Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Neunzehntes Kapitel

Es ist jetzt mehr Sitte als Notwendigkeit (wie ältere Sachverständige schnöde behaupten) geworden, daß diejenigen jungen Leute, die sich dem Landbau widmen, wenn ihre Vermögensumstände oder ihre Hoffnungen es erlauben, ein Jahr oder ein halbes auf einer Universität zubringen, weniger der Wissenschaften und des Herrn von Liebig als des Gaudeamus igitur wegen, wie die oben angeführten Sachverständigen gleichfalls behaupten. Auch für den Junker von Lauen war dieser heißersehnte Zeitpunkt nunmehr herangekommen, das Halberstädter Gymnasium lag hinter ihm, und nach abgehaltenem Familienrat stand es fest, daß er im Oktober nach Berlin gehen werde. Man befand sich, nach der Juden Zeitrechnung, im sechsten Jahrtausend der Welterschaffung, und so war es in der Tat hohe Zeit, daß das, was Adam sehr verdrießlich und ganz als Autodidakt begonnen hatte, endlich in ein System gebracht werde.

»Es ist vor allem unsere Pflicht und Aufgabe, uns auf der Höhe der Situation zu erhalten«, meinte der Ritter von Glaubigern. »Der größere Grundbesitz hat auch hier dem kleineren mit einem guten Beispiel voranzugehen – weshalb sollten wir den jungen Menschen nicht nach der Hauptstadt senden? Er mag gehen und wird nachher sich der Verwaltung des alten Erbteils seiner Väter mit desto größerem Eifer widmen und den Römischen Kaiser in partibus, Joseph II., Maria Theresia regnante, das heißt unter der obersten Leitung seiner braven Frau Mutter, desto freudiger und nutzbringender agieren.«

»Ich sehe kaum einen Grund davon ein!« hatte Fräulein Adelaide gesagt; aber die gnädige Frau war natürlich wieder auf die Seite des Chevaliers getreten, und mit innerlichem Jauchzen hatte Hennig seinen Willen durchgesetzt, obgleich ihm die eigentliche Wissenschaft des Pflügens, Düngens, Säens und Erntens bereits wie im Spiel in die Hand gewachsen war, wie vordem allen seinen Ahnen, die nie eine Universität besuchten und doch den Lauenhof stets auf der Höhe ihrer Zeiten erhielten.

Doch wir befinden uns augenblicklich erst in der Weizenernte.

Der Pastorenfranz war zum erstenmal von Halle heimgekommen, wo er ein Stipendium und einen Freitisch genoß und seine kostbare Gesundheit durch allzu eifrige Hingabe an seine Studien in Gefahr setzte, wie seine Mama behauptete. Daß er studierte, daß er ohne alle Widersetzlichkeit Theologie studierte, war zu einer Tatsache geworden, und daß er sich von dem Freitisch und seinen Studien in Krodebeck mit aller Hingabe erholte, war gleichfalls eine Tatsache. Den Freitisch lästerte er ganz offen und ohne Zwang; über seine Studien dagegen sprach er sich natürlich nur ganz im Vertrauen gegen Hennig mit Verdruß und Verachtung aus. »Aber man frißt sich durch«, setzte er jedesmal hinzu; »Behaglichkeit ist die Hauptsache, die Gnade wird sich späterhin auch wohl einstellen, und Hennig, ich verlasse mich fest auf dich und rechne auf Krodebeck, wenn der Alte einmal – na, du verstehst mich!«

Der Junker verstand ihn freilich und ärgerte sich häufiger denn je an ihm; weniger über Insinuationen gleich der eben angeführten, die er im Grunde doch für ganz natürlich und wohlbegründet erachtete, sondern über die wirklich wunderbare Behaglichkeit, mit der ihn der junge Gottesgelehrte dann und wann auf die Felder hinausbegleitete und seiner harten Arbeit zusah.

Während Hennig im Schweiße seines Angesichts den Verwaltern und Knechten seiner Mutter half und hochrot vor Eifer riesige Garben der heißen Augustsonne entgegen auf die Wagen schwang, lag Franz gewöhnlich unter einem Busch lang ausgestreckt neben dem Viktualienkober und rief nur von Zeit zu Zeit kauend hinüber:

»Ich bewundere, aber ich begreife dich nicht, mein Sohn. Jetzt komm endlich her und erquicke dich; denn siehe, es stehet geschrieben: Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden!«

»Keine Zeit!... Nachher!« ächzte der Junker dann wohl grimmig durch die Zähne, und Franz Buschmann drehte sich faul auf die andere Seite, seufzte: »Des Menschen Wille ist selbst bei einer solchen Hitze sein Himmelreich!«, zog einen abgegriffenen Band der Abenteuer des Chevalier Faublas aus der Tasche und blickte aus der idyllischen Gegenwart wohlig über denselben hinweg in eine stille, friedliche, nahrhafte und gottselige Zukunft.

Auch Antonie begleitete im leichten Sommerkleid und gelben Strohhut die Ernteleute des Lauenhofes häufig auf die Felder hinaus; aber sie suchte sich nützlicher zu machen als der ekstatische Studiosus der Theologie, und sie gereichte jedenfalls den Knechten und Mägden sowie dem Junker zu größerem Trost und Vergnügen als der junge gefräßige Gottesgelehrte. Eine lächelnde freundliche Hebe, trug sie den Arbeitern die Krüge mit dem Erntebier zu und lächelte nur dann nicht, wenn sie notgedrungen den Busch des Pastorenfranz streifen mußte und es breitmäulig aus dem Schatten klang:

»Mir auch einen Tropfen zur Labe, Fräu–lein Häußler!«

»Sei kein Flegel, Buschmann! Ich meine, du kannst den Weg zur Tränke selber finden!« rief dann wohl Hennig aus den Garben herüber. »Tonie, kümmere dich nicht um den Dickhäuter; schon in Halberstadt haben wir gewußt, daß ihm eine ganze Seite in der Zoologie allein gehöre. Lustig, Tonie, du bist ein gutes Mädchen, du bist wahrhaftig ein gutes Mädchen, und, bei den lateinischen Göttern, was mich angeht, so fühle ich mich wie ein Gott in meinen Armen und Beinen. Hurra, es geht doch nichts über Krodebeck in den Erntetagen!«

Es war eine gute Zeit. Wenn die gnädige Frau auf die Felder hinauskam, segnete sie sich mit Fug und Recht über das fette Jahr und sang helle Jubellieder in der Tiefe ihrer Seele. Und wenn in der kühlern Abenddämmerung der Ritter von Glaubigern und das Fräulein von Saint-Trouin nachfolgten, so freuten auch sie sich und hatten gleichfalls allen Grund dazu. Sie konnten auch Jubelhymnen in der Tiefe ihrer Seele anstimmen, und zwar über ihre beiden Zöglinge. Sie wußten beide, was schön und gut sei, wenn auch auf verschiedene Weise, und sie standen oft beide still und stumm, während ihr Herz über die jungen Leute lachte.

In diesen Augenblicken pflegte das Fräulein dem Chevalier die goldene Dose zu bieten:

»Ein schöner Abend, Herr von Glaubigern!«

Und der Ritter, zierlich mit spitzen Fingern zugreifend, erwiderte:

»Ein sehr schöner Abend! Wahrlich, mein Fräulein, wir haben wohl beide häufig nicht gedacht, daß die Sonne uns so freundlich untergehen werde!«

»Mein lieber Herr von Glaubigern!« sprach Adelaide, »wem hat man das zu danken? Wie häufig und wie unverständig ist man mir unter den frivolsten Vorwänden in den Weg getreten? Ja, und was würde sowohl aus dem Hennig wie aus dem Kinde geworden sein, wenn ich in allen Dingen meinem bessern Verständnis und meinen Gefühlen hätte folgen dürfen? Nun, ich will nicht alte Wunden von neuem aufreißen, mein verehrter Herr Chevalier; es ist in der Tat ein recht schöner Abend für uns, obgleich hoffentlich die Sonne doch noch nicht so tief steht, um auch diese ziemlich verständliche und recht ironische Bemerkung in betreff meiner Lebensjahre zu motivieren.«

»Oh!« seufzte der Ritter, und von jedem andern hätten wir sagen dürfen, er habe einen grunzenden Seufzer laut werden lassen, und zwar mit vollkommenster Berechtigung. Der Chevalier aber grunzte überhaupt nicht und also auch nicht in diesem Falle.

Es war eine herrliche Zeit, eine Zeit der Erfüllung. Niemand, selbst der Ritter von Glaubigern nicht, hatte eine Ahnung davon, welches Gewölk hinter den Bergen brauete und welch hinkender, hämischer Schritt langsam und unaufhaltsam sich näherte. Nicht einem klang dieser metallische Schritt, der halb Hufschlag war, in den guten Stunden durch die Seele, selbst nicht durch die ängstliche Seele des Chevaliers und Leutnants Karl Eustach von Glaubigern.

Es war eine sehr vergnügte Zeit; allein vorüber mußte auch sie gehen. Allmählich verklang das Schärfen der Sensen, das Rufen und Singen der Arbeiter und Mägde auf den Feldern von Krodebeck. Die Felder wurden leer, und Wagen auf Wagen schwankte zum Dorfe hinab. Endlich kam der Abend, an welchem die letzten Garben auf den letzten Wagen geladen wurden und auch diese Ernte vollendet war.

Der Morgen war sonnig und heiß wie gewöhnlich gewesen; gegen Mittag hatte sich ein leichter Dunst über das Land gelegt, und als am Abend die bebänderte, mit Goldflittern und künstlichen und wirklichen Blumen geschmückte Erntekrone auf der höchsten Garbe des letzten Erntewagens aufgepflanzt wurde, änderte sich die Atmosphäre in eigentümlicher Weise. Über den Wald im Westen schob sich ganz plötzlich eine seltsame gelbliche Wand empor, in welche die Sonne, eine feurig rote Kugel, hinunterglitt. Mit ungemeiner Schnelligkeit wogte der Dunst heran: der Höhenrauch verhüllte die Ferne und die Nähe, legte sich schwer und betäubend auf Augen und Hirn und machte sich den Lungen so sehr bemerklich, daß selbst die stattlichen, starken Gäule des Lauenhofes in ihren Geschirren unruhig wurden, die Köpfe in die Höhe warfen und laut und unmutig schnoben.

Natürlich sah auch das Volk von den Stoppeln auf und umher, und alle tauschten die uralten Bemerkungen, Fragen und Antworten über den geheimnisvollen Dunst und Nebel aus; allein der Schleier, der sich über die geleerten Felder legte, fiel nicht zugleich über ihre Seelen. Im Gegenteil schien er den halben Rausch, in welchem sie sich alle befanden, nur noch zu erhöhen. Sie schrieen und jauchzten und umtanzten die Wagen; sie jagten einander durch den wehenden Duft. Der Pastorenfranz lief den kreischenden Mägden nach, und Hennig hob, wie ein junger Herkules auf der Deichsel zwischen den Pferden stehend, in seinen starken Armen Antonie als Erntekönigin auf den für sie bereiteten Sitz, gerade unter der bunten, bebänderten Krone. Was für Wetter der Höhenrauch auch bedeuten mochte, der Segen des Landes war vor allen bösen Mächten in Sicherheit gebracht, und der größte und höchste Jubeltag des Bauern war nach langem, hartem Mühen zwischen Furcht und Hoffnung dem Jahre abgewonnen.

Noch lag die gelbrote Kugel in dem gelben Dunst, und etwas Schöneres als das Gesicht der Erntekönigin auf dem schwankenden Sitz in diesem magischen Lichte gab es nicht auf Erden. Und sie allein blieb in ihrer freundlichen Ruhe unter den vielen aufgeregten Menschen. Still lächelnd blickte sie von ihrem hohen Sitze hin über das Land, über all die leeren Felder. Das Lächeln verschwand, die Sonne ging unter, mit einem Male hatte der unheimliche Rauch, der sich auf die Fluren von Krodebeck gelagert hatte, die rechte Färbung angenommen: alles Bunte und Leuchtende versank in dem trüben Grau, der Horizont verengerte sich mehr und mehr, und lachend rief Hennig von Lauen zu der Spielgenossin hinauf:

»Hallo, Tonie, ist das nicht, als ob der Herbst dem Sommer die Lichter ausbliese? Wie schade, daß der Ritter und das Frölen zu Hause sitzen, wir kommen dadurch um einen ganzen Sack voll Philosophie und Klagelieder Jeremiä! Munter, sagt meine Alte; jetzt geht's nach Haus, nun schreit euch alle aus und bringt dem guten Jahr ein Vivat; nachher tanzen wir in den Winter hinein!«

Das Wort ließ sich niemand unter den Ernteleuten zum zweiten Male sagen. Sie schrieen allesamt mächtig und aus sehr gesunden Lungen, und dreimal hallte die Gegend von ihrem Hochrufen wider.

Nun schwang sich Hennig auf den Sattelgaul, die Knechte und Mägde ordneten sich zum Zuge vor und hinter dem Wagen. Das schwere Viergespann zog an; tief in den Ackerboden unter der schweren Last einschneidend, drehten sich knarrend die Räder, und von den Stoppeln schwankten die letzten Garben dem Feldwege zu, der nach dem Dorfe hinabführte.

Mit hellem Gesang zog man einher, nachdem man auf ebenerem Boden angelangt war. Selbst der Pastorenfranz sang mißtönig mit, trottelte aber doch ziemlich verdrossen nach; denn heute an dem arbeitvollen Tage hatte er bei niemand die Beachtung gefunden, welche er doch stets verdiente, und auch jetzt in dem Triumphzuge spielte er keine hervorragende Rolle und fühlte das.

Die Mägde neckten ihn, die Knechte sahen mit einem gewissen Hohn auf ihn herab, und der Junker in seiner Pracht auf seinem Lieblingsgaul schien gar nicht mehr zu wissen, daß der Buschmann auch noch in der Welt sei.

Und je näher man dem Dorfe kam, desto mehr wuchs die Erregung des Volkes. Längst reichte das im Chor angestimmte Lied nicht mehr aus, um dem Jubel Luft zu machen. Wild und toll jauchzten einzelne in die Melodie hinein, und der Junker auf dem Sattelpferde tat mit Hollageschrei und Peitschengeknall das Seinige, die schwere, graue Atmosphäre zu erschüttern.

Der Lärm des Ernteheimzuges hätte einen Toten auferwecken können, und doch stand da, wo der Feldweg auf die große Straße trifft, eine alte Frau mit einem Tragkorb auf dem Rücken, gestützt auf ihren Stab, und schien nicht das mindeste davon zu vernehmen. Mit gesenktem Haupte, wie in das tiefste und betrübteste Nachdenken versunken, stand Jane Warwolf aus Hüttenrode da, hexenartiger als je in der gelbgrauen Beleuchtung. Sie erhob den Kopf erst, als sie zurücktreten mußte, um nicht unter die Hufe der Pferde zu geraten, und sah mit einem Gesicht auf den lustigen Haufen, über welches jedermann, der sonst ihren Humor kannte, sich billig verwundern mußte.

»Glück auf, Jane Warwolf!« rief Hennig. »Da bist du wie gewöhnlich zur rechten Zeit. Du willst natürlich den Tanz eröffnen und sollst deinen Willen haben – der Ritter wartet längst mit Sehnsucht und weißen Handschuhen. Marsch, Alte, ins Glied! Fühlung, Fühlung! Wärst du früher gekommen, hätten wir dich sicher als Königinmutter da oben hinauf neben die Tonie gesetzt!«

»Glück auf, Herr von Lauen!« sprach die Alte finster und gebärdete sich in allem ganz anders, als jedermann erwartete. Denn statt munter vorzuspringen und trotz ihrer siebenzig wohlgezählten Lebensjahre als die Ausgelassenste in den Zug und Gesang einzufallen, stapfte sie krummen Rückens neben dem Gaule Hennigs her und sagte nur:

»Mir ist nicht tanzlustig zumute, Herr von Lauen.«

Dazu starrte sie schief von unten auf mit einem solchen Ausdruck von Sorge, Gram, Haß und Schrecken nach dem hohen Sitz der schönen Erntekönigin, daß diese, welche sich gleichfalls grüßend von ihrem Thron zu der Alten niedergebeugt hatte, betroffen rief:

»O Jane, was ist dir begegnet?«

»Ach, Tonie, Tonie – Tonie Häußler, wenig Gutes!« antwortete Jane Warwolf mit solchem sibyllenhaften Klagelaut, daß nun auch der Junker sie genauer betrachtete und gutmütig rief:

»Ja wahrhaftig, Jane, es ist nicht richtig mit dir. Das Gesicht hätt ich heute von dir am wenigsten erwartet! Hallo, was ist geschehen? Heraus damit, alte Jane, du weißt, wenn dir zu helfen ist, so wird sich fürs erste immer noch jemand auf dem Lauenhofe dazu bereit finden lassen.«

»Ich danke Ihnen für das gute Wort, Herr von Lauen«, sagte Jane; »aber zu helfen steht mir nicht. Und was das schlimmste ist, die Not geht mich nicht allein an; denn da ließe sie sich wohl tragen. Sapperment, ihr kriegt alle euren Löffel voll heut abend, und es bleibt noch genug über, um euch für lange Jahre einen bittern Mund zu machen.«

»Kann ich dir nicht helfen, Jane?« rief Antonie von ihrer Höhe herunter.

»Nein, mein Kind, liebes Kind! Du am allerwenigsten. Ei, Mädchen, hast du Gold und bunte Bänder zu Häupten?! Flitter- und Schaumgold heute, echtes, richtiges Gold morgen! Wer weiß? Wer weiß? Ei Jesus, haben sie dich wie eine Fürstin auf die Garben gesetzt? Wer weiß, ob du nicht morgen als eine richtige Edelfrau auf deinen eigenen Garben sitzest? O Jesus, Jesus, die Haare möchte man sich um den Jammer ausraufen!«

»Jane Warwolf«, rief der Junker nun ziemlich ärgerlich, »jetzt sag grad heraus, was du nach Krodebeck bringst, oder halt den Mund, bis wir zu Hause sind. Das wäre freilich eine Kunst, vier Gäule vor einem Erntewagen zu regieren und solch eine Unterhaltung zu gleicher Zeit zu führen!«

»Es ist schon recht, Hennig, und ich wollte, Herr von Lauen, ich dürfte den Mund für ewige Zeiten halten. Ein paar Jahre früher, und ich würde mein Elend zuerst zum Herrn von Glaubigern getragen haben; aber heut muß ich zuerst zu dir reden, Hennig; bist ja doch allgemach Meister auf dem Hofe geworden. Jetzo fahr zu und bring den Segen Gottes heim; ich wollte, du wärst stark und klug genug, allen Segen Gottes in Sicherheit zu bringen, ehe der Sturm daherfährt und der Teufel seine Tatze darauf legt.«

»Das Weib könnte einen toll machen, wenn sie ihren Sinn drauf setzte!« murmelte der Junker, seine Zügel fester zusammennehmend und scheue Blicke auf die Alte werfend, die gespenstisch neben seinem Pferde mithumpelte, dem Dorfe und dem Lauenhof zu. Allein der Ernteheimzug ist für den Landmann ein zu großes Ereignis, um nicht alle anderen Angelegenheiten darüber in den Hintergrund zu schieben.

»Munter!« sagte Hennig von Lauen, die Peitsche schwingend. »Die Närrin wird mit der verehrlichen Landespolizei in einen Konflikt geraten sein, oder es ist ihr eine überseeische Handelsspekulation mit irdenem Geschirr oder hölzernen Löffeln fehlgeschlagen; – jedenfalls wird sich wohl ein Pflaster auf die Wunde finden lassen.«

Der Zug hatte jetzt das Dorf erreicht, und wenn hier in der Gasse der Enthusiasmus groß war, so stieg die Begeisterung doch erst am Tore des Lauenhofes auf ihren Gipfel. Da stand die gnädige Frau trotz der dämmerigen Stunde strahlend in der ganzen Würdigkeit des Moments. Da standen dem Höhenrauch zum Trotz der Chevalier Karl Eustach von Glaubigern und Fräulein Adelaide von Saint-Trouin, Pardiac, Valcroissant, Tyrus und Byzantium und wehten hingerissen mit den Taschentüchern, mit welchen sie sich vor dem ungesunden Nebel und Dunst Mund und Nase verstopften.

Es war aber auch ein schöner Anblick, als Antonie Häußler mit Beihülfe Hennigs von den hohen Korngarben niederglitt und zierlich und leicht sich vor der gnädigen Frau verneigte. Es war gut und lieblich anzuhören, als sie der gnädigen Frau den alten niedersächsischen Erntespruch hersagte, den die Gutsfrau nun schon bei so mancher Ernte vernommen hatte und welchen sie trotzdem nie genug hören konnte. Auch die Gnädige hatte in Reimen zu antworten, und es wäre freilich eine Merkwürdigkeit auf dem Lauenhofe gewesen, wenn sie beim Aufsagen ihrer Rolle einen Zubläser nötig gehabt hätte.

In tiefem Schweigen, mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschte natürlich das Volk im achtungsvollen Kreise, und heiter waren die Mienen aller Hörer, bis auf das verrunzelte, graue Gesicht der wandernden Greisin dicht neben dem Junker. Das blieb grimmig-sorgenvoll und ließ sich nicht erheitern und erweichen.

Nach den Reden folgte von neuem ein wirres Durcheinander. Hennig wurde hierhin und dorthin gerufen, alle hatten mit ihm zu sprechen, und so war's sehr verzeihlich, daß er in dem Tumulte gänzlich vergessen, daß auch Jane Warwolf aus Hüttenrode mit ihm zu reden habe. Erst als der Abend beinahe ganz in die Nacht übergegangen war, fiel ihm die Erinnerung, und jetzt seltsam schwer und schwül, auf das Herz. Er ging, die Alte aufzusuchen, und fand sie. Sie saß auf dem Prellsteine an einem der Pfeiler des Hoftors mit beiden Ellenbogen auf den Knieen und dem Kinn in beiden Händen. Ihr Korb stand neben ihr, der Stab lag zu ihren Füßen, und sie, die sonst die Lebendigste und Lauteste in jedem Tumult war, schien heute mit der Welt Lust und Lärmen völlig abgeschlossen zu haben.

Als ihr Hennig die Hand auf die Schulter legte, sah sie kratzbürstig und boshaft auf und rief:

»Also kommen Sie doch, Herr von Lauen? Ich rechnete schon nicht mehr darauf. Nun, ich will Sie nicht lange aufhalten; die Geschichte geht Sie auch im Grunde wenig an. Sowie ich mein Teil des Elends von der Seele los bin, mögen Sie zurück zu Ihren Narren laufen, um weiter zu jubilieren.«

»Sei nicht grob, Jane. Du hast nun lange genug mit deinen Hexenkrallen an mir herumgezerrt. Kann ich dir helfen, so weißt du, daß ich es gern tue, und übrigens verbitte ich mir alle dummen Redensarten.«

Die Greisin stand auf:

»Es ist schon gut, und ich habe unrecht. Kommen Sie mit mir, Herr von Lauen. Ich bin nichts als eine nichtsnutzige Vagabundin, und im Laufschritt ist mir noch allewege alles am leichtesten abgegangen. Kommt, Junker!«

Sie schritt voran, und Hennig folgte ihr. Sie führte ihn auf der Landstraße gegen das Siechenhaus von Krodebeck hin, immerfort nach ihrer Art leise mit sich selber redend.

Vor dem Siechenhause hielt sie an, faßte nunmehr plötzlich mit einem hastigen Griff die Hand ihres Begleiters und rief:

»Das weiß niemand als ich, wie einem zu Sinne ist, der nur ein Fleckchen zum Stillsitzen in Frieden auf seinem Wege hat und kommt und findet die Tür verschlossen und die Fenster erblindet und sieht den Tod sitzen am Herd, wenn man durch die Scheiben guckt. Und sie haben gelacht im Dorfe über die zwei närrischen alten Weiber, die Freundschaft halten wollten wie andere Leute! Wäre der Herr von Glaubigern nicht gewesen – – doch was schwatze ich davon? Ich rede davon, weil mir wiederum sehr schlecht zu Sinne ist, nur auf eine andere Weise, Herr von Lauen. Sehen Sie, Herr von Lauen, mir ist übel vom Leben, und die wüste Höhle da, in welcher die Hanne Allmann ihr ganzes schönes Leben durch saß und meine alleinzigen Ruhestunden im Schoße wiegte, die paßt ganz in meine Übelkeit und meinen Ekel. O Herr Hennig, ich komme ja von Alexisbad, und in Mägdesprung da habe ich einen Gevatter, und der hat eine Vogelhecke für den Handel und eine Epimedie darin, was man eine Seuche oder Krankheit und so nennt, und da habe ich noch von meinem seligen Vater her Rat wissen und doktern müssen wie der gelernteste Menschendoktor, und da habe ich ihn gesehen in Glanz und Gloria und ihn trotz Glanz und Gloria auf der Stelle wiedererkannt, und er ist auf dem Wege hierher, und nun frage ich Sie, Herr von Lauen, was in aller Welt und um Jesu willen sollen wir mit ihm anfangen?«

»Das weiß ich nicht!« sprach der Junker, sich hinter den Ohren kratzend. »Erst müßte ich doch wissen, wen in aller Welt und um Jesu willen du in Alexisbad oder in Mägdesprung gesehen hast. Wer ist in Glanz und Gloria auf dem Wege nach Krodebeck?«

»Hab ich das noch nicht gesagt?« schrie Jane Warwolf immer erregter. »Nun, wer anders als mein anderer Gevatter?! Ihr Großvater, Herr von Lauen! Tonies Großvater, Herr von Lauen. Der Meister Dietrich Häußler, der Balbierer, als großer, großmächtiger Herr! Der Großvater unserer Antonie, Herr von Lauen, und daß er nicht ohne eine schlechte heimtückische Absicht da ist, darauf mögen Sie einen Eid ablegen, Herr Hennig. Der Kerl hat immer gewußt, was er gewollt hat!«

»I verflucht! Hat er das? Der Teufel! Ja, aber was soll ich –« der Junker stand mehrere Augenblicke da, ohne die Bedeutung der Nachricht der wandernden Frau zu fassen. Antonie Häußlers Großvater? Was wußte er von Antonie Häußlers Großvater? Was ging ihn Antonie Häußlers Großvater an?

Da stand eine Welt auf, von der er heute kaum noch etwas wissen konnte! Personen und Verhältnisse wuchsen hier plötzlich im wunderlichen Nebel und Rauch des Abends empor, deren Bezüge zueinander und zu ihm selber er erst nach und nach zu fassen imstande war. Es war deshalb auch gänzlich ungerechtfertigt, daß ihn Jane Warwolf aus Hüttenrode schier beim Kragen nahm und ihm ins Ohr gellte:

»Es ist ihr Großvater! Es ist der Meister Dietrich Häußler! Wer soll uns denn gegen ihn helfen, wenn Ihr nicht wißt, was Ihr sollt, Herr von Lauen?«

Verständiger war's, daß sie in fliegender Hast, sprudelnd und spuckend, ihrem verwirrten Zuhörer auf der Stelle einen kurzen, aber farbenreichen Auszug der Geschichte des trefflichen Signor barbiere lieferte und ihn dadurch fähiger machte, ihre Leidenschaftlichkeit zu begreifen und selber in die größte Aufregung und Wut zu geraten.

Obgleich er unter gewöhnlichen Umständen, sowohl dem Fell wie dem Charakter und dem Intellekt nach, sich als ein ganz regelrechter Esel zeigte, so stand er diesem häßlichen Geschick schnell genug feinfühlig und klar gegenüber.

»Das ist ja heillos! Niederträchtig ist es. Er soll und darf nicht hierherkommen. Er hat kein Recht, jetzt zurückzukommen. Du aber hast recht, Jane, dies ist gewiß eine Nachricht, die einem die gute Laune verderben kann. Herrgott, je klarer mir die Geschichte wird, desto schwüler wird mir; er darf unter keinen Umständen nach Krodebeck zurück. Er ist ein Landstreicher, ein schlechter Mensch; heut abend noch spreche ich mit dem Vorsteher, der muß uns helfen, und im Notfall reit ich noch in der Nacht zum Amte. Er hat kein Recht, die Tonie zu berühren; er ist ein heimatloser Taugenichts, und ich leide nicht, daß er nach Krodebeck zurückkehrt.«

Jane Warwolf schüttelte betrübt den Kopf: »Er ist kein Vagabund mehr, Hennig. Das ist gerade das schlimme. Er ist ein vornehmer Herr mit Bedienten in bunten Jacken; ganz Krodebeck, der Lauenhof eingerechnet, kann gegen ihn einpacken, wie sie auf der Braunschweiger Messe sagen. Der wird sich viel um den Vorsteher kümmern! Ja, wenn er als ein Landstreicher und Bettler heimkäme, da wär ich eine Närrin, wenn ich mir die geringste Sorge um den Lumpen machte. Da könnte man ihn freilich am Kragen nehmen oder ihn mit einer Hand voll Taler hinschicken, woher er gekommen ist. Aber er kommt aus dem Österreich mit Extrapost, als ein Graf oder Fürst oder Baron oder noch viel Schrecklicheres. Er ist ein grausam reicher Mensch geworden in dem Österreich, um den reitet Ihr vergeblich zu Amte, Herr von Lauen, und wenn Ihr Euer bestes Pferd darüber zu Tode jagt. Hat er mich nicht fast zu Tode gejagt von Gernrode herüber? Die Beine zittern mir noch unter dem Leibe: der wird dem alten Dummkopf, dem Klodenberg, schön heimleuchten! Glauben Sie, daß der Halunk nach Krodebeck käme, wenn er nicht wüßte, was er da wollte? Er weiß es sicher und wird es uns sicherlich seinerzeit kommunizieren, und ich weiß nicht, was wir gegen ihn vorbringen und tun sollen.«

»Himmeltausenddonnerwetter!« rief der Junker mit solchem Nachdruck, daß der graue quieszierte Zuchthäusling, welcher jetzt an Stelle Hanne Allmanns das Krodebecker Siechenhaus innehatte und welcher längst mit der Hand hinter dem Ohr gehorcht und nun bereits genug erfahren hatte, schnell seine Blechlampe anzündete und mit dieser aus dem Fenster leuchtete, um zu erkunden, mit welcher Berechtigung der junge Herr vom Hofe da so gotteslästerlich fluche und so anheimelnd seine abendliche beschauliche Gemütlichkeit störe.

»Der Teufel soll den Burschen holen!« schrie Hennig in halber Verzweiflung. »Da sollte man ja alle Hunde loslassen. Sackerment, je genauer man darüber nachdenkt, desto miserabler wird einem! Und ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht – das kommt erst noch. Und mir sagst du das zuerst, Jane? Und ich soll euch hier heraushelfen? Hier auf einmal soll ich mehr wissen und klüger und stärker sein als ihr alle? Das ist auch leichter aufgeladen als gefahren; fürs erste bin ich jedenfalls ebenso dumm und blind wie ihr, und ich sehe nicht ein, Jane Warwolf, weshalb du nicht die schöne Nachricht und Bescherung zuerst zum Herrn von Glaubigern gebracht hast.«

Die Lampe des Emeritus hinter dem Fenster des Siechenhauses gab nicht so viel Licht, um das Mienenspiel Janes erkennen zu lassen, und das war recht vorteilhaft für den jungen Herrn von Lauen, denn schmeichelhaft war das Zucken um Nase und Mund nicht für ihn.

»Jaja, Herr von Lauen, es ist freilich eine sehr verdrießliche Geschichte«, sagte die Alte trocken und kurz. »Ich hätte sie Ihnen auch sicher nicht zuerst zugetragen, wenn ich nicht bei der Jugend an die Jugend gedacht hätte. Andere alte Leute hätten bei besserem Verständnis vielleicht anders gehandelt, und ich bitte um Verzeihung, Herr von Lauen. Und es ist doch auch ein Unterschied, wer in die Krallen des Bösen fallen und wem man zu Hülfe springen soll! Dem armen Kinde, dem armen Mädchen kann wohl niemand helfen – wer denkt des einen bunten Schmetterlings, wenn der Sommer vorüber ist? Es flatterten ihrer mehr über dem Tal, und der nächste Sommer wird wieder andere bringen. So wollen wir beide anjetzo kein Wort mehr darüber verlieren, Herr von Lauen; aber dem Herrn Ritter von Glaubigern wollen wir doch Kenntnis von unserer Ratlosigkeit geben.«

»Das wollen und müssen wir!« rief Hennig mit einem erleichternden Atemzug. »Wenn einer hier noch Rat weiß, so ist es der Ritter. Das wäre ein gesunder Schlaf geworden, wenn ich die Geschichte als der einzige mit zu Bett hätte nehmen müssen.«


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