Wilhelm Raabe
Abu Telfan
Wilhelm Raabe

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»Was sagst du von den Verlorenen, die nicht zurückkehren können, Mädchen?« rief jetzt die Greisin mit erhobener Stimme. »Du hattest auch ein ander Wort auf der Zunge und hast es nur nicht ausgesprochen. Die Toten kommen nicht zurück, wolltest du sagen und erschrakest und wolltest mich nicht erschrecken. O mein armes Kind, sieh dich um, blicke dorthin; die Verlorenen können doch heimkehren, selbst wenn niemand mehr auf sie wartet. Du mußt freilich jetzt deinen eigenen Weg gehen; aber die Zeit meines Hoffens und Harrens ist noch nicht um; der Mutter darf keiner die Frist zum Warten auf ihr Kind nach Stunden, Tagen und Jahren zumessen. Sieh dorthin, Nikola, o ich fürchte mich nicht vor deinen dunkelsten und tiefsten Gedanken; – es ist mir lange ein Zeichen versprochen, und endlich ist jener in meine Tür getreten, und so wie er wird auch mein Sohn, mein Kind zu mir heimkommen. O Gott, er ist nicht tot, denn das wüßte ich, wie ich jetzt weiß, daß er lebt!«

Nikola von Einstein war der deutenden Hand der Frau Klaudine mit einem schnellen, tränen- und angstvollen Blicke gefolgt. Draußen an der Gartentür neben dem Prospero stand Leonhard Hagebucher, dem schönen Tiere den Hals streichelnd und die Mähne glättend. Er stand in tiefe Gedanken versunken; die Frauen hatten genügende Muße, ihn zu beobachten, und Nikola vorzüglich hatte volle Zeit, sich die Augen zu trocknen und die nötige Fassung wenigstens äußerlich wiederzuerlangen.

Diese letzten Sommertage waren, nicht ohne eine merkliche Veränderung hervorzubringen, an dem Afrikaner vorübergegangen. Die Klausur und die moralische und physische Diät, welche er unter dem Regime des Vetters Wassertreter einzuhalten hatte, schienen bis jetzt trefflich bei ihm anzuschlagen und von großem zivilisatorischem Einfluß auf ihn zu sein. Das Studium des Konversationslexikons tat ihm unbedingt gut; es war wieder ein europäisches Licht in seinen Augen, welches er nicht über das Mittelländische Meer zum Molo von Triest mitgebracht hatte; selbst in den Bewegungen der Hand, die dem Schimmel das Stirnhaar zurechtlegte, zeigten sich Bildung und Gesittung in unzweifelhafter Weise; kurz, das, was der Vetter Wassertreter den »Häutungsprozeß« nannte, nahm einen recht befriedigenden Fortgang, und die neue Epidermis guckte, einem zweiten Ausdruck des Wegebauinspektors zufolge, »recht delikat« hervor.

Jetzt, nach beendeter Unterhaltung mit dem Engländer, wand sich Leonhard Hagebucher vollends aus dem Gebüsch und grüßte die beiden Frauen am Fenster der Katzenmühle. Er kam schnellern Schrittes durch den Garten und verneigte sich aufs neue unter der Tür, indem er seinen arabischen Gruß sprach. Das Fräulein von Einstein neigte stumm das Haupt, die Madam Klaudine aber rief mit herzlichem Ausdruck:

»Willkommen, lieber Sohn! Sie kommen zur rechten Zeit für zwei gar betrübte und bedrängte Leute. Mein Kind hier nimmt soeben Abschied von ihrer alten Freundin, sie muß weggehen von hier, sie wird sich verheiraten, und sie weint aus vielen Gründen.«

»Jaja, es ist so, Mann der Wüste!« rief Nikola, aufgeregt und ungeduldig mit dem Fuße aufstampfend. »Was stehen Sie und starren Sie mich an? Haben Sie kein Wort der Beglückwünschung für mich, können Sie nicht das kleinste Kompliment vorbringen?«

»Nein!« sprach Leonhard mit einer Energie und einer Grobheit, die seinem Charakter alle Ehre machten. »Sie eine Braut, Fräulein von Einstein, Sie einem Manne verlobt? O das ist mir nicht lieb, das ist mir wahrhaftig nicht lieb! Scheitan falle mich an, wenn das nicht schlimmer ist als ein vergifteter Pfeil aus dem Gebüsch – – o Fräulein von Einstein!«

Dieser Ausbruch höchsten Verdrusses war so wahr, so drollig und kam so überraschend, daß beide Damen trotz aller Beklemmung und Betrübnis sich des Lächelns nicht erwehren konnten. Ja Nikola lachte sogar hellauf, sprang in die Höhe und rief, indem sie dem Afrikaner kräftig die Hand drückte:

»Liebster Freund, ich habe Sie doch verkannt und bitte herzlich um Verzeihung. Seien Sie nicht ungehalten; 's ist keine Geschichte von gestern, das Gespenst geht schon längere Zeit um, darf aber jetzt erst seine Ketten rasselnd der Welt zeigen. Dazu ist's nicht meine Schuld, Herr Hagebucher; ich bliebe freilich lieber in Bumsdorf und säße in der Katzenmühle. Scheitan und alle die übrigen Herrschaften aus Dschinnistan sollen auch über mich verfügen dürfen, wenn ich nicht die Wahrheit rede.«

Herr Leonhard Hagebucher saß auf dem nächsten Stuhle mit den Händen auf den Knien wie Ramses der Große vor seinem Palast zu Luksor und sah mit einer ebenso geistreichen und verständnisreichen Physiognomie auf die beiden Frauen wie jener Monarch auf die Trümmer seiner Residenzstadt Theben. Er erholte sich nur ganz allmählich von seiner Überraschung, und als er endlich seinen Gefühlen Worte zu geben vermochte, sagte er:

»Auch ich bitte um Verzeihung und habe mehr Grund dazu als das gnädige Fräulein. Wie kann man so dumm und frech sein?! Aber es war auch nicht ganz meine Schuld, Fräulein Nikola! Erinnern Sie sich noch jener Mondscheinnacht an der Hecke von Ihres Oheims Garten? Sie guckten über die Hecke und riefen mich an in meiner Verwirrung; was kann ich für den Zauber, der in jener Nacht war? In jener Nacht, um jene Stunde, in der ich dem Tollhause näher war als vielleicht irgendein anderer Mensch dazumal in Deutschland, bin ich durch Ihre Erscheinung auf der Lichtseite des Daseins festgehalten worden. Wer weiß, ob selbst der Vetter Wassertreter es heut noch für lohnend halten würde, mich in betreff der Zeitgeschichte aufs laufende zu bringen, wenn Sie damals nicht aus den grünen Büschen aufgetaucht wären. Ich hatte mir während meiner Gefangenschaft dahinten ein wundervolles Ideal von der Heimat zurechtgemacht, was daraus geworden ist, wird Ihnen nicht unbekannt sein –«

»Und um sich vor der Tante Schnödler zu retten, haben Sie sich an meinem Rocke gehalten!« rief Nikola. »Und weil ich mein eigen Elend wegzulachen suchte, nicht dumm und auch recht gut gewachsen bin und weil ich mich immer, wenigstens bis jetzt, als eine peeress in my own right gehalten habe, setzten Sie mich sozusagen an die Stelle jenes Ideals und beteten mich von ferne an wie den Deutschen Bund vom Tumurkielande aus! Ach, Leonhard, geben Sie mir nochmals Ihre Hand, wir wollen Freunde bleiben unser Leben lang; aber unsere Ideale wollen wir so tief als möglich begraben. Wir sind ein paar alte zerzauste Aventuriers und werden wohl beide in unserm Harnisch sterben.«

»Nikola, Nikola!« rief Frau Klaudine mit gefalteten zitternden Händen; das Hoffräulein beugte sich nieder zu ihr und küßte sie auf die Stirn:

»Es ist so, Mutter, und niemand kann es ändern. Was sollte wohl aus mir werden, wenn ich nicht mit gepanzertem Herzen von dir wegginge? Dich, meine Mutter, tragen und retten deine Geduld und Hoffnung und dein Einsiedlertum hier in der Wildnis; jener und ich haben andere Waffen nötig. Ich kenne die meinigen und werde sie gebrauchen, und der Herr Hagebucher wird gleichfalls die seinigen finden, sobald er begriffen hat, daß Childe Harold nichts weiter als ein Baedeker in Spenserstanzen ist.«

»Achten Sie jetzt nicht auf sie, Leonhard«, sagte Frau Klaudine wehmütig. »Sie ist krank; aber sie ist doch ein gutes Mädchen und klug und kennt die Wege, die zur Genesung führen. Sagen Sie uns jetzt ein wenig von Ihrem eigenen Leben und wie die Welt sich von dem Lehnstuhl des Vetters Wassertreter aus anschauen läßt. An welcher Stelle haben Sie ein Zeichen in das große europäische Bilderbuch gelegt?«

»Ja, reden wir von Ihnen, oder vielmehr sprechen Sie von sich allein«, rief auch Nikola, ihre Tränen trocknend. »Wir drei hier in der Mühle bilden doch ein merkwürdiges Kleeblatt und könnten hundert Jahre alt werden, ehe wir mit unsern Geständnissen und Herzensergießungen zu Ende wären. Gott schütze jedermann vor einem derartigen embarras de richesse. Was macht der Vetter Wassertreter und das europäische Abc-Buch, Herr Hagebucher?«

Leonhard erzählte nun ausführlich von seiner Hamsterexistenz und dem ersprießlichsten Kursus allermodernster Weltweisheit, den er augenblicklich gleichsam unter der Erde durchmache. Er berichtete, wie er krebsartig politische und literarische Zeitungen und Journale bis zum Jahr achtzehnhundertundfünfzig rückwärts durchwandele und unermeßlichen Nutzen davon habe. Dunkle, verworrene Sagen, wie zum Exempel die von jenem Feldzuge der Westeuropäer auf Tauris und der Belagerung der Stadt Sebastopol, löse er leicht mit allen Wurzeln aus der Tiefe und hebe sie klar hervor aus der Nacht der Zeiten, um mit Vergnügen und Behagen das Resultat seiner Forschung seinen übrigen Kollektaneen anzureihen. Es sei wunderbar, meinte er, was alles geschehen und von den Leuten vergessen werden könne, während einer abwesend sei am Mondgebirge; ungemein freue er sich vor allem auch auf die Meisterwerke der deutschen Literatur, welche er bis zum Jahre fünfzig zurück nachzulesen habe und welche er, dem Vetter Wassertreter, der sie schnöde verleugne, zum Trotz, in den kommenden Winternächten mit Begeisterung studieren werde. Der Vetter Wassertreter, meinte er, orakle und kommentiere aber oft gar nicht übel aus seinem dichten Tabaksgewölk hervor und so habe er – Leonhard Hagebucher – eins zum andern gelegt, sein Schulbubenfatum mit dem nötigen Schulbubenhumor auf sich genommen und sitze er ganz heiter nach. Von dem Vaterhause könne er natürlich das wenigste Gute berichten und wisse das Fräulein von Einstein durch die arme Schwester Lina sicherlich mehr von den Stimmungen und Vorgängen dort als er, der verlorene, ausgestoßene Sohn. Die Mutter tue ihm sehr leid und der alte verdrießliche Papa eigentlich nicht weniger; denn derselbe sei in jeder Beziehung in seinem Rechte und habe sowohl psychologisch wie moralisch höchst korrekt gehandelt. Im Goldenen Pfau aber sitze der Vetter Wassertreter als rächender Genius der Familie Hagebucher, zeige sich sämtlichen Honoratioren von Nippenburg mehr als doppelt gewachsen und hoffe nach Verlauf des Winters das einzige nicht leberkranke und nicht von Gallensteinen geplagte Mitglied der würdigen Gesellschaft zu sein.

Dieses und noch manches andere erzählte der Afrikaner, da man es von ihm verlangt hatte; aber er sprach doch traurigen Mutes, und die beiden Frauen konnten ihm auch nicht mit freier Seele zuhören. Es wurde wieder Abend; der Spitz kam ohne den Igel aus dem Walde heim; aber Christine brachte ihren Laib schwarzen Brodes mit.

»Gib mir noch davon, Mutter, dann will ich gehen«, sagte Nikola von Einstein.

Mit zitternder Hand schnitt die Greisin ein Stück ab und reichte es stumm der Braut des Herrn von Glimmern.

»Ich will es mit mir nehmen in mein neues Leben«, sprach Nikola weiter, »und ich will in der rechten Stunde immer davon essen – es soll mir guttun, so hart es auch werden mag. O Mutter, Mutter, du hast mir so viel gegeben aus deinem reichen, süßen Herzen; aber dies ist nun das letzte, was du mir geben kannst. Ein Stück schwarzen Brodes der armen Nikola auf den Weg, das ist das letzte Zeichen!«

Sie knüpfte das Brod in ihr Taschentuch und wendete sich gegen Leonhard:

»Nun gehen Sie vorauf, mein Freund; ich hole Sie doch ein auf dem Prospero, um Ihnen ein besonderes Lebewohl sagen zu können. Aber jetzt muß ich noch einen Augenblick allein sein mit meiner Mutter, um sie zum letztenmal zu küssen.«

Tief bewegt und wortlos trat Leonhard Hagebucher zurück und verließ die Mühle langsamen Schrittes und ohne sich umzusehen. Im Walde nistete sich die Dämmerung bereits ein, und auf der Fliegenhausener Landstraße trieb ein erstes kühleres Abendlüftchen Staubwirbel vor sich her. Er wartete vergeblich am Ausgang des Holzes auf die schöne Reiterin; er stand oft still und blickte auch im Wandern über die Schulter zurück; aber erst hinter dem Dorfe vernahm er den Hufschlag des Schimmels hinter sich, und dann ritt Nikola von Einstein noch eine ganze Weile stumm neben ihm her, und er wagte kaum, zu ihr aufzublicken.

Sie auch nahm die Unterhaltung auf, indem sie sagte:

»Es war doch ein schöner Sommer, Herr Hagebucher, und wenn wir einander wieder begegnen, so werden wir seine guten Gaben sicherlich richtiger zu schätzen wissen, als wir es in dieser dämmerigen Stunde vermögen. Wir werden jedenfalls wieder zusammentreffen, Kamerad; dann grüßen wir uns nach einer andern Welt Art und Sitte und haben wohl darauf zu achten, wie wir's treiben, daß das kluge Narrenvolk dort hinter den Bergen uns nicht unter die Füße bekommt. Wir besitzen aber beide das Bürgerrecht in einem Reiche, von welchem jenes Volk nichts weiß, und keine Macht soll uns es entreißen. Jetzt wollen wir uns die Hände drücken und kurz Abschied nehmen; mit Redensarten ist keinem von uns gedient. Wenn Sie Ihre Waffen geschmiedet haben, so lassen Sie dort in der Katzenmühle von der alten Frau den Segen darüber sprechen, und dann mögen Sie mir nachfolgen. Leben Sie wohl, Leonhard Hagebucher!«

»Leben Sie wohl, Fräulein von Einstein!« sagte der Mann vom Mondgebirge. Nikola ritt talab weiter auf der Landstraße, Leonhard aber folgte wieder jenem uns schon bekannten Feldwege, umschritt das Dorf Bumsdorf in einem Bogen und erreichte wie gewöhnlich in dunkler Nacht das Quartier des Vetters Wassertreter.


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