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Einführung

Rankes Aufsatz »Die großen Mächte«, der zu den Kleinodien unsrer Nationalliteratur gehört, erschien im Jahre 1833 und eröffnete den zweiten Band der von ihm herausgegebenen »Historisch-politischen Zeitschrift«. Er trat mit dieser Zeitschrift aus der Stille der Forschung, in der er bisher gelebt hatte, auf den Kampfesboden der politischen Parteien in Preußen und Deutschland, nicht um sich einem der beiden miteinander ringenden Heerlager anzuschließen, sondern um beiden einen höhern Punkt zu zeigen, von dem aus die beanspruchte Allgemeingültigkeit und dogmatische Sicherheit der hüben und drüben aufgestellten Parteiideale verblassen mußten und viel größere und lebendigere Erscheinungen dem Blicke aufstiegen. Hie Autorität, hie Volkssouveränität, so war nach der Julirevolution der Gegensatz der Meinungen. Alles politische Leben sollte darin aufgehen, sei es den von Gott gewollten, sei es den vom Volke gewollten Staat zu verwirklichen. Im letzten Grunde kämpften dabei die alten und die neuen Schichten der Gesellschaft um die Macht im Staate. Aber sie führten diesen realen Kampf mit einer Ideologie, die das Wesen des Staates selbst gefährdete, schon weil sie den innersozialen Gegensätzen eine politische Schärfe und geistige Unduldsamkeit gaben, die ihr Zusammenwirken im Dienste des Ganzen unmöglich machten. »Die Extreme geben den Ton an« schrieb Ranke in dem Plane für die neue Zeitschrift, »das eine vielstimmiger als jemals: trotzig auf die Siege, die es erfochten hat, und auf den Beifall der großen Menge, das andre zwar in heftiger, aber unleugbar schwacher und nur immer aufreizender Opposition. Es sind zwei Schulen, die sich bekämpfen: weit und breit, in mancherlei Nuancen, haben sie den Boden eingenommen. Die Scholastik der mittlern Jahrhunderte beschäftigte sich, die intellektuelle Welt ihren Distinktionen zu unterwerfen: diese neue Scholastik ist bemüht, die reale Welt nach ihren Schulmeinungen einzurichten.« Ranke war nicht gemeint, den Wahrheitsgehalt, den die damalige liberale wie die damalige konservative Staatsansicht in sich hegen mochten, zu bestreiten, nur ihrem Anspruch auf Alleinherrschaft wollte er sich widersetzen. Er wollte ihnen zeigen, daß der Staat nicht nach Schulmeinungen, sondern durch reale Kräfte geschaffen wird, daß es deswegen keinen Normalstaat gibt, sondern daß jeder Staat eine lebendige, individuelle Wesenheit für sich ist, die sich nach eigenen Gesetzen und Bedürfnissen entwickelt. Dies Programm des modernen historischen Realismus wurde damals nur von wenigen verstanden. Aber es wurde von Bismarck in die Tat umgesetzt und ist durch Ranke zur Grundlage alles echten historischen, durch Bismarck zur Grundlage alles unbefangenen politischen Denkens geworden. Neue Schulmeinungen und Ideologien sind seitdem wohl wieder aufgestiegen und haben es zurückdrängen wollen. Die neueste Ideologie dieser Art ist uns im Weltkriege entgegengetreten, wo unsre Gegner aus dem Versuche der alten fundierten Weltmächte, die neue werdende Weltmacht zu unterdrücken, einen Kreuzzug der internationalen Demokratie gegen den rückständigen autoritären Militarismus machen möchten. Aber diese neuen Ideologien sind viel dünner und dürftiger gewebt als die alten, mit denen Ranke und Bismarck sich auseinanderzusetzen hatten. An der Wahrheit der Dinge zerreißen sie. Die damaligen Ideologien waren ganz ehrlich gemeint, an die heutigen können nur die beschränktesten unter unsern Gegnern ehrlich glauben. Die Melodie der Rankeschen »großen Mächte« und ihrer Kämpfe um Existenz, Individualität, Unabhängigkeit und Ausbreitung tönt so gewaltig wie noch nie aus diesem Weltkriege.

Die Rankeschen Lehren sind in Deutschland reicher aufgegangen als in andern Ländern. Man fühlt das dort wohl, aber man macht uns daraus den Vorwurf, daß wir uns einem naturalistischen Kultus der Macht ergeben und die frühere deutsche Geistigkeit eingebüßt hätten. Rankes Aufsatz beleuchtet das wahre Verhältnis der beiden großen, durch die Namen Goethe und Bismarck bezeichneten Epochen unsres modernen Nationallebens und ist ihr organisches Bindeglied. Er zeigt, daß im Völkerleben geistige Werte nicht ohne Machtwerte und dauerhafte Machtwerte nicht ohne geistige Werte erzeugt werden und, um mit ihm zu sprechen, beide »auf das genaueste zusammengehören«. Die Machtpolitik der einzelnen Staaten erscheint in dieser Skizze wie überglänzt von den geistigen Kräften der Nationen.

Ranke gibt in ihr wie überhaupt in seinen Darstellungen der auswärtigen Politik den breitesten Raum. Dabei kommen neben den politischen Momenten die literarischen stärker zum Ausdruck als die wirtschaftlichen und sozialen, die uns heute unentbehrlich scheinen zum vollen Verständnis der Staats- und Nationalentwicklungen. Aber Geschichtschreibung im höhern Sinne ist nun einmal individuelles Bedürfnis und individuelle Kunst. Ebensowenig wie es Normalstaaten gibt, gibt es eine normale Behandlung der Geschichte. Ebenso wie der wirkliche Staat, muß die Geschichtschreibung auf besondern, einheitlichen und fruchtbaren Prinzipien beruhen, muß aber auch dabei wie dieser die Gesamtheit aller Lebensgebiete vor Augen haben. Sie ist, wie der Staat, Individualität, die nach Totalität strebt, aber in den Schranken ihrer Individualität nicht anders kann, als die ihr als Dominanten des Geschehens erscheinenden Dinge herausgreifen und die übrigen Kräfte bald leiser, bald vernehmlicher mitschwingen lassen. Nur so kann die unübersehbare Fülle des Geschehens gemeistert und zu einem Kosmos geordnet werden. Und die Dominante der auswärtigen Politik, die Ranke – sehr schon gegen den Geschmack seiner auf Verfassungsideale erpichten Zeit – herausgriff, hat sich als fruchtbarer erwiesen als jede andre, um das Staatenleben im großen zu verstehen. Es war ein genialer Griff, auszugehen von den ersten und unabweisbarsten Bedürfnissen der Staaten, von ihren Kämpfen um Existenz und Lebensraum, denn ihre innere Struktur ist zum größern Teile Anpassung an diese Kämpfe. Die Machtbedürfnisse bestimmen wie nichts andres die besondern Verfassungsformen der Staaten.

Es ist hier nicht der Ort, die ideengeschichtliche Genesis der Rankeschen Lehren von der Individualität der Staatspersönlichkeiten und dem Primate der auswärtigen Politik zu zeigen. Man müßte dafür zurückgreifen auf die Romantik, auf Wilhelm von Humboldt und Herder. Unter den Romantikern kommt, wie ich an andrer Stelle gezeigt habe, namentlich Adam Müller als Vorläufer Rankes in Betracht. Insgesamt war diese Entwicklung und Vertiefung der Geschichtsauffassung von Herder zu Ranke hin eine der größten Leistungen des deutschen wissenschaftlichen Geistes. Sie war nicht denkbar ohne das Erwachen der Nationen, ohne die Idee der Nationalität und das neue Licht, das diese Idee auf alle individuellen Erscheinungen im geschichtlichen Leben warf. Tiefer und origineller als irgendwo ist in Deutschland die Nationalität als große Individualität begriffen worden. Auch die Bedeutung der Nation für den Staat hat Ranke, wie dieser Aufsatz zeigt, nicht im normalen und schematischen Sinne der Französischen Revolution, sondern ganz individuell und konkret erfaßt, ohne doch das Generelle an ihr dabei zu übersehen. Rankes Geschichts- und Staatsauffassung war aber, über das Zeitalter der Romantik und der Erhebung der Nationen hinüber, auch noch befruchtet durch die Eindrücke und Überlieferungen des Zeitalters vor 1789, der sogenannten Kabinetts-Politik. Die »Großen Mächte« erinnern selber an Friedrichs des Großen Jugendschrift Considérations sur l'état présent du corps politique de l'Europe von 1738 (nicht 1736, wie Ranke noch annahm), in der auch schon, freilich für rein praktische Zwecke, die Kunst geübt wurde, die individuellen Interessen und Tendenzen der einzelnen Großmächte zu charakterisieren und sie zugleich als Glieder einer einheitlichen Staatenfamilie zu behandeln. Es gab eine ganze Literatur dieser Art im 17. und 18. Jahrhundert, die mit kühler Klugheit und Klarheit die »Interessen der Fürsten« ihrer Zeit studierte und berechnete. Ranke lernte diese Kunst vor allem aus den Relationen der venezianischen Gesandten. An realistischer Menschen- und Weltkenntnis konnte er es bald mit ihnen aufnehmen. Er überflog sie weit, weil er den philosophischen Geist hinzutun konnte, den das Deutschland seiner Jugendzeit erzeugt hatte. Die erhabenen, geheimnisvoll-durchsichtigen Schlußworte des Aufsatzes hätte auch der feinste politische Kopf des ancien régime nicht schreiben und empfinden können.

Es steckt unglaublich viel in diesem Aufsatze. Ranke schrieb ihn auf der Jugendhöhe seiner Kraft, reich an schon gewonnener universalhistorischer Anschauung, reicher noch an Ahnungen und Entwürfen für künftige Studien. Alle seine spätern großen Werke, voran die preußische, französische und englische Geschichte, in gewissem Sinne auch die Weltgeschichte, sind schon, wie man mit Recht bemerkt hat, in dieser Skizze keimhaft enthalten. Man muß sie wieder und wieder lesen und erwägen und findet doch immer wieder verborgene Einsichten und Winke, die Ausgangspunkt für ganze Reihen von Studien und Auffassungen geworden sind oder noch werden können. Auch im heutigen Weltmomente, der die Nationen ganz auseinanderzureißen droht, kann uns sein großartiger Optimismus trösten, der das »System des Rechtes« in der europäischen Ordnung der Dinge immer wieder emportauchen, nach immer neuer Vollendung streben sah. Dieser Optimismus entsprang der tiefen Kenntnis der gewaltigen Quadern und Fundamente, die das europäische Gesamtleben trotz aller untereinander geführten Kämpfe um die Macht im Grunde tragen. Alle Kenntnis der Dinge aber steigert sich bei Ranke zu Anschauung und Mitgefühl, die das Besondre in seinen geheimsten Falten und das Allgemeine in seinen höchsten Beziehungen umfaßt. Weil beides bei ihm in jedem Augenblicke ineinanderlebt, ist auch das Besondre immer etwas von allgemeiner Bedeutung und das Allgemeine niemals eine bloße Abstraktion, sondern nur die höchste der verschiedenen ineinander verkapselten Individualitäten. Und über der höchsten Allgemeinheit der Geschichte, die sich schauen läßt, liegt immer noch ein geistiger Äther philosophisch-religiöser Ahnungen, der alles umhüllt. Keinem Historiker der Welt ist es je gelungen, zugleich so realistisch und so transzendent die Dinge zu behandeln. Man wird einwenden, daß sich die realistischen Bestandteile seiner Geschichtsauffassung als dauerhafter erweisen werden, wie die transzendent-spekulativen. Ohne Zweifel ist auch das geschichtsphilosophische Element in unserm heutigen historischen Denken schon etwas anders zusammengesetzt wie bei Ranke. Aber Rankes Geschichtsphilosophie hat nirgends seinen Realismus beeinträchtigt und war doch, so wie sie war, elastisch, behutsam und gläubig zugleich, notwendig, um einen Realismus von dieser Schärfe und Tiefe hervorzubringen.

Doch wir wollen hier nur erste Andeutungen zum Verständnis Rankes und seiner »Großen Mächte« geben. Im freundlichen Gewande der Inselbücherei, die schon so manche Perlen unsrer Literatur umschließt, werden die »Großen Mächte« hoffentlich Gemeingut aller derer werden, die es mit historisch-politischem Denken ernst nehmen und es nicht nur stofflich bereichern, sondern schulen und verfeinern wollen. Möchten sie auch den historisch-politischen Geschmack überhaupt heben, der heute bei uns nicht auf der Höhe der weltgeschichtlichen Entscheidungen unsrer Tage steht.

Einige Literaturangaben zur Kommentierung der »Großen Mächte« werden vielleicht erwünscht sein. Varrentrapp hat in der Historischen Zeitschrift Bd. 99 (1907) gelehrt und stoffreich über Rankes Historisch-politische Zeitschrift und ihr feudalkonservatives Gegenstück, das Berliner Politische Wochenblatt, gehandelt. Max Lenz ln seinem Büchlein »Die großen Mächte. Ein Rückblick auf unser Jahrhundert« (1900) geht von einer eingehenden Würdigung des Rankeschen Aufsatzes aus, um dann kühn und geistvoll den Versuch Rankes, europäische Geschichte aus der Vogelperspektive zu sehen, für das 19. Jahrhundert fortzusetzen. Die Bedeutung der »Großen Mächte« und der verwandten Aufsätze Rankes für die Geschichte des Nationalstaatsgedankens habe ich in meinem Buche »Weltbürgertum und Nationalstaat« (3. Aufl. 1915) zu zeigen versucht. Wer Rankes Persönlichkeit und geistige Entwicklung kennen lernen will, muß zuerst aus seinen Briefen und autobiographischen Aufzeichnungen schöpfen, die Alfred Dove in Band 53/54 der Werke Rankes herausgegeben hat. Doves eigene Aufsätze über Ranke in seinen »Ausgewählten Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts« (1898) sind wohl das Schönste, was über Ranke bisher gesagt worden ist.

Ein Wort von Novalis – auch einem der Denker, die der Rankeschen Geschichtsauffassung vorgearbeitet haben – mag diese Einführung beschließen: »Was bildet den Menschen, als seine Lebensgeschichte? Und so bildet den großartigen Menschen nichts, als die Weltgeschichte

Berlin, im August 1916.

Friedrich Meinecke


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