, die feine Politik unzertrennlich von der hüstelnden Engherzigkeit, der Zopf im Nacken unserer hoffnungsvollen Jugend ...

Aber wohin geraten wir? Mitten in die Wunder des Prater? Seien wir vor einem launischen Frühlingswetter auf der Hut, vertrauensvoll weckt es Frühlingsahnungen und Freuden, lockt die Menschen unter freien Himmel und überfällt sie dann unvorbereitet mit Regenschauern, Sturm und Hagelsaat, die oft bis an die Schwelle des Wonnemonds verdrießliche Herrschaft führen. Mäntel, Pelze, rote Nasen erscheinen wieder fluchend in den Straßen; die Promenaden werden leer wie Orte der Verdammnis; elisische Getümmel regt sich wieder in Theatern.

Und so geht's uns wirklich. Kalte Regen rauschen unablässlich nieder, abgelöst von feiner Hagelsaat oder unterbrochen von einem Sturm, der seinesgleichen sucht. Gestern musste ein Reiter, aus Ungarn kommend, einige Stunden Weges von Wien des Orkans wegen vom Pferde steigen und sich mit demselben auf den flachen Boden legen; Dächer wurden ihrer ganzen Fläche nach eingedrückt, kein Schornstein hielt sich unverwüstet.

Doch getrost! Schon bessert sich's von Tag zu Tag wieder, die Stürme werden müde, lächelnd sieht der blaue Himmel durch die Nebelriffe, tropfenlos verlaufen die finsteren Schauerwolken; die Sonne siegt. Schöner, frischer, freudiger ist die Macht des Frühlings wieder da; der erste Mai – der erste Mai ist angekommen! ...

Der erste Mai in Wien. Welch' ein Völkertag; welch' ein unübersehbar' Schauspiel; welch' Gewimmel von Bildern! Wer beschreibt, wer fasst das einzelne und Ganze? ...

Drücken wir uns durch; gehen wir stille unsern Weg; – wollten wir nicht unsern Helden Bartel wieder finden? ...

Das Preisrennen der Läufer ist vorbei; im Augarten haben sich die Gäste des Morgenfestes verlaufen; dafür beginnt es in allen Straßen, aus allen Richtungen der Stad und Vorstädte massenweise in Bewegung zu kommen; es wimmelt von bunten, heiteren Menschen, die nach dem Prater zielen – die erste Nachmittagsstunde hat geschlagen!

Wohin in diesem Wirrwarr uns wenden? Drängen, drücken, lärmen, lachen – erhitzen wir uns mit diesem Schwarm da rechts und links? Stürzen wir in die Menschenwogen gleich hier an der Brücke oder dort unten, wo die Straße kreuzt?

Gemach; wir kommen doch zum Ziele, wenn wir auch entschlossen sind, erst noch einen stillen seltsamen Ort zu betreten – links da – nicht tief in der Taborstraße ...

Im »Schwarzen Adler« hatte um diese Stunde jemand ein Herz so voller Freude, dass er nicht wusste, wo aus noch an; hätte er nicht selbst von Zeit zu Zeit gerufen:

»Oh, oh, Geduld –

Wir reiten gleich hinaus
Zum schönen Praterhaus…«

seine Freude hätte vielleicht die nächste Wand durchbrochen oder die Wölbung des Hauses gehoben, um sich Raum zu schaffen. So aber wirkte der Zuruf doch begütigend, und der lustige Jemand – ein Bursch von zwanzig und einigen Jahren – konnte im Pferdestall noch dies und das verrichten, bevor er in den hellen Raum des Hofes heraustrat, um sich seiner Freude ganz zu überlassen. Dies geschah nun endlich – und als der Bursch auf der Schwelle der Türe erschien, den blauen Himmel erblickte und den warmen Segen der Frühlingssonne im Angesicht fühlte – da schnellte sich aus seiner Brus ein Jauchzer und schoss mit solcher Macht durchs Haus, dass die Fenster bebten und das Geflügel aus den Ecken fuhr; selbst die Pferde traten erschreckt im Stalle hin und her und starrten mit Glotzaugen hinter sich.

Die Wirkung machte den Burschen selbst ein wenig stutzen, er blickte lächelnd auf und sagte, sich das Kinn betastend:

»Oh, oh – ich bin's nur gewesen; gleich soll's wieder stille sein – ich geh', und bis um Mitternacht soll mich kein Lebiges hier sehen und hören!«

In der linken Hand ein Spiegelglas und in der rechten einen Hut mit Kunstblumen, stellte er sich jetzt zwischen die Türe und forschte nach den Zügen seines Gesichtes im Spiegel; – ein Schimmer des Wohlgefallens half der Sonne, das wundervolle Gesicht zu verklären, und der Inhaber desselben schien gar sehr damit zufrieden.

Wie aber – sehen wir denn recht? Ist dieses Gesicht, das in den Spiegel und aus demselben blickt, uns nicht schon wo begegnet? Ist es nicht – ei, so möchte man doch wetten – wäre es nicht runder und heiterer – schwören möchte man: es sei des Bartel Gesicht, desselben Burschen, der sich unterstanden, ohne Abschied seine Heimat zu verlassen und in Wien den großen, geheimnisvollen Herrn zu spielen?

Ja, ja – er ist's; der Bartel selbst ist's, den wir suchten und nach monatelanger Trennung im »Schwarzen Adler« der Leopoldstadt, Taborstraße, Nummer so und so viel, jubelvoll wie die froheste Kreatur Gottes an der Türe eines Pferdestalles treffen. Indem er sich mit Wohlgefallen im Spiegelglas besieht, werden manche Stimmen seiner Lieben in der Heimat laut und plaudern die Gedanken seines Herzens aus.

»Schau, schau«, hört er das Hofer-Käthcehn sagen, »wie er schon viel weißer ist die paar Monat' her; das ganze Gesicht ist feiner worden, es hat Tänt (Teint), ach ja, so etwas ist halt nur in der Stadt möglich!«

Sein eigenes Kompliment bestätigend, senkte er verschämt die Augenlider und fuhr fort: »Das ist tutmamschoss«, es kommt vom Fleischessen und vom vielen Schatten fein!«

Indem er sich eine Weile in die zufriedenen Augen sah, hörte er die Mutter Pahlsen sagen:

»Sind nicht seine Augen viel heller worden? Schaut nicht ein ganz anderer Mensch heraus? Das muss man sagen: das Wien verändert seine Leute; es gibt doch keine Stadt mehr so!«

»Ja, ja«, sagte Bartel, dies bestätigend, »es kommt – man weiß nicht, wie?«

»Was er da für ein schönes, seidenes Halstuch umhat«, hörte er di Stedtinerin sagen; »das muss man ihm lassen, es ist ein Bursch, der seinen Sinn hat; er muss auch einen Dienst, der sich sehen lässt, weggefangen haben!«

»Oberster Stallknecht – im schwarzen Adler – Leopoldstadt – Nummer NN« – erwidert Bartel stolz; – »Immer, wenn's nur halbwegs kracht, meine zwanzig Rösser im Stall, fünf Knechte unterm Kommando – mir geht's gut, wir sind zufrieden!«

Er setzte den Hut auf.

»Auch einen funkelnagelneuen Hut?« hörte er den alten Hofer sagen – »Mit dem Burschen ist's zum Ofeneinschlagen, zum Absprengen mittenauseinander! Sollen wir ihm nicht schreiben um einige tausend Laubtaler? Nächstens muss er sein volles Dutzend Häuser an sich gezettelt haben, der Teufelsmensch, der oberste Kommandant im schwarzen Adler; – der wird's in Wien noch manchem weisen, was er wert ist!«

Den Burschen juckte es durch alle Glieder, er rückte den Hut gegen ein Ohr, warf die Arme auseinander, und ein Jauchzer schoss wieder durch das Haus, dass einen Augenblick das Donnern von der Straße her nicht vernommen wurde.

Jetzt wurde das Spiegelstück auf ein Stallmäuerlein gelegt, ein letzter prüfender Gang durch den Stall gemacht, hier und dort einem Pferd über den Rücken gestrichen, auch wohl dazwischen einmal gebrummt, als wäre nicht alles, wie es sollte; endlich wieder an der Stalltüre angelangt, drehte sich Bartel um und sagte in den Stall zurück:

»Gregorl, guck mir nach dem Rappen besser; das ist das zweit' Mal, dass ich Staub auf dem Rappen finde; geschieht's noch einmal, so ist's zum dritten und tausendsten Mal, aber auch zum letzen Mal, verstanden? ... Und du, Schorschl«, fuhr er fort, »heißt das Ordnung um Unterstreuen? Ei, Blitz Sapperment übereinander! Fahr' ich einmal unter euch, ihr sollt mir Ohrenweh kennen lernen!«

Obwohl er wusste, dass keine Seele im Stall war, während er »loslegte«, so tat es ihm doch wohl, ein wenig zu poltern, bevor er ging.

»Das ist ja ein Mordjosappermenter geworden, der Bartel«, hörte er Mulderers Oberknecht jetzt sagen – »ist er nicht über einen Generalmajor hinaus? Man muss völlig Respekt vor ihm haben!«

Wieder durchzuckte es den Burschen, er ließ einen frischen »Kraftsurmer« durch die Kehle, dass es einen jungen Fremden, der im Quäker und Strohhut die Galerie daherkam, förmlich im Lauf anwurzelte ...

In diesem Augenblicke rief ein Knabe:

»Herr von Bartel, da bin ich!«

»So?« erwiderte Bartel – »Bist du da, Wurm? Hast du deine Frau von Mama gefragt, ob du bleiben darfst?«

»Ja, Herr von Bartel«, sagte der Knabe.

»Gut dann; da hast du von einem Silberzehner das erste Fünferl; das zweite sollst haben, wenn ich hineinkomm' und alles in Ordnung finde!«

»Ja, Herr von Bartel, küss' d' Hand!«

»Nicht nötig, Blitzfritzl; geh' jetzt, fang' dort hinterm Stall deine Prozession an!«

Der Knabe ging, und Bartel blieb noch eine Weile auf einem Wollsack sitzen; er konnte durch das offene Haupttor auf die Gasse sehen, wo die lustige Völkerwanderung Trupp für Trupp vorüberrauschte.

»Das ist jetzt eine Straße«, dachte Bartel, bewegt und kurzatmig bei dem Anblick eines solchen Menschendranges – »das ist jetzt eine Gasse und noch keine, wo es sonst am ärgsten zugeht; wie viel Gasseng'menter gibt's erst in Wien und wie tummelt's noch viel schlimmer anderswo! Es steht einem der Verstand still – solche Menschenhaufen – und alles würgt sich der Jägerzeile zu, nach dem Prater hinunter! Was für einen Magen muss dieser Prater haben, vom Morgen bis Abend verspeist er Vieh und Menschen zu Tausenden, und keine Spur, dass ihm übel davon wird – unsinnig, wenn man's recht bedenkt!« ...

Gehen, Fahren, Lachen und Lärmen auf der Straße; – aus den oberen Stockwerken des Gasthofes kamen immer zahlreicher die praterlustigen Fremden, der eine einen Kellner, der andere einen Lohndiener, der dritte ein Stubenmädchen hinter sich.

»Wenn Sie gefälligst Stiege Nummer drei hinunter und dann zum Haupttor hinausschießen«, sagte der Kellner erklärend – »nur gleich rechts, Ew. Gnaden, Sie können nicht fehlen – nur den meisten Leuten nach – Jägerzeil – Prater und drunten sein's – ich küss' die Hand!«

Der Lohndiener war weniger gesprächig; er drückte nur seinen Hut tiefer ins Auge und sagte zu seinem Opfer mit bierschwerer Ruhe:

»Der Prater wird noch z' finden sein – nur mir nach, Ew. Gnaden!«

In ihrer Art ausgezeichnet war das Stubenmädchen, das einen Herrn die Gallerie herüber führte und an der Treppe sagte:

»Küss' d' Hand, Ew. Gnaden, nur gleich hinunter da, gute Verrichtung; schauen Sie nit z'viel auf die Mädeln, Ew. Gnaden – Sie Konstantinopolitanischer Dudelsackpfeifer Sie« – So schloss sie für sich die Anrede und sang sodann:

Jetzt pack' Di, duast d' Hand weg,
Du Schneider vom G'schäft;
Was denkst denn? Was meinst denn?
I wär' dir halt recht?

Pfi Teuxel, vergelt's Gott,
Um so einen Greif;
Noch trag' i mei' Schmiesel,
Noch trag' i mein' Reif.

So einen Rumpumpel
Wie du einer bist,
So einen, den krieg' i noch
Ganz umasist!

»Das ist eine Stangen!« dachte Bartel, als er das Stubenmädchen hinter dem Fremden zurückbleiben und in diesem Tone anstimmen hörte – »O Herr Gott, Herr Gott, Herr Gott, was man in einer solchen Wirtschaft alles sehen kann, es ist aus der Weis'; ich bin nur froh, da in meiner Residenz herum weht doch ein anderer Wind, und hinauf unter die noble Dienerschaft bringen mich keine zehn Pferde!«

Er merkte, dass ihn das Stubenmädchen jetzt ins Auge fasste und anzurufen Miene machte; dieser Unterhaltung wollte Bartel um jeden Preis entgehen, und mit schnellen Schritten ging er, was man »so dahinbuckeln« nennt, über den Hof dem Haupttore zu; er hatte aber die Hälfte Weges noch nicht zurückgelegt, als ihm schon sein Name von der Galerie herunter auf den Hut fiel.

Laut und zärtlich genug rief ihn das hübsche Mädchen. »Bartel, Bartel!« er aber drückte den Hut in die Stirne und trat mit solchem Nachdruck auf das Pflaster, dass es im ganzen Hofraume dröhnte.

Unter der Wölbung des Haupttores, vor der Loreley sicher und dem brausenden Menschenstrome näher, schoss ihm das jubelnde Herz wieder einmal auf die Lippen, und den Hut schwenkend, ließ er einen Jauchzer gegen die Wölbung stürzen, dass sie nur ein guter Baumeister vor einer Bresche bewahrte. Wer draußen eben vorüberstrebte, erschrak oder lachte, und eine Stimme rief:

»Noch einen solchen, du Schnipfer!«

Fünftes Kapitel.
Wo hinaus?

Da stand nun Bartel vor dem Tore und prüfte eine Weile, in welche Menschenwoge er sich stürzen solle, um nach dem Prater entführt zu werden.

Aber er war noch zu sehr Neuling in den Wiener Freuden – und dieser Tag vielleicht der einzige im Jahr, wo er sich mit Erlaubnis seines Gewissens Zeit nahm, sie kennen zu lernen; er beschloss daher, bevor er sich dem Menschenschwarm, der nach dem Prater drang, anvertraute, in der Nähe seines Gasthofes erst noch einigen längst gehegten Wünschen gerecht zu werden.

»Reitet und stürmt ihr andern, so viel ihr wollt«, sagte er vor sich hin – »ich hab' noch hier und dort ein wenig ins Pfännele zu gucken!«

Während der verflossenen Wintermonate hatte ihn besonders eines sehr gereizt: das feenhafte Innere großer Kaffeehäuser bei glänzender Gasbeleuchtung; oft war er im Vorübergehen an ein Fenster oder eine Glastüre getreten und hatte da zwischen den Vorhängen einen Blick in das Heiligtum zu schwärzen gesucht oder abgewartet, bis gehende und kommende Gäste die Türen öffnen würde; da die Vorhänge aber nur weinig sehen ließen und im Winter Doppeltüren im Gebrauche sind, deren eine schließt, während sich die andere öffnet, so blieb die Ausbeute, die er mit heimbrachte, stets nur gering. Das nur hatte er weggefangen, dass drinnen alles ein Licht und Leben ist, dass große, grüne Tische dastehen und farbige Kugeln drauf herumgejagt werden, bis ein Glöcklein andeutet, dass sie in den Abgrund eines Fallbeutels stürzen. Herren mit »Stangen« verfolgten die Kugeln unablässig und versetzten jeder, die verschnaufen wollte, eins auf den Pelz, dass sie von Neuem wie wahnsinnig an alle Ecken und Leisten rannte, bis ihr, der halb ohnmächtigen, in einem Fallbeutel Gott die Ruhe schenkte. So sei nun in diesen Feenpalästen ein ewiges Stoßen, Rollen, Klappen, Klingeln, ein dumpfes Durcheinander von Stimmen der Gäste und Kellner:

»Feuer! Wasser! Schwarz? Weiß? Kapuziner! Melansch! Allgemeine Zeitung! Humorist! Die fliegenden Blätter! Sehr weiß, aber ganz weiß! Theaterzeitung! Hahaha! Domino! Spiel Karten! Achtzehn – ein Brot? – Zwei Brot? – Vierundzwanzig – küss' d' Hand! Wienerzeitung? Gleich! usw.«

Das alles bei einem Glase Kaffee aus einem Winkel genauer und bequemer zu sehen, war nun lange Bartels innigstes Verlangen, und dieses Verlangen zu befriedigen, kein Tag erlesener als der heutige; nach einer Stunde konnte alles mit Muße genossen sein und dann freilich mochte es rasch dem Prater zugehen!

Bartel hatte ein neues Kaffeehaus in der Taborstraße auserlesen; dort, meinte er, würde weder sein Eintritt schwer fallen, noch würde es heute an einem trauten, sicheren Plätzchen fehlen. Während er nun dem Kaffeehause zuging, machte es dem Burschen viel Kopfzerbrechen, was er alles auf einmal im Kaffeehause begehren solle. Nur Schwarz und Weiß? Oder Kapuziner und Melansch! Ob auch Feuer und Wasser und die Wiener Zeitung? Was ratsamer sei: Domino oder Hahaha; Schach oder ein Spiel Karten?

Mitten unter solchen Gedanken schlug ein wieherndes Gelächter an Bartels Ohr. Er trat betroffen bei Seite und verlor beinahe seinen Hut. Sein Gemüt, immer voll leisen Argwohns, als hätte man was an ihm zu belächeln, redete ihm ein, er habe zu diesem plötzlichen Gelächter Anlass gegeben. Mit großen Augen umblickend sah er nun, dass dieses Gelächter von der gottlosen Schar Fiaker herrührte, welche ihren Wagen gegenüber in langer Reihe an den Häuserwänden dahinlehnten und das vorüberpassierende Publikum ihren »Hamur« preisgaben. Bartel hatte von dem lustigen Völklein der Fiaker schon manches Unliebsame gehört und konnte sich eines wunderlichen Respekts vor demselben nicht erwehren.

Jetzt war guter Rat teuer. Konnte ein Gang die Kolonne der Fiaker entlang gewagt werden? War er so tapfer und mundfertig wie mancher Wiener, der die Späße der Gesellen mit Scherzen erwidert?

Nein, nein; – Bartel blieb stehen und drückte sich in eine Ecke ... dort drüben winkte ihm das ersehnte Kaffeehaus, aber zwischen diesem und ihm lagerte die verruchte Horde – was tun? Einen günstigen Augenblick abwarten!

Bartel sah, wie jetzt der erste Fiaker ein vorübergehendes Fräulein aus Korn nahm und sänftiglich wie ein Kind zu ihr sagte:

»Schatzerl, fahr' mer nach Baden oder scherz'mer gleich da?«

Das Fräulein warf ihm einen grimmigen Blick zu und rauschte vorüber. Bartel bekam sein wunderliches Fieber wider und dachte: »Wär' ich das Fräulein gewesen, was hätt' ich jetzt getan?«

Zum zweiten Fiaker trat nun ein Herr, welcher sagte:

»Drei Gulden Münze nach dem Prater; in anderthalb Stunden sind wir zurück!«

»Euer Gnaden«, erwiderte der Fiaker – »Exzellenz, um drei Gulden fahrt mer nicht aus'm Schatten. Aber um fünf Gulden will ich bei meinem Kongress anfragen« (er wies auf seine Pferde).

Der Herr ging ohne Antwort weiter.

Die umstehenden Fiaker lachten; der eine sagte:

»Der ist ein Schneider auskommen – Herr Lord Nazi Mäh!«

Bartel drückte sich tiefer in seien Winkel; – »Gott's Blitz«, dachte er, »der Lord Nazi Mäh, der wär' jetzt ich – was wird noch alles rappeln, eh' ich da vorüber gin!«

In diesem Augenblicke sah ein dritter Fiaker einen vorübergehenden Herrn, der sein Mädchen führte; er sprach ihn an:

»Fahr' mer? Fahr' mer? Um vier Gulden einmal auf und ab im Prater oder 'naus, wo Sie allein sein können!«

Der Herr sah lachend des Fiakers Pferde an und sagte:

»Fahren wollt' ich schon, aber ich bin im Verein gegen Tierquälerei.«

»Eben, ich auch«, erwiderte der Fiaker; »drum spannen Sie Ihre zwei Rappen aus.«

Der Herr hatte nämlich schwarze Hosen an und ging eben nicht auf den üppigsten Beinen.

»Jetzt glaub' ich's, dass du dabei bist«, erwiderte dieser lachend, »du möchtest meine Vorspann haben.«

»Was brauch' ich Eure Rappen, fliegen ja Gelsen g'nug herum«, ließ es der Fiaker klappen ...

Bartel teilte seine Bewunderung zwischen dem Herrn und dem Fiaker; die Witze begriff er erst, als niemand mehr daran dachte. Jetzt schlug er ein Gelächter auf, dass alles in der Runde umsah. Auch ein Fiaker entdeckte ihn und sagte:

»Was machst denn dort für eine Krautstauden aus der Mauer heraus?«

Wie mit glühenden Ruten getrieben, machte sich Bartel aus dem Winkel heraus; alles Lachen war ihm vergangen; glühend im Gesicht, den Hut in den Augen, dachte er: »Im Feuer bin ich einmal, jetzt ist's am besten, grade durch!«

Schon hörte er eine Flut von Späßen über sich herrauschen.

»Da wird ja aus der Krautstauden gar ein Tirolersbua, kreuzsapperlot!« sagte einer.

»He, Landsmann, sein Sie kein verkleideter Baron aus oberhalb Linz? Fahr'mer, Herr Baron? Herr Baron, dass Sie sich aber so große Wadeln angewöhnen, es ist gar nicht Mod' unter so großen Herrn! Mein Handerer wechselt auch alle Farben vor Neid.«

»Herr Baron, haben Sie gestern keine silberne Dosen verloren!«

»Herr Exzellenz Graf, ist Ihnen vorgestern kein g'wixter Boden abhanden gekommen?«

»Durchlaucht, heund schwitzt die Elßler im Theater! Fahr'mer hin?« ...

Überstanden war's; Bartel hatte die verruchte Horde im Rücken ... Und da stand er auch bald vor dem Ziele seiner Sehnsucht, vor dem Kaffeehaus!

Eine Weile begnügte er sich mit bloßem Horchen von außen; dann aber stieg er sachte die fünf Stufen zur Türe hinauf.

Da klingelte, klopfte, stieß, rollte, rief es denn wieder durcheinander drinnen, dass es Bartel unwiderstehlich drängte, zu öffnen und einzutreten. Schon hatte er auch die Hand am Schlosse, drinnen rief es. »Kegelpartie! G'frorenes! Zahlen!« Das Kassaglöcklein läutete, der Markär wirbelte Sturmmarsch mit: »Befehlen? Ja, gleich!« In diesem Augenblicke lärmte eine Schar Kavalliere vom Turyhüber die Straße daher und kam hinter Bartel die Stufen herauf.

»Heund wird's kommod sein!« sagte der eine.

»Heund zahlst für mi!« sagte der zweite.

»A gestopfte Pfeifen tuat's a – so bleiben fürs Gschpiel mehr Maxen!« sagte der dritte.

Bartel drückte sich seitwärts, die wilde Jagd schoss wie aus Feldschlangen in das Kaffeezimmer, hinter ihnen fiel die Glastüre zu, dass die Scheiben klirrten.

Bartel blieb unbehaglich stehen und dachte: »Ich muss es schon ein wenig versausen lassen; geh' ich gleich hinter den Wildfängen hinein, so kommt der ganze Lärm, den sie machen, auf mich.«

Nach einer Weile legte nun Bartel die Hand wieder ans Schloss und drückte die Augen halb zu, wie jemand, der sich zu einem verwegenen Schritte rüstet – und die Türe war offen! ... Aber da wollte leider eben ein Markär mit schwerbeladenen Händen zwischen Billard und Türe vorbei und rief wie am Spieß:

»He, auf! He, aufgeschaut, auf!«

Bartel zog geschwinde die Türe wieder zu und meinte die Vorsicht gar nicht zu weit zu treiben, wenn er Raum gebend mit langen Hahnenschritten die fünf Stufen bis auf die Gasse wieder hinabstieg.

»Aha«, sagte er unten verlegen lächelnd, »er will vorbei; na ja, da muss man ihn auch vorüberlassen!«

Er schämte sich vor den Leuten, die vorübergingen; er schämte sich auch vor sich selbst, er wusste nicht recht, warum. Er war doch sonst ein Bursch von Mut – und hier tat er so kleinlaut! Geschah es in Folge des Gefühles, dass ein Mensch wie er an einem Orte des Luxus eine ungereimte Erscheinung sei?

Unsicherer als zuvor erstieg er die fünf Stufen endlich wieder, horchte, legte die Hand ans Schloss – und öffnete!

Ein Billardspieler, seinen Rücken eben gegen die Türe gekehrt, einen Fuß in der Luft und eben zu einem gewagten Stoß ausholend – rief, als er die Türe öffnen hörte, mördermäßig:

»Aufgepasst! Die Türe zu! Kreuzdonnerwetter!«

Der Partner des Spieles und ein müßiger Markär machten zugleich mit beiden Händen abwehrende Winke gegen die Türe – da zog sie Bartel sachte wieder zu und stieg glühend vor Verlegenheit mit spitzigen Knien die fünf Stufen auf die Straße herab ...

Da stand er nun wieder eine Weile wie angewurzelt, rieb sich hinter dem Ohr, und wenn ihn jemand im Vorübergehen ansah, dachte er, der denke sich: »G'schieht ihm gerade recht, was hat der Bauer im Kaffeehaus zu suchen?

Mit unbeschreiblicher Ruhe lächelnd und schon einige Male die Lippen zu einem Zuruf öffnend, stand ein Fiaker vor einem der gegenüber befindlichen Häuser und sah dem Abenteuer Bartels zu; – jetzt begegneten sich unvermutet die Blicke beider.

»Ja, ja, Wurstelprater«, sagte der Fiaker zu Bartel – »hast Zeit, dass du mich auch einmal ansiehst, du bist mehr wert als du weißt!«

Ein Schreckfieber ergriff den Burschen bei diesen Worten; er machte sich durch ein schallendes Gelächter Luft und war eben im Begriffe, vor dem Erzfeinde, dem Fiaker, die Flucht zu ergreifen – als sich plötzlich unser Held und der Fiaker – überhaupt die Szene auf der Straße wunderbar verwandelte ...

Sechstes Kapitel.
Ein Held und ein Kind.

Die Stellung, welche Bartel als Fliehender eben angenommen, wurde plötzlich zu einer Haltung, die man gewohnt ist, an Menschen von Seelengröße in Augenblicken großer Gefahr zu sehen. Der zur Flucht ausholende linke Fuß hielt mitten in seiner Bewegung inne und senkte sich zu Boden, um feste Unterlage zu gewinnen, während der rechte Fuß rückwärts griff wie zu einem gewaltigen Fang oder Sprung; der vorgebeugte Oberleib, das starre nach einer Richtung stehende Auge und die angriffsfertigen Hände deuteten ein großes Ereignis an, das ernste Abwehr erforderte.

Und das Ereignis kam im Sturm. Die ganze Straße daher, wo Bartel stand, zeigte sich eine Szene der Verwirrung, die Ihresgleichen sucht. Unter wüstem Geschrei, das nur bei allgemeiner Gefahr in volkreichen Straßen zu so betäubendem Ungestüm anwachsen kann – fielen, stießen, stürzten die Menschen rechts und links aus der Mitte der Straße nach den Häusern, in Läden und Höfe – so dass Bartel, der sich nicht von seiner Stelle rührte, bald in eine schauerlich leere Gasse starrte, durch die sich eine Staubwolke daher wälzte, aufgejagt von vier, mit einer herrschaftlichen Karosse durchgegangen Pferden.

Geschah es auch dort und hier, dass einzelne Männer, vorsichtig genug, mit abwehrenden Händen gegen die Pferde und wieder zurücksprangen, so fanden diese doch nirgends eigentlichen Widerstand; erst als sie sich dem Kaffeehaus näherten, wo Bartels Gestalt sich unverrückbar aufgepflanzt hatte, sollt dem Unheil Widerstand und Ziel gesetzt werden.

Bartel hatte einen Balken aufgenommen, den er, mitten in der Straße stehend, langsam hin und wider schwenkte. Gerade auf ihn nun ging der Lauf der zügellosen Pferde los, die ins Unbestimmte tobend ihren Wagen dem Sturze und Zertrümmern nah gebracht hatten. Bartel ließ das brausende Gespann auf geringe Entfernung näherkommen, und jetzt erst – mit festen Heldenarmen – war der den Balken mitten in die Rennbahn, um die Pferde an Gegenwehr zu mahnen, sie betroffen zu machen und in ihrem Laufe etwas zu beirren; – diese Absicht war denn auch von Wirkung, die Pferde wurden irre in der Richtung – und nun schoss Bartel wie aus einer Kanone den Bestien entgegen, fiel erst dem vordersten und dann dem Handpferd zweiter Reihe in die Zügel – und so, das Ausgreifen der Pferde verwirrend und hemmend, ließ er sich ohne Zeichen des Schmerzes stoßen, treten, schleifen – und sah wohl einem Werwolf ähnlich, der sich im Sprung auf fliehende Rosse wirft, sie im Lauf bald hier, bald dort umklammert, herunterfällt, sie erfolgreicher fasst, bis die Pferde Kraft und Mut verlässt – so dass sie zitternd endlich dem Meister überliefert fühlen ... Im Augenblicke, als Bartel die vier Pferde zum Schwanken, zum Zagen, zum Stillehalten zwang – ging ein hinteres Rad vom Wagen und die Fürstin N. sank sachte – ohne Verletzung, aber mit dem Bewusstsein aus dem Wagen, dass ihr Leben preisgegeben war, wenn nur einen Augenblick später die Hilfe kam.

Die Fürstin war nur allein im Wagen gewesen, Kutscher und Jäger hatten schon früher ihre Besinnung verloren und waren von ihren Plätzen gestürzt. In dem nun die Fürstin von der umstehenden Menge aufgehoben wurde, hatte Bartel mit den vier unbändigen Rossen keineswegs nur ein leichtes Spiel. Es galt immer noch energisch einzugreifen, zu logen und zu strafen – und Bartel war der Mann, sich als Meister auch jetzt zu behaupten. Hatte ihn die erste Gefahr zum kühnen Helden gemacht, so machte ihn jetzt sein Sieg zum unwirschen Bändiger; der liebe, ängstliche, bescheidene, nur in sich vergnügliche, von jedem zweiten leicht eingeschüchterte Mensch war fort und ein befehlender, fast widerhaariger Bursche zeigte sich der zuströmenden Menge; und das war sehr natürlich; denn so ängstlich früher alles vor der Gefahr geflohen war, so geschäftig wollte sich jetzt alles um den zertrümmerten Wagen, um die stampfenden, zitternden, bemeisterten Pferde bemühen. Die Fiaker waren die ersten, die raten, zugreifen, das Verdienst an sich reißen wollten.

»Ei so – du Himmeldonnerwetter über einander!« rief Bartel heftig – »wollt ihr mir vom Leibe bleiben? Soll ich loslassen und euch wieder in die Häuser versprengen? Weg! Fort! Ich brauche keinen, der ankommt, wenn's nach dem Pfingstelritt ist! Schert Euch fort – hinweg da!« Alles wich respektvoll vor ihm und den Pferden zurück.

Aber kaum hatte Bartel sich die unberufenen Helfer vom Halse geschafft, so griff ihm schon wieder jemand von rückwärts über die Schultern weg in die Zügel; diesmal freilich jemand, der noch das meiste Anrecht und Grund hatte, sich nicht so leicht abweisen zu lassen.

»Oh!« rief Bartel noch grimmiger, »wer pfuscht mir wieder ins Geschäft? Soll ich ausschlagen wie ein Stangenpferd? Marschier' dich, Mortelementer da hinter mir!«

»Lieber, guter Freund«, sagte eine heisere, unglückliche Stimme, »ich bin's, ich, der Kutscher Ihrer Durchlaucht; Gott sei gedankt, dass die Fürstin lebt. O, lieber Freund, mir sind die Pferde durchgerissen, ich bin heruntergefallen und hab' mich nachgeschleppt – Gib her, gib her!«

»Jetzt willst du die Pferde mit halbem Leben meistern und hast's eher alser ganzer nicht gekonnt?« sagte Bartel, ohne die Pferde loszulassen.

»Gib nur, gib!« erwiderte der Unglückliche, »ich bin geschlagen genug; o lass nur, lass!«

Mit einer Art Wehmut hielt Bartel noch eine Weile die majestätischen Tiere, es wurde ihm fast so schwer, die Zügel aus den Händen zu geben, als man die Zepter aus den Händen gibt. Bartel hatte noch niemals solche Tiere unter den Händen gehabt, und doch war es lange sein innigster Wunsch gewesen; – jetzt aber, da er mit Lebensgefahr zwei Prachtpaare von Eisenschimmeln eingefangen und gezähmt hatte, sollte er sie einem andern – einem Diener übergeben, der sich durch Leichtsinn eben an ihnen versündigt hatte.

Doch was half das? Er gab sie hin. Nur sagte er noch warnend:

»Verfehl' mir's aber auf kein Haar, Mann Gottes – ich könnte sonst – gut, gut; so nehm' sie hin!«

Indessen sah er bald, dass der Kutscher kein schwacher Meister seines Amtes sei und trat beruhigter bei Seite ...

Bartels ganzes Wesen atmete in noch nie gekanntem Schwunge. Er rückte den Hut gegen ein Ohr, zog Feuerzeug und Schwamm hervor, steckte die gestopfte Pfeife in den Mund und schlug sich Feuer, während sich um ihn eine neugierige Menge drängte.

Hier und da richtete jemand eine Frage an ihn: »Wie alle Teufel ist die ganze Geschichte hergegangen?«

»He nun«, erwiderte Bartel, »so Gott will, sind solche Erzgäule auch noch einzufangen! Das andere weiß ich nicht.«

Oder jemand sagte: »Spektakel, das! Hat's Euch nirgends ein Stück Herzpünkel eingestoßen?«

»He nun«, erwiderte Bartel, »sind die Zügel in Händen, muss halt das andere im Sichern bleiben.«

Ein Fiaker, derselbe, der den Bartel vor dem Kaffeehaus geneckt hatte, sagte jetzt im Tone eines sehr schüchternen Menschen:

»Ew. Gnaden, Ew. Gnaden, meine Gäul' werfen ein verdächtiges Aug' auf Sie, ob Sie nicht einmal ein Stück Wolfsvieh gewesen?«

»Haha«, meinte Bartel nur, ohne aufzublicken.

»Ew. Gnaden«, fuhr der Fiaker fort, »ich will meinen Gäulen durchgehen, weil ich ihnen ihren Deputatshaber schuldig bin; sie lassen bitten, mich einzufangen, ehe ich Fersengeld nehm'.«

»Hahaha«, lachte Bartel und blickte auf den untertänigen Redner; da kam sein Fieber wieder – »Hahaha«, wiederholte er, und eine lustige Unruhe lief ihm durch die Glieder.

Leider drangen jetzt mehrere Fiaker herzu und einer sagte:

»Was sind Exzellenz Graf für ein Landsmann? Nach der Baumrinden sind Sie in einem Eichenwald aufgewachsen.«

Ein zweiter sagte:

»Durchlaucht, wir haben schon einmal die Ehre gehabt – geht's heut' auf die Knödeljagd im Glückshafen? Oder wird der Hauptschimmel im Ringelspiel vorgeritten?«

Bartel rieb sich hinterm Ohr und fing an zu gehen und zu lächeln, ging eiliger und lachte laut, floh endlich so schnell, als es der Menschenstrom erlaubte – und erst außer Schussweite rief er zurück:

»Es geht der Nasen nach – ich bin meinem Vater sein Sohn!«

Sein Heldentum war vergessen, sein Humor lebte wieder auf.

»Eh was, Kaffeehaus!« rief er, »da erwürg' ich ein Glas Achter, das ist besser für die Hitze!«

So trat er denn in eine Kneipe und rief lebensfroh:

»He, ein Seidl Pfiff!«

Zum Glück überhörte das der Kellner und fragte selbst:

»Pfiff Achter?«

»Jeu«, erwiderte mit Pathos Bartel, »das ist mein Sinn!«

Es ging ihm gar ein Liedlein durch das Herz, und leise den Takt auf dem Tische schlagend, brummte er:

Da bin ich verwichen
Ein Binderg'sell g'west,
Jetzt sitz' ich dem Meister
Noch tiefer im Nest.

Wer's weiß, kann's erraten,
Was alles bedeut' –
Und Binderg'sell bin ich
Noch immer bis heut'.

Da kam der Wein, und Bartel erquickte sich höchlich, seine Seligkeit wuchs, und er summte weiter:

Mein Westerltut blinken,
Mein Hütel ist neu,
So geh' ich beim Finken
Sei'm Fensterl vorbei.

Der Fink hat sein Fensterl
Mit Runzeln vermacht,
'm Finken sein Linerl
Hat aber brav g'lacht.

Drauf bin ich vorüber
In finsterer Nacht,
Da hat sich ein Fensterl
Von selber aufg'macht.

Von selber das Fensterl,
Von selber die Tür;
Der Fink mit sei'm Linerl
Kommt eilig herfür.

»Was willst du? Was hast du?
Wer bist du? Woher?
Ich hab' neben Linerl
Kein Kind nimmermehr.«

»Ich bin nix, ich hab' nix.
Ich will nix – ei, ei!
Wie schön ist das Wetter,
Wie schön ist der Mai!

Ich bin nur gekommen,
Wenn ihr's noch nicht wisst:
Wie lieb da die Sterne,
Wie hold die Nacht ist.

Jetzt geh' ich halt wieder,
Geht schlafen, ruht aus –
Ihr wohnt wieder drinnen,
Ich wohn' wieder drauß'!«

»Heda, Wirtshaus!« rief Bartel dazwischen: »Noch immer einen Pfiff!« Dann fuhr er fort:

Heidia – Heidie,
Wie ein Hirsch wie ein Reh,
Heidia – Heidie,
Bin ich immerdar eh'–
Heidia – hihu – heidie!

Heidia – Heidie,
Bin ich immerdar eh',
Heidia – Heidie,
Wenn ich's Gretle nur seh'
Heidia – hihu heidie!

»He, Wirtshaus, zahlen! Heut gilt's noch mehr zu verkosten!« er zählte seine Zeche in lauter Scheinkreuzern auf den Tisch, tupfte noch einmal drüber hin und sagte:

»Du Teuxel, schon wieder zwei Groschen beim Teuxel – He nun, heidia!«

In diesem Augenblicke trat einer der Fiaker, der ihm früher am wärmsten zugesetzt, fast atemlos zwischen die Türe und rief:

»Ah, du Mordschnüpfer, hab' ich dich erreicht?«

Bartel sprang zurück und hielt ihm sein rechtes Bein entgegen.

»Keinen Schuh weiter!« rief er, »lasst mcih in Ruh, ihr grausiges Fiakervolk, oder ich brenne die Karnon da los!«

»Sei kein Esel, Mensch«, erwiderte der Fiaker – »sag', wie du heißest!« Es rann ihm vor Eile der Schweiß von der Stirne.

»Ich heiße Hartel – ich heiße Bartel, will ich sagen«, erwiderte dieser und ließ das Bein wieder sinken. Der Fiaker fuhr fort:

»Bartel – gut, und wo bist du zu finden?«

»Im Schwarzen Adler, gleich da drüben, da bin ich der erste Kallstnecht – Stallknecht will ich sagen.«

»O du Wundermuster von einem glückseligen Mordschnüpfer, behüt' dich Gott« – rief der Fiaker und eilte wie besessen von dannen, nach dem Hause zurück, in dessen Nähe Bartel die vier Pferde aufgehalten hatte; in das Haus hatte man die Fürstin gebracht, die sich indessen wieder erholte.

»O sagt, Fiaker, habt ihr den Menschen noch getroffen?« rief dem Hereintretenden die Fürstin entgegen.

»Ja, Durchlaucht, Bartel heißt er und ist erster Pferdeverwalter im Gasthof zum Schwarzen Adler, nicht weit von da«, sagte der Fiaker, seine Antwort für das Ohr der Fürstin sorgsam bildend.

Indem die Fürstin noch mit dem Fiaker sprach, erhob sich draußen ein lebhaftes Rufen, Fragen und Lärmen; einige Herrschaftswagen fuhren vor, und Kavaliere kamen angeritten. Man hatte von dem Unfalle der Fürstin mit dem Beisatze gehört, dass alles zu Grunde gerichtet sei: Fürstin, Wagen, Pferde, Kutscher und Jäger. Jetzt beeilte man sich unter Teilnahmebezeigungen und Glückwünschen die Fürstin in einen Wagen zu bringen und mit einem gewissen Freudenpomp nach ihrem Palais zu führen.

Siebentes Kapitel.
Im Prater.

Bartel aber – nun, er hatte sich die Lebensgefahr, in der er geschwebt, wieder kurzweg aus dem Kopfe geschlagen, wenn sie ihm überhaupt zu Kopfe gestiegen war; auch plagte ihn der Gedanke, eine schöne Tat getan zu haben, nicht im Geringsten. Er gehörte jedenfalls nicht zu jenen habsüchtigen Tugendschwärmern, welche über ihre Taten sorgfältig Buch führen und den Lohn auch gleich auf frischer Tat erlegt haben wollen.

Fröhlich wollte Bartel sein, wie er es vor dem Abenteuer war, das Übrige war für ihn getan, vorbei!

Und fröhlich wurde er wieder. Der Heldenmut, der eben noch sein ganzes Wesen gehoben, und der Wein, den er getrunken, warfen unerbittlich jeden trüben Blutstropfen aus seinen Adern, sein Herz schwoll in Freudenfülle, uns so ging er weiter, dem Prater zu.

Er gelangte an jene Ecke der Taborstraße, um welche man nach der Jägerzeile einlenkt und die stets von Anschlagzetteln strotzt.

Hier stauchte sich der Menschenstrom ein wenig auf, weil viele von den Wundern erst lesen wollten, die sie später zu sehen hatten. Auch Bartel stellte sich hin und fing an, hier und da die großgedruckten Worte durchzubuchstabieren; es war ihm aber bald zu viel.

»Das braucht etwas, bis ein Mensch das Haus vom Dach bis zum Erdboden herunter studiert«, dachte er.

Johann Strauß begegnete ihm auf jedem dritten Zettel.

»Was muss das für eine ausgebreitete Familie sein«, dachte er – »du lieber Gott – und jeder Strauß versteht ein anderes Handwerk! Der eine, les' ich, macht Soiree, der andere macht Reunion, der dritte hält Konversation feil und der vierte ist ein großer Festgeben am Wasserglacis.«

Denn da hingen die Zettel so neben- und übereinander:

»Soiree im Volksgarten, J. Strauß; Mittwoch Reunion beim Zeisig am Burgglacis, J. Strauß; Abendunterhaltung beim Sträußchen, Moser; Donnerstag beim Sperl, J. Strauß; Dommayer in Hitzing, Strauß Sohn; Zögernitz, Schröder mit weiland J. Lanners Orchester; Matinée im Augarten, J. Strauß; Tod allen Wanzen, große Ziehung, 30 000 Gulden das erste Los; Zirkus, Madame Laure des Bach (große Holzschnittillustration dazu, eine Quadrille zu Pferde); Große Konversation im Odeon, J. Strauß; Gänzlicher Ausverkauf von Seidenhüten; den 15. Mai außerordentliches Frühlingsfest in der Brühl, J. Strauß; Ein verlaufener Hund; Münchener Bockbier; Leihbibliothek des Gerold & Sohn; Der wahre Christ und seine Bestimmung; Ächtes Märzen; Heute rot, morgen tot; Künftigen Freitag Soirée in Wagners Kaffeehaus, J. Strauß; Bücherlizitation; Schwimmschule; Dianabad; Ball am Währingerspitz, Fahrbach; Großes Marionettenspiel in der Jägerzeile; Fleckenvertilgungsanstalt; Großes Feuerwerk im Prater, Stuwer; Schlafröcke; Haferdepot in der Seitenstettergasse; Großes Fest am Wasserglacis am 8. Mai, J. Strauß etc.«

Als Bartel um die Ecke bog, um die großgedruckten Worte auch auf der andern Wand zu prüfen, da sprang er unwillkürlich zurück und griff nach seinem Steitenmesser, denn da stand: Sonnenmikroskop – und darunter war ein Floh abgebildet von der Größe eines fünfjährigen Pferdes.

»Na ja«, sagte er, »vor so einem Vollbluthengst ist man seines Lebens nicht sicher!«

Er ging und ließ sich nun vom Menschenstrome weiterspülen, die Jägerzeile hinunter, dem Prater zu. Oft blickte Bartel auf und ließ sein staunendes Auge über die unabsehbare Doppelreihe von Wagen hinfliegen, ohne bei irgendeiner Herrlichkeit besonders Halt zu machen; all das Gold und Silber, die Menschen, die Pferde, die Wagen fesselten ihn nur flüchtig wie ein Traumgesicht.

Da, wo die Jägerzeile zu Ende geht und die Schiffsfahne auf hoher Säule weht, teilte sich der Völkerstrom in zwei Arme: rechts hinab, der langen Hauptallee entgegen, zog in feierlichem Drange die elegante Flut der Sonnenschirme, der Zigarrenwolken, der Straußfedern, der Sammet- und Seidengewänder, der Reitgerten, Silber- und Goldgeschirre, der Brillanten und Stammbäume, der Diplomatie und der Aristokratie, der Theokratie und der Bürokratie, kurz der großen, schimmernden Tragi-Komödie im Freien; – links hinab, dem Schauplatz der Volksspiele entgegen, wälzte sich in lärmendem Gedränge, lustige Wirbel drehend, der Strom des Volkes und brach vom geraden Wege häufig über Wiesen und durch Auen ungebunden weiter.

Dieser Volksstrom war es, der auch unseren Bartel mit sich nahm und dem Wurstelprater in die Arme führte.

Als er auf einmal zwischen allerlei Kramläden stand und angerufen wurde: Pfeife, Feuerstein, Schwamm oder allerlei zum Essen und Trinken zu kaufen; als er wirklich von allen Seiten kaufen, essen und trinken sah, lärmen und lachen hörte; als sich ihm lustige Buben unter den Armen durchdrängten, hier auf einer spielenden Derhorgel ein kostümierter Affe seine Künste trieb, dort ein blinder Spielmann seine Weisen blies, gleich daneben eine Harfe und Geigen zum Liede eines Mädchens erklangen; als etwas weiter im ersten Ringelspiele die große Trommel die Luft erschütterte und Pfeifen und Trompeten in rasenden Weisen ihrem Takte folgten; als um Bartels Ohr alle Weisen der Welt durcheinander zu toben schienen, indem aus der Tiefe der Auen näher und ferner noch hundert andere Trommeln, Pfeifen, Trompeten, Geigen, Posaunen, Oboen, Drehorgeln, vollständige und unvollständige Orchester, Zigeunerbanden und Militärbanden unablässig spielten; als sich hier die lustige Menschheit um ein Lottospiel, dort um eine Elektrisiermaschine, und einen Kraftmesser, um eine Kegelstätte drängte, dort auf Pferden, Hirschen, Sofas, Dampfwagen und Giraffen im Ringelspiele herumflogen, hier sanft gewiegt in Schwungrädern auf- und niederstiegen oder in Hutschen schwindelnd hin- und herflogen, als der betäubende Zuruf der Kabinetten- und Wunderbesitzer an Bartels Ohren drang: einzutreten, zu sehen, zu bestaunen nur um ein Geringes – da fehlte nicht viel, dass sich Bartel mit beiden Händen nach der Brust fuhr, die Weste auseinander riss und in vollem Jubel rief:

»Zerreißt mich, wenn ihr mich alle auf einmal haben wollt!«

Doch den Ort bedenkend, wo er war – beschloss er vor allem, auf sich selbst zu achten und sich mit Anstand im Zaume zu halten, dann aber einem Vergnügen nach dem andern auf den Leib zu rücken.

Zunächst drückte er eine Anzahl Gaffer bei einem Kraftmesser links und rechts bei Seite, stand im nächsten Augenblicke vor der ledernen Halbkugel und ließ seine Faust mit einer Gewalt darauf niedersausen, dass der Zeiger, soweit er konnte, aufflog und der Besitzer um sein Kunstwerk zitterte; Bartel war ihm einen Groschen hin und sagte:

»Macht Euer Bauwerk fester, bis ich wiederkomme!«

Um die Kegelstätte war ein großes Drängen, es regnete kleine Münzen Einsatz; da warf auch Bartel sein Scherflein hin uns schleuderte die Kugel nach dem Ziele, dass eine allgemeine Niederlage die Folge war; alle neun Kegel lagen da, und es wäre ein Dutzend zu Fall gekommen, hätte es nur dort gestanden. Mit Gelächter den Gewinn aufhebend machte sich Bartel ein Haus weiter, trank im Vorübergehen noch einen Pfiff Achter und eilte dem nächsten Ringelspiele zu.

Hier saß er denn bald auf einem stattlichen Eisenschimmel, während die große Trommel donnerte, das Piccolo und die Trompeten ihre Weise bliesen; Bartel hing selig auf seinem Gaul, die Augen halb geschlossen, ein unbeschreibliches Lächeln um den Mund; es waren Augenblicke süßer Selbstbeschauung und Genügsamkeit, während es herumging, gleichsam ohne irdische Schwere, im Fluge.

Als die Trommel schwieg und der Rundlauf endete, zog Barten einen zweiten Groschen aus dem Beutel und gab ihn hin, er konnte sich nicht entschließen, so schnell wieder vom Pferd auf die Stiefelsohlen zu kommen; Trommel, Piccolo und Trompeten huben wieder an, das Spiel kam zum zweiten Male in Schwung; – da hörte Bartel eine Stimme in der Nähe, die ihm sehr bekannt schien; er blickte um und – Fritzl saß gleich hinter ihm auf einem Rappen und stach wie ein Besessener nach den Säulen, darauf sich Mohren, Ritter, Affen und Elefanten drehten, sobald der rechte Punkt getroffen ward.

»O du Himmeldonnerwetter!« rief Bartel, »was bist du für ein Heidenstrick, Fritzl, hab' ich dir nicht zehn Kreuzer versprochen und fünf bar gegeben, dass du mir auf Hof und Stallung achtest? Und jetzt bist du hier?«

Er griff hin, um den Schelm bei einem Fuß zu kriegen; dieser aber rückte bis auf das Kreuz seines Rappens zurück und rief unter Lachen und Weinen:

»Ja, ja – um Gottes willen, Herr von Bartel; – fangt mich nicht – meine Mutter, meine Mutter ist für mich zu Haus geblieben!«

»Ist's auch wahr, du Himmeltausendsappermenteroware?«

»Ich will nicht selig werden, Herr von Bartel, wenn's nicht wahr ist!« rief der Knabe.

»Nun, dann reit' meinetwegen – struppier' deinen Rappen, bis das Spiel aus ist; – komm' ich aber nach Haus und« –

»Ich will Arm und Bein brechen, ich will Glasscherben essen, Herr von Bartel« –

»Gotteslästerlicher Bub – sei still, sag' ich – es wird sich alles weisen!« rief Bartel und genoss den Rest des Vergnügens wieder ungeschmälert.

Vom Ringelspiele ging's hierauf zu den »Harpfenisten«, von da zu den Marionetten mit Teufel, Kasperle, Juden und »Küniglhasen«; weiter kamen die Schwungräder an die Reihe und folgende Komödie im Freien:

Ein Räuberhauptmann saß eben beim Mahle und zerlegte einen Braten; aber sooft er ein Stück zum Munde führen wollte, spießte es ihm ein anderer Räuber, der hinter ihm stand, auf sehr geschickte Weise immer noch früher vom Munde weg; der Esel von Räuberhauptmann, anstatt sich einfach umzusehen nach dem Spießgesellen, schüttelte nur immer das gewaltige Oberhaupt und überlegte bedenklich, wie ein solches Verschwinden möglich sei. Endlich kam er doch auf den Gedanken, umzusehen – und in diesem Augenblicke erschrak und führte sich der Spießgeselle auf so unerhörte Weise übel auf, dass die Räuber einander sprachlos gegenüber standen, eine heiße Verlegenheit durch die Reihen des Publikums lief und endlich ein homerisches Gelächter die Luft erschütterte ...

Bartel ergriff die Flucht, um nicht für den Täter angesehen zu werden; und das war auch der Schluss der Komödie, der Vorhang fiel ...

In seiner Verwirrung eilte Bartel an vielen Merkwürdigkeiten vorüber, die ihm sonst wichtig gewesen wären. So überhörte er an einer Bude mit allerlei Fahnen und Vorhängen, dass man das Publikum zu einer Vorstellung der »Vier Haimonskinder« hineinrief; so bemerkte er nicht einmal über einer zweiten Hütte die auffallende Bildergalerie von mehr als hundert menschlichen Charaktern und Leidenschaften – ja nahm sich nicht einmal Zeit, über einer Türe das merkwürdige Schild mit einem ausschreitenden Bajazzo zu betrachten, dem folgende schöne Verse aus dem Munde spazierten:

»Ich komme euch mit Freud' entgeg'n
Und bin fürwahr ein gutes Kind,
Viel Wunder gibt es hier zu seg'n,
Macht's kurz und kommt herein geschwind!«

Nicht besser ging es dem Theater mit der »Genoveva« und der großen »Pesther Überschwemmung«. Erst das Geschrei und der Anblick der roten, gelben, blauen und weißen Papageien, die vor einer Bude auf Stangen hin- und widerstiegen und das große Gemälde, worauf die Wunder einer Menagerie zu sehen waren, machten Bartels Flucht ein Ende. Er stand stille und betrachtete nach einander das Geflügel, dann mit Staunen den großen Schweizerochsen von 3733 Pfunden, den afrikanischen Ochsen mit drei Hörnern und drei Augen, eine Affenfamilie, die sich lustig genug unter einem Palmbaum gelagert hatte.

Doch das erste Lächeln des Burschen stellte sich erst wieder ein, als er über einem Gärtchen die Aufschrift las: »Mehlverkauf« und drinnen die durstigen Wiener fröhlich beim Becher sitzen sah:

»Du heiliger Sebald«, sagte er vor sich hin – »da fangen die närrischen Wiener jetzt Mehl zu saufen an, das ist doch nirgendwo erhört!«

In diesem Augenblicke hörte er ein Liebespärchen sagen:

»Kaufen wir und einen Becher Meth?«

Bartel sah geschwinde noch einmal zu der Überschrift auf und bemerkte, dass er Mehl- statt Methverkauf gelesen hatte; – er schlug ein Gelächter auf und war der Alte wieder, frank und frei, lustig und alert! Er ging weiter.

Ein lieblicher Ländler von Josef Lanner stieg aus dem nahen Wirtshausgärtchen.

Das große Wachsfigurenkabinett sah ihm nun entgegen, in welchem große Potentaten und andere berühmte Männer und Frauen zu sehen waren. Rechts und links vor dem Gebäude standen Gemälde: rechts Maria Stuart, während ihr das Todesurteil verlesen wird; links die drei Monarchen der heiligen Allianz während der Schlacht bei Leipzig. Vor dem Eingange stand ein Herrschaftsdiener in schöner Livree, einen Damenschal über dem Arme, als erwarte er seine Herrschaft aus dem Kabinette. Bartel war so glücklich, dem Diener vor allem scharf ins Gesicht zu sehen und erkannte sogleich, dass der Kerl unmöglich leben könne; viele aus dem andringenden Publikum aber richteten allerlei Fragen an den schweigsamen Diener und wurden erst gewahr, dass er nicht leben könne, als sich ein lautes Gelächter über ihren Irrtum erhob.

Bartel ging nur um das Gebäude herum und begnügte sich, durch die Fenster hier und da die Uniform eines Potentaten oder Generals oder das weiße Kleid einer Fürstin oder das schwarze einer berühmten Nonne zu sehen. Nur ein Gesicht konnte er durch das Fenster ziemlich deutlich sehen: das der schönen majestätischen Kaiserin Maria Theresia.

Indem Bartel noch so dastand und mit stillem Wohlgefallen das mütterlich erhabene Gesicht betrachtete, zupfte ihn rückwärts eine Hand an der Jacke; er blickte um – ein zweischneidig Messer schien ihm durch das Herz zu fahren; – Röschen stand vor ihm ...

Achtes Kapitel.
Sie hier!

»Das ist mir lieber als was«, sagte Röschen mit einfacher, aufrichtiger Freude – »die finde ich hier, lieber Bartel! Ich bin jetzt acht Tage in Wien und immer noch keine Arbeit und kein Verdienst, dir werde ich mein Leid derklagen können.«

Sie gab ihm die Hand, die er wie ein Träumender fasste und wieder losließ.

»Und wir geht es dir, Bartel?« fuhr sie fort: – »o, was kann dir fehlen, von dir hört man allwärts nur Gutes! Bei einem Mann ist es auch leichter, der weiß sich bald zu helfen, aber was fangt ein armes Weibswesen an in einer so großen Stadt wie da?«

Sie lächelte durch Tränen.

»Hat dich denn dein Herzensspitzbub so eilfertig verlassen, ist er nicht mit dir da und sorgt wie ein Ehrenmann für dich?« wollte Bartel sagen; aber er unterdrückte die spitzige Bemerkung wieder; dann atmete er nur aus tiefer Brust und fragte:

»So, wo bist du denn jetzt? Auf diese Weis' musst du ja recht verlassen und bekümmert sein?«

Röschen vergaß, wo sie stand und hinderte eine hervorbrechende Träne nicht.

»Was kann's auch helfen«, sagte sie, »wenn ich dir mein Leid hier klag', es macht dir vielleicht ein schweres Herz und mir ist nicht geholfen.«

An einem schweren Herzen fehlte es dem Bartel schon jetzt nicht, mit Ungestüm verlangte er ihr Eingeständnis.

»Red', red'«, sagte er ungeduldig – »was hilft das Hinundwidersprechen, am Ende muss es doch gesagt sein!«

Leise, dass es niemand außer Bartel hören konnte und zu Boden blickend, sagte sie nach wiederholtem Drängen:

»… Ich hab' kein Nachtquartier, ich hab' seit gestern nichts gegessen; – o Bartel, ich bin recht verlassen ...«

Bartel blickte wild um sich; er war sehr versucht, Röschen zu packen, sie voll wütenden Mitleids zu schütteln und dann an sein tobendes Herz zu reißen; aber so viel Selbstbeherrschung hatte er doch in dem Augenblicke, dass er schwieg, zu Boden blickte und nach einer Weile nur mit bebendem Tone fragte:

»Ist auch der Peter da?«

»Welcher Peter?«

»Welcher Peter?« wiederholte er mit bitterem Lächeln; »der von Schächen.«

»Wie kommst du jetzt auf den?« fragte Röschen verwundert.

»Ich – ich weiß selbst nicht recht«, sagte er ihren Blicken ausweichend – »ist er da?«

»Nein, soviel ich weiß«, sagte sie.

»Was bist du dann nach Wien gekommen?« fragte er.

»Was?« erwiderte Röschen treuherzig – »du weißt ja, wie das geht. Es machen so viele alle Jahr' den Weg nach Wien, einige machen doch ihr Glück und mögen nimmermehr nach Haus. Ich habe auch gemeint, ich soll's verbessern, der Lohn ist wenig zu Haus, und die Rackerei das ganze Jahr viel. Aber ich hab' hier kein Glück. Wenn's morgen oder übermorgen nicht anders wird, so muss ich doch wieder heim; mögen die Leute sagen, was sie wollen, das Glück lässt sich einmal nicht wie ein Hühnle locken, ich hab' einmal schon kein Glück auf dieser Welt.«

Bartel blickte schweigend zu Boden, in seiner Seele arbeitete es heftig.

»Jesu, Gott!« fuhr Röschen fort, »ich klage dir da und bedenk' nicht, dass dich ja mein ganz Geklag' nichts angeht, was kann dir auch an mir viel liegen? Verzeih', es ist mir aber schon leichter, gesagt ist doch gesagt ... Weißt du nicht, wo's hier herum beim weißen Ochsen ist? Da sollen uns're Landsleut' alle zu finden sein; vielleicht fing' ich wen, der sich um mich kümmert.«

Mit einer Heiterkeit, als sollte ihm Röschen entrissen werden, ergriff Bartel ihre Hand und sagte:

»Nein, bleib, bleib, bei Gott, ich lass dich nicht!«

Zwei Augen richtete er jetzt auf sie, durchdringend, zuckend und seltsam.

»Wart' ein wenig hier«, rief er, »gleich bin ich wieder da!«

Seine Stimme zitterte, seine Hand brannte wie im Fieber, er entsprang um das nächste Haus und kam nach einer Weile mit verweinten Augen zurück.

Das große Gedränge fröhlicher Menschen hatte Röschen indessen einige Schritte weiter weggeführt; Bartel konnte sie nicht gleich entdecken und war in Verzweiflung; sie sei ihm zu Fleiß davon, meinte er, oder sei ihm durch das Gedränge verloren gegangen. Ganz verwirrt und blind schoss er unter den Menschen umher, rief Röschens Namen laut und hörte nicht einmal, als ihm Röschen antwortete; er wollte kaum noch glauben, dass er sie wieder gefunden habe, als sie ihn selbst am Arme und lächelnd fragte:

»Das ist doch schön, dass du mich so gerne wiedersiehst!«

Heiß und bebend nahm er ihre Hand und sagte:

»Komm mit! Komm mit! Wir müssen beieinander bleiben!«

Er führte sie unter die Linden jener Schänke, wo ihn früher die Weisen Lanners so lieblich angesprochen hatten; es traf sich, dass man eben von demselben Meister das »Heimweh nach den Alpen« spielte.

Bartel und Röschen fühlten sich wunderbar ergriffen, doch waren sie still dabei. Bartel bestellte Essen und Wein, und als beides kam, schob er es mit freundlichem Lächeln dem Röschen hin und sagte:

»Iss und trink jetzt, wart' nicht auf mich; dort, scheint mir, sucht mich jemand, gleich bin ich wieder da.«

Er ging nur weg, um Röschen nicht essen zu sehen, der Anblick ihres Hungers hatte ihm das Herz gebrochen.

Als Bartel zurückkam, hatte der Kellner bereits wieder abgetragen, und Röschen sagte:

»Ich bitte dich, Bartel, lass mich jetzt auch einmal trinken.«

»Du mein Gott«, erwiderte er, »hast du noch gar nicht? Da trink', trink', trink'!«

Röschen trank, und es wurde ihr anmutig im Herzen. Nach einer Pause sagte sie:

»Aber erzähl' mit jetzt, wie es dir immer 'gangen, wo bist du jetzt?«

Bartel erzählte mit wenigen Worten, wie er seit seiner Ankunft in Wien beim Schwarzen Ader in Diensten sei und wie er sich wirklich nichts Besseres wünsche.

»Du siehst auch gut aus«, meinte Röschen – und als sie ihn wehmütig lächeln sah, fügte sie hinzu: »Aber wie das Wiener Leben, so lustig kommst du mir doch nicht vor.«

»Je nun«, meinte Bartel, »ich bin schon lustiger gewesen als gerade jetzt – aber es ist schon manchmal nicht anders.«

»Gelt«, sagte Röschen, »das hätten wir uns vor Zeiten auch nicht gedacht, dass du mich in Wien im Prater einmal bewirten wirst? Wir sind zwei Jahr in Stedtiners Haus beisammen gewesen, und wer weiß, haben wir die zwei Jahr' so viel miteinander geredet als heut die kurze Zeit. Die Fremde macht halt viel: zu Haus hast du niemals wissen wollen, was ich mache oder will, die Sinn ist immer, wer weiß wo gewesen, so hab' ich auch nicht viel Freundschaft für dich zeigen können. Du hast mir oft kein freundlich Wort gegeben, wenn ich dich angeredet; wer weiß, was dir im Sinn gesteckt ist, ich hab' dir' aber niemals übel genommen.«

Bartel drückte es in der Herzgrube; es fehlte wenig, dass er nicht mit Vorwürfen losbrach, aber er war einmal heute Meister über sich.

»Wenn's einmal Zeit ist, will ich auch reden«, sagte er nur und fügte gleich hinzu: »Jetzt erzähl' mir du lieber was von zu Hause; wie geht's allen Bekannten, was macht das Hofer-Johannesl und seine Mutter und sein Vater und der alte Hofer und der alte Mulderer – alle, alle, auch der Stedtiner und sein Weib?«

Röschen gab im Allgemeinen genügende Nachricht, hatte ihm auch einige Grüße auszurichten und erzählte ihm dann vom kleinen Johannes eine Geschichte, die ihm höchlichst Freude machte.

»Neulich«, erzählte sie, »gibt seine Mutter dem Johannesle eine gelbe Rübe mit auf den Schulweg und sagt, er solle sie ja nicht bis in die Schule sparen, weil dort das Essen sich nicht schicke; der Johannesle steckt die Rübe ein und verspricht zu folgen. Weil er aber auf dem Schulweg mit seinen Kameraden allerhand Spiel treibt, vergisst er auf die Rübe bis nahe vor dem Schulhaus, und da ist's zum Essen zu spät. Über Hals und Kopf springt nun Johannesle davon und legt die Rübe hinter einen großen Stein; denkt er, ist die Schule aus, hol' ich sie mir wieder. Mittlerweile kommt der Schreiner vom Markt zurück und trägt viele Scheiben Leim bei sich, die er eingekauft hat; in einem Hause hat er einzukehren, und er denkt, was soll ich den Leim, der so nicht bestens riecht, den Leuten ins Haus tragen? Ich leg' ihn hinter jenen Stein dort, bis ich wieder komm', er wird wohl sicher sein derweilen. Gut, er legt den Leim dahin und – findet aber die schöne gelbe Rübe. Die hat längst vergessen, wer sie hergelegt hat, denkt er, die Rübe ist gesund für einen, der Durst hat, und der bin ich – schält die Rübe, isst sie und macht hernachher seinen Besuch im Haus. Mittlerweile, dass er hier noch plaudert, wird die Schule aus – und wer rennt vor Hunger wie besessen zu dem Stein um seine Rübe? Natürlich der Johannesle; und was findet er? Natürlich die Scheiben Leim. Mutter, springt er nach Hause, Mutter, Vater, Mutter, was ist aus meiner Rübe geworden? Närrisches Kind, du wirst sie gegessen haben, sagt die Mutter. Was ist das? Sagt Johannesle und zeigt den Leim. Das sind Scheiben Leim, sage der Vater. So ist aus meiner Rübe Leim geworden, schreit Johannesle, wollt ihr mehr noch Leim, so gebt nur Rüben her – und erzählt, was er von der Geschichte weiß. Bald aber kommt heraus, dass dem Schreiner sein vieler Leim abhanden gekommen; das Wunder hellt sich auf, und der Schreiner zahlt dem Johannesle einen Kreuzer für die Rübe, die er ihm verspeist hat!«

Bartel schlug die flachen Hände gegeneinander, seine Heiterkeit war groß. Doch wurde sie beim nächsten Blick auf Röschen wieder sehr gedämpft. Es litt ihn nicht mehr auf seinem Sitze.

»Röse komm«, sagte er, »du hast ja noch gar nichts vom Prater genossen, geh'n wir weiter.«

Er zahlte, und Röschen musste sich an seinen linken Arm hängen – »dass sie im Gedränge nicht wieder voneinander kämen«, gab er vor.

Unversehens, als sie beim nächsten Ringelspiele vorübergingen, sagte Bartel:

»Komm herein und schau dir das Dings ein wenig mit ruhigen Augen an«; er zog Röschen nach, und da gerade die Musik begann und der Zuruf erscholl: »Aufsitzen, wenn's gefällig ist, gleich wird angefangen!« so saß auch Bartel neben Röschen auf einem schönen Sofa, bevor sich diese wehren konnte.

Bei der lustigen Menge, die sich heute zum Spiele drängte, fehlte es nicht, dass im nächsten Augenblicke Pferde, Hirsche, Giraffen, Dampfwagen und Eisbären dicht besetzt waren, und so ging es bald in heiterem Schwunge rundherum, indessen Knaben und Erwachsene jubelnd nach den Drehsäulen stießen.

Sehr stille und jedes mit ganz eigenen Empfindungen saßen aber Bartel und Röschen nebeneinander. Bartel hatte seinen linken Arm hinter Röschens Rücken um die Sofalehne gelegt und blickte vor sich hin, eine unsichtbare Gewalt wollte ihn bewegen, seinen Arm bescheiden um Röschens Nacken zu legen, aber er wehrte die Versuchung ab; lieber zog er den Hut tiefer ins Auge und brummte vor sich hin; er wusste, dass Trommel, Spiel und Lärm seine Worte nicht hören ließen, aber wenn der Zufall eines hören ließe, so wär's ihm auch nicht unlieb gewesen.

»Den Schächer-Peter hast du vorgezogen«, mengerte er – »er ist jede zweite Nacht vor dein Fenster kommen, und wenn euch der helle Morgen nicht geschieden hätte, ihr wäret noch beieinander. Und jetzt lässt er dich allein in fremder Welt herumfachieren und steht aller Gewissheit nach jede Nacht wo anders vor einem Fenster. Wär' ich dir wie er gewesen, alle Vorspann der Welt hätt' uns nicht vom Fleck gerissen, ich wär' nicht fort von Haus, und du hättest nicht fort dürfen. So sitzen wir jetzt alle zwei auf einem Ringelspiel, eins hat mehr als das andere auf den Gewissen, mir lässt mein Herz keine Ruh, dir vergönnt dein Unglück keine Freude. Es ist mir gerade, dass ich alles erwürgen könnte; es ist in der Welt wie auf jenem Bild, das ich einmal gesehen habe: da sitzt das Pferd im Wagen und kutschiert den angespannten Kutscher, da reitet der Esel seinen Reiter, das Brachfeld ackert den Pflug, die Weide frisst die Herde, der Baum hackt einen Bauern um, das Kind gibt seinem Vater gute Lehren, die Kirche geht zu den Leuten in den Gottesdienst, der Pater heiratet die Braut, und der Bräutigam segnet beide ein; auf dem Bild hat eines nur gefehlt: das Röschen äugelt mit dem Schächen-Peter, und Bartel hat das Zusehen. Doch sollst du mir das nicht empfingen dürfen, Röschen. Ich will dir heut einen Tag antun, du sollst dran denken. Zeigen will ich dir, wie ich dich gehalten hätte, wenn du mein geworden wärst, du sollst das sehen, ohne dass ich dir's zu sagen brauche!«

Heiterer geworden zahlte er aufs Neue eine Tour im Ringelspiel und sagte:

»Was man anfängt, muss man ordentlich genießen.«

Röschen lächelte nur stille und hielt sich das eine Ende des Kopftuches an den Mund, denn sie meinte, alle Welt begucke sie und Bartel, alles, was sie tue, mache Aufsehen.

Als Musik uns Spiel wieder im vollen Gange waren, sah sie von Zeit zu Zeit zu Bartel auf und dachte:

»Jetzt möcht' ich nur, dass jemand von Haus den Bartel sähe, er ist nicht zum Kennen, er ist völlig schöner geworden. Was hätt' ich angefangen, wenn ich ihn nicht gefunden hätte, das vergess' ich mein Leben lang nicht!«

Das Ringelspiel verlassend, tat Bartel schon um vieles lustiger und lauter.

»Komm«, sagte er lächelnd, »jetzt trinken wir einen Becher Mehl!«

Röschen sah verwundert auf und sagte: »Mehl?«

»Nun ja«, sagte Bartel schelmisch und zeigte auf den Schild.

Röschen war auch keine Heldin im Lesen, sie buchstabierte »Mehlverkauf« und sagte verwundert:

»I war und wahrhaftig, da wird Mehl verkauft, und die Leute trinken's wie Wein.

Bartel lachte lustiger und entdeckte ihr den Irrtum.

Jetzt wurden beide aufgeräumt und ließen sich den Meth gar bestens munden.

»Da hab' ich von unserm Oberkellner ein Liedl profitiert«, sagte endlich Bartel, »es ist zum Totlachen!« Er brummte:

Seimer wieder amal
Beisammen g'sessen,
Hammer uns wieder amal
Gern g'habt!

Da ist der Vater kommen,
Hat an Prügel g'nommen,
Hat und alle wieder
Auseinander g'jagt!

»Wenn und mein Vater so beisammensitzen sähe«, meinte Röschen, »ich glaub' es wär' auch seine Freude.«

»Meiner auch«, meinte Bartel. »Komm, lass uns die zwei Alten einmal leben lassen. Keine Mutter haben wir so keines mehr, es hätte ihre Hochzeit festgesetzt sein dürfen.

Aber mitten in der Vertraulichkeit wurde Bartel wieder ernst und stille, eine große Unruhe bemächtigte sich seiner; er zahlte und brach auf, die Freuden des Prater weiter zu genießen.

Röschen hing etwas besorgt an seinem Arme und sagte:

»Hör', ich fürcht', ich bin die schon zu viel. Du meinst, ich müsst' von allem haben, und mir wär' es wahrhaftig lieber, wir sitzen ruhig beisammen, wir haben noch so viel zu reden.«

Bartel dachte: dass du mir einreden könntest, der Schächen-Peter sei dir niemals wert gewesen, habe niemals mit dir vertraut getan? Lieber herumgefahren wie der helle Teufel, bis die Zeit zum Heimgehen kommt. Dann bei einer Bettfrau ein Bett für dich bezahlt und ade, geliebte braut, für immer, ich hab' das Meine abgezahlt!«

Laut sagte er:

»Es wird bald finster, du siehst den Prater das erst' Mal, du sollst auch etwas davon haben«, und stürmisch zog er sie mit sich fort.

Als beide gleich darauf an einem umzäunten Platze vorüber gingen, wo viel Lärm und Lachen zu hören war, da drückte Bartel plötzlich das Volk gewaltsam auseinander und stand mit Röschen auf dem Schauplatz eines sehr burlesken Spieles.

Ein Harlekin aus Holz stand mit ausgespreizten Händen und Füßen, mit weit aufgerissenem, lachendem Munde und verdrehten Augen da, und die Aufgabe war, aus einiger Entfernung einen Ball in Harlekins Mund zu werfen.

»Platz da! Weg da!« rief Bartel und gab dem Röschen den Ball in die Hand. »Wirf jetzt dem Hauptschelm zwischen die Zähne, weil er gar so menschenfresserisch lachen kann!«

Röschen wurde blass vor Verlegenheit und Schrecken.

»Jesu, Gott – nein, nein!« rief sie, »das tu' ich nicht, das kann ich nicht, das mag ich nicht, wo denkst du hin?«

Bartel zahlte mit etwas grausamer Gleichgültigkeit den Einsatz, drückte ihr den Ball fester in die Hand und half selbst ihrem Arme einen Schwung geben.

Röschen sträubte sich wiederholt und lachte halb ungehalten; aber Bartel überwand ihr Sträuben, und Röschen sah zuletzt kein Mittel zu entkommen, als Bartels Willen zu tun. Sie warf mit er großen Ungeschicklichkeit des Frauenzimmers – und der Zufall wollte, dass der Ball gerade ins Ziel flog; der Harlekin schloss im Nu den Mund, drehte die Augen von oben nach unten, schlug die Füße zusammen, schloss die Arme knapp an den Leib und stand schnurgerade da wie einer, der sehr zufrieden ist über die Kost, die er eben wie der Blitz verschluckt.

Ein betäubendes Gelächter erscholl, viele riefen »bravo«, und der Spielinhaber kam, dem Röschen einen Preis von einem halben Gulden einzuhändigen.

Sie weigerte sich, den Preis anzunehmen, bis Bartel sagte:

»Nimm nur, du hast's redlich verdient.«

Das Gedränge um beide wurde immer größer, und allerlei Stimmen ließen sich hören:

»Ein famoses Mädel! Ein sauberes Kind! Woher ist nur das Schatzerl? Ein wundersauberes, elementverwettert-unsinnig-liebes molliges Schatzkind« usw.

Da machte Bartel rechtsum und flüchtete mit Röschen, bevor die Bewunderer noch wärmer wurden; eine seltsame Verstimmung überfiel ihn.

Wäre Raschen sein erklärtes Mädchen gewesen, so hätte er sich höchstens über so zudringliche Stimmen geärgert, jetzt konnte Röschens geschmeicheltes Herz vielleicht doch zurückfliegen und neugierig nach den Schmeicheleien suchen, während er sie am Arm führte.

Röschen aber stand das Weinen näher als das Lachen, sie sagte:

»Ich bitte dich um Gotteswillen, lieber Bartel, tu' mir das nicht wieder an und plag' mich mit so einem Spaß! Ich bitte dich, ich habe ausgestanden, nicht zu sagen – gelt, du zwingst mich nicht mehr so?«

Bartel rückte am Hut:

»Nein – was? – Wart' nur, komm'«, sagte er durcheinander und zog sie weiter ...

Die Zeit verflog wie aus einer Büchse geschossen, wie im Taumel wurde mitgenommen, was der Prater sonst noch bot; Bartel aber wurde wieder verschlossener, Röschen weicher und stiller.

So fuhren sie noch einmal in einem Ringelspiele, wo Bartel einen prachtvollen, mit den Vorderfüßen aufsteigenden Schimmel ritt und Röschen neben ihm auf einem gepolsterten Sitze Platz nahm, den ein kniender Mohr auf dem Kopfe trug; Genoveva, die viel Haimonkinder, die Menagerie, die Kriegsflotte und die menschlichen Charaktere, das Wachsfigurenkabinett, ein Volksstück, die Marionetten wurden gesehen, und auf der großen Schaukel wurde tüchtig geschwenkt.

Es war Nacht, bevor man's dachte und wollte, der Prater schimmerte von tausend Lichtern, Musik und Jubel tobten fort, in dichten Massen und mit kleinen Schritten zogen die Menschen wieder stadteinwärts heim.

Auch Bartel und Röschen gingen endlich Arm in Arm nach Hause.

Bartels Verstimmung war aufs Höchste gestiegen; jedes Wort, das er sprechen sollte, war ihm eine Last, jedes Wort, das Röschen sprach, hatte ihm eine schmerzliche Nebenbedeutung; am allertiefsten aber ragte ihn der Verdruss über sich selber auf, denn er hatte die ganze kostbare Zeit seines vertraulichen Beisammenseins mit Röschen zu nichts als zu betäubenden Unterhaltungen benutzt.

»Jetzt kann sie mich zu guter Letzt für einen Saufer, Herumrenner, Verschwender und weiß Gott was noch alles halten«, dachte er, »sie kann meinen, ich mach' es alle Sonntage so! O, o« – fuhr er in Gedanken zu wüten fort – »wenn die Dummheit ins Wachsen kommt, so werden gleich Eichbäume draus!«

Zu stolz, um sich gegen üble Meinung zu verteidigen, war er auch zu grimmig, um den Heimweg noch zu einem liebevollen Gespräch mit Röschen zu benützen.

Röschen bemerkte seine Verstimmung wohl und wusste sie nicht anders zu erklären, als dass ihn nun die Verschwendung reue, deren Anlass sie gewesen; ein Gefühl der tiefsten Trauer überfiel sie bei dem Gedanken, dass die früher hungrig und von aller Welt verlassen, jetzt aber satt war, allein jemand beschwerlich fallen musste. Sie hätte gern etwas gesagt oder getan, um Bartel zu erheitern, es fiel ihr nichts ein, es lag ihr wie ein Stein auf dem Herzen.

Endlich wurde sie des Geldes wieder inne, welches sie gewonnen hatte, es war ihr schon ganz heiß in der Hand geworden.

»Bartel«, sagte sie, »gelt, du nimmst das Geld, das ich gewonnen habe, für deine Unkosten an? Ich weiß, du halt viel mehr ausgegeben, vielleicht kann ich dir's später ganz ersetzen.«

Eine dunkle Röte überfiel Bartels Wangen, er presste die Lippen zusammen uns sagte eine Weile gar nichts, dann er widerte er mit bitterem Lächeln:

»Hast du mir so gut nachgerechnet, was ich ausgegeben habe?«

»Nimmst du mir den guten Willen übel?« sagte Röschen.

»Wenn du mich nicht toll machen willst, so tu mir eine solche Schande nicht mehr an«, rief er.

»Und bist froh«, dachte Bartel, »dass du von mir los bist und schreibst vielleicht morgen deinem Schächen-Peter heim: ich bin auch beim Bartel im Prater gewesen, er ist aber gar ein Wüster geworden, spielt, trinkt, verreitet Geld und ist wie ausgewechselt; ich möchte nicht zwei Tage um den liederlichen Menschen sein – grüß' dich Gott, mein lieber Peter ...«

Von nun an wurde kein Wort mehr zwischen beiden gesprochen, bis sie in der Taborstraße vor dem Schwarzen Adler standen.

Bartel dachte nun: »Was soll ich sie länger aufhalten?« Er reichte Röschen die Hand hin, sie zitterte.

Auch Röschen gab ihm die Hand und sagte:

»Es ist mir doch recht lieb gewesen, dass ich dich gesehen habe; jetzt behüt' dich Gott, und lass dich die Müh' nicht verdrießen, dass du mit mir umgangen bist!«

Ihre Augen wurden feucht, sie ging weiter.

Schnell hatte die drängende Menschenmenge sie fortgenommen, sie war unter Tausenden wieder allein; Bartels Augen erreichten sie nicht mehr.

Wie geistesabwesend stand er noch eine Weile vor dem Tore, drehte sich dann nach dem Hofraume hin und ging ins Haus.

Er war schon bis an die Stallungen gekommen, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und sich mit der Hand nach der Stirne fuhr.

Wie gespornt stürzte er dann wieder aus dem Hause und in der Richtung weiter, nach welcher sich Röschen entfernt hatte.

Bisher hatte er sich doch heimlich damit getröstet, dass er ja andern Tages Röschen wieder aufsuchen könnte, wenn er wollte; sie nicht zu verlassen, solange sie keinen Dienst erhalte würde, war sein fester Vorsatz, so sehr er sich auch in seinen Argwohn hineinquälte, dass er ihr gleichgültig, lästig, von ihr verkannt sei. Jetzt aber fiel ihm erst ein, dass er gar nicht gefragt hatte, wo sie übernachten werde.

Wenn er sie nicht auf dem Wege zu ihrem Nachtquartiere noch einholte, so war sie für ihn verloren; wie sollte er den verborgenen Winkel entdecken, wohin sie sich zurückziehen wollte?

Mit einem Gefühle der höchsten Wut gegen sich selbst und mit einer Wehmut, nicht zu sagen, eilte Bartel dem geliebten Wesen nach; er jagte geraden Wegs die Taborstraße dahin, trennte die Menschenmenge vor sich mit rascher Gewalt und rief nicht selten mit ängstlichem Tone den Namen Röschen. Selbst zwischen den Fiakern eilte er ohne Scheu hindurch und hätte den auf der Stelle erwürgt, der ihm mit einem »dummen Spaß« in den Weg getreten wäre.

Umsonst.

Röschen war hinweg, sie war nicht zu errufen, zu erjagen.

Bartel ging nun linker Hand einige Nebenstraßen auf und ab, dann rechter Hand einige Nebenstraßen hin und wider; aber umsonst; Röschen war auch da nicht zu sehen und nicht zu hören.

Es war endlich schon zu dunkel, und die meisten Zettel von den Toren genommen, als dass er hätte lesen könne, wo einzelne Betten verlassen würden; darum stürmte er nur hier und dort ohne Wahl in ein Haus und fragte, ob man Betten verlasse und ob ein Röschen Esterlein da übernachte; aber er war so zerstreut und hastig, dass er schon wieder auf der Flucht war, bevor die Antwort noch erfolgte.

Endlich gab er alle Hoffnung auf, Röschen heute noch zu finden.

Ein schreckliches Gefühl der Selbstanklage übermannte ihn, und keine Freude der Welt hätte ihn heute mehr zuträglich stimmen können ...

Röschen hatte inzwischen ihr Nachtquartier, nicht weit vom Schwarzen Adler erreicht, und auf eine Stein vor dem Hause niedergelassen, dachte sie nach über manches, was sie heute erlebt.

Sie sah wohl den Bartel einmal vor sich auf und nieder stürmen, allein sie wollte ihn nicht stören; »denn«, dachte sie, »wer weiß, was er heute wegen mir versäumt hat und was er so eilfertig jetzt nachholen muss, es wäre Sünde getan, ihn noch einmal aufzuhalten.«

Neuntes Kapitel.
Wiedersehen. Ein bedeutsamer Bote.

Bartel machte die ganze Nacht kein Auge zu.

Das Geld, welches er noch in der Tasche fand, warf er mit Ungestüm in seine Kleidertruhe und rief:

»Warum bist du nicht auch noch draufgegangen?«

Dann setzte er sich auf einen Holzblick im Stall und verfiel in fürchterlich trübe Gedanken.

Kaum zeigte sich das junge Tageslicht, so war auch Bartel schon wieder auf den Beinen, um Röschen zu suchen. Er überzeugte sich aber bald, dass es zu einer solchen Wanderung noch viel zu früh sei; kein Haustor war offen, kein Zettel war noch ausgehangen. Bartel kehrte also wieder zurück, ging schweigsam und niedergeschlagen seinen Morgenarbeiten nach, überzeugte sich hier und da, wie die übrigen Knechte ihre Pflicht erfüllten, und wenn er etwas auszustellen hatte, tat er es so still als möglich und nu im Fluge.

Gegen 8 Uhr begann die Wanderung von Neuem.

Aber diesmal beging der Unglückliche die größte Unvorsichtigkeit, die er begehen konnte.

Er dachte die nächsten Gassen schon gestern genug durchlaufen zu haben und eilte weiter und weiter; er entfernte sich eben dadurch immer mehr vom Ziele, und nach vergeblichem Bemühen kehrte er verzweiflungsvoll, in Schweiß gebadet, unverrichteter Sache wieder zurück.

Zu Hause erfuhr er: ein fürstlicher Jäger sei dagewesen und habe hinterlassen, dass er im Kaffeehaus ihn erwarte, Bartel solle ja kommen, sein Glück sei gemacht.

Im ganzen Gasthof wusste keine Seele von Bartels gestriger Heldentat, man bedrängte ihn daher, sich über sein gemachtes Glück zu erklären. Aber es war keine Silbe aus ihm zu bringen. Er war über die Nachricht mehr betroffen als erfreut, denn auch ihm war der Volksargwohn eingewurzelt: mit großen Herren sei nicht gut Kirschen zu essen. Er ahnte wohl, dass es mit seiner gestrigen Heldentat zusammenhänge, aber er dachte auch, dass man ihn jetzt in hundert Kanzleien herumführe, tagelang Fragen stellen würde: wie er heiße, woher er kommen, was er in Wien mache, wer sein Vater sei, wie seine Mutter heiße, was sein Vater zu Hause mache, warum er nicht nach Wien gekommen sei, ob er schon Rekrut gewesen, ob er von Haus aus Vermögen habe, ob er verheiratet oder ledig, katholisch oder lutheranisch sei, ob er die Pferde gestern gekannt, eh er sie aufgefangen und ober er gewusst habe, wen er vom Untergange rette, indem er die Pferde aufgefangen usw.

Auf einmal bleib er stehen, wechselte die Farbe und streckte lächelnd die rechte Hand aus, sagend:

»Je Gott, da bist ja wieder, o das ist recht!«

Röschen war ihm begegnet und sah ihn freundlich an. Auch sie gab ihm die Hand und sagte:

»Es ist doch schön, dass wir uns immer finden, wenn wir uns auch nicht gerade suchen ... Bartel, ich werde doch morgen heim, jetzt ist mir auf heute ein Dienst so viel als gewiss versprochen gewesen, und wie ich hinkomm', heißt's: es ist doch nichts. Da geh' ich doch lieber heim, ich hab' zu Haus nicht viel, aber das Gewisse; die Stedtinerin nimmt mich die erste Stunde wieder auf, wenn mir's in Wien nicht glücken will.«

Verwirrt und etwas heftig sagte Bartel:

»Überleg's noch, gib einen Tag zu – was will ich sagen? Röschen, wo bist du heut' Nacht geblieben?«

Röschen zeigte auf die Gasse gegenüber und sagte:

»Da ist grad die Gasse drüben, das fünfte Haus linker Hand im Hof gleich rechts ist meine Bettfrau.«

»Wirst du in einer oder zwei Stunden zu Haus sein?« fragte Bartel.

»O freilich«, sagte Röschen, »wo soll ich sonst hin? ... Willst du etwa zu mir kommen?«

Bartel stockte ein wenig:

»Wenn du nach Hause gehst«, sagte er dann, »muss ich dir ja etwas für meinen Vater und für meine Bekannten auftragen ...«

»So komm, komm gewiss, ich will dir alles gern ausrichten; wie hast du auf den gestrigen Tag geschlafen?«

»Ich muss fort«, sagte Bartel schnell ausweichend, »ich muss mit dem Herrschaftsjäger dort gehen, jetzt behüt' dich Gott!«

Er eilte davon.

Röschen sah verwundert drein, als sie ihn mit einem so prachtvoll gekleideten Jäger weitergehen und unter der Menge verschwinden sah.

»Was muss er haben, dass er mit so großen Leuten umgeht?« dachte sie und fügte mit Zufriedenheit hinzu: »Er sieht heute viel freundlicher drein als gestern, es wird ihn doch nicht reuen, dass er gestern für mich so viel Geld ausgegeben hat; er ist ein gar guter Mensch ...«

Auf ihrem Heimwege wurde sie auf einmal wie verklärt von einem Gedanken. Sie ging rascher, blieb dann plötzlich wieder stehen, trat endlich in ein Haus und zählte sich den Rest ihres Vermögens auf die Hand; eine Weile nachdenklich auf die Kupfermünzen starrend, schien sie ihren großen Gedanken noch einmal zu erwägen, aber sie musste alles richtig finden, denn sie ging mit Freuden von dannen, ihrem Quartiere zu.

Eintretend in ihr Stübchen sagte sie:

»Liebe Frau von Deuxelding, da bin ich wieder!«

»O Spektakel«, sagte diese, »du hast gewiss den Dienst, weil du so geschwind und selig daher machst?«

»Nein, den Dienst hab' ich nicht, Frau von Deuxelding; aber es kommt ein Bekannter von unserer Gegend her, darf er hereinkommen, wenn er kommt? Er will mir allerlei auftragen für seinen Vater und seine Bekannten, weil ich morgen wieder heimgeh'!«

»So gehst du wirklich wieder? Es ist ein Kreuz heutzutag'; die Dienste sind nicht immer gleich bei der Hand, warten will niemand, bis sich etwas findet, und so ist's halt, dass die Straßen nach Wien nicht leer von Menschen werden. Nun, in Gottes Namen, Röserl, ich will dich nicht aufhalten, dein Landsmann soll nur kommen.«

»Frau von Deuxelding«, fuhr Röschen nach einer Weile fort, »ich hätt' noch eine Bitte.«

»Dreh's fürer«, erwiderte Frau Deuxelding.

»Seht, da ist mein Geld, macht das nicht zwanzig Kreuzer?«

»Drei, sechs, fünfzehn, achtzehn und zwei ist zwanzig – ja, das sind zwanzig Kreuzer; was willst du mit dem Geld?«

»Ich will meinem Landsmann eine Tafel geben, was krieg' ich für zwanzig Kreuzer?«

»Willst du auch mitessen?«

»Er allein.«

»Dann hätten wir etwas Gröberes kaufen müssen, dass es mehr gereicht hätte – so aber tun's zwei Knackwürsteln, ein Pfiff Gulden und zwei Kaisersemmeln am besten.«

»Soll ich das kaufen?«

»Schieß' um, da drüben beim Greißler ist alles bis auf den Wein zu haben.«

»Frau von Deuxelding ...«

»Noch was?«

»Bis ich wieder komm, betrachtet doch den Fingerring da, seit acht Tagen trag ich ihn schon in der Tasche, ich hab' ihn auf der Landstraße gefunden, aber nicht viel beacht', sagt mir, was er wert ist?«

»Leg' ihn nur aufs Fensterbrett hin, ich hab' justament nicht Zeit.«

Röschen ging, und als sie zurückkam, musst sie zu ihrer großen Freude hören, dass der Ring von Silber und seine sechs bis sieben Zwanziger wert sei; der Uhrmacher im Hause hatte ihn geschätzt und sich gleich als willigen Käufer melden lassen.

»Was soll ich tun?« sagte Röschen, »den find' ich nicht mehr, der ihn verloren hat; wenn mir der Uhrmacher gibt, was er meint, ich will ihm den Ring schon überlassen.«

Gleich darauf hatte sie das Geld, und nun wurde Rat geschlagen, womit man die Tafel noch sonst versehen sollte, damit nun alle drei teil daran nehmen könnten ...

Indem Frau Deuxelding und Röschen im lebendigsten Rate beisammen saßen, war unser Bartel seinem stattlichen Führer wie neugeboren gefolgt, die Freude über das unvermutete Zusammentreffen mit Röschen hatte ihn auf einmal gesprächig und vertraulich gemacht, sodass er dem Jäger beinah sein ganzes Schicksal mit Röschen preisgegeben hätte, als dieser lächelnd fragte:

»Ist das eine gute Freundin, wie man sagt, guter Freund?«

Nur der Umstand, dass beide durch die lebendigsten Gassen der Hauptstadt wandern mussten, wobei sie bald durch die andringenden Menschen getrennt, bald durch Wagengerassel in ihren Reden unterbrochen wurden, machte die Mitteilung äußerst mangelhaft; endlich standen sie auch vor dem fürstlichen Palais, und hier verschlug es dem Erzähler von selber die Rede.

Hier empfing sie der stabgewaltige, goldbortenschwere, fettansehnliche Portier mit Sturmhut und Seitengewehr:

»Ist's der?« fragte er gleich, und als der Jäger mit »Ja« erwiderte, nahm er Bartel freundlich beim Arme und führte ihn nach der Glasvorhalle seiner Wohnung. »Hier setzt Euch indessen bei mir nieder«, sagte er, »bis der Jäger oben angemeldet hat.«

Der Jäger sprang davon, über die Stiege hinauf: mit ihm war der einzige Mensch verschwunden, mit dem Bartel bereits einigermaßen Freund geworden war ...

Zehntes Kapitel.
Unter den Lebendigen oder Toten?

Indessen hatte das sein Gutes; Bartel musste heute noch mit größeren Herren reden, er konnte sich üben, indes er vorher mit dem Portier sich unterhielt. Nach einigen Stockungen ging es wirklich gut von statten, jede Antwort hatte Hand und Fuß. Aber die Kunde, dass der wunderbare Lebensretter nahe sei, lockte nach und nach auch die fürstliche Dienerschaft herbei; die meisten hatten jetzt mit dem Torbeamten einige Worte zu reden und verwandten kein Auge von dem Lebensretter; einige schossen nur so einmal an der Glashalle vorüber, um ihre Neugierde zu befriedigen.

»Ich hab' doch schon viel Romang'schichten gelesen«, bemerkte ein Diener – »aber sooft einer Fürstin oder Gräfin die Pferde durchgegangen sind, ist gewiss ein Graf oder Baron der Lebensretter gewesen. So einer will sich jetzt gar nimmer abgeben mit Lebensretterei, ja, ja, sie riskieren zu viel dabei. Jetzt kann das wirklich nur ein Bauer tun!«

Ein zweiter sagte:

»Wär'ich der Bursch, ich tät' nichts als den ganzen Tag auf den Gassen und im Prater herumsteigen: wo ein Ross auskommt, wär' ich dabei, es könnte ein hübsches Geld abwerfen.«

»Was kann der Bursch wegfangen heut?« fragte ein dritter.

»Ich will nicht raten, aber wenig nicht«, sagte der erste.

Der Jäger kam wieder, sprang bis zur Glashalle vor, winkte flüchtig mit einem Finger und flog wieder voran; aber es fehlte viel, dass Bartel solche Feinheiten verstand, er blieb ruhig sitzen und ließ den Jäger fliegen, bis der Portier dringend sagte.

»Auf, auf! Geh nach!«

Bartel stand schwerfällig auf und wusste nicht recht, was oder wohin?

»Dort hinauf«, winkte der Portier nach der Treppe – »dem Büchsenspanner nach!«

Jetzt kam der Jäger selbst wieder zurück und sagte:

»Wo bleibst du, Freund? Komm, du wirst vorgelassen.«

Er eilte voran, mit bleiernen Beinen folgte Bartel nach. Die Flügeltüre droben war bereits offen, man gelangte in eine breite Vorflur, von hier in ein großes Gemach mit rötlich glänzendem Fußboden, den Bartel kaum zu betreten wagte; als nun hier wieder eine Türe aufging, da legte sich's dem Burschen wie Fesseln um die Füße; denn er sah eine Reihe von glänzenden Gemächern vor sich. Erst auf vieles Drängen des Jägers trat er über die Schwelle des ersten Zimmers, gab aber so vorsichtig auf die Blumen des Teppichs acht, dass sich der Führer eines Lächelns nicht enthalten konnte.

Plötzlich sah sich Bartel in einem Blumengarten mit rauschenden Springbrunnen, zwischen den Blumen erhoben sich kostbare Statuen, mitunter solche, von denen Bartel nicht wenig verwirrt zur Seite blickte.

Hier sagte Bartel auf einmal:

»Ich geh' nicht weiter, ich weiß nimmer, wo ich bin, je weiter ich komm', es wird immer ärger.«

Vielem Zureden und Drängen des Jägers gelang es endlich, ihn noch ein Zimmer weiter zu bringen.

Große Gemälde hingen hier an den Wänden: Familienportraits, große Schlachtszenen, frischfarbige Landschaften mit üppigen Baumgruppen, dass Bartel meinte, die Wand sei in große Vierecke durchschnitten und die Aussicht in Gottes freie Schöpfung offen.

Den verwirrten Ankömmling empfing hier ein schwarzgekleideter Kammerdiener aus den Händen des Jägers.

Der Kammerdiener winkte und lächelte nur – willenlos folgte ihm Bartel.

Sie gingen durch die Zimmerreihe links, und Bartel dachte:

»Du mein lieber Gott von Mannheim, wenn's einem im Paradies so engbrüstig wird wie dahier, so will ich nicht beschweren und lieber draußen bleiben.«

Zwei Türflügel rauschten auf, Bartel blickte in ein Zimmer, das wie eine Gartenlaube aussah, in dieser Laube saß die Fürstin in prachtvoller Morgennegligée, und ein feiner Mann, der Herr Doktor, stand neben ihr.

Dies sehen, sich herumdrehen und zum Aufunddavonlaufen anschicken, war bei Bartel eins.

»Da sitzt eine Frau drinnen«, sagte er, »die hat uns gesehen, wir sind irr' gegangen!«

Lächelnd fing ihn der Kammerdiener auf und hatte Mühe, ihn wieder zurecht zu bringen.

»Es ist ja Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin selber, sie will dich sehen, Freund«, sagte er leise.

Wie ein geduldiges Opfer ließ sich Bartel nun weiter führen und blieb ebenso stille stehen, als der Kammerdiener in einiger Entfernung von der Fürstin sagte:

»So, jetzt gescheit sein!«

Gestern war er vier tobenden Pferden mit Lebensgefahr in die Zügel gefallen und hatte sie wie ein Held bemeister, heute stand er wie ein Kind vor einer vornehmen Dame, deren Leben er gerettet hatte und zweifelte, ob er werde Red' und Antwort geben können.

»Heißest du Bartel und hast du gestern meine Pferde so brav aufgehalten?« fragte die Fürstin mit wohlwollender Stimme.

Bartel schnürte es im Halse, er musste erst einmal hüsteln, bis die Stimme durchkonnte:

»Je Gott«, sagte er dann umflort, »Ich mein', ich habe sie mit Gottes Hilfe aufgehalten, mich verwundert, dass man sie hat bis zu mir kommen lassen.«

»Es gibt eben wenige so tapfere Menschen, mein Sohn!« erwiderte die Fürstin; »ohne dich hätte man die Pferde wohl noch weiter laufen lassen. Wo bist du her?«

Bartel nannte Provinz und Dorf.

»Leben deine Eltern noch?«

»Gott sei gedankt, z'wenigstens mein wunderlicher alter Vater noch«, antwortete Bartel.

»Ist dein Vater ein so wunderlicher Mann?«

»Je Gott, das nicht gerade, aber es ist von meiner Taufe her wegen einer Sache, die wird noch einmal übel aussschlagen. Sonst ist er ein bravherziger Vater, weiß Gott, hätt' nur jeder einen solchen!«

Jetzt, dachte er, wird bald nach meinem Pass gefragt werden.

Fußtritte, die er hinter sich hörte, veranlassten ihn etwas bei Seite zu treten und Platz zu machen; es kam der Fürst.

Indem dieser an Bartel vorüberging, einen fragenden Blick auf die Fürstin richtete und dann freundlich auf Bartel zurücksah, sagte er:

»Ist das der brave Bursch?«

»Er ist's, erwiderte die Fürstin.

Der Fürst ging auf den Burschen zu, klopfte ihn freundlich auf die Schulter und sagte:

»Bravissimo, mein Sohn! Höre – seh' mich fest an und sage mir dann von freiem Herzen wer: was verlangst du dafür, dass du mir meine gute Frau gestern vom Tode gerettet hast?«

Bartel, der bisher in seiner halben Versteinerung dagestanden, hatte seine verlegenen Blicke unverwandt auf en Daum des Morgenkleides der Fürstin und auf die feinen Atlasschuhspitzen gerichtet, die darunter hervorstanden; mitten unter den Antworten, die er zu geben hatte, trotz seiner betäubenden Verlegenheit ging ihm ein paar Male der Gedanke durch den Kopf:

»Gott, ist das ein Kleid, sind das verflixt enge Schuhspitzen; o Röserl, Röserl, wenn du das sehen könntest!«

Jetzt schlug er seine großen, guten Augen auf; der Gedanke, seinen bedeutendsten Wunsch günstig anzubringen, gab ihm Mut und Heiterkeit zurück; er versetzte auf die Frage des Fürsten, was er sich wünsche, kühnlich und mit leidlicher Gewandtheit:

»Weil ich schon sagen soll, was mir am meisten auf dem Herzen liegt, so will ich nur sagen, dass ich gerne aus wär', was jeder Mensch ist: bis heutigen Tags bin ich eigentlich ein Geist, gehören ich eigentlich nicht recht unter die Lebendigen und nicht recht unter die Toten ...«

Der Fürst, die Fürstin, der Doktor sahen lächelnd einander an.

»Wieso denn, mein Sohn, erkläre uns die Sache deutlicher«, sagte der Fürst.

»Je Gott nun«, fuhr Bartel fort – »es ist ein Fehler von meinem Vater seit meiner Taufe her, es ist so gekommen: mein Vater und meine Mutter sind eigentlich kaiserliche Untertanen von jeher immer gewesen, haben auch von jeher immer in Justeigen mit den andern Geschwistern gelebt und sind aber von jeher immer ärmer und ärmer geworden, bis es zuletzt nimmer zu tun und zu tragen gewesen ist; da sind sie einmal in der Nacht von Justeigen auf und davon und sind auf eine Mühle gezogen, die Mühle liegt so an der Grenze von Baiern, dass man rechnen kann, wie man will, man wird nicht herausbringen, wohin sie eigentlich gehört, sie gehört aber jetzt zu Baiern. Jetzt sind also Vater und Mutter und meine Geschwister auf der Mühle angekommen, hinter sich Österreich, vor sich Baierland, um und um nichts zu beißen und zu nagen; dazu bin ich ihnen auch noch auf den Hals gekommen, noch dazu kranker, ich bin nämlich auf der Mühle geboren worden. Wie ich geboren bin, denkt sich der Vater: das ist ein Bub, wie verwahr' ich ihn vor dem wetterlichen Soldatenleben, kaiserlich bin ich nicht mehr auf der Mühle, königlich gar nicht; er hat mich also geschwinde von einem bairischen Pater taufen lassen und hat nach Justeigen kein Wörtlein ins Taufbuch vermeldet, und wie später die Konskription gekommen ist, hat mein Vater alle meine Geschwister angegeben, mich hat er verschwiegen. Jetzt sind achtzehn Jahr vorüber, meine Mutter ist derweil gestorben, und meine Kameraden sind fast alle Soldaten, von mir hat kein Pfarrer und keine Konskription eine Kenntnis gehabt, so bin ich wirklich vom Soldatenleben verwahrt blieben. Da hat vor einem Jahr mein Vater einen lästerlichen Streit mit dem Müller gehabt, und wir sind wieder nach Justeigen gezogen; jetzt hat der Kaiser einen Untertan mehr, als er weiß – ich bin in keinem Kirchenbuch, in keinem Kanzleiregister vorhanden und möchte doch auch wie ein anderer mein Zeugnis haben, wenn ich auf eine Wanderung geh' oder wenn ich z.B. heiraten wollte; aber ich weiß, wie ich mich meld', ist das Wetter los, und ich bin Soldat auf lebenslang, und Soldat möcht' ich doch nimmer werden. So wär' also mein einziger Wunsch, dass ich auch wie ein anderer Mensch in ein Taufbuch und Kanzleiregister käme, dass ich einen Pass erhalten könnte und aber nimmermehr Soldat werden müsste ...«

Die Zuhörer konnten bei dieser Erzählung eines Lächelns und einer Rührung sich nicht erwehren, und der Fürst sagte:

»Mein Sohn, weil du uns so aufrichtig deinen herzinnersten Wunsch eingestanden hast und für die Schuld deines Vaters so wenig verantwortlich bist, so will ich sehen, dass du von heute an wieder unter die Lebendigen gehörst, deinen Pass und deine Zeugnisse erhaltest und dabei von dem gefürchteten Soldatenleben frei bleibst. Sag, mein Sohn, bist du schon lange in Wien? Und wirst du bald wieder nach Hause reisen?«

Bartel stockte eine Weile, eine tiefe Bewegung ging ihm durch die Seele.

»Ich bin jetzt acht Monat in Wien – nach Haus reisen werd' ich – oder auch nicht ... Ich kann es selbst nicht recht wissen ...«

»Nun, ich will dir etwas sagen: reise du oder reise nicht nach Hause – ich will dir nur sagen, dass du bald deine Wünsche erfüllt finden wirst – indessen nehme hier zweitausend Gulden für die Lebensrettung der Frau Fürstin!«

Bartel stand wie eine Bildsäule da, den Mund halb offen vor Erstaunen, die Augen groß und starr auf des Fürsten Miene heftend; der Hut entfiel ihm.

»Nimm nur, nimm«, fuhr der Fürst von dem Anblicke des Burschen erschüttert fort: »Von heute an gehörst du wieder unter die Lebendigen, und du wirst das Geld recht gut vonnöten haben. Sei nur immer so brav, und du wirst noch mehr erwerben.«

Auch die Fürstin sprach jetzt liebevolle Worte zu dem Burschen, der noch immer von Überraschung wie versteinert dastand und in der Hand ein so erschrecklich großes Kapital hielt.

Mit einem Male aber schoss die Freude mit solcher Sturmgewalt aus seiner Seele hervor, dass Fürst und Fürstin und der Arzt sich vor solcher Leidenschaft beinahe entsetzten.

Bartel warf nämlich plötzlich beide Arme gegen Himmel, stand eine Weile da, ohne einen Laut aus seiner zugeschnürten Kehle zu bringen, machte dann einen Sprung von halber Klafterhöhe, sodass er zurückfallend das ganze Haus zu rütteln schien; dann – nachdem er wieder eine Weile wie leblos dagestanden – schrie er:

»Mein, mein!« das die Wände zitterten – kehrte um und wollte fort – davon – aus diesen engen Räumen hinaus – er wusste selbst nicht wohin, um aufschreien zu können, wie ihm um das Herz war

Er sprang auf die erste Türe zu, die er sah; – kaum dass ihn der Kammerdiener noch glücklich abhielt, in einen großen Spiegel zu stürzen, der ihn eine Türe zeigte.

»Daher«, sagte der Kammerdiener und lenkte ihn nach einer andern Seite; Bartel riss sich wieder los und wollte durch die Flügel eines Kastens, aber seinen Irrtum selbst erkennend; lenkte er wie der Blitz um und fand die rechte Türe – und nun geradeaus und rechts davon, durch die Vorhalle weiter, über die Marmortreppe hinunter, unten hutlos am Portier vorüber – und hinaus zum Tore, ärger als eines von den Pferden, die er gestern selbst bemeistert hatte – und geradeaus die Gasse weiter durch das Kärntnertor davon, um in die Leopoldstadt zu gelangen.

Erst an den ersten Häusern der Wieden erkannte er den Irrtum seines Weges; er machte linksum, eilte der Leopoldstadt entgegen – der Taborstraße zu ...

Der fürstliche Diener, welcher ihm seinen Hut nachtragen wollte, hatte ihn gleich in der ersten Gasse aus den Augen verloren, er musste sich bequemen, den Hut beim Schwarzen Adler abzugeben.

Elftes Kapitel.
Jetzt oder nie.

Röschen und Frau Deuxelding hatten indessen alle Hände voll zu tun gehabt, um die Tafel vollständig zu machen, mit welcher sie den Landsmann Bartel bewirten wollten.

Nun stand schon eine Weile alles in schöner Ordnung da; Röschen saß links, Frau Deuxelding rechts an dem kleinen Wandtischchen, das Gastmahl konnte jeden Augenblick seinen Anfang nehmen; aber Bartel erschien noch immer nicht.

Frau Deuxelding sagte:

»Schatzerl, die Würstel müssen wir nicht so in der Mitten vom Tisch da stehen lassen, wir stellen lieber die Weinflaschen mitten her, dann steht alles da: die Flasche ist wie ein Kirchturm und das andere herum wie Ziegeldächer von den Häusern.«

»Nein, nein, liebe Frau von Deuxelding«, widersprach Röschen lebhaft, »um die Weinflasche muss jedes jeden Augenblick hineinfangen, wenn nun jedes jeden Augenblick um die Weinflasche über die Ziegeldächer hineinfangt, wie leicht kann der Turm was verrucken, verstellen, verschieben, zerschlagen? Mit einem Turm ist nicht zu spaßen. Ich meine, wir bauen die Weinflasch' da auf diese Seit' gerade unter den Spiegel an die Wand, ein Kirchenturm kann auch außerhalb der Ortschaft draußen hingebaut werden – so; jetzt kann ein jedes jeden Augenblick den Kirchturm haben oder das andere, wie er's nach seinem Sinn justament verlangt.«

Auf ein Geräusch blickte Röschen um und rief:

»Jesus, Gott! Da steht er schon gewiss eine gute Weil' zwischen der Tür und hört unser dummes Geschwader an – Frau von Deuxelding, das ist unser Gast, mein Landsmann!«

Frau Deuxelding stand auf und machte einen Knix.

»Grüß' Ihnen Gott, Herr Landsmann«, sagte sie, »das Röserl hat mir schon so viel Rechtschaffenes von Ihnen erzählt, von gestern im Prater und von zu Haus – o Jess' Jess' – na, ich werde viel zu schaffen kriegen, bis ich alles wieder vergessen kann!«

Röschen ging einige Schritte gegen die Türe und sagte lächelnd und verlegen zu Boden blickend:

»Lieber Bartel, du hast mir gestern im Prater so viel Gutes angetan und hättest mir nur an den Augen abmerken dürfen, was ich möchte, ich hätte noch viel mehr erhalten können. Du wirst mir nicht übel aufnehmen und etwa glauben, ich will dir vergüten, was du mir Gutes angetan hast, wie könnt' ich auch das? Du sollst nur so gut sein, lieber Bartel, und da ein wenig etwas verkosten; ich habe ein wenig Essen und Trinken für dich herrichten lassen, du sollst auch wissen, dass ich an dich denke und nicht so leicht eine Wohltat vergesse« –

Frau Deuxelding machte wieder einen Knix und sagte:

»Ist's gefällig hereinzuspazieren? Was wir halt in aller Geschwindigkeit haben zusammfangen können: ein bissel ein' Wein, ein bissel ein' Käs, ein bissel ein' G'selcht's, ein bissel ein Brot, ein Träubl Würstel« –

Bartel blieb unbeweglich zwischen der Türe stehen, den Kopf ohne Hut, auf der Stirne große Tropfen Schweiß, in den großen, starren Augen ein solches düster-frohes Feuer, dass sie fast wie zwei glühende Sterne in das dunkle Stübchen herein leuchteten; das Halstuch hing ihm offen an der Brust herunter, und die schönen, weißen Strümpfe hatten sich von seinen Kniebändern losgerüttelt und drohten über die Waden hinabzusinken: so stand er vor Röschen zwischen der Türe, als sie jetzt ihr Auge wieder schüchtern zu ihm erhob.

Sie erschrak.

»Mein Gott«, sagte sie, »was ist dir denn? Was hast du denn?«

Ohne sich zu regen, sagte Bartel:

»Du hast morgen heimreisen wollen ... Hast du dich anders besonnen?«

»Ja,ja, lieber Bartel«, sagte Röschen, »ich habe Glück gehabt, ich habe einen Ring gefunden, der Ring ist mir um sieben Zwanziger abgekauft worden, ich habe jetzt noch einige Tage zu leben, wer weiß, was sich derweilen schickt, ich will noch einige Tage abwarten. Meinst du nicht, dass es doch besser sein wird?«

»Wenn ich dir gut für einen Rat bin«, sagte Bartel noch immer, ohne sich zu regen, so res' du heut noch ab.«

»O Jesu, Gott!« meinte Röschen lebhaft und fast erschrocken, da ihr Bartels Mienen nur zu ernsthaft vorkamen – »Jesu, du mein Gott, das wär' doch gar zu wunderlich; heute noch! Und ich habe nichts bei der Hand, und ich habe nichts eingepackt und Mittag ist vor der Tür.«

»Wenn ich dir gut für einen Rat bin, so reis' ab«, wiederholte Bartel wie zuvor.

Noch ängstlicher und fast bittend fiel ihm Röschen in das Wort:

»Jetzt hör' auf, hör' auf, du bist so gut und kannst einen doch so gewaltig erschrecken; du kannst das nicht so ernsthaft meinen, als du es sagst. Der Himmel hat mir den Ring fallen lassen, wer weiß, wie ich meinem Glück jetzt aus dem Weg' geh', wenn ich von Wien fortwollte.«

»Ist gewiss von deinen Bekannten wer ankommen, dass du so wie mit Ketten an dem schönen Wien hängst. Wer ist ankommen?« sagte Bartel plötzlich düsterer als zuvor.

»Ankommen? Niemand ist ankommen! Wer könnt denn ankommen sein von meinen Bekannten als niemand, niemand!« sagte Röschen noch schneller und befangener.

»So, was zwängt und vermauert dich denn noch auf so lange Zeit innerhalb das ängstigst, heiße, sausende Wien, wo man dir nicht einmal einen Dienst gibt, wenn man dir ihn schon versprochen hat?«

»Ich hab' dir ja schon gesagt, der Ring, der Ring hält mich zurück, es ist mir möglich jetzt, dass ich mich noch ein paar Tag gedulden kann!«

»Der Ring ... zeig' mir den Ring, den ... zeig' her!«

»Ich hab' ihn ja verkauft, ich hab' dir's ja schon gesagt – und von dem Geld kann ich mir mein Schlafgeld zahlen und hab' dir da ein wenig Essen und Trinken eingekauft, o komm doch herein, lieber Bartel, setz' dich her, viel Platz ist freilich nicht, aber doch genug für uns drei – und das kannst glauben, vergönnt ist's dir und gesehen bist du auch gern.«

»Ja, Herr Landsmann«, stimmte Frau Deuxelding dazu, »eine schöne Zeit warten und freuen wir uns schon – und jetzt, wo Sie da sind, wollen Sie noch Geschichten und Exzesse machen, tun Sie nicht gespreizt, wir sind zu haben, und das Essen ist bereit.«

»Ich geh' bis zur Linie hinaus mit dir«, fuhr Bartel wie oben fort, »ich trag' dir deinen Pack, das Packen wird dich nicht lang verhalten, du reisest jetzt gleich ab.«

»Jetzt gleich? O, mein gütiger Gott, o heilige Maria, was gibt es denn so eilig?«

»Es ist kein Bleiben, sag' ich, mach!«

» ... Wenn du meinst«, sagte Röschen sehr schwankend und kleinmütig, »wenn es dir gar so unnütz vorkommt, dass ich noch länger dableiben will ... du bist schon so lang in Wien und kennst fast alle Menschen da, ich habe schon gesehen, dass du auch mit Herrschaftshäusern musst zu schaffen haben, du kennst dich aus ... wenn du also meinst, lieber Bartel, gegen das Unglück kann kein Mensch etwas ... so was will ich am End' auch anders tun? Du meinst noch heut', auf der Stelle soll ich anders? So muss ich mir's freilich gefallen lassen…«

»Nein, nein«, rief Frau Deuxelding, »da sieht man doch, was ein Landsmann ist, da seh' ich mein Himmelblaues Wunder; so willst du wirklich einpacken, Röserl, und wie im Windsbrausen fort? Spektakel über Spektakel!«

»Was soll ich tun? Es ist doch auch wahr, wenn ich noch ein paar Tage bleib', ich verzehr' am End' mein letztes Geld umsonst, und mir bleibt doch nichts als das Heimgeh'n; lieber was einmal sein muss, gleich; so weiß ich doch auf einmal, was ich zu gewarten hab'. Aber Bartel«, fuhr sie mit Entschiedenheit und Nachdruck fort, »weil ich dir nicht länger in deinem Verlangen widersteh', so tu jetzt auch mir, was ich verlange. Komm herein und setz' dich, iss und trink'; jaja, das darfst du mir nicht abschlagen, für dich ist hergerichtet worden, jetzt komm und kost' auch was davon.

Bartl zog heftig einen Strom Luft durch die Zähne, als wolle er die gewaltige Hitze seines Innern kühlen, dann seufzte er tief vor Ungeduld und sagte:

»O, ich bitte dich, red' nicht mehr, nimm deine Sachen, mach', es ist ein halbes Leben, dass ich hier steh' und warte, red' nicht mehr und komm!«

Schmerzlich verletzt, dass ihr Anerbieten so kurz abwehrend übergangen wurde und ihr Aufwand von Gastfreundschaft gar so unbeachtet blieb, sah Röschen einen Augenblick wie vernichtet zu Boden, es regte sich etwas wie beleidigter Stolz in ihrem Herzen, ja sie schien eine Sekunde Bartels wunderliches Recht zu prüfen, mit welchem er so gegen sie zu verfahren sich erlauben dürfe; aber das stärker nachdringende Gefühl der Unsicherheit und Verlassenheit in der Fremde entwaffnete sogleich jede andere Empfindung; Bartel schien ihr als der einzige Beschützer, ich durfte sie durch keinen Widerstand verletzen – und wer weiß auch, dachte sie, warum er gar so ist, ich bin vielleicht in einer großen Gefahr, und das seh' ich selber ein, fort muss ich einmal aus dem teuern Wien, mir hat es halt nicht glücken wollen.«

Tränen in den Augen ging sie zu dem großen Wandschrank, dem einzigen in dem Stübchen, hab ihr kleines Hab und Gut heraus, das noch bis auf Weniges in einem Päckchen beisammen war, öffnete diese, und nachdem sie das Fehlende noch beigeschlossen hatte, knüpfte sie es wieder zusammen, nahm es unter den linken Arm, sagte: »Behüt' Euch Gott, ich dank' Euch für alles Gute« – und folgte gramerfüllt dem Bartel, der in düsterer Bewegung ihr sogleich voranschritt.

Noch ganz in Erstaunen stand Frau Deuxelding eine Weile in der Stube da, als beide bereits verschwunden waren.

»Sind die zwei wunderlichen Leute wirklich fort?« sagte sie dann, »und diese Tafel ist jetzt eigentlich für mich bestimmt?«

Sie streckte den verlängerten Hals zur Türe hinaus, um sich noch einmal zu vergewissern, dann schloss sie schnell die Türe, verriegelte sie, lachte, klatschte vergnügt in die Hände und rief:

»Mir ist's recht, wenn's der Frau Kammerjungfer recht ist!«

Ohne Umstände machte sie sich nun über Speise und Trank her und wusste sich auf eigene Faust mit allem aufs reinste abzufinden.

Indessen gingen Bartel und Röschen durch die Taborstraße der Linie zu, eine gute Weile schweigsam und jedes für sich in Gedanken.

Endlich sagte Röschen schmerzlich lächelnd vor sich hin:

»So muss ich so bald wieder heim und habe gemeint, wer weiß wie lang ich in der Fremde bleiben würde. So vielen glückt's in Wien, mir hat's nicht glücken wollen ...«

Düster lächelnd fing Bartel diese Worte auf und sagte:

»Einig Menschen gibt's, die gehen auf ihr Glück gerade drauf zu, andere Menschen gibt's und denen muss das Glück durch allerlei Botschaft erst nachgetragen werden ... eine solche Botschaft hätt' ich auch für dich.«

»Sei so gut und sag' etwa, dass mit das Glück auf dem Heimweg nachkommen werde; hätt' ich eines finden sollen, ich hätt' es längst gefunden, gesucht hab' ich genug.«

»Suchen und finden ist auch nicht immer wie Bruder und Schwester beisammen; man muss doch schon auf die Nähe hin wissen, was man sucht, wenn man etwas finden will; du freilich, du hast die Augen immer drüber hinweg gehabt ...«

»O, sag' doch, sag', lieber Bartel, was du hast, ich kann dich sonst um Christi willen nicht verstehen.«

»Ich will dir's auch gleich sagen«, fuhr Bartel fort, »was wär' auch mit dem längeren Dahinschleppen ausgerichtet? ... Es ist jemand in Wien da und hat mir aufgetragen, wenn ich dich ausforschen könnte, wie dein Herz ist, ich tät' ihm einen christlichen Gefallen, er tät' mir's sein Leben lang verdanken, wenn ich ihm hinterbringen könnte, dass du ihm nicht feindselig gesinnt bist. Seinen Namen darf ich noch nicht nennen, aber er ist ein Mensch, der über heut und morgen sein Häuschen und seine paar Felder kaufen kann, er ist kein Wildfang, das darf ich ihm schon zu Liebe nachsagen – und verstoß'st du ihn nicht, ich versprech' es dir, er wird dich auf den Händen tragen.«

»Mein Gott, mein Gott!« sagte Röschen, »was soll ich da für eine Antwort geben? Kenn' ich ihn, kenn' ich ihn nicht? Lieber Bartel, weil er dir so eine Botschaft vertraut hat, glaub' ich schon, dass er kein schlechter Mensch sein kann, und dir zulieb möcht' ich auch gern eine Antwort geben. Aber das sag' ich dir voraus, ich werde schwerlich eine gute Antwort haben.«

»Das befürchtet er auch, es will ihm eine Geschichte nicht aus dem Kopf mit dir und einem andern, die Geschichte hat ihn von Haus vertrieben und nach Wien verführt.«

»Was für eine Geschichte?«

»Er ist dir lange schon gut gewesen, er hätte dir lange schon von seiner Treue gesagt, aber da hat er bald vermerkt, dass du gar vertraulich mit einem andern bist, den hat er auf allen Kirchenwegen bei dir angetroffen, wenn er vor dein Schlaffenster hat steigen wollen, ist der vorerst oben gewesen, bei jeder Musik hat der mit dir getanzt, auf allen Jahrmärkten hat er dir alle Säck' und Tücher mit Sachen vollgestopft, das hat zuletzt meinen Bekannten vertrauert und abgeschreckt; der ewige Absatz an deinem Fuß, der Schächen-Peter, hat er gedacht, der ist nicht loszutrennen, und so hat er sein Hoffen aufgegeben. Weil er aber jetzt vernommen hat, dass du in Wien bist und deinen ewigen Absatz einmal daheim gelassen hast, so hat er wieder einmal Vertrauen gefasst und hat mir aufgetragen, ich möchte dich Beicht hören und dein wahrhaftiges Herz erkennen lernen.«

»Lieber Bartel«, sagte Röschen nach einer Weile ernsthaft, »mir schein, du hast den Auftrag von deinem Bekannten gestern schon gehabt, und du glaubst selber Wunder was es ist mit der Geschichte von dem Schächen-Peter und mir. Wenn ich das gewusst hätt', das du selber daran glaubst, dir hätt' ich schonlange die Auskunft gern geben, so aber hab' ich gemeint, keine Fliege summt der wunderlichen Sach' nach und hab' es verfliegen und verstauben lassen wollen. Es wär' mir freilich lieber gewesen, ich hätt' die ganze Dummheit hinter die Bank werfen können, es brauchen nicht andere Menschen von andern Menschen alles zu wissen, aber weil gerade dir daran liegt, lieber Bartel, so will ich nicht länger damit hinter der Tür' halten.«

Bartel wechselte rasch hinter einander die Farbe, ein schreckhaftes Lächeln zuckt um seinen Mund, er zog in Gedanken an seinem Seitenmesser und drückte das halb entblößte wieder in die Scheide zurück.

»Was ist dir?« fragt Röschen, dies bemerkend.

»Nichts, nichts!« erwiderte Bartel, »verzähl' nur weiter, verzähl' nur aus.«

So fuhr denn Röschen fort:

»Du wirst schon von dem reichen Bäcker in Seilern gehört haben, der schon drei Weiber überlebt hat, von dem allerlei anderes unter den Leuten ist, er soll schon ein gutes Dutzend arme Mädchen unglücklich gemacht haben, und das weiß ich recht gut, er spioniert noch immer fort, wo er eines fangen und elend machen könnte, und der Schächen-Peter ist sein guter Freund und Spion. Kein Mensch soll glauben, wes die miteinander für lose Vögel sind, kein ehrbares Mädchen wäre mehr in unserer Heimat, wenn es nach ihrem Wunsch erging! Aber davor sei Gott; mich hat ein guter Schutzengel auch behütet! Was ist dieser Schächen-Peter für eine böse Klammer, kaum loszubringen mit Gutem und Bösem, wenn er seinem reichen Spießgesellen was Rechtes schaffen will. Er hat wegen mir ein Staatsvermögen ausgegeben, er hätte mir Sammet und Seiden und was gut und teuer ist, zugetragen, wenn ich nur hätte ja sagen und zugreifen mögen; aber mein heiliger Schutzengel hat noch mehr Stärke aufgewendet als der Bäcker in Seilern und sein Geselle von Schächen. Ist dieser vor mein Fenster kommen, er hat gut stehen und reden können draußen, ich hab' meinen besten Schlaf nicht stören lassen; hat er ein seiden Tuch gebracht und gemeint, mit diesem fang' ich ihren harten Sinn, er hat schön sauber sein Geschenk ein Häuslein weiter tragen müssen, so was hat bei mir nicht angegriffen; hat er mich beim Tanz gefordert, getanzt hab' ich wohl mit ihm, aber aus und Amen ist's gewesen, wenn er seine alten Spuchten hat zum Vorschein bringen wollen. Hab' ich auf einem Jahrmarkt etwas angenommen, so sind es wahrhaftig nur Spielereine gewesen, lachender hab' ich sie angenommen, lachender hab' ich sie wieder unter andere verteilt. Gott weiß es, über meine Zunge ist kein Brösele jemalen kommen. Was mir auch der reiche Mann von Seilern hat anbieten lassen, dass ich, so wahr Gott lebt, sein liebes Weibchen werden könne, dass er mit alle Kisten Geld eröffnen würde und sagen: das ist dein, dass ich wie eine Stadtfrau gehen könnte, wenn ich ihm nur ein wenig besser trauen würde, das alles hat bei mir nicht angegriffen, ich habe nur gelacht dazu, oder wenn es mir zu viel geworden ist, bin ich mit Zorn und Schelten dreingefahren. So hab' ich endlich Ruh' bekommen, weil doch alles bei mir umsonst gewesen ist; und so ist die Zeit vor vierzehn Tagen kommen, wo ich auf und davon bin, nach Wien herunter und wo ich, das hätt' ich nimmermehr gedacht, die ganze Geschichte dir, lieber Bartel, jetzt verzählen musste.«

Bartel hatte in düsterem Verstummen diese Erzählung angehört, das Seitenmesser ging ihm aus der Scheide und mit einem finster-wütenden Stoße fuhr es in einen Alleebaum, dass die Krone in den Lüften zitterte.

»Mein Gott, was ist das?« fragte Röschen erschrocken und bekümmert: »Willst du dein Messer hier lassen und verlieren?«

Bartel lächelte erbleichend.

»Wenn ich zurückgeh', hoff' ich's wohl noch zu finden; ich fürcht', es möchte mir einer von den Hauptmalefizschurken da entgegen kommen, ich ständ' für keine Mordtat gut.«

»O, mein Gott, mein Gott!« rief Röschen, »nimm die Sach' jetzt nicht mehr so hoch, du siehst, ich habe mich mehr geschätzt als Geld und gute Worte. Die Geschichte hast du willen wollen, sag' sie deinem Bekannten; sag' ihm aber auch, mein Herz ist jetzt ganz verwildert, und ich werde es zu keinem Jawort bringen können ...«

»Warum nicht?« fragte Bartel erschüttert und mit Hast. »Mein Freund hat wegen dir ausgestanden, dass es nicht zu sagen ist; sein Herz ist Tag und Nacht nur eine Messerscheide gewesen, zweischneidig ist das Messer hineingefahren, herausziehen hat es deine barmherzige Hand nicht wollen. Mach' dem Jammer ein Ende, du kannst dich zu einem Jawort bringen, ein grausames Spreizen ist's, wenn du meinst, ein Jawort sei unmöglich. Und wärst du auch tausend Mal lieber und schöner und noch tausend Mal mehr wert, er hat dich verdient, er muss dich haben, oder es nimmt kein gutes Ende; mach's kurz, besinn' dich nicht länger als man dreißig zählt; du kannst ihn nehmen, du willst ihn nehmen, du wirst ihn nehmen.« –

»Du heilige Maria und alle Engel!« rief Röschen in höchster Bedrängnis jmmernd – »Mein Gott, mein Gott, weißt du denn, was du verlangst, weiß ich denn, von wem du redest? Ich kenn ihn ja nicht, den du meinst, ich weiß ja niemand, von wem du redest – Bartel, Bartel, zu was willst du mich überreden?«

»Du kennst ihn nicht, meinen Freund, mit dem ich ein Herz und eine Seele bin, du kennst ihn nicht? Der mit mir ausgestanden hat eines und dasselbe, der mit mir fort ist von Haus' wie ein Wild voll Wunden und Hiebe, ihn kennst du nicht?«

»So muss ich dir schwören, dass ich ihn nicht kenne!«

»Schwör' nicht, schwör' nicht, du schwörst falsch; du kennst mich, du kennst ihn, du kennst uns alle beide. Wer ist voriges Jahr mit dir zugleich beim Stedtiner in Dienst gestanden – hat nicht gerade bestens mit die gelebt – hat sich bald wie verwildert, bald verzagt wie ein Kind aufgeführt?«

»Ach Gott – was sagst du da? Was kannst du meinen? Das bist ja du und sonst keiner mehr und nur du allein!«

»Und wer ist dann auf einmal fort und hat bei Nacht und Nebel seinen Dienst verlassen – dich verlassen?« –

»Ihr Engel und Schutzengel schützt uns, dass wir bei Sinnen bleiben – Das bist du gewesen, Bartel, du, nur du und niemand sonst!«

»Ja – und ist auf und davon wie gejagt und gehetzt und gesteinigt und verdammt – und du halt ihn gestern erst wieder im Prater in Wien gesehen und hast ihn recht gut erkannt und bist heute früh mit ihm zusammen gewesen und hast ihn jetzt vor deinen leibhaftigen Augen – und den willst du nicht kennen und für den willst du keine Antwort haben?«

»Hör' auf, hör' auf!« schrie Röschen laut weinend, »du zerbrichst mir das Herz – was soll sich sagen, was soll ich gleich für eine Antwort geben? Was willst du für eine Antwort haben? Ich bin arm und elend und verlassen in der Fremde – und du bist mein Freund, mein Beschützer, mein Erretter; – hab' ich denn ein Herz und einen Willen als den du nur verlangen kannst? O Gott, o Jesu Christ und Maria – Bartel, wen es einen Menschen gibt, dem ich treu wär' und von Herzen dankbar bis in den Tod, o Bartel, du allein wärst es, ich hab' dich kennen lernen in der Not und in der Freude!« ...

In diesem Augenblicke fühlte sie den Bodenunter ihren Füßen weichen und wie zu seliger Himmelfahrt ihren Körper in den Lüften schwanken; Scham, Verwirrung, Seligkeit, Erschütterung durchströmten ihr Herz in gewaltigem Drange, als sie sich so plötzlich auf Bartels Armen sah und wie vom Sturmwinde dahin getragen fühlte – zurück nach Wien, der volkreichen Taborstraße entgegen, mitten durch staunende, rufende, nachdringende Zuschauermenge; – bitterlich weinend ließ Röschen nach vergeblichem Sträuben und Bitten ihre Wange endlich ohne Widerstand auf Bartels Scheitel niedersinken und umschlang mit beiden Armen seinen Hals.

Durch die Taborstraße und von hier durch die Nebengasse hatte Bartel seine süße Last mit rasender Eile und lautlos vor innerer Bewegung dahin getragen, jetzt machte er vor einer Stubentür halt, aus der sie kurz zuvor gekommen waren.

Auf wiederholtes wütendes Klopfen wurde die versperrte Türe endlich aufgetan, und Bartel stürmte hinein und setzte seine Beute nieder und rief:

»Da sind wir wieder!«

Dann mit gewaltigem Nachdruck einen harten Taler auf den von leeren Schüsseln klirrenden Tisch niederschlagend, fuhr er fort wie bei einem Grafen Exzellenz, jetzt ist die Zeit dazu, und an Mitteln kein Mangel!«

Frau Deuxelding hatte noch die Reste der geerbten Tafel zwischen den Backen uns stand da, vor Verlegenheit so weißgelb wie der Käse, den sie bis auf die Rinde aufgezehrt hatte; erst der Taler und Bartels Befehle gaben ihr einigermaßen ihre Fassung wieder.

Aber weder Bartel noch Röschen hatten Zeit, noch Stimmung, auf sie acht zu geben.

»Gott, Got!« rief Röschen, als sie wieder fest und sicher auf einem Stuhle saß. »Wie ist mir? Bin ich denn wirklich wieder da? Ist denn das alles nicht ein Traum, ein schöner Traum gewesen?«

»Nein, Röschen, nein«, rief Bartel, »glaub' es nur frischweg, wie es ist; der wäre mir nicht des Lebens sicher, der mir das alles nur als Traum auslegen wollte.«

Er umfasste sie mit solchem Liebesfeuer und küsste sie, dass sie meinte, erstickt und erdrückt zu werden; dann sagte er:

»Jetzt muss ich fort in den Schwarzen Adler, ich sag# meinen Dienst auf, und wir reisen mitsammen heim, das andere sollst du alles noch erfahren ...«

Im Schwarzen Adler hatte man ihn längst mit großer Spannung erwartet, es war inzwischen ein fürstlicher Diener mit Bartels Hut hier gewesen und hatte Andeutungen von einer großen Belohnung fallen lassen. Nur sehr flüchtig und zusammenhanglos erzählte Bartelseine Audienz und sein Glück, kündigte seinem Herrn in einem Atem zugleich den Dienst auf und wollte einen Stellvertreter setzen, damit er gleich morgen nach Hause reisen könnte; der Wirt aber ließ in seiner guten Laune das Letztere nicht zu und sagte:

»Reis' du in Gottes Namen heim und sooft du wiederkommen willst, bist du gerne aufgenommen.«

Nach diesem Bescheide war der glückselige Bartel für diesmal nicht länger zurückzuhalten, er eilt wieder in das Quartier, wo er sein Röschen gelassen hatte.

Hier fand er beide Weibchen in eifriger Beratung über die Bereitung einer neuen und viel reicheren Mahlzeit.

»Frau Deuxelding«, sagte Bartel herintretend, »lasst jetzt mein Röschen mit solchen Sachenin Ruh', macht das allein. Ihr seid alt und gescheit genug dazu.«

Frau Deuxelding hatte wider den besten Humor gefunden und sagte, ein Tuch umwerfend:

»Ja, Herr Landsmann, Ihr habt recht, so Gott will, besorg' ich alles auch allein und so gut als recht ist!«

Sie sprang davon.

Das hatte Bartel eigentlich gewünscht, damit er mit Röschen einen Augenblick allein sein konnte. Jetzt setzte er sich ihr am Tischchen gegenüber und sagte:

»Röschen, du musst doch auch erfahren, was du neben mir noch sonst in den Kauf bekommst – o Röschen, ich hab' heute schon ein Glück gehabt, nicht zu sagen! Schau her, in diesem Papier da sind zweitausend Gulden Banknoten, zweitausend Gulden Konventionsgeld; – die sind unser!«

Röschen schlug die Hände zusammen und ward blass vor Schreck und Freude.

»Jesus, du mein Gott!« rief sie, »wie bist du zu so einer Last von Geld gekommen, so viel Geld ist nicht christenmöglich!«

Bartel legte die zwanzig Hunderter nebeneinander auf den Tisch, fuhr mit dem Gesichte knapp über den Banknoten hin und her; von einem zum andern, lachte vor Jubel, dass die Wände zitterten und sage dann:

»Ja, ja, wenn man halt Kurasch hat in der Welt – o Röschen, das Glück ist kagel-kegel-kigel-kogel-kugelrund!«

»Nein, lieber Bartel, sag' mir um Gotteswillen im Ernst, wie bist du zu so viel Geld kommen, ich habe schier Angst und Sorgen davor!«

»So willst du's wissen?« rief Bartel – aber in diesem Augenblicke räuspert Frau Deuxelding draußen, und beide hatten große Not, die Banknoten in das Papier zu sammeln, bevor sie hereintrat.

»Die braucht von unserm Glück nichts zu wissen«, setzte Bartel leise hinzu: »Röschen, ich habe gestern in der Taborstraßen einer Fürstin das Leben gerettet, es sind vier Pferde mit ihr und dem Wagen davon, sie wär' verloren gewesen, wenn ich nicht gerade recht dazu gekommen wär'. Heute hat mich der Jäger abgeholt, du hast ihn ja selber gesehen, ich bin bei dem Fürsten und der Fürstin gewesen – o Röschen, Röschen, das, wenn du mit mir hättest sehen können! – sieh, das habe ich die zweitausend Gulden bekommen, und ich werde jetzt auch im Taufbuch und Kanzleiregister stehen, ich bin vom Soldatendienst frei und kann jedes Zeugnis und meines Pass wie jeder andere Mensch haben…«

Frau Deuxelding trat herein; Röschen war stumm vor Freude ...

Endlich stand eine reiche Mahlzeit auf dem Tische, man wurde immer lebhafter und gesprächiger, die Seligkeit der Liebenden war nicht zu beschreiben.

Nach der Mahlzeit ging da leibende Pärchen spazieren; Abends schlief Röschen bei der Frau Deuxelding, Bertel noch einmal im Schwarzen Adler; in der Leopoldstadt hatten niemals zwei glücklichere Herzen geschlagen ...

Andern Tages fuhr ein Lastwagen zur Leopoldstädter Linie hinaus, der Fuhrmann ging neben den Pferden, oben aber über der Deichsel war ein kleines Leinwanddach über zwei Reisende gewölbt, die in sprachloser Freud nebeneinander saßen: es waren Bartel und Röschen. Sie waren auf dem Wege nach der Heimat, wo sie als Brautleute erscheinen, eine Wirtschaft kaufen und so bald als möglich ihre Hochzeit feiern wollten.

Anhang:.
O Mütterlein, ich gedenke dein!

Düster und schweigsam hing das herbstliche Firmament über der müden Erde; in tiefes Nachsinnen verloren schien die wehmütige Natur; sommerlicher Vogelsang war zu Ende und wie leises Zählen und Klopfen, dass jetzt und jetzt Menschenleben heimgehen und die Erde um Einlass rückbleibender Reste bitten, rauschte einsamer Blätterfall, als ein Vater sein Söhnlein zu sich rief und sagte:

»Da ist ein Brief vom Amt, ich soll ihn nach Küssüben an den Friedländer bestellen, du musst mir heute noch hinüberlaufen. Wird es dir zu spät zum Heimgehen, so besuch' den Vetter in Küssüben und bleib' über Nacht bei ihm. So, da ist der Brief, verlier' ihn nicht, du bist den Weg schon oft um diese Zeit gelaufen, durch das Wäldchen brauchst du dich nicht fürchten.«

Und mit einem ernsten, kurzen »Adjes« schon er den Knaben fort, dass er ohne Verweilen seine Wanderung beginne.

Die Mutter kam dazu und begleitete das Söhnlein bis zu einem Hügel, wo sie ihm noch eine Weile nachsehen konnte, und sagte dort voll sanften Ernstes:

»Nun, schütze dich Gott, mein Kind und eile nicht zu sehr; findest du einen Begleiter, so trachte heut' noch heim zur Mutter.«

Eine leise Wehmut schlick sich in des Knaben Brust; er ging ziemlich unhastig weiter auf dem Fußweg einer ausgedehnten Wiese, welche bis an den Saum eines Buchenwäldchens reicht; – wunderbar genug meinte er immer die sanfte Stimme seiner Mutter hinter sich zu hören, indem er vorwärts ging, und wenn er plötzlich umsah, glaubte er die Mutter noch immer auf dem Hügel stehen zu sehen, wo er sie verlassen hatte.

So erreichte er den Saum des Wäldchens; seine Schritte waren immer langsamer geworden, je wehmütiger es in seinem Herzen wurde.

Hier meinte er, er müsse notwendig umkehren und mit seiner Mutter reden, nur fand er nicht recht aus, was er ihr zu sagen habe.

Ein verwilderter Rasensitz unter einer weitästigen Buche diente ihm einige Augenblicke zur Rast, obwohl er nicht müde war; und indem er so nach dem Hause hinüberblickte, wo seine Eltern wohnten, und dessen neues Dach alle anderen Gebäude freundlich überragte, wurde ihm immer sonderbarer und schwermütiger zu Mute.

Plötzlich hörte er einen fürchterlichen, gellenden Schrei knapp an seinem Ohre:

»Wo ist deine Mutter?«

Im nämlichen Augenblicke trat ein großer, stämmiger Wanderer etwa hundert Schritte von ihm aus dem Waldesdunkel, den Hut in den Händen, und schien zu beten.

Er machte große Schritte und wurde, je länger ihm der Knabe nachsah, immer durchsichtiger, endlich wie ein Schatten.

Der Schrei: »Wo ist deine Mutter?« war gespensterhaft ohne Echo im Walde geblieben; ein rascherer Blätterfall von der Buche, unter welche der Knabe saß, war einen Augenblick die einzige Unruhe der Natur um ihn.

Umsont blickte er nach dem Menschen um, der ihm jenen gellen Schrei so konnte ins Ohr gerufen haben, doch außer jenem Wanderer war kein menschliches Wesen ringsum mehr sichtbar.

Des Knaben frühere Wehmut sprang schnell in Schrecken um, und ohne zu wissen, wohin er eigentlich lief, stürzte er in das Wäldchen hinein und langte in Schweiß und Tränen gebadet in Küssüben beim Friedländer an, wo er eben auch seinen Vetter traf.

Sein Aussehen erschreckte alle, welche ihn kommen sahen.

Man bestürmte ihn zu sagen, was ihm begegnet sei, aber es fehlte ihm eine gute Weile die Sprache, und als er diese fand, brachte er nur allerlei Verwirrtes vor, woraus kein Klarwerden möglich war.

Das Anerbieten des Vetters, über Nacht zu bleiben, schlug er rundweg ab, von dem Gedanken immer eingenommen, er sei zu Hause unentbehrlich, denn noch immer war es ihm, als höre er der Mutter sanfte Stimme sagen: Trachte heut' noch heim zur Mutter«, und hinter jeder Mahnung schien der gelle Schrei zu tönen. »Wo ist deine Mutter?«

Der Vetter beschloss daher, den Knaben heimzuführen.

Sie erreichten das Wäldchen wieder; des Knaben Blut hatte von der verwirrenden Aufregung viel verloren, und als hätte er mit der Nacht des Waldesschattens seine Schrecken wieder hinter sich, kehrte ihm, nur etwas düsterer, jene Wehmut wieder in das Herz, welche ihn befallen hatte, als er das Elternhaus verließ.

Von diesem Augenblicke an sprach der Knabe allerhand so Wunderbares zu seinem Begleiter, dass dieser von allen Scherzen, die er bisher zu des Knaben Erheiterung aufgeboten, ernsthaft abließ und mit einem Nachdenken horchte, wie das bei kindischem Geplauder wohl nie der Fall gewesen.

Es ist zweifelhaft, geschah es unwillkürlich oder in Folge innerer Erschütterung: der Vetter ging jetzt langsamer, sah gedankenvoll vor sich hin, überhörte das Abendläuten in seiner wunderlichen Stimmung und vergaß zu beten.

»Ja, bete, Kind!« sagte er, als er endlich den Knaben sein Gebet vollenden hörte, »bete, bete, man kann nicht wissen, was des Himmels Ratschluss ist ...«

Und er blieb dem ernsten Denken hingegeben.

Ein dumpfes Durcheinanderrufen und Laufen wurde immer auffallender, je näher sie dem Heimatorte kamen, und es zeigte sich, dass das wirre Lärmen von dem Hause ausging, wo des Knaben Eltern wohnten!

Unweit diesem begegnete ihnen der Vater, der weinte.

Dieser Anblick ergriff den Knaben unaussprechlich, und ohne den Grund der väterlichen Erschütterung zu wissen, fing er selbst an, laut zu weinen.

Der Vater, ganz seinem Schmerze hingegeben, bemerkte die beiden Ankömmlinge nicht sogleich; als aber der Vetter sich nicht länger halten konnte, bei seinem Anblicke zu rufen: »Gott, du gerechter, was ist geschehen?« da blickte er eine Weile sprachlos auf, winkte dann dem Vetter zur Seite und sagte ihm einige Worte mit der heftigsten Bewegung ins Ohr ...

Die Abendglocke läutete noch immer, eine so lange Dauer konnte dem Abendgebet nicht gelten.

Während die beiden Männer sehr erschüttert miteinander sprachen, hörte der Knabe, wie der Vetter einmal sagte:

»Um Christi Gottes Willen, was ist das für ein Schlag für dich! Aber deinem Knaben ist's im Geiste vorgegangen, dass sie sterben werde.«

Der Knabe hatte diese Worte kaum vernommen, als er schreiend dem Hause zustürzte und ohne Unterlass ausrief:

»O Mitter, Mutter, meine Mutter!«

Das Haus war von Menschen umdrängt. Bei des Knaben Schmerzensrufe traten die Leute fast unwillkürlich auseinander, um ihn durchzulassen.

Dumpfes, trauriges Durcheinanderreden in der Vorhalle, im anstoßenden Stübchen schluchzten und schrien die Geschwister.

Als der Knabe hineintrat, sah er seine Mutter auf einem Bette liegen, teil umschlungen von seinen weinenden Geschwistern, teils umkniet von denselben; ihr Gesicht schimmerte schneeweiß aus dem Schatten der Ecke hervor und schien bei des Knaben Eintritt sich zu regen und ihm unbeschreiblich sanft entgegen zu lächeln – da vergingen ihm die Sinne, und er fiel bewusstlos zu Boden.

Bei seinem Erwachen fand er sich im Bette, ohne aber ein Auge öffnen zu können, so bleiern lag es noch auf ihm.

Der Vater, der Verwandte und noch andere Leute waren um ihn.

Es hatte sich das Gerücht verbreitet, wie er durch eine überirdische Gnade gewürdigt worden sei, den Tod seiner Mutter vorauszusehen, und das zog nun Neugierige in Menge herzu.

Was der Knabe jetzt immer noch geschlossenen Auges reden hörte, das drehte sich meistens um die sonderbare plötzliche Todesart seiner Mutter und um sein Ahnen ihres Sterbens.

Die Mutter hatte nämlich den Hügel, von dem aus sie ihrem Knäblein eine Weile nachsehen konnte, bald wieder verlassen, um in das Haus zurückzukehren.

Eine Nachbarin, welche sich zu ihr gesellte, fand sie auf den ganzen Wege ungemein herzlich und heiter, bemerkte aber auch zugleich, dass sie einige Male tief aufatme, gleich darauf aber wieder scherze, und dass sie besonders viel wunderbares Behagen am Abendwerden, an der großen Herbstruhe umher und an der absonderlichen Wolkenbildung habe.

Bei solcher Stimmung fiel es der Nachbarin nicht auf, dass die Mutter bei einem Blick in die Lüfte einmal lächelnd sagte:

»Wer heute stirbt, der wird sich sanft und weich durch die Wolke drängen müssen; wir werden keine Sterne sehen heute Nacht.«

Endlich trennten sich die beiden Frauen.

Die Nachbarin wunderte sich, warum die Mutter eine Weile stehen blieb und ihr nachsah. Daher fragt sie aus einiger Entfernung zurück, ob sie ihr noch was zu sagen habe.

»Nein, liebe Nachbarin«, erwiderte die Mutter, »ich wunderer mich nur, wie Ihr einen Schatten werfen könnt, es ist die Sonne doch schon unten!«

Leute, welche in der Nähe des Hauses beschäftigt waren, sagten, die Mutter sei hierauf an ihnen hastiger vorüber als sie zu gehen pflegte, habe aber dabei ein jedes lebhaft und heiter bei Namen genannt und zu ruhen aufgemuntert, denn es sei der Tag zu Ende; dann habe sie die Kinder aus dem Garten zu sich gerufen, als wolle sie alle um sich haben.

Wie sie sich der Haustürschwelle näherte, trat der Vater eben heraus, das jüngste zweijährige Töchterlein an dem Händchen.

Dieses lächelte und rief der Mutter entgegen, die Mutter streckte die Arme aus und kam freudig bewegt näher und bückte sich, um das Kindlein aufzuheben – als sie einen leisen Seufzer ausstieß – und knapp an den Füßen des Vaters hinfiel, vom Schlage getroffen.

Entsetzt und um Hilfe rufend, hob der Vater den erstarrenden Körper der Mutter hastig auf und trug ihn auf das Bett in der Stube, noch immer der Hoffnung, dass es nur Ohnmacht sei und das Erwachen erfolgen müsse.

Inzwischen war Lärm und Zusammenlauf entstanden, alle Mittel des Erweckens wurden versucht, jedoch vergebens; die Mutter erwachte nicht wieder ...

Das ist das rührende Geschichtlein vom Barte, als er noch ein Knabe war – und von seiner Mutter, die so frühe sterben musste ...

Aber leise, leise, dass wir sein Angedenken nicht zu vorlaut stören!

Bartel ist seit zwei Tagen von Wien nach der Heimat auf der Reise; die Straße leitet eben durch eine wald- und auenreiche Landschaft, die von der Abenddämmerung düster überschattet wird; ein Abendglöcklein läutet zum Gebet.

Geräuschlos nur schwingt der Fuhrmann seine Geisel über den Pferden, neben denen er selbst andächtig schreitet; Röschen schläft sitzend unter der Leinwandwölbung an der Wagendeichsel, Bartel hält seinen rechten Arm um ihre Schulter geschlungen, mit der Linken hat er seinen Hut herabgenommen und betet stille seinen »englischen Gruß« und für die armen Seelen ein »Vaterunser«; als aber jetzt das Fuhrwerk sachten Schrittes an einem Friedhof vorüberfährt, das große Kreuz in der Mitte desselben fast in ganzer Höhe, die Kreuzlein und Monumente auf den Gräbern nur mit ihren Spitzen über die Friedhofsmauer blicken, da seufzet Bartel stille vor sich hin und sagt mit bitterer Wehmut:

»O, Mütterlein, ich denke dein; wärst du noch am Leben, ich wollte dir jetzt frohe Tage schaffen. O, Mütterlein, Mütterlein – wie bist du mir zu früh verstorben ...«


 << zurück weiter >>