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Neunter Brief.

Tief im Walde.

Ja, tief im Walde! – – Tief im Walde will ich es Dir nun gestehen, strenger Sever, daß ich doch liebe, daß ich das Ännchen, den Findling vom Schlachtfelde bei Talavera liebe, daß es doch Liebe und nicht bloß Teilnahme an ihrem Geschick ist, was mich ihr nachführt. Was helfen alle Warnungen, wenn die Götter wollen, daß die Menschen irgend einem Geschick verfallen sollen?

Hab' ich denn selbst gewußt, daß es so kommen würde? Gestern noch war mir die eigene Seele, die zagende, siegestrunkene Seele ein Rätsel.

Heute ist das Rätsel gelöst!

Tief, tief, tief im Walde habe ich die Lösung gefunden, wie ich das Ännchen wiedergefunden habe.

Ja, scharfäugiger, kühlherziger Freund, ich liebe!

Tiefstes Schweigen umher – kein Lufthauch in dem Gezweig – keine Vogelstimme – und doch – welcher Aufruhr in der Stille! Mein Herz pocht, und jeder Schlag macht das Weltall erzittern.

Ich schlief, und ich erwachte. Als ich die Augen schloß, deckte Finsternis das Erdreich, die Völker und Könige; nun die Augen mir wieder geöffnet sind, sieht »alles Volk ein großes Licht«. Es strahlt das Firmament gleich dem Gold-Himmel eines altdeutschen Heiligenbildes, und ein Bild ist auf das goldene Firmament gemalt – ein holdlächelnd Gesicht blickt aus der Strahlenglorie – – –

Anna! Anna! Anna!

O Sever, weshalb hast Du mich doch gezwungen, diese ganze Zeit hindurch mit zürnendem Herzen den krummen Wegen des Herrn von Metternich nachzugehen, dem falschen nächtlichen Schakalgeheul um die Lagerstätten des deutschen Volkes zu horchen? O Sever, ich liebe und weiß, daß das Vaterland ewig ist!

Ich liebe und weiß, daß jene Bettlerin im Dorfe Ratsch in Schlesien, welche ihr einziges Betttuch zerschnitt und die Hälfte davon zu Verbindzeug hergab, ein größeres Gewicht in die eine Schale des Geschicks unserer Nation geworfen hat, als der gesamte Wiener Kongreß mit allen seinen Aktenbündeln in die andere.

Ich liebe, und ich weiß, daß alle Fürsten und Diplomatenscheren stumpf werden müssen an den blutigen Binden, die aus dem Betttuch der Bettlerin entstanden sind, und die das Vaterland zusammenhalten. –

O Sever, was schwatze ich zusammen? In hellen lichten Liebesflammen steht der ganze Wald; mein Herz hat ihn angezündet; die unsterblichen Götter mögen zuschauen, daß kein Schaden geschiehet!

O Sever, Herz und Sinne verwirrend ist sie! Gleich einem Verzauberten gehe ich um das süße Wunder herum. Du solltest sie reden hören; sie spricht nicht eine Sprache; – wie hätte sie eine Sprache reden lernen sollen? Spanische Wörter, englische Wörter und Wendungen mischen sich mit französischen und italienischen, und alles das wird auf die deutsche Sprache aufgezogen, wie man allerlei bunte Perlen, rot, blau, gelb, grün, auf einem Goldfaden aneinanderreiht.

Sie denkt auch nicht in einer Sprache, aber aus einem Gold-Herzen kommen alle ihre Gedanken – und sie ist so krank! Aber sie wird zum Leben erwachen, das weiß ich. Sie wird sich die Augen reiben wie Dornröschen, jung und schön wird sie sich umblicken in der neuen Zeit, ich glaube sie schläft schon tausend Jahre; aber sie wird erwachen unter meinem Kuß.

Runzle nicht die Stirn, Severus; ziehe nicht die Brauen grimmig zusammen; – ich lebe und ich liebe. Wie soll ich Worte finden, Dir Kunde zu geben von alle dem, was sich in meinem Herzen umtreibt, klagend und jauchzend wie Kinder auf ihrem Spielplatze?

Und ich dachte, ich sei schon so alt, – so alt wie Du mich machen wolltest, Sever!

Ja, Sever, daran bist Du schuld, daß ich glaubte, schon so alt zu sein. Aber nun weiß ich es auf einmal besser. Jung bin ich und fähig, mich meiner Jugend zu erfreuen!

Evan, Evoe! Evan, Evoe! mit Epheu will ich mir die Stirn umkränzen, abschütteln will ich den Staub der Feldschlacht, abschütteln will ich den Schulstaub. Rosen will ich pflücken, rote Rosen für mich, weiße Rosen für die Geliebte, die ich retten will aus den Banden der bösen Geister, welche ihre Kinderseele gefangen halten.

Mit weißen und roten Rosen bekränzt, wollen wir einst vor Dich hintreten, Sever, und – Du sollst Deine Freude an uns haben.

Doch nun will ich Dir erst erzählen, wie ich die Anna tief im Walde wiedergefunden habe.

Drei Tage lang war ich umhergezogen im Gebirge; – planlos, kaum irgend einmal nach dem Wege, nach dem Namen eines Dorfes, eines Baches, eines Felsens fragend. Was sollten mir die Namen, die Adam den Dingen gegeben hatte, die Dinge selbst genügten mir. Selbst der Sage ging ich gegen meine sonstige Gewohnheit aus dem Wege, – wenigstens im Anfange. Ich hatte mir ja vorgenommen, recht nach Deinem Wort zu leben und zu versuchen, ob ich da mit Bewußtsein genießen könne, wo ich sonst zu träumen pflegte.

Ich sehe die Grimasse, die Du jetzt schneidest, Sever, das ungläubige, mitleidige Achselzucken sehe ich und gestehe Dir, daß ich in dem Augenblick, wo ich das Ännchen wiederfand, vollständig in mein altes Traumleben zurückgesunken war: – naturam expellas furca und so weiter.

Ich schritt durch die Dämmerung munter vorwärts. Ein mattes Halblicht umhüllte den Wald. Kein Luftzug bewegte die Zweige und Blätter. Ein heißer Tag war vergangen; der Abend brachte keine Kühle. Die Tagesvögel waren zur Ruhe gegangen; das Leben der Nacht erwachte. Hie und da flimmerte ein Stern durch die Baumwipfel. Der Bergpfad senkte sich immer steiler herab. Ich hatte mich gründlich verirrt, und da ich noch frisch auf den Beinen war, so hatte ich mir vorgenommen, auf gut Glück die Nacht zu durchwandern. So lange ich den festen Weg unter den Füßen fühlte und ihn weißlich durch die Nacht schimmern sah, ging das auch recht gut; gegen elf Uhr aber war mir der betretene Pfad plötzlich unter den Füßen weggekommen, ohne daß ich hätte sagen können, wie es zugegangen war. Meine Füße raschelten im hohen, welken Laube, ich rannte gegen einen Stamm, wendete mich rechts, rannte abermals gegen einen Baum, stand still – horchte – besann mich – schritt wieder vorwärts gegen links, – ein Dornzweig zog mir einen brennenden Strich über die Nase. Wieder stand ich still und horchte dem Laubfrosch zu, der über mir von einem Zweige das verirrte Schulmeisterlein auszulachen schien. Ein Käuzlein stimmte in das Gelächter des grünen Burschen ein; – die Pfeife ging mir aus, ich schob sie in die Tasche, rückte die Mütze vom Vorderkopf auf den Hinterkopf, rückte das Ränzel zurecht, tastete ein wenig mit dem Knotenstock umher, fand aber im Bereiche der Zwinge desselben nichts, was einen Trost in solcher Lage gewähren konnte.

Was fangen wir nun an, Herr Kollega? fragte ich mich und ahmte dabei die etwas knatternde, knurrende Stimme des Kollegen Tertius nach. – Wir müssen das von einem höheren Standpunkt aus betrachten, Herr Kollega! antwortete ich als Wolkenjäger. – Herr Kollega, meinte ich wieder im Ton des Tertius, es ist ein altes Wort: wer sich alle Büsche besieht, kommt nicht zu Holze. Solches möchte wohl bei Ihnen nicht zutreffen, Herr Kollega; Sie kommen nicht aus dem Holze, weil Sie sich alle Büsche besehen! – Herr Kollega, erwiderte ich im Ton des Quintus, daß die Menschen in die Irre gehen, wird wohl nicht aufhören und hat auch nicht jetzt erst angefangen, sagt die Weisheit der Hellenen.

Ich ließ den Tertius keine weitere Antwort schnarren. Eule und Laubfrosch lachten zu toll. Ich verließ mich auf mein Glück und drang aufs Geratewohl in das Gebüsch ein. Der Mond kam über einen Berg zur Linken in die Höhe, und ich sah, daß ich »tief drin« steckte. Durch mußte ich jedoch und ich kam durch! Nach einem viertelstündigen Kampfe mit dem verwachsenen Gezweig und den groben Stämmen gelangte ich auf eine Waldwiese. Diese lag magisch im bleichen Mondnebel – – zweifelnd an meinen Sinnen stand ich plötzlich – war das Wirklichkeit? war Täuschung? Gedicht?

Selbst der Sever, wäre er so wie der Wolkenjäger aus dem Dunkel des Waldes in den hellen Mondenschein getreten, hätte er gesehen, was ich sah; er würde in Zweifel, in wonniger Verwunderung stehend, in diesem Augenblick nicht – über Romantik geschimpft haben.

Da tanzten in dem weißen Nebel, welcher über der Waldwiese lag, gerade in der Mitte des stillen, vom hohen Forst umschlossenen Fleckchens drei oder vier Irrlichter – der lachendende Laubfrosch verkündete ja die Nähe feuchten, sumpfigen Bodens – und eine weiße zarte Gestalt umkreiste den Tanzplatz der launenhaft hin und her hüpfenden Lichterscheinungen, als sei ein Märchen von Novalis oder Ludwig Tieck hier in die Wirklichkeit getreten.

Ich wagte kaum zu atmen, aus Furcht, das magische Bild zu stören, aus Furcht, die elfenhafte Erscheinung möge sich in Mondenschein nach Elfenart auflösen. Dabei zog mich aber doch ein unabweisbares Etwas immer mehr heraus aus dem Schatten des Waldes. Tanze mit! tanze mit!

Und wenn nach der Griechen Meinung der, welcher eine Nymphe erblickte, mit unheilbarem Wahnsinn geschlagen wurde, was sollte mir geschehen, als ich in der tanzenden Elfe das Ännchen aus der Schmiede von Sachsenhagen erkannte?

Tief, tief im Walde ist mir klar geworden, daß ich das Ännchen liebe, und daß es nichts helfe, wenn ich es dem Sever verhehle! – – –

»Annie!« rief ich, und die Elfe stand und stieß einen leisen Schrei aus und wollte scheu entfliehen. Ich war aber sogleich an ihrer Seite und faßte die zarte Hand:

»Erschrecken Sie nicht, Fräulein Ännchen. Ich bin's. Der Kollaborator Wolkenjäger aus Sachsenhagen.«

Das klang recht prosaisch in solchem Augenblick, und die Irrlichter schienen das auch recht gut einzusehen. Immer toller wurden ihre Kapriolen. Ich aber hielt noch immer das zitternde Händchen, – mir war durchaus nicht prosaisch zu Mute.

»O wie freu' ich mich, Sie auf solche Art wiederzufinden!« rief ich; aber das holde Kind schaute mir starr und geisterhaft in die Augen, und jetzt zuckte mir wieder der alte Schmerz um ihre kranke Seele durch das Herz.

»Wo kommst Du her?« fragte sie. »Ich habe Dich schon so lange erwartet, mein Freund. Sei nicht böse, daß ich verstecken mit Dir gespielt habe; ich wußte ja, daß Du mich finden würdest; – nun komm mit mir; – bist Du lange irre gegangen im Walde? O madre de dios, ist Euer deutscher Wald schön!«

Und nun fing sie an zu singen:

» All in the downs the fleet lay moored,
When blackeyed Susan came on board
–«

Über die mondbeglänzte Waldwiese fort, zog sie mich von neuem in den Waldschatten hinein, und ich folgte ihr in Wonne und Wehmut. Einen engen, steil abfallenden Pfad eilte sie leichtfüßig vor mir herab in ein dunkles Tannenthal, in welchem ein Wasser rauschte. Wieder bergauf und wieder hinab. Wieder lag eine Waldwiese vor uns im glänzenden Nebel und Mondenschein. Die stille Wasserfläche eines Teiches funkelte mir entgegen, und drüber weg stiegen Türme und Giebel phantastisch in die Höhe, und es leuchtete rotes Lampenlicht aus hohen Fenstern.

»Annie, was ist das? Wohin führst Du mich, Annie? Was für Türme und Mauern sind das?«

Lächelnd blickte die Elfe im Weitereilen über die Schulter mich an, und singend antwortete sie mir mit der Romanze von Abenamar:

»Was für Türme sind das dorten,
Hoch sind sie und weithin schimmernd?

El Alhambra era, Señor!«

Hunde schlugen an, als wir uns den Gebäuden näherten. Eine wohlbekannte Stimme rief:

»Aber Annie, Kind, wo hast Du Dich wieder herumgetrieben? Holla – wen bringst Du denn mit Dir?«

»Ratet einmal, Leutnant!« rief ich fröhlich, und der Fragende kam schnell durch das feuchte Gras auf uns zu und rief fröhlich:

»Bei allem was lebendig, wenn das nicht das lateinische Schulmeisterlein aus Sachsenhagen ist, so – soll mich dieser und jener!«

»Recht geraten, alter Kamerad!« jauchzte ich. »Gott grüß Euch und segne mir den Zufall, der mich das Ännchen da mitten im Walde finden ließ, als ich mich aufs beste verirrt hatte und schon vermeinte, mit Fuchs und Dachs und Eule die Nacht im Freien zubringen zu müssen. Also das hier ist der Trautenstein?«

»Das ist der Trautenstein,« sagte der Leutnant Bart, mir herzlich die Hand drückend. »Hoch willkommen sollt Ihr auf ihm sein, Kollaborator. Man kennt Euch schon so halb und halb; denn manch ein gut Wörtel hab' ich dem Volk drinnen von Euch gesprochen. Spring vorauf, Annie, und bring' die Hunde zur Ruhe: sie achten auf Dein Wort doch besser als auf meins.«

Ännchen sprang voran, und wir beiden Männer folgten ihr auf dem Fuße. Den Teich, in welchem sich der Mond spiegelte, ließen wir links liegen; die Landstraße, den »Heerweg«, welcher über das ganze Gebirge und am Trautenstein vorbei zieht, kreuzten wir, dann schritten wir über einen tiefen, doch wasserlosen, zugewachsenen Graben, über welchen ein Damm zu einem hohen Thor mit verwitterten zertrümmerten Bildhauerarbeiten führte. Auf dem einen Pfeiler lag die schmückende Steinkugel noch, von dem anderen war sie herab und in den Graben gerollt. Wir traten in einen von hohen Gebäuden umgebenen Hof, in dessen Mitte eine breitästige Linde stand; unter derselben saßen auf Steinbänken allerlei Leute, die sich erhebend und grüßend mir entgegentraten. Ein hoher Mann im kurzen grünen Jägerrock wurde mir vom Leutnant Bart als der Vetter Kaltenborn vorgestellt. Eine Viertelstunde später war ich vollständig heimisch auf dem Trautenstein.

 

Sonntagmorgen.

Zu einem Tagebuche werden meine Mitteilungen an Dich, Severus, von jetzt an werden, das merke ich schon. Wann Dich dieses Tagebuch erreichen wird, ist nicht abzusehen; zu tief ist der Trautenstein in den Wald hineingebaut, als daß seine Bewohner viel Verkehr mit der Welt hinter den Bergen haben könnten. Der wilde Herzog, welcher vor zweihundert Jahren dieses Versteck seiner adeligen, wunderschönen Geliebten baute, hat in seiner Liebe recht das Herz des Gebirges zu finden gewußt, die Traute, die Holde, welche er in diesem Jagdschloß verbergen wollte, dem Auge der Welt zu entziehen. Es läßt sich keine köstlichere Stelle, ein solches Geheimnis mit Waldgrün zuzudecken, vorstellen. Ich sehe im Geist, wie Du die Stirn runzelst und von gottverfluchter Korruption murmelst; aber ich kümmere mich drum, – nil assis! Wiederum drücke ich einmal die Augen zu und erschaue das bunte Bild der vergangenen Zeit klar vor mir.

Sonnenschein liegt auf dem Walde, auf den Bergen. Aus dem Erkerfenster im ersten Gestock des Schlosses leuchten zwei dunkle Augen und haften unablässig auf dem Wege, der sich in der blaugrünen Dämmerung zwischen den Stämmen verliert. Berauschend wogt der Harzduft aus dem Tannenforst herüber –

Er wird heut kommen! Er hat es versprochen! Der Page hat auf schnaubendem Roß die Botschaft gebracht.

Die schöne Herrin auf dem Trautenstein erwartet den wilden fürstlichen Geliebten. Alle Schloßleute erwarten ihn.

Horch, erklingt da nicht – tief, tief im Walde – ein Horn? Ja wohl; – es lockt und ruft. Horch, Rüdengebell und Rosseshuf!

Wie das Herz der Trauten im Erkerfenster des Nordturmes klopft! Wie die dunklen Augen Blitze schießen! – Es regt sich unter den Tannen, – ganz nahe erklingen die Jagdhörner. Auf den grünen Wiesenplan ergießt sich das bunte Getümmel der Nahenden. Voran dem Gefolge sprengt auf schwarzem Hengst der Herr, die »Fürstlichen Gnaden«, den Federhut hoch in die Luft schwingend, der weißen Gestalt im Erkerfenster zuwinkend. Vom Fenster verschwindet die schöne Buhle; bunte Diener stürzen aus dem Thor des Jagdschlosses über die Zugbrücke – die breiten Stiegen im Innern des Trautensteins hinab rauschen lange Frauengewänder – einen jubelnden Willkommen bläst das Gefolge des Herzogs auf seinen Waldhörnern –

Im Schloßhofe hält der wilde Fürst sein Lieb im Arme – es blitzen die Waffen, es wehen die Federn, es glänzen die bunten Gewänder. Die Falken kreischen auf den Fäusten der Träger, die Hunde zerren bellend an den Ketten, die Rosse stampfen, wiehern und schnauben – Licht, Glanz und lebendiges Leben ringsum; bis – der Wolkenjäger die Augen öffnet.

Das bunte Bild der Vergangenheit ist versunken; aber Glanz und Licht und Leben ist geblieben; berauschend ist der Tannenduft, wie vor hundert Jahren. Die Wirklichkeit ist fast noch poetischer als der Traum.

Freilich ist die einstige Pracht des Trautensteins verwittert; halbzertrümmert sind die meisten Bildsäulen in den Nischen. Grün angelaufen und erblindet sind die meisten Fensterscheiben, ja an manchen Stellen fehlen sie ganz. Nicht mehr ist der Graben, welcher das einsame Haus umgiebt, der Spielplatz vornehmer weißer Schwäne. Längst ausgetrocknet liegt er, voll breiter Klettenpflanzen, Schilf und Gesträuch. Nicht mehr sonnt sich der stolze Pfau auf der halbzertrümmerten Balustrade und läßt sein Gefieder in der Sonne schimmern.

Verhallt ist der Jagdhornklang, mit welchem der böse Herzog die Geliebte grüßte; – feierlicher tönt's durch den Wald. Wie kommt die Kirchenorgel in den Saal, wo in alter Zeit die Üppigkeit und Wollust ihre Feste feierten?

Ja, leiser Orgelklang hallt von dem alten Lustort verbotener Liebe herüber. Nicht mehr jagen tolle jauchzende Reiter mit Hunden und Falken über die Wiese auf das Schloß zu – – vorbei, vorbei ist das alles! Einzeln oder in Trupps treten die Waldarbeiter, die Köhler, die Holzhauer, die Hirten aus dem Schatten hervor und schreiten über den Wiesenplan gegen den Trautenstein. Mütter kommen, ihre Kinder auf den Armen tragend, oder sie an den Händen führend. Junge Mädchen kommen mit Sträußen von künstlichen Blumen und abgegriffenen Gesangbüchern.

Kirche wird heute dem Volke des Forstes auf dem Trautenstein gehalten; gepredigt wird ihm hier, und wir folgen den Orgeltönen, Sever, und den Holzhauern, den Köhlern, den Wildhütern und ihren Frauen und Kindern in den Saal. Da mag man wohl verwundert stehen ob des seltsamen Anblicks.

Durch die altersdunkeln, kleinen, runden, in Blei gefaßten Scheiben fällt das Tageslicht und umspielt die Versammlung auf den rohen Bänken, die in dem weiten Raum aufgestellt sind.

Die kleine Orgel ertönt aus einem Winkel, ein ganz junger Küster spielt sie, und ein einziger Köhlerjunge, stolz über dieses wichtige Geschäft, setzt die Bälge in Bewegung. Und auf die kleine Kanzel, gerade der Eingangsthür gegenüber tritt der Pastor, ein vortrefflicher Mann aus dem fernen Dorfe Dornhagen. Die Orgel schweigt, die Predigt beginnt; – eine Predigt tief, tief im Walde; eine Predigt über den Text:

»Wo sollen wir Brot nehmen hier in dieser Wüsten?«

In einen Winkel des Saales drücke ich mich und lausche den schlichten, herzergreifenden Worten, die um so gewaltiger wirken hier an dieser Stelle – so tief, tief im Walde.

O mein deutsches Volk, wie oft, wie oft hast Du gefragt in Not und Elend, in Jammer und Schmach, zertreten, verhöhnt und verspottet: »Wo sollen wir Brot nehmen in dieser Wüsten?«

Mein teures deutsches Volk, ist nicht immer zur rechten Zeit einer dagewesen, der Dich errettet hat und Dir zu essen gab? Ist nicht der Martin Luther gekommen und der Lessing und jüngst noch der Sänger der Freiheit Friedrich Schiller? – –

»Wo kaufen wir Brot, daß diese essen?«

Sorget Euch nicht, der Heiland wird zur rechten Zeit seine Frage schon selbst lösen.

Da ist hinter einem der braunen Holzpfeiler ein altes Bild in dem Kirchensaal des Trautensteins hängen geblieben, und als ein tiefsinniger Mann sei jener erste Prediger gepriesen, welcher im Jahre 1780, als dieser Bankettsaal zur Kirche wurde, befahl, dieses Bild an seiner Stelle zu lassen. Ich habe vorhin von den beiden Augen, die heute noch nach zweihundertsechsunddreißig Jahren aus dem dunkeln Grunde vorleuchten, geträumt. Wie würde dieses junge schöne Weib sich wundern, wenn es in dieser Stunde, plötzlich mit Leben begabt, aus seinem Rahmen hervortreten könnte! Du hast wohl recht, Sever, über Korruption und Sultanismus zu zürnen; was könnten diese Wände, diese Pfeiler berichten, wenn sie mit Zungen begabt würden! Aber ich habe auch recht, Sever, wenn ich mich an das treue Grün, die süßen Blumen halte, die über allem Moder, aller Verwesung zusammenschlagen. – Wie fällt das Sonnenlicht durch die alten bunten Fenster in diesen Bankettsaal, der jetzt zu einer Kirche geworden ist! Hier glüht's auf einem rosigen Kindergesichtchen, dort auf dem weißlockigen Greisenhaupt. Wie lebendig glänzen die weißen Tücher auf den Köpfen der Frauen des Volkes, wie abgewittert, gespensterhaft schimmern dagegen die Goldverzierungen am buntgemalten Plafond!

Unter der andächtigen Menge sucht mein Auge die Gestalten der Freunde, und es findet sie.

Auf der ersten Bank vor der Kanzel erblicke ich den Leutnant Bart, den Vetter Kaltenborn mit all seiner Verwandtschaft und seinem Hausgesinde. Gerade unter der Kanzel haftet mein Auge am längsten; gerade unter der Kanzel, neben dem alten Legionär sitzt das Ännchen, mit halb geschlossenen Augen. Sie wird nicht viel von dieser Waldpredigt verstehen; obgleich sie einfach dem einfachen Sinn und Geist der Zuhörer angemessen ist. Es sind heute wieder zu viel Menschen um die Annie, das verwirrt und betäubt jetzt allzusehr diese arme Kinderseele, welche mit der ganzen Not des Jahrhunderts beladen ist. Gleich einem verschüchterten Vogel zusammengeduckt, sitzt das Ännchen auf seinem Platze, und es wird dann erst wieder aufleben, wenn alle die Gesichter, welche es jetzt umgeben, wieder verschwunden sind, wenn der Wald die heute auf dem Trautenstein Versammelten zur neuen, schweren, gewohnten Wochenarbeit zurückgefordert haben wird. Fort spinnt sich die Predigt, dann kommt von neuem die Orgel, das Vaterunser und der Segen wird gesprochen – es erhebt sich die kleine Gemeinde, – der Saal wird leer, endlich ist nur noch der Kollaborator Wolkenjäger und das Ännchen darin zu finden. Während das Volk unten in der Schenkstube, welche der Vetter Kaltenborn hält, zu Mittag ißt, oder die Vorkommnisse der vergangenen Woche bespricht, stehen der Kollaborator und das Ännchen vor dem alten Bilde am Pfeiler, welches vorhin schon einmal erwähnt wurde.

Ein rosiger Finger deutet auf das verdunkelte Gemälde und eine sanfte Stimme sagt:

»Das ist die schöne Dame, für welche dieses Haus gebaut wurde.«

Der lateinische Schulmeister nickt und sagt:

»Sie hieß auch Anna, – Anna von Rhoda –«

»Rhoda?!« das Ännchen zuckte seltsam zusammen und griff mit der Hand nach der Stirn; ich achtete aber nicht darauf, eben hatte ich meinen Standpunkt dem Bilde gegenüber geändert und stand nun in starrer Verwunderung. Auch ich mußte mit der Hand nach der Stirn greifen – welch eine Ähnlichkeit entdeckte ich! Je starrer ich auf die alte schwarze Leinwand sah, desto bestimmter, klarer trat das geisterhafte, schöne, unheimliche, rührende Gesicht hervor, – die Annie, – das Ännchen, – der Findling vom Schlachtfelde zu Talavera! ...

Sever, Sever, was hat das Ännchen mit der Anna zu thun, welcher vor zweihundert Jahren der Trautenstein gebaut wurde?

»Was starrst Du so die schöne Donna an, Herr Schullehrer?« fragte das Ännchen.

»Und was riefest Du eben so seltsam fragend Rhoda, lieb Annie?«

»Ich? ... ach, ich weiß nicht ... laß uns fort ... schau nicht so das Bild an – ich fürchte mich vor ihm – laß uns fort, – laß uns in den Wald, ich will Dir ein schönes Vogelnest zeigen, welches ich heut am frühen Morgen gefunden habe.«

Ängstlich faßte das Ännchen meine Hand und zog mich fort aus dem Betsaal, wo einst Anna von Rhoda mit dem wilden Herzog ihre Feste gefeiert hatte.

Sever, Sever, weshalb gleicht das Bild der toten Anna dem lebendigen Ännchen? O, was wollt' ich dem geben, der mir diese Frage beantworten würde! Was hilft's, daß ich mir vorrede, es sei Zufall; mit dem besten Willen vermag ich nicht daran zu glauben.

Welche Wunder werd' ich noch hier finden, so tief, tief, tief im Walde? – – – – – – – – – – – – – – – –

 

Ich habe den Leutnant Bart auf die Ähnlichkeit des Bildes im Betsaal mit seinem Pflegekinde aufmerksam gemacht. Er hat diese Ähnlichkeit nicht herausgefunden; er hat lächelnd den Kopf geschüttelt und die Achseln in die Höhe gezogen und gemeint, es möge wohl Augentäuschung bei mir sein, das alte Bild gleiche nicht im mindesten seiner lieblichen Annie. Das Geschlecht der Rhoda habe wohl bis vor kurzem noch draußen im platten Lande existiert; aber seine Annie gehöre gewißlich nicht dazu. Auch der Vetter Kaltenborn hat mir nicht recht in meiner Meinung geben wollen: einem weißen wilden Rosenstock, nicht aber dem uralten, halbvermoderten Gesicht, von welchem er nicht begreifen könne, wie es der Herr Pastor im Kirchensaale hängen lasse, möge das Ännchen gleichen – hat er gesagt.

Es giebt nur ein Wesen auf dem ganzen Trautenstein, welches mit mir die Ähnlichkeit erkennt, das ist Susanna Reußner, die Magd, deren Bräutigam im Jahre Achtzehnhundertneun unter den Schillschen Husaren gefangen und von den Franzosen als Räuber unter dem Hochgerichte erschossen worden war, gleich Deinem Bruder Robert, mein Sever. Vor sieben Jahren war sie noch ein ausgelassenes, lustiges, hübsches Ding; was ist sie nun heute? Ach, wo ist das Rot der Wangen, der Glanz der Augen geblieben? Sie ist alt und still geworden vor der Zeit und lacht niemals, wenn auch alle anderen lachen auf dem Trautenstein. In dunkler Tracht schleicht sie müde einher und gedenkt fort und fort des toten Reiters, den ihr das feindliche Kriegsgericht nahm. Sie hat manch ein trauriges Lied, das singt oder summt sie, wenn sie sich allein oder unbelauscht glaubt. Gestern abend habe ich ihr aber doch eins vom Türmers-Töchterlein abgelauscht. Es lautet:

Sie neigt sich herab übers Turmgeländ,
So eisig die Stirn, so glühend die Händ';
Der Vater das Sünderglöcklein zieht,
Durch die Gassen hallt das Totenlied –
Jetzt holen sie ihn aus dem Kerker.

Die Trommel wirbelt, – Choralgesang!
Wie so hell tönt der Sünderglocke Klang!
Ihr Auge ist starr, ist thränenleer,
Wie ist das verödete Herz so schwer –
Und sie führen ihn vor das Rathaus.

Die Sonne so hell, die Luft so weich;
Ist die blühende Welt nicht ein Himmelreich?
Klein Vogel neben ihr zwitschert und singt,
Und die Arme-Sünderglocke klingt –
Sie haben den Stab ihm gebrochen.

Sie neigt sich, sie beugt sich, sie schauet herab,
Sie lächelt, sie lacht: Schön Schätze! im Grab,
Im Grabe ha'n wir uns wieder;
Was wollen die traurigen Lieder? –
Und sie schleifen ihn zur Richtstatt.

Tief unter ihr dehnt sich das Häusermeer,
Der Markt so voll und die Straßen so leer!
Dumpf rauscht es, dumpf wogt es, die Trommel erschallt,
Und leise das Sünderglöcklein hallt –
Der Ring ist geschlossen.

Sie neigt sich, sie beugt sich, sie faltet die Händ';
O Schätzel, o Schätzel, jetzt ist es am End'!
O Schätzel, o Schätzel! – Ein wilder Schrei,
Die Trommel die wirbelt – vorbei, vorbei –
Sie fanden im Grabe sich wieder.

Diese arme nachdenkliche Susanne hat mit mir erkannt, daß das Ännchen dem Bilde des »Fräuleins« oben im Kirchensaal gleiche. Ihr Auge haftet oft forschend auf dem bleichen, schönen Gesichte des Kindes, als ob sie etwas darin suche, was zu finden sie sich doch im Grunde der Seele fürchte. Mag das auch bloß Phantasie bei mir sein, ich vermag mich auf keine Weise dagegen zu wehren.

O, wer doch dieses Rätsel lösen könnte! Zweihundert Jahre alt ist dieses Bild, und der Maler hat das lebendige Ännchen gemalt; nicht das kranke Ännchen, sondern das Ännchen, wie es aussehen wird, wenn alle bösen Geister und Gespenster vor meiner Liebe die Flucht genommen haben werden.

Seltsam, seltsam, Severus! Dunkel und ahnungsvoll ist meine Seele; – welch ein Geschick birgt der Wald für mich und den Findling in seiner Tiefe? Dunkel und ahnungsvoll ist meine Seele, und dunkel, immer dunkler wird der Himmel über dem Walde. Es ist schwül, und ein Sturm zieht sich zusammen. Das Volk auf dem Trautenstein hat seine Arbeiten entweder ganz eingestellt, oder beschäftigt sich doch nur auf eine Weise damit, welche einsehen läßt, daß es nur halb dabei ist. Man schleicht umher, man sieht nach den Fenstern und Fensterladen; man betrachtet bedenklich die schwarzen, schweren Wolken; – man wartet! Wenn es doch nur erst losbräche!

Unerträglich ist dieses bängliche Harren auf das Verhängnis. Ist es nicht seltsam, daß in diesem Augenblick von allen Leuten auf dem Trautenstein das Ännchen am wenigsten das nahende Gewitter auf der Seele fühlt? Sie sitzt in einer Fensterbrüstung, hoch oben im Südturm. Als die ersten schweren Tropfen niederschlagen, streckt sie die Hand in die Luft hinaus, um einige derselben aufzufangen. Sie verläßt ihren luftigen Sitz auch dann nicht, als endlich, endlich der erste Donner langhallend durch die Thäler rollt. –

 

Bis tief in die Nacht hinein hielt das Gewitter an. »Es habe sich zwischen den Bergen gefangen,« sagte der Förster. »Das sei immer so; wenn es komme, so komme es ordentlich.«

Wie das rauschte und plätscherte, rollte, krachte, knatterte! Wie das in den Tannen sauste! In der weiten Schenkstube sammelte sich alles um die Lampe, welche die Base Kaltenborn anzündete. In dem Durcheinanderklingen der Elemente suchte ein jeder Schutz bei dem anderen. Die einen saßen stumm und starr in den Winkeln, andere beteten leise vor sich hin, wieder andere liefen unruhig auf und ab. Nur wenige zuckten mit Gleichmut die Achseln und hielten sich an den Trost, daß die hohe Forstdirektion im vergangenen Jahre einen Blitzableiter am Nordturm des Trautensteins habe anbringen lassen.

Ich sprach mit dem Vetter Kaltenborn über diesen Blitzableiter und kam von diesem Gesprächsthema auf ein anderes, ein verrostetes Hufeisen, welches über dem Hofthore befestigt war. Dasselbe hatte meine Aufmerksamkeit gleich beim ersten Anblick auf sich gezogen; ich hielt es für ein aus dem frühesten germanischen Heidentum herübergekommenes Zeichen vom Dienst des Wodan, für ein Schutzmittel gegen das wütige Heer, gegen den wilden Jäger und anderen geisterhaften Spuk.

Diese Vermutung sprach ich gegen den Vetter Kaltenborn aus, aber der Waldmann schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein, nein, Herr Kollaborator, damit hat's eine ganz andere Bewandtnis. So etwas hängt nicht an dem alten Eisen; aber wohl eine merkwürdige Geschichte, deren Wahrzeichen es ist. Lassen Sie sich von meiner Mutter erzählen, was es damit auf sich hat. Es ist recht ein Wetter dazu.«

»Ja, die Großmutter erzählt gut!« rief der Leutnant Bart. »Laßt Euch die Hufeisengeschichte von ihr erzählen, es wird Euch nicht gereuen.«

Ich wandte mich bittend an die alte Frau; das Ännchen drängte sich dicht an meine Seite, und aus dem fernsten, dunkelsten Winkel des Gemaches fing eine geisterhafte, zitternde Stimme ganz leise an zu erzählen. Und die Spinnräder schnurrten, und der Regen rauschte, und der Donner rollte.

»Jesus Maria! ... Schütz uns Gott!« schrie es dann und wann auf, wenn ein neuer Blitz herabzuckte.

Aber die geisterhafte, zitternde Stimme erzählte weiter. Was ich zu hören bekam, das wirst Du auf den folgenden Seiten finden. O Severus, Severus, immer geheimnisvoller winkt's und deutet's aus dem Waldesdunkel hervor. Mir winkt es, mir deutet es, allen anderen verborgen! Ich komme mir oft selbst recht thöricht vor; aber wie ich es auch versuchen mag, auf keine Weise kann ich diese Geistesstimmung, die mich zwingt, alles was geschehen ist und nicht geschehen ist, alles was geschieht und nicht geschieht, auf das Ännchen zu beziehen, abwerfen. Wenn man ein Rätsel zu lösen hat, sucht man überall Bezüge; und von neuem und immer wieder wiederhole ich, das süßeste, rührendste Rätsel ist mir das Ännchen.

Was hat nur die Geschichte vom Hufeisen von Trautenstein mit dem Ännchen zu thun?

Im Jahre 1703, im Herbst war's; da saß, nachdem auch ein Gewitter, wie das heutige, vorübergezogen war, das Volk, welches damals den Trautenstein bewohnte, in dem Gemache, welches heute die Schenkstube ist, zusammen. Der Mond schien, nachdem das Gewitter vorübergezogen war, hell in die Fenster; die Mädchen und Frauen sangen und spannen, und die Männer schwatzten von diesem und jenem, bis die Rede auf den wüsten Ort kam. Da brachen die Weiber ihren Gesang ab, eine Stimme verstummte nach der anderen, und zuletzt führte nur noch die hellste und wohltönendste die Melodie vom »Schürz Dich, Gretlein,« fort. Diese helle, mutige Stimme gehörte der Marie an, der jungen Magd des damaligen Försters, die ihren versprochenen Schatz nicht freien konnte, weil beide blutarm waren; die aber doch darum den Kopf nicht hängen ließ, sondern fest darauf baute, daß ein mutig fromm Herz allen Widerstand der Welt überwinde. Försters Marie hatte schon manchen faulen, feigen Burschen durch ihre frische Herzhaftigkeit beschämt; was sollte sie ihr Lied abbrechen, wenn sich auch alle anderen vor dem wüsten Ort grauten? ...

Ich war gestern mit dem Ännchen auf dem wüsten Ort. Jetzt ist da alles mit Grün zugewachsen, kaum daß hie und da noch ein altes Gemäuer aus dem Gebüsch hervorragt. Aber wie damals, so erzählt man auch heute noch unheimliche Dinge von dieser Stelle, und manche Sage hängt darüber, wie sich Spinngeweb über eine dunkle Ecke hängt. Ein reiches Dorf stand hier einmal; aber im dreißigjährigen Kriege, in der »Schwedenzeit« ist es »niedergegangen«. Viele Greuel sind hier geschehen, und obgleich der Wald über die Trümmer und das Blut gewachsen ist, so haben die Toten doch bis heute noch keine Ruhe in ihren Gräbern, sie gehen um und umschweben in nächtlicher Weile, manchmal aber auch am hellen, lichten Tage, den wüsten Ort; und manch einer hat Erfahrung davon.

Ist nicht der Susanne am hellen Tage, im Herbst des Jahres 1809, mittags um zwölf Uhr, als die Sonne hell schien, ein solcher Spuk begegnet? Ist nicht der Pastor des wüsten Dorfes vor ihr hergegangen, – ein alter Mann im schwarzen Predigergewand mit einer weißen Halskrause und Blutflecken darauf? Ist nicht das Gesicht der Erscheinung weiß gewesen, wie ein Totengesicht, und ist nicht der Priesterrock zerrissen und voller Brandflecke gewesen? Hat der Spuk nicht die Bibel im Arm gehalten, und ist er nicht langsam durch den Wald gegangen bis zu der Stelle, wo einst die Kirche des verlorenen Dorfes gestanden hat? Hat er da nicht die Susanne ganz starr angesehen und mit der Hand gewinkt, und ist er nicht verschwunden darauf, als ob ihn die Erde oder die Luft verschlungen hätte?

Halb wahnsinnig vor Angst ist die Susanne durch den Wald gestürzt, am folgenden Tage aber sind die westfälischen Gendarmen auf den Trautenstein gekommen und haben den daselbst versteckten Konrad, den Schillschen Reiter, gefunden und haben ihn zwischen den Pferden gefesselt fortgeführt, und der Herr von Rhoda, der westfälische Jägerhauptmann, hat sie kommandiert und hat nachher auch mit Kriegsgericht gesessen, welches den armen Konrad zum Tode verurteilte.

Ein Herr von Rhoda in schwedischen Diensten hat auch im dreißigjährigen Kriege den Überfall geleitet, bei welchem das Dorf zu Grunde ging. Durch die Jahrhunderte ist dieses Geschlecht, nach dem Willen des Geschicks, immer wieder von neuen mit der Geschichte dieses Waldschlosses verbunden gewesen, seit es für eine aus diesem selben Geschlecht aufgebaut wurde. –

Also in der Mitte des Sommers 1703 kommt in der Mondscheinnacht, nach dem Gewitter, die Rede auch auf den wüsten Ort, und jeder im Kreis weiß ein schaurig Wörtlein davon zu sagen, und ein jedes graut sich immer mehr und flüstert immer leiser, und nur die Räder schnurren nach gewohnter Art fort; nur die Marie bringt fröhlich ihr Lied zu Ende und lacht die anderen aus, reißt ihr Fädlein ab und ruft:

»Ach, 's ist alles eitel dumm Zeug mit dem wüsten Ort! Was hat's sich da mit Grauen und Gruseln und alten Lügengeschichten? Mir ist mein Lebtag noch kein Spukding um die wüsten Trümmerhaufen erschienen. Und wenn's geschehen wär', so hätt' ich ihm schön heimleuchten wollen.«

Da sehen sich alle anderen scheu um, und dann reden sie leise auf das kühne Mädchen ein: sie solle schweigen, sie solle sich nicht versündigen an den Toten; es sei ein bös Ding darum, und sie möge wohl sprechen also hier im Kreise der Lebendigen, draußen aber, in dieser Stund', am wüsten Ort, würde ihr aber doch wohl der Mund geschlossen sein, und das Herz ihr klopfen gleich einem Schmiedehammer.

Da streicht Marie mit beiden Händen ihre Schürze glatt, schiebt das Spinnrad von sich und ruft: »Was gebet Ihr mir, so geh' ich jetzt auf der Stell' und hol' Euch zu jetziger Stund' einen schwarzgebrannten Stein aus dem Backofen des wüsten Dorfes im Walde; und mit jedem Gespenst, so mir in den Weg kommt, mach' ich einen Tanz.«

Zwischen Grausen und Wunder blickten alle auf das schöne Mädchen, welches alle Mannspersonen auf dem Trautenstein durch ihren Mut beschämte. Die meisten haben anfangs ihr Wort für einen Scherz genommen, aber Marie ist dabei geblieben, ist aufgesprungen und hat gerufen: es sei ihr blutiger Ernst um ihr Wort und sie werde es auf der Stelle lösen, wenn man mit ihr wetten wolle.

Da ist ein groß Hin- und Widerreden gewesen, und endlich ist man einig geworden, man wolle der Marie ein silbern Halskettlein geben für einen schwarzgebrannten Stein aus dem Backofen am wüsten Ort, geholt um Mitternacht, in der Geisterstunde.

»Gut denn!« hat die Marie gesagt und dabei gelacht, daß ihre weißen Zähne wie Perlen geglänzt haben. Ein Tuch hat sie über den Kopf gebunden, und aus dem Hause ist sie gesprungen, über den Hof, über die Zugbrücke, welche damals noch vorhanden gewesen ist. Auf der Brücke hat die ganze Bevölkerung des Trautensteins, alt und jung, groß und klein, gestanden, und hat der verwegenen schönen Magd nachgeblickt, wie sie durch den Nebel und den Mondenschein über die Wiese auf den Wald zugesprungen ist. Die Männer haben sich ein wenig geärgert und geschämt, die Weiber haben gezittert, und einige haben gemeint: es sei ein großes Unrecht, daß man die Marie habe gehen lassen; man habe sie zurückhalten sollen.

Aber Marie hat von alledem nichts vernommen, gradaus läuft sie wie ein Reh über die nebelige blinkende Wiese, und vor ihr steht der Vollmond, grade über dem Walde, und alle Wetterwolken haben sich vom Himmel verzogen. So kommt das Mädchen in den Wald, da tröpfelt es noch und klingt wieder wie die Tropfen niederfallen von Blatt zu Blatt. Hie und da schüttelt sich leicht ein Baum, als lache er leise in sich hinein, daß der Sturm mit langer Nase habe abziehen müssen. Aber der Marie fängt das Herz nun doch an zu pochen, wie der Hochwald dunkler, immer dunkler wird, je weiter sie ins Gebüsch vordringt. Jedes Fünklein Mondenlicht ist ihr wie ein rechter Gottestrost. Sie fängt, um sich Mut zu machen, an zu singen; das Lied vom »fahrenden Fräulein« hebt sie an, aber die Stimme, sonst so hell, erstickt ihr in der Kehle. Sie sagt wohl: dummes Zeug! aber drückt doch die Hand fest aufs Herz, um sein Klopfen zu mindern. So schreitet sie immer vorwärts, – immer vorwärts, bis der Wald sich lichtet, und der Mondenschein wieder die Oberhand über den Schatten kriegt. Gemäuer erhebt sich hie und da. Des Mädchens Fuß stößt an lose Steine, der schauerliche Ort ist erreicht. Dort lag die Kirche, dort das Gemeindehaus, dort war der Brunnen, in welchen man die armen Kinder hinabstürzte!

Das Mädchen steht inmitten der unheimlichen Trümmer und blickt scheu um sich, um sich zu orientieren. Rechts von ihr erhebt sich der noch ziemlich wohl erhaltene Backofen des verwüsteten Dorfes. Das silberne Halskettlein zu gewinnen muß das Mädchen in die dunkle Öffnung desselben hineinkriechen.

Sie zaudert und möchte umkehren und im vollen Schauder davon fliehen. Da gedenkt sie aber des Gelächters, welches sie dann auf dem Trautenstein bewillkommnen wird.

Nein, nein, nein, sie sollen über die Marie nicht lachen! das brächte sie um!

In die dunkle Höhlung schlüpft das Mädchen, – sie tastet, – sie löst einen Stein aus dem alten Gemäuer los, eben will sie wieder aus der feuchten kalten Wölbung vorkriechen, – da erschrickt sie heftig und fährt zusammen und lauscht. Alle die vernommenen Schreckensgeschichten werden urplötzlich lebendig in ihrer Seele.

»Was war das? horch, horch ... schütze mich Gott, horch, – da, da!«

Das klingt wie der Hufschlag eines Pferdes – tap – tap – tap – tap.

Schwindelnd hält sich Marie am Mauerwerk, ohne jedoch den eroberten Stein fallen zu lassen. Sie denkt: es ist doch wahr, was sie erzählen; sie denkt: das ist der Schwedenreiter, der Trompeter, welchen die vier Männer des verwüsteten Dorfes, die gerettet wurden, nach der Zerstörung betrunken unter den Trümmern gefunden haben, den sie an den Füßen aufgehängt und gräßlich zu Tode gepeinigt haben! Das ist der schwedische Trompeter, der in der Geisterstunde auf seinem Schimmel den wüsten Ort umreitet!

Und unwiderstehlich zieht's das zum Tode erschrockene Mädchen, daß es aus dem Dunkel vorlugen muß; und richtig zwischen den Baumstämmen jagt ein Schimmel heran; ein Reiter sitzt darauf und hält was Dunkles vor sich im Sattel.

»Das ist der Trompeter!« denkt Marie und fährt zurück in die Höhlung des alten Gemäuers – aber da hört plötzlich der Hufschlag auf. Der gespenstische Reiter muß sein Roß angehalten haben.

Richtig! – die Marie hatte nicht die Schürze vors Gesicht geschlagen, wie es hundert andere an ihrer Stelle gethan haben würden; – sie schaut vor aus ihrem Versteck, und zehn Schritte davon steht schnaubend das weiße Pferd, und ein hoher Mann in grüner Jägertracht mit einem Federhut, ein Mann, der Gold auf den Nähten seines Kleides und einen Hirschfänger an der Seite trägt, ist abgestiegen und hebt eine Frau vom Sattel herunter.

Das Mondlicht fällt auf das wunderschöne, totenbleiche, angstverzerrte Gesicht dieser Frau, und eine lange goldene Flechte hat sich losgelöst im wilden Ritt und hängt über ihre Schulter.

Nun sieht Marie wohl, daß es der Schwedenreiter nicht ist; aber ihr Schrecken vermindert sich darum nicht. Der Wald soll nicht dem Monde keusch ein süßes Geheimnis verbergen; – nein, die schöne, bleiche, fremde Frau wimmert so kläglich und wirft sich nieder in das nasse Gras und umfaßt die Knie des Mannes, wie in allerhöchster Angst. Sie fleht um Verzeihung, sie bittet um Gnade, um Barmherzigkeit, – um Gottes willen, um ihres Kindes willen, um ihrer Mutter willen.

Die Zweige tröpfeln noch immer nach; sonst aber ist die Nacht so still, so ruhig geworden, daß das Mädchen vom Trautenstein, trotz ihrer eigenen Angst, den leisesten Klagelaut der Fremden vernimmt.

Was wird das geben? was soll da geschehen?

Nun knüpft der fremde Mann den Zaum des weißen Pferdes, welches ihn und die verzweifelnde schöne Frau hergetragen hat in die Wildnis zu dem wüsten Ort, an ein Bäumlein.

Die Frau wimmert leise und ringt die Hände:

»Ulrich, Ulrich, um unseres Kindes willen, Erbarmen, Erbarmen! Was willst Du thun, Ulrich, Ulrich!«

»Kümmere Dich nicht um das Kind, Luise; bete, bete, Melander von Rhoda, Dein Buhle ist tot – bete, Luise, auch Dein Urteil ist gesprochen!«

Das Weib lacht im Krampf des halben Wahnsinns; aber der schreckliche Mann zieht die Kniende in die Höhe, der Mond scheint ihr voll ins Gesicht, – o welche Augen hat sie gemacht!

»Fort!« sagt der Mann. »Du wirst müde sein vom langen Ritt; fort, Du sollst nun Ruhe haben.«

Auch er lacht, und die Marie erzittert darob bis ins tiefste Gebein.

»Ulrich, Ulrich, Erbarmen!« fleht das Weib, aber der Mann faßt es um den Leib: »Fort!«

Er zieht sie von dannen; sie schwankt, er stützt sie, ihr Haupt liegt auf seiner Schulter: man könnte sich vorstellen, ein seliges Liebespaar suche in dem Schatten des Waldes seine Wonne vor jedem Lichtstrahl zu verbergen. Aber im höchsten Entsetzen blickt ihnen Marie nach. Das unbekannte Paar wendet ihr den Rücken zu, – über den wüsten Ort führt der Mann das Weib; ihre Schatten fallen lang über das alte Gemäuer. Das weiße Roß sieht ihnen auch nach bis sie verschwunden sind, dann wiehert es, und mit einem wilden Schrei stürzt die Marie aus ihrem Versteck hervor, reißt den Zügel des Schimmels von dem Ast, halb bewußtlos schwingt sie sich in den Sattel – weit aus greift das Roß, durch den Wald jagt im wildesten Galopp das kühne Mädchen dem Trautenstein zu, ohne sich umzusehen, ohne den schwarzen Stein, nach welchem sie ausging, mitzubringen.

Auf dem Trautenstein sitzen die Leute in Angst und Sorge um Marie. Allzulang für die Entfernung des wüsten Ortes bleibt sie aus. Die Männer sprechen bereits davon, auszuziehen und sie zu suchen. Auf der Brücke steht ein Haufe und blickt nach dem Walde herüber und teilt sich untereinander mit leiser Stimme die ängstlichsten Vermutungen mit. Aber plötzlich schweigt alles und lauscht:

»Horcht! horcht!«

»Es war, als klang ein Ruf herüber!«

»Da wieder!«

»Was ist das? da! da!«

Und wieder der angstvolle Ruf! Zwischen den Stämmen des Waldes bewegt sich ein weiß, schimmerndes Etwas. Ein Roß, ein weißes Roß jagt über die Wiese auf den Trautenstein los –

»Die Marie! Die Marie!«

»Zu Hilfe! Hilfe, zu Hilfe! In den Wald, ihm nach, ihm nach! Hilfe, Hilfe, er mordet sie!« ruft Marie, den Schimmel bändigend und halb tot herabsinkend. An allen Gliedern zittert sie und vermag kaum noch zu reden, zu erzählen. Um sie drängt sich das Volk und fragt und schlägt die Hände über den Köpfen zusammen und starrt das fremde, stolze, schnaubende Pferd an. Nun hat die Marie so viel Atem geschöpft, um berichten zu können; ein Schrei geht durch den Haufen der Lauschenden, dann stürzen die Männer zu ihren Büchsen und Hirschfängern, und die Weiber fürchten sich, allein zurück zu bleiben, mit Fackeln schließen sie sich an, und fort eilt der ganze Haufen nach dem wüsten Ort, voran als Führerin die kühne Marie die auch ein blankes Weidmesser in der Hand trägt. Nun wird der Wald durchsucht, weit und breit um das Gemäuer des verwüsteten Dorfes, aber vergeblich ist alles gewesen; als ob die Erde die beiden Fremden verschluckt habe, ist's gewesen. Todmüde kommen mit dem Morgengrauen die Suchenden zurück zum Trautenstein. Da steht noch immer der Schimmel angebunden am Hofthor; in seinen Satteltaschen forscht man nun und findet ein Paar köstliche, goldene Pistolen und einen Beutel mit Goldstücken, aber durchaus keinen Ausweis darüber, wem das alles gehören mag. Im tiefen Walde haben sie dazumalen sich wenig genug um die Justiz und die Polizei draußen vor den Bergen gekümmert. Sie haben, so zu sagen, ihre eigene Gerechtigkeit gehabt tief im Walde; so haben sie auch in dieser wunderlichen Sache nach eigenem Gutdünken gehandelt und nicht die fürstlichen Beamten und den Fiskus dazwischen kommen lassen. Der Schimmel steht und steht im Stall auf dem Trautenstein, thut auch vorkommende Arbeit; aber niemand fragt nach ihm und fordert ihn ab. So wird er alt und blind, und die Jahre vergehen und er stirbt; – man nagelt zum Angedenken das Hufeisen von ihm an das Schloßthor.

Die herrlichen Pistolen hat der damalige Förster behalten; den Beutel mit dem Golde haben aber alle Leute auf dem Trautenstein der kühnen Magd Marie zuerkannt, da auch nach ihm niemand geforscht hat. Mit diesem Golde hat sich Marie ein Heimwesen gegründet; es hat kein Unsegen darauf gelastet. Das mutige Mädchen hat ihren Liebsten nun freien können, und sie sind sehr glücklich miteinander geworden, sie haben viele Kinder miteinander gezeugt, und jetzt im Jahre 1816 dient wieder eine Magd ihres Namens: Susanne Reußner auf dem Trautenstein. Deren Schatz jedoch, Konrad Wolf, wurde durch das westfälische Kriegsgericht, in welchem auch der Hauptmann Otto von Rhoda saß, zum Tode verurteilt. So laufen seltsam, dem Menschenauge meistens unerforschlich, die Geschicke von Völkern und Individuen durcheinander, und je tiefere Blicke in dies Gewirr zu thun uns vergönnt wird, in desto unabsehbarere Ferne, in desto dunklere Abgründe verliert sich das Auge. Mit dem Schicksal der Nationen legen wir in Demut unser eigenes Schicksal in die Hand der Gottheit und wissen mitten im geheimsten Schauer ahnungsvollen Nichtwissens, daß es einem Auge keine Geheimnisse giebt, nicht im grenzenlosen Weltall, nicht auf dieser kleinen Erde, wo unser Dasein zwischen Freude und Leid, dunkel bewegt einen kurzen Augenblick hinfließt.

Ich weiß es nicht, weshalb Anna von Rhoda dem auf dem Schlachtfelde bei Talavera gefundenen Ännchen gleicht.

Ich weiß es nicht, was mich so fest, so ununterbrochen in den Zauberkreis dieses vielleicht so gleichgültigen Rätsels bannt!

 

Alle Leute auf dem Trautenstein lieben das Ännchen und freuen sich seiner: nur die Susanne allein blickt noch finsterer als gewöhnlich, wenn ihr das Kind in den Weg kommt. Auch Ännchen wird in der Gegenwart der armen Magd noch scheuer und stiller als sie gewöhnlich ist. Woher kommt diese Antipathie zweier Menschen, welche sich doch nie irgend etwas zu Leid gethan haben können?

Als ich die Susanna darum fragte, gab sie mir eine ausweichende Antwort, wandte sich zu ihrer Arbeit und murmelte etwas, was ich nicht verstand.

Ännchen meinte, sie könne sich nicht wohl fühlen in der Nähe der Magd; aber weshalb, könne sie nicht angeben; es sei ihr unter dem Blick Susannens, als werde die Luft schwerer; – sie könne für dieses Gefühl nichts und fühle recht gut, daß es unrecht sei, also zu fühlen. –

Welch ein wonnig Leben! Die Leute des Waldschlosses gehen ihren Geschäften und Arbeiten nach, ohne sich um den Kollaborator und das Pflegekind des Leutnants Bart zu kümmern; der Leutnant Bart selbst hat nicht das mindeste dagegen einzuwenden, daß sein holdes Pflegekind mit dem lateinischen Schulmeister unbewacht in den Bergen umherstreift: er raucht in Ruhe sein Pfeifchen unter der Linde im Schloßhofe, er weiß, daß sein Kind gut aufgehoben ist unter dem Schutze des Kollaborators Wolkenjäger.

Und über Fritz und Ännchen schüttelt die Einsamkeit des Waldes alle ihre Segnungen und Seligkeiten aus.

Welch ein unaussprechlich selig Ferienleben nach – dem großen Kriege!

Da rauscht mitten in der allertiefsten Einsamkeit ein Wässerchen klar und kühl. Wie von unwiderstehlicher Sehnsucht gezogen, sucht es durch die grüne Dämmerung des Forstes seinen Weg, um sich in wonniglichen Schauern einem anderen lustigen Bach in die Arme zu stürzen. In der düstern Brautkammer einer geheimnisvollen Felsenschlucht geschieht dies; aber jubelnd über die endliche Vereinigung suchen die Wasser sogleich das Tageslicht und die fröhliche Sonne. Zwischen den Felstrümmern und Riesentannen springen sie hervor in ein liebliches Waldthal. Hier hat, ungefähr eine Stunde vom Trautenstein entfernt, ein Köhler seine Hütte aufgeschlagen. Ein schwarzer Meiler dampft daneben, und der schwarze Kohlenbrenner geht darum herum mit seiner Schürstange, die qualmende Pfeife im Munde; voll von Liedern, Sagen und Schnurren. Die Zuneigung Ännchens hat der rußige Gesell in so hohem Grade gewonnen, daß ich fast eifersüchtig auf ihn werden könnte. Fast kein Nachmittag verstreicht, ohne daß Ännchen ihm, seiner Ziege und seinem Meiler einen Besuch abstattet. Das Geschick, welches den Kollaborator Wolkenjäger an das schöne Mädchen gefesselt hat, treibt ihn natürlich ihr auch auf diesen Wegen nach. So kommt es, daß oft bis in die Abenddämmerung hinein, der einsame Köhler die allerbeste Gesellschaft bei seiner Arbeit hat, und eifrige Zuhörer bei allen seinen Geschichten.

Dieser Mann ist die lebendige Chronik des Waldes, und Sage und Geschichte würfelt er nicht mehr, wie jeder andere Historiker, durcheinander. Und er redet gut; – Ännchen und ich lieben den scharfen Duft des frischgespaltenen Tannenholzes, lieben dieses seltsame nachdenkliche Köhlerhandwerk, welches sich so leicht ansieht und so schwer auszuüben ist, – Ännchen und ich lieben den Ton, in welchem der künstliche Köhler seine Sagen und Erzählungen vorträgt. In der schwarzen Hütte des einsamen Mannes hängen an Fäden aufgereiht kunstvoll abgestimmte Holzkohlenstücke, diese weiß unser rußiger Freund anzuschlagen, daß sie eigentümlich melodische Töne von sich geben; zu einer großen Fertigkeit hat er es auf diesem eigentümlichen Musikinstrument gebracht, und den Melodien, welche er darauf hervorbringt, gleichen seine Geschichten ganz und gar.

Das Ännchen findet am meisten Gefallen an seinen Sagen von Nixen, Feien, Kobolden, klugen, guten und bösen Zwergen, verzauberten Prinzen und Prinzessinnen, gewaltthätigen Riesen und Zauberern. Mich interessieren mehr seine historischen Erörterungen, die aber, wie schon gesagt, nie ganz reine Historie sind, sondern immer von der Sage durchwoben.

Ich habe ihn auch nach dem Geschlechte derer von Rhoda gefragt, und er hat mir mancherlei davon erzählt. Einige Stunden gegen Süden liegt auf einem Felsen die Rhodenburg in Trümmern. Von ihr leitet das Geschlecht seinen Namen ab. Der erste Rhodenburger kam unter einem hohenstaufischen Kaiser aus Schwaben in das Sachsenland und baute die Burg. Durch die Jahrhunderte hat das Raubvogelnest der bösen Ritter auf seiner Felsenecke trotzig geklebt, dem umliegenden Lande zum Schaden und Elend. Aber das Geschlecht hat das Schicksal des deutschen Rittertums geteilt; von ihren Höhen sind die Adler und Geier in die Ebene hinab geflattert und sind zum zahmen gefräßigen Gevögel geworden, welches die Throne unserer kleinen und großen Potentaten umgackert und umgirrt. Manch ein Mauerstein der alten stolzen Rhodenburg wurde in das Mauerwerk des Trautensteins eingefügt, und der Trautenstein wurde für ein Fräulein von Rhoda gebaut, welches die Maitresse eines winzigen Herzogs war. Allen fremden Fürsten und Völkern verkauften die Rhodenburger von da an ihr Blut, ihr Schwert; für sein deutsches Vaterland aber ist seit der Sporenschlacht, der Schlacht bei Guinegast, welche der letzte Ritter, Kaiser Maximilian der Erste, den Franzosen abgewann, kein Herr von Rhoda gefallen.

Ja, Severus, das Volk weiß solches recht gut, und mehr und mehr tritt ihm sein Wissen ins Bewußtsein, – Gott helfe weiter dazu! –

 

Sever, es ist geschehen; plötzlich, urplötzlich, unbegreiflich ist es Licht geworden. Die Offenbarung ist gekommen; alles schwankt rings um mich her; – ich will deshalb so methodisch als möglich mein Tagebuch schreiben, das mag auch ein Hilfsmittel sein, daß ich nicht untergehe im Sturm und Taumel der Gefühle. O wäre doch jetzt der kühle Sever an meiner Seite!

Einen Quandelpfahl einzuschlagen, einen Meiler aufzuschichten, ist der Platz am besten geeignet, wo schon einmal Kohlen gebrannt sind, mag es auch vor hundert Jahren geschehen sein. Das ist eine alte Köhlerlehre und eine wahre. Da unser schwarzer Freund auf der einen Stelle seine Arbeit vollendet hatte, so suchte er ein wenig tiefer im Walde einen anderen Platz auf, um daselbst von neuem sein künstlich Gebäude von Fichtenscheiten aufzubauen. Während des Prozesses des Verschwelens darf ein Kohlenbrenner seinen Meiler keinen Augenblick verlassen; Tag und Nacht muß er bei der Hand sein, daß nicht im Innern des mit Rasen bedeckten Haufens eine helle Flamme ausbricht, und seine Mühe und Arbeit vergeblich wird.

Während der Aufrichtung eines neuen Meilers hat ein Köhler mehr Zeit, und so kam es denn, daß er heute am Nachmittag Ännchen und mich fragte:

»Habt Ihr schon den Seigergrund gesehen?«

Auf unsere verneinende Antwort meinte er:

»O das müßt Ihr sehen! Habt Ihr das nicht gesehen, so habt Ihr nichts im Gebirg gesehen. Jetzt gleich wollen wir gehen, – wartet, ich will eine Fackel zurecht machen. Ohne die wär's allzu gefährlich.«

Wir folgten sogleich dem Voranschreitenden, der uns eine Berglehne hinauf und nach halbstündigem Marsche in eine tiefe Felsenschlucht hinab führte.

Der Mann hatte recht, Sever, wer den Seigergrund nicht sah, der kennt das Gebirge nicht. Im Seigergrunde habe ich die Lösung der Geschichte vom Hufeisen am Thor des Trautensteins vernommen; im Seigergrund habe ich erfahren, weshalb das Bild im Betsaal dem Ännchen von Talavera gleicht; im Seigergrund habe ich erfahren, wer das Ännchen von Talavera ist; im Seigergrund hat das Ännchen – doch ich werde mich selbst verlieren, wenn ich auf diese Weise fortfahre! Höre, höre, Sever!

Die Sonne strahlte vom unbewölkten blauen Himmel, – seit jenem Gewitter, von welchem ich schon berichtet habe, hatte es nicht wieder geregnet; dessenungeachtet war es so feucht in dem Seigergrunde, daß das Ännchen ihre Röckchen hoch aufschürzte, und ich die Hosen in die Stiefelschäfte stopfte. Üppige Ranken hingen von den moosigen Felsenmassen nieder, Vergißmeinnicht und andere, die Feuchtigkeit liebende, Pflanzen wuchsen prächtig zwischen den riesenhaften Steintrümmern; Eidechsen und Frösche sonnten sich auf Stellen, welche die Sonne traf, ein kleines Schlängelein schoß ringelnd dicht vor meinen Füßen hin und verbarg sich im hohen Grase. Die Schlucht war nicht breit, aber zu beiden Seiten war der Felsen ausgehöhlt, und das erstaunte Auge erblickte eine dunkle Grotte über der andern, aus welchen eiskalte Luftströme hervordrangen.

Ännchen klammerte sich ängstlich an meinen Arm, wir standen vor einer schwarzen Höhle, welche in das Innere des Gebirges zu führen schien; – auch mir fröstelte bei dem schaurigen Anblick – das war der Eingang zur Hölle Dantes, – still, totenstill, – geheimnisvoll, schrecklich!

»Das ist ein uraltes Bergwerk, verlassen zu einer Zeit, von welcher man nichts mehr weiß,« sagte unser Führer. »Zu beiden Seiten der Schlucht sind die Berge ausgehöhlt. Es ist nicht zu sagen, wie weit das hineingeht, es kommt einem ein Grauen an darüber. Eine halbe Stunde lang zieht sich der Seigergrund fort, und ununterbrochen werdet Ihr zu beiden Seiten diese Wölbungen und Stollenmündungen sehen. Nun will ich Euch ein wenig davon zeigen; aber sehet Euch vor, daß Ihr Euch nicht erkältet; es ist bitter kalt im Innern des Berges.«

»Wollen wir hinein, Ännchen; oder wollen wir draußen bleiben?« fragte ich.

»O, ich fürchte mich nicht; ich will Dir folgen, wohin Du gehst, Federigo!« sagte Ännchen, und wir traten seitwärts in eine der dunkeln Höhlungen.

»Fürs erste brauchen wir die Fackel noch nicht,« meinte unser Führer. »Nun blickt aufwärts und unterwärts und zur Seiten, Ihr werdet Merkwürdiges genug sehen.«

Sever, meine Feder erlahmt in der Schilderung dessen, was wir sahen. Jetzt aufrecht, jetzt gebückt krochen wir in das Eingeweide des Berges hinein. Jetzt fiel aus der Höhe durch eine Öffnung das Sonnenlicht in die Finsternis, und die Felsenwand, die es traf, funkelte magisch wie bedeckt mit Millionen von Diamanten. Jetzt wieder leuchtete nur ein schwacher grauer Schein wie aus weiter, weiter Ferne, – bald verengten sich die Wölbungen, bald dehnten sie sich zu mächtigen Hallen aus. In eine derselben, in welche wiederum durch eine Felsenspalte ein Sonnenstrahl fiel, stand der Köhler still und wies auf einen Stein, welcher sich von der Wand abgelöst hatte und ziemlich inmitten der Höhle lag.

»Hier hat man sie gefunden,« sagte er, »oder vielmehr das, was noch von ihr übrig war. Die Füchse werden sehr bald den Weg zu ihr hineingefunden haben.«

»Wen hat man gefunden? was hat man gefunden?« rief ich.

»Nun erschreckt nur nicht, es ist schon hundert Jahre her! Die Wachensteinerin hat hier gelegen, oder ihr Gerippe; die Frau des Herrn von Wachenstein, einige Gebeine, ein goldner Ring mit dem Wappen von Wachenstein, einige Schnallen und ein Waidmesser, dessen Klinge von Rost zerfressen war. Haben sie Euch die Geschichte davon nicht erzählt drüben im Jagdschloß?«

»Doch, doch!« rief ich mit heimlichem Schauer. »Aber daß es so zu Ende gegangen ist, haben sie uns nicht erzählt.«

»Ja, ja,« lachte der Köhler, »wenn die da drunten bei ihrem Hufeisen angekommen sind, dann geht das Geschwätz durcheinander; sie haben die Geschichte allzu oft erzählen müssen, und das Hufeisen bleibt für sie doch immer das Merkwürdigste; für mich aber nicht.«

»Erzähle uns diese Geschichte; erzähle sie uns hier an dieser Stelle!« rief Ännchen mit einem Eifer, den ich sonst durchaus nicht an ihr kannte. Sie stand gleich einem Engel des Lichtes in dem flimmernden Sonnenstrahl, welcher aus der Höhe in den schwarzen, unheimlichen Raum fiel. Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden, Sever; auch der Köhler blickte schweigend noch einige Augenblicke zu ihr herüber; es war so still um uns her, daß wir das Klingen der Wassertropfen hörten, welche durch das Gestein sickerten in einer noch tieferen Tiefe.

»Der Herr von Wachenstein,« begann nun unser Führer, »war drunten im Lande Oberlandjägermeister und ist mit Vornamen Ulrich geheißen gewesen. Er war ein vornehmer, schöner Herr, und seine Frau, die an dieser Stelle gefunden wurde, war auch aus einem adeligen Geschlechte, und an dem Hofe des Fürsten drunten die schönste Frau. Das war dazumalen eine wüste Zeit; die was Rechtes sein wollten, mußten in allen Schanden und Sünden das Meisterstück gemacht haben und in französischer Art darüber lachen können, sonst lachte man über sie selbst. Das gemeine Volk, welches nicht Französisch konnte, war nur dazu da, das französische Lachen mit seinem Schweiß und seinem Blut zu bezahlen; – es ist ein teuer Ding, das französische Lachen, und ein gelehrter Mann hat mir mal gesagt, wenn es nicht gewesen wäre und noch wäre, so könnte die deutsche Nation König sein auf dem ganzen Erdball. Doch davon mögen andere besser reden; ich habe nur von der Frau von Wachenstein zu erzählen und von dem Herrn von Rhoda, so sie ins Verderben gebracht hat und schuld daran gewesen ist, daß ihr schöner Leib in dieser Höhle hat verkommen müssen. Der Herr von Rhoda, mit Namen Melander geheißen, hat das französische Lachen recht aus dem Grunde verstanden; er hat es in der Stadt Paris selbst gelernt und sein Hab und Gut als Lehrgeld dafür hingezahlt. So ist er aus dem welschen Land heimgekehrt an den Hof des Kurfürsten und hat sich bald so in dessen Gunst und Gnaden eingeschlichen, daß derselbe nichts ohne den Melander hat thun können. Damals ist unter dem Hofgesindel, den Fürsten mit eingeschlossen, unter den deutschen Speichelleckern und dem französischen und italienischen Abenteurervolk der Oberjägermeister Ulrich von Wachenstein der einzige ehrliche Mann und sein Weib Luise die einzige keusche Frau gewesen. Das hat nun alle die anderen sehr ergrimmt, daß die beiden nicht auch so schlecht gewesen sind, wie sie selbst, und einmal an des Kurfürsten Tafel ist um Mitternacht die Rede darauf gekommen, und alle die hohen Herrschaften haben über den Wachensteiner und seine Gemahlin gespottet und gelacht. Sie sind alle in der Trunkenheit gewesen, Männer und Frauen, und Herr Melander von Rhoda, des Fürsten Günstling, ist aufgesprungen und hat sich vermessen: er wolle binnen kurzer Zeit die Oberjägermeisterin auch in diese mitternächtigen Wüsteneien locken, und wolle machen, daß sie unter den Tollen und Ausgelassenen die Tollste und Wildeste sein solle. Wie haben da die anderen gejubelt und hin und wieder geschrieen! Wetten haben sie darauf gemacht, und der Kurfürst hat selbst mit dem Herrn von Rhoda gewettet um die Ehre seines treuesten Unterthans. Aber der Melander hat wie ein Teufel in sich hereingelacht und hat sein vorgenommenes böses Werk angefangen am anderen Tage; – sie haben ihm nämlich zur Ausführung desselben ein Vierteljahr Zeit gegeben, bis zum Anfange der Jagd in diesen Bergen. Auf dem kurfürstlichen Jagdschloß Riesenburg drüben an der Südseite des Gebirges haben sie dann das Gelingen oder Mißlingen des höllischen Vorsatzes nach ihrer Art feiern wollen. Was ist doch Verführung für ein fein Ding und doch – nach dem Tod – das gewaltigste. In die feinsten Ritzen und Spalten der Seele dringt sie ein; sie holt den Bauer vom Pfluge weg und den König vom Thron herab, sie beschleicht den Prediger auf der Kanzel und den Rechtskundigen auf dem Richterstuhl, der Jungfrau flüstert sie im Kirchstuhl ins Ohr und die Mutter reißt sie fort von der Wiege ihres Kindes. Was kann der Gewalt der Verführung widerstehen, wenn Gott nicht seine Hand dazwischen hält? ... Als der Versucher zum erstenmal an die arme Luise von Wachenstein trat, da fand er sie über der Wiege ihres Kindes; er flüsterte in ihr Wiegenlied und sie brach es ab, um ihm zu lauschen. Da war sie verloren! ... Ja, der Herr Melander von Rhoda war ein schöner Mann, wenn er auch nicht so schön war wie Herr Ulrich von Wachenstein; in Falschheit war des Weibes Sinn gesetzet und sie war nur so lange gut und brav, als die Verführung fern von ihr blieb. Doch ist die Sache nicht so schnell gegangen, aber endlich war die deutsche Sitte auf französische Art weggelacht, und der Rhodaer gewann seine Wetten; so daß der ganze kurfürstliche Hof ihn als einen Meister pries. Lange genug dauerte es, ehe Ulrich von Wachenstein daran glauben wollte, daß seine Frau eben ein solches Wesen, wie alle die anderen Damen am Hofe geworden wäre. Wohl gab es bald gute Freunde, welche ihm davon ins Ohr flüsterten; aber Melander und Luise trieben ihr üppig Spiel so im geheimen; und der Fürst sandte seinen Oberjägermeister so oft in die Ferne in allerlei Aufträgen, daß der ganze Sommer des Jahres Siebzehnhundertunddrei darüber hinging, ehe dem Ulrich das schreckliche Licht der Wahrheit ganz hell und klar leuchtete. Allmählich rückte nun der Herbst ins Land, und die Zeit der Jagden begann, die Zeit, wo der Kurfürst mit seinem Hofe nach der Riesenburg zu ziehen pflegte. Da ward der Oberjägermeister vorauf in die Berge gesandt, für das Vergnügen der hohen Herrschaften alles in Stand zu bringen. Da wurden die Bauern von ihrer Arbeit zusammengetrieben, um mit zu helfen im Walde; – es war dazumalen keine Lust, ein Bauer zu sein! ... Nun war bis jetzt die Frau von Wachenstein niemals mit den anderen zur Riesenburg gezogen; still und sittsam hatte sie daheim gesessen bei ihrem lieblichen Kinde, und gar kein Verlangen hatte sie gehabt, an dem wilden lustigen Treiben im Walde teil zu nehmen. Jetzt war das aber anders geworden; der Herr Melander hatte ja sein Meisterstück an der Frau des Wachensteiners gemacht; – so verlangte jetzt Luise vom Herrn Ulrich, daß sie mit dem Kurfürsten und den anderen in den Wald ziehen möge, wie es einer vornehmen Dame zukomme. Da war alles Reden und aller Zorn des Oberjägermeisters vergeblich. Vergebens beschwor er sein verblendetes Weib bei ihrer Liebe, bei ihrem Kinde zu bleiben wie sie sei. Sie antwortete nur: sie sähe keinen Schaden daran, daß sie ihr Leben genießen wolle gleich allen anderen, sie habe nicht mehr Lust, eingeschlossen zu sitzen gleich einer Nonne. Und der Melander hat es einzurichten gewußt, das der Fürst sein Wörtlein hat dazu geben müssen, und wie solches ausgefallen ist, das könnet Ihr Euch wohl leichtlich vorstellen. – So hat der Wachensteiner zuletzt eingesehen, daß alles Reden und Bitten vergeblich gewesen ist, da hat er eine schreckliche Drohung ausgestoßen und hat sich auf sein Roß geschwungen und ist wild davongejagt gegen das Gebirge, sein schweres Hofamt auszuführen, und die armen Bauern haben zuerst seinen Zorn erfahren müssen. Zur Frau Luise ist aber noch ihre alte Amme getreten und hat ihre Knie umfaßt und hat die Dame, bei allem was heilig ist, beschworen, nicht zur Riesenburg zu fahren; aber da ist gerade der Herr von Rhoda gekommen, der hat mit seinen Scherzworten die letzten Gewissensbisse verjagt; mit den anderen Damen ist die Oberlandjägermeisterin in den Wald gefahren. Im ganzen Lande ist, bei allen Leuten, welche nicht Französisch verstanden und gesprochen haben, die Riesenburg verrufen gewesen, als ein Ort aller Sünden und Laster, welche die Menschen seit Adams Zeiten erfunden haben. Da ist der Becher aller wilden Lust übergeschäumt; – Ihr braucht nur heute noch dort durch die Säle zu gehen und die Bilder an den Wänden und Decken ansehen, so werdet Ihr schon erkennen, was für ein Leben man vor hundert Jahren dort, im Herbst, getrieben hat. – Wenn die hellen Fenster der Riesenburg nächtlich in den Wald hinausgeglänzt haben, dann sind wohl die Köhler und Holzfäller scheu hinangeschlichen bis an die Gartengitter und haben zwischen Grauen und Lust den Tönen gelauscht, die von dem Schlosse herübergedrungen sind. Sie haben auch gesehen, wie die schönen Herren und Damen in der Dämmerung auf der Terrasse und in den Baumgängen lustwandelten; – sie haben mancherlei gesehen. – Nun ist eines Tages eine große Jagd gewesen, und auf dieser Jagd hat der Oberlandjägermeister einem Gespräche seiner Frau und des Herrn von Rhoda gelauscht; darüber ist er totenbleich geworden und hat den Hirschfänger halb aus der Scheide gezogen, hat ihn aber wieder hineingestoßen, als besänne er sich eines anderen; – hat auch nichts gesagt, sondern seiner Pflicht obgelegen, als ob alles in seiner Seele in Ordnung sei. Die Jagd ist an diesem Tage herrlich ausgefallen, und alles auf der Riesenburg ist am Abend in der besten Laune gewesen. Da haben sie in dem großen Saale bei der Tafel gesessen – die kurfürstlichen Gnaden mit ihrem ganzen Hofstaat, und neben dem Herrn von Rhoda hat die Wachensteinerin gesessen mit glänzenden Augen, schön und stolz. Dem Herrn von Rhoda aber winkte der Kurfürst lächelnd zu, und alle andern thaten dasselbe; – er hatte alle seine Wetten gewonnen, an diesem Abend feierte er seinen Triumph. Der Wachensteinerin aber gegenüber war ein leerer Stuhl, welcher dem Oberlandjägermeister bestimmt war. Die ganze Tafelrunde lachte und spottete an diesem Abend viel über diesen leeren Sessel. Und die Musik erschallte, die Kronleuchter strahlten im Schein von vielen hundert Lichtern, und aller Glanz wurde durch die hohen Spiegel verdoppelt. Wo war der Oberlandjägermeister Ulrich von Wachenstein? Der lag im dunklen Forste in der Hütte eines armen Waldhüters, lang auf der Erde ausgestreckt vor dem Feuer, mit verhülltem Gesichte, und der alte Waldhüter saß neben ihm, und die Hunde lagen um ihn herum und wimmerten leise, wie die Hunde thun, wenn sie merken, daß ihrem Herrn schlecht zu Mute ist. Des Oberlandjägermeisters weißes Pferd aber war vor der Hütte angebunden und steckte von Zeit zu Zeit den Kopf in die Thür und blickte nach seinem Herrn hin. – Auf der Riesenburg dauerte das Festgelage fort; Mitternacht hatte es längst auf dem Schloßturme geschlagen, – die wilde Lust war auf das höchste gestiegen, als ein Diener dem Herrn von Rhoda etwas ins Ohr flüsterte. Dieser schaute überrascht

auf, dann lächelte er, blickte über die glänzende, lichtvolle Tafel, nickte seiner Nachbarin zu und erhob sich leise und verließ den Saal. Es merkte kaum einer der berauschten Gesellschaft darauf; eine aber merkte darauf und das war die Wachensteinerin. Die überkam es auf einmal so seltsam, – kreideweiß ist sie geworden, und ihre Augen wurden ganz starr und gläsern, sie blickte grade aus, als könne sie durch die Wand sehen und mit einem mal schrie sie gell auf, und die ganze Gesellschaft sprang im höchsten Schrecken von den vergoldeten Sesseln. Draußen dicht vor den Fenstern des Festsaales war ein Schuß gefallen, – ein Pistolenschuß. Diener stürzten mit Windlichtern hinaus in die Nacht und – man trug die Leiche des Herrn Melander von Rhoda in den Bankettsaal. Auf den Stufen der Terrasse hatte man den Toten gefunden – die Kugel war ihm durch das Herz gegangen. Nun hat wohl ein jeder gewußt, wer den Rhodaer erschossen hat, gesagt hat es aber keiner, es ist allen zu Mut gewesen, wie den Leuten im Saal des Königs von Babel, als die Hand hervorkam und die unbekannten Zeichen an die Wand schrieb. Das lustige Getümmel der Damen und Kavaliere ist zerstoben, die Lichter sind erloschen, auf dem Teppich im Bankettsaal ist nur der tote Melander zurückgeblieben. In ihrem Gemache aber ist Luise von Wachenstein wie eine Wahnsinnige gewesen. Sie hat die ganze Nacht um Hilfe und Schutz geschrieen und hat drohende Gesichter in allen dunkeln Ecken gesehen und hat sich erst bei aufsteigender Sonne ein wenig beruhigt. Da hat sie nun geweint und gefleht: man möge sie nach Hause schicken, und man hat ihr willfahret. Um Mittag schon ist sie in ihrer Kutsche mit wenigen Begleitern abgefahren von der Riesenburg; – der Oberlandjägermeister hat sich aber noch nicht lassen sehen, es ist gewesen, als ob er gar nicht mehr auf der Welt wäre. Keiner hat seinen Namen ausgesprochen. Der ganze Tag ist schwül gewesen und dunkle Wolken haben den Himmel verhangen, und die Jagdhunde haben unruhig, ängstlich geheult; aber das Gewitter ist doch erst am Abend losgebrochen. Nun sitzt die unglückselige Luise in ihrer Kutsche und betet und zittert, und ihre Augen sind rot vom Weinen. Sie denkt, zu Hause will sie ihr Kind nehmen und mit ihm entfliehen und sich verbergen, wo niemand sie finden wird. Ihre Kammerfrauen wollen sie trösten, aber sie schüttelt nur den Kopf, und der Wagen fährt weiter durch das Gebirge, die Pferde schnauben, und die Bedienten steigen ab; – es geht eben den steilen Hunneberg hinauf, auf dessen Gipfel die Grenzpfähle von dreier Herren Ländern stehen. Es ist gegen sechs Uhr abends und schon ganz dämmerig. Es wetterleuchtet über der Ebene, die im Süden zwischen den Bergen herüberblickt. Die kurfürstliche Residenzstadt liegt da im grauen, schwülen Gewitterdunst versunken. Als der Wagen die Höhe erreicht, hebt sich ein Lüftchen auf und raschelt zwischen den Blättern und treibt einen Staubwirbel gegen die Kutsche heran. Und der Kutscher zieht die Zügel an, – da hält ein Reiter auf einem Schimmel auf der Höhe des Weges und man sieht ihn schwarz auf dem dunkeln Himmel. »Fahr zu, Kerl!« sagte der Bediente, »was geht's Dich an, was einer passiert?« und der Kutscher peitscht auf die Gäule, daß sie wieder anziehen. Der Reiter hält unbeweglich, bis der Wagen bei ihm ist, und die Frau von Wachenstein seiner ansichtig wird, und einen schrillen Angstschrei ausstößt. Da hebt der Reiter den dreieckigen Hut mit der Goldborde vom Kopfe, verbeugt sich und sagt: »Guten Abend, Madame; ich habe Euch erwartet hier und bitte Euch, auszusteigen.« Er steigt selbst vom Pferd und bietet der halb ohnmächtigen armen Frau den Arm, und sie sinkt fast nieder auf dem Waldwege in den Staub. Jetzt hört man von der Ebene her den ersten Donner heranrollen, und der Wachensteiner – denn er ist es gewesen – schreit plötzlich wild dem Kutscher zu: »Fahr zu, Hund! was hast Du zu warten! fort mit Euch; Madame reitet mit mir!« ... Was sollen die Leute thun? Die Frauen kreischen und halten die Hände vor die Augen, der Kutscher schlägt wie toll auf die Pferde, bergunter jagt die Karosse, und im Umsehen sieht der Bediente noch, wie der Herr von Wachenstein sein Weib auf den Sattel hebt und selbst sich nachschwingt; dann verbirgt der Tannenwald die Höhe des Hunneberges. Was geht sie's auch an, wohin der Wachensteiner mit seiner Frau reitet; sie haben nur drunten in der Ebene Bericht davon abzustatten, auf welche Weise ihnen auf dem Hunneberg die gnädige Frau verloren gegangen ist. – Der Wachensteiner aber drückt seinem Schimmel die Sporen in die Seiten und jagt über den Grenzgraben, aus dem kurfürstlichen Gebiet in das herzogliche. Bergunter jagt er im wildesten Lauf; sein Weib hält er vor sich auf dem Sattel und fühlt ihr schuldiges Herz angstvoll gegen das seine klopfen. Bergauf und -ab spornt er sein Roß, und kein Wort sagt er auf der Frauen Weinen und Flehen. Ihr muß es schrecklich auf dieser wilden Jagd in Herz und Hirn ausgesehen haben, und dazu bricht das Gewitter mit aller Macht los. Der wahnsinnige Reiter kümmert sich darum so wenig, wie um seines Weibes Jammer. Er reitet durch Donner, Blitz und Regen, er reitet durch den Mondenschein, der nach dem Gewitter kommt. Er kennt das Gebirge wie das Innere seiner Hand; in seinem wahnwitzigen Grimm hat er sich den wüsten Ort zur Stelle seiner Rache ausgesucht, da wird er aber verscheucht durch den Aufschrei der kühnen Marie vom Trautenstein; er reißt die elende Luise weiter fort; und gedenkt an den Seigergrund. So hat man hier an dieser Stelle das gefunden, was im Jahre 1708 noch übrig war vom sündigen Leibe der Wachensteinerin.«

Der Köhler schwieg; ich stand in tiefem Grauen auf der unheimlichen Stelle. Es mußte plötzlich eine Wolke vor die Sonne gezogen sein, denn der Strahl, der bis jetzt die feuchte, kalte Höhle erleuchtet hatte, schwand, und wir standen in trübster Dämmerung und blickten nach allen Seiten in die schwärzeste Nacht.

»Licht! Licht! Um Gotteswillen Licht!« bat plötzlich mit den Tönen der flehendlichsten Angst Ännchen. Ich hielt zum Tode erschrocken das arme Kind in den Armen; der ganze zarte Körper erzitterte.

»Licht! Licht!« rief auch ich. »O bitte, bitte, zündet Euere Fackel an – schnell, schnell.«

»Soll sogleich geschehen sein!« rief der Köhler. »Mut, Jungferchen – gleich haben wir Licht – da!«

Er schlug Feuer an; – schon die vom Stahl und Stein springenden Funken waren ein tröstlicher Anblick. Ein Schwefelfaden wurde angezündet und damit die Fackel in Brand gesetzt.

»Wir wollen sogleich wieder an das Tageslicht, liebes Ännchen. Wir wollen nicht weiter hinein in diese schrecklichen Grüfte – gleich werden wir wieder die Sonne sehen!«

Ich wandte mich, um das zitternde Mädchen zurückzuführen: die bittersten Vorwürfe machte ich mir, daß ich ihre kranke Seele solchen Schrecknissen ausgesetzt habe; aber zu meiner Verwunderung hielt sie krampfhaft meine Hand:

»Nein, nein, um Jesu willen, nicht da, nicht da zurück! Da hinein hat er sie geschleppt; – daher schleppte er ihren armen Leib sich nach! Wehe, wehe, und wie er sie fortschleifte in diese Grabeshöhle, da hat sie uns verflucht – verflucht hat sie das Haus Rhoda, als ob der Fluch der eigenen Ahnen nicht schon schwer genug darauf lastete, seit dem unglückseligen Weib, der Anna von Rhoda, der Trautenstein gebaut wurde!«

»Anna, Anna?!« rief ich entsetzt, erstarrt. »Was ist das? was sprichst Du, – Anna, liebes Ännchen?«

»Ja, Anna heiß ich, wie jene Verblendete. Hat der Vater nicht ihre Geschichte erzählt zu Paris im Salon der Frau Herzogin von Abrantes? Die Herzogin hielt mich auf dem Schoß und spielte mit meinen Locken und gab mir Bonbons; aber ich hörte doch nur dem Vater zu.«

Es drehte sich alles um mich her; – war das Traum! war das Wahrheit? Der Köhler stand in eben solcher starren Verwunderung, solchem Schrecken wie ich; das Licht seiner Fackel spielte rotglühend an den Steinwänden der Höhle, in welcher der Leib Luisens von Wachenstein vermodert war.

Und dieses so lange gesuchte Rätsel, welches sich jetzt so plötzlich, auf so seltsame Weise löste! Ich war dem Wahnsinn nahe.

»O die Geschichte von der Frau von Wachenstein und von dem Chevalier Melander von Rhoda kenn' ich auch,« fuhr der Findling vom Schlachtfelde von Talavera fort. »Das hat der Vater zu Madrid erzählt; – da war auch eine Dame, welche mich oft auf den Schoß nahm; aber ich habe ihren Namen vergessen. Fort, fort, – die Engländer rücken an, – horch, das sind die Pfeifen der Hochländer; – fort, fort, – o mademoiselle Adelaide, l'ennemi! la mort! sauvez-vous, mademoiselle Adelaide!«

Von neuem faßte ich die Annie, – die Anna von Rhoda in die Arme, um sie nötigenfalls aus dem Dunkel hervor an das Licht des Tages zu tragen. Aber sie sträubte sich noch heftiger als zuerst.

»Nein, nein, – nicht da hinaus – da hinaus ist es dunkel, da hinaus ist es solche schreckliche Nacht. Vorwärts – weiter – geht weiter, – laßt uns weiter – jenseits des Berges scheint die Sonne, – o bitte nicht in die Finsternis – in das Licht, in das Licht!«

»Laßt uns thun, wie sie will, Herr,« flüsterte der Köhler mir zu. »Es ist vielleicht besser so – das Herz zittert mir im Leibe, – Gottes Hand ist über uns – laßt ihr ihren Willen, – folgt mir und fürchtet Euch nicht, wir finden das Licht drüben wieder!«

Mit welchen Gefühlen, Sever, Sever, folgte ich, Anna von Rhoda führend, der voran leuchtenden Fackel. Sever, die Schauder der allertiefsten Einsamkeit und Verlassenheit, in welcher wir schritten, waren machtlos gegen mich. Was kümmerte es mich, ob der Weg hinauf oder hinab führte, ob er schmal und niedrig, oder hoch und breit war? Was kümmerte mich das geheimnisvolle Wasser, das einmal unter uns dumpf rauschte? Ich fühlte die Hand Ännchens in der meinigen, der Berg konnte kein größeres Geheimnis in seinem Schoße bergen, als das, welches mir eben offenbart worden war. Licht! Licht! Licht!

Ja Licht! Der Begriff Zeit war für mich verschwunden, ich weiß nicht zu sagen, wie lange wir in der Finsternis umher wanderten. Plötzlich stieß unser Führer die Fackel auf den Boden, daß sie erlosch; über uns, wie es schien in unendlicher Ferne, strahlte ein heller Stern.

»Das ist der Tag!« rief der alte Köhler. »Gradaus – empor geht der Weg!«

»Das ist der Tag, Anna von Rhoda!« rief auch ich. »Gesegnet seiner Tag; Ännchen, lieb Ännchen!«

Das Gesicht barg Anna an meiner Brust, und so standen wir atmend eine ganze Weile stumm und blickten zu dem holden Lichte empor, bis sich unsere Augen gewöhnt hatten; dann stiegen wir empor und Dantes Worte sprach ich, ohne zu wissen wie das kam:

»Und als ich rastlos strebend aufwärts drang,
Da blickte durch der Felsschicht ob're Mündung
Des Himmels Herrlichkeit zu uns hinein
Und eilig stieg ich vor aus ihrer Mündung
Und grüßte nun der Sterne gold'nen Schein.«

Aber nicht die Sterne standen am Himmel; in roter Glut der Abendsonne lag der stille Wald da. Ein Häher hackte an einer Eiche, die Grillen zirpten im Grase. Unser Führer nahm das Mützchen in die schwarzen Hände und betete leise. Neben dem niederknienden Ännchen kniete ich. Dann gingen wir Hand in Hand still durch den Wald der Hütte unseres alten Freundes zu. –

 

Vor der Köhlerhütte saß auf einem Baumstumpf der Leutnant on half pay Wolfgang Bart, wie gewöhnlich aus der kurzen Soldatenpfeife blaue Rauchwolken vor sich hin blasend. Er saß in tiefen Gedanken und bemerkte unsere Ankunft nicht eher, als bis wir dicht vor ihm standen. Anna von Rhoda ließ jetzt meine Hand los, mit ausgebreiteten Armen stürzte sie vor dem Alten nieder, schlang die Arme um ihn, barg ihr Gesichtchen an seiner Brust, hob es wieder und flüsterte weinend und lachend:

»O lieber Vater, o Väterchen, auf alles hat sich Dein armes Kind wieder besonnen! Lieber, Lieber, das arme Ännchen weiß nun wieder wie es heißt – Anna von Rhoda wurde es einst genannt – o Vater, Vater, nicht wahr, das arme Ännchen bleibt doch Dein Kind, es bleibt doch Deine Tochter?«

Der alte Soldat wollte sich erheben, aber er sank kraftlos zurück auf seinen Sitz; er wollte sprechen, aber die Zunge versagte ihm ihren Dienst. Von dem thränenüberfluteten Gesichte seines Pflegekindes blickte er zu dem Köhler und mir empor, als erwarte, als erflehe er von uns die Lösung des ihm Unbegreiflichen – Unverständlichen.

Wir konnten nur mit dem Kopfe nicken; und so legte er die Hand auf die Locken Annas, bis er sich gesammelt hatte.

»Was sagst Du da, mein Kind?« sprach er endlich. »Was ist geschehen? ... wie Du mich ansiehst! Halt' ich hier noch meine alte Annie? Kind, Kind, wiederhole mir, was Du vorhin sagtest, mein alter Kopf schwindelt allzusehr, als daß ich es so leichtlich fassen möchte.«

»O mein liebster Vater,« schluchzte Anna von Rhoda; »küsse mich und versprich mir, das Du nie von Deinem Kinde lassen willst. Sieh, die Annie hat Dich so lieb, trotzdem daß es auf einmal so ganz hell in ihrem Geiste geworden, und sie sich an alles erinnert, was vorher mit ihr geschah, ehe Du sie auf dem Schlachtfelde zwischen den Toten aufhubst! Gott ist so gnädig gegen mich gewesen; er hat mich in den Seigergrund, in die schreckliche Höhle geführt, von welcher mein Vater zu Paris erzählt hat und da – da – da hab' mich plötzlich auf alles besinnen können. O mein Vater! mein Vater!«

Die Schmeichelworte, die süßen, sinnlosen Ausrufe, welche eine Mutter in solchem Augenblick gebraucht hätte, gebrauchte der alte Krieger, sein Pflegekind zu beruhigen. Dazwischen wanderten immer noch seine Blicke zwischen mir und dem Köhler hin und her. – –

Die Sonne war längst herabgesunken, die Dämmerung füllte längst den Wald, und noch immer saßen wir vier Menschen vor der Köhlerhütte. Was geschehen war, war gesagt; was darüber zu sagen war, war gesprochen. Nun sprach keiner mehr. Das Ännchen hatte das müde Haupt an die Brust des Leutnants gelehnt; der Leutnant hielt meine Hand; der Köhler saß ein wenig abseits. In der Stille des schweigenden, nächtlichen Waldes mußten wir alle uns erst wieder in unserer Seele zurecht finden, ehe wir wieder unter die Menschen gehen konnten.

Was wirst Du sagen, Sever, wenn Du dieses, mein Tagebuch zu Gesicht bekommen wirst? Du wirst nach Deiner Art meine Weise zu denken und das Leben aufzufassen verwünschen; – ich weiß ja, um wie viel Du den hellen, nüchternen Sonnenschein dem magischen, aber verwirrenden, zweifelhaften Lichte des Mondes vorziehst. Ist es nicht seltsam, daß hier, an dieser Stelle, nach solch einem wunderbaren Ereignis, wo mir, mir, dem »träumerischen Narren« eigentlich alles Phantasie und Märchen werden müßte – ist es nicht seltsam, frage ich, daß mir auf der Bank vor der Köhlerhütte, Deine Anschauung von Welt und Leben, als die richtigere, die bessere – die einzige erschien?

Es ist seltsam und ist es zugleich nicht.

Wo das Wunder in so überraschender, in so betäubender Weise über einen Menschen hereinbricht, da sucht und tastet und greift das Ich in wahrer Verzweiflung nach der nüchternen, kalten Wahrheit. Das Wunder macht nicht lebendig, das Wunder tötet! Leben ist nur in der Wahrheit!

Wie verlangte ich nach der Wahrheit, nach der ganzen, vollen, und durfte und konnte doch nur Mutmaßungen aneinander reihen. Wohl hatte sich dem Ännchen ein Teil der Geschichte ihres Daseins enthüllt, aber nur wie die Sonne durch einzelne enge Spalten in die Höhlen des Seigergrundes fällt. Anna von Rhoda erinnerte sich nur, wie ein Kind sich erinnert; sie wußte ihren Namen, sie wußte, daß sie ihrem Vater auf dem Schoß gesessen habe: sie erinnerte sich an Spielzeug, an schöne, vornehme Damen, die mit ihr getändelt hatten, an eine Mademoiselle Adelaide, mit welcher sie durch die Welt gezogen war; sie erinnerte sich an die Namen einiger französischen und spanischen Städte, wo ihr Vater sich aufgehalten haben mußte, sie erinnerte sich auch an eine Frau – ihre Wärterin; an ihre Mutter erinnerte sie sich aber durchaus nicht.

»O fragt mich nicht weiter, mein armer Kopf schmerzt so!« rief sie. »Laßt mich bleiben, was ich bin; mein Vater ist tot, sonst hätte er sein Kind wiedergefunden; nun laß mich Dein Kind bleiben, Du mein Vater Bart. Gedenke nur daran, wie wir zusammen durch die weite Welt und über so große Meere gezogen sind; denke daran, wie ich an Deiner Seite ritt, und wie ich am Abend am Feuer neben Dir saß und wie Du mich mit Deinem Mantel bedecktest, und wie die Freunde und Genossen alle auf Deine Bitten nicht mehr sangen und schwatzten, wenn ich müde war. Dein Kind will ich bleiben, Du mein rechter Vater; – oder sag, willst Du die Annie verstoßen?«

»Nein, nein, um Gottes willen!« rief der Leutnant. »Aber, Herz, bedenke nur, Dein rechter Vater mag doch noch zurückkehren, – bedenke, Du bist ein vornehmes Fräulein und magst hier im Lande vornehme Verwandte haben, und die werden vielleicht nicht zugeben, daß ich Dich behalte.«

»Ob sie von mütterlicher Seite Verwandte hat, weiß ich nicht,« sagte der Köhler; »aber vor der Sippschaft des Vaters ist sie sicher; Herr Otto von Rhoda, der unter dem westfälischen Kontingent mit nach Spanien zog, war der letzte seines Geschlechtes, so wird Anna von Rhoda die allerletzte des Stammes sein.«

»Ich bin nichts als die Annie, ich bin nichts als das arme Ännchen!« schluchzte das junge Mädchen, und das Herz wollte mir bei ihren klagenden Lauten zerspringen vor Wehmut, und doch jubelte es zu gleicher Zeit über die Erlösung der Geliebten.

»Und meine Annie, mein einziges Ännchen sollst Du bleiben in alle Ewigkeit!« rief der Leutnant mit einer Stimme, welcher man auch die verschluckte Wehmut anhörte. »Und nun wollen wir uns auf den Weg machen; sie möchten sonst drunten auf dem Trautenstein besorgt um uns werden. Gott, was werden die sagen, wenn sie erfahren, was –«

»Meiner Meinung nach, Leutnant,« sagte der Köhler, »meiner Meinung nach wär' es besser, sie erführen drunten noch gar nichts von dem, was wir heute erfahren haben. Überlegt Euch das, Leutnant.«

»Was meint Ihr, Kollaborator, Ihr seid ein kluger Mann?«

Ich hielt den Rat unseres Freundes, des Köhlers, für gut und befolgenswert; schon der Augen wegen, die sonst alles unberufene Volk über das arme Ännchen machen würde, und der nutzlosen Fragen wegen, welche es verfolgen würden. Ich sagte diese meine Meinung, und der Leutnant sprach:

»Ihr mögt wohl recht haben; es wird das beste sein, daß wir schweigen. Nun gute Nacht, Freund Köhler; kehrt doch bald einmal vor auf dem Trautenstein. Für meine müden Füße ist der Weg ein wenig zu weit.«

»Soll geschehen, Leutnant: aber haltet, ich will Euch doch lieber eine Fackel mitgeben, die anhält bis zum Heerweg. Der Wald ist stichdunkel, und vom Monde werden wir heute abend nicht viel zu sehen bekommen. Da, Herr Schulmeister, tragt den Brand und hört, behütet mir das Jungfräulein wie Euern Augapfel; sorgt, daß ihr Fuß an keinen Stein stoße und macht ihr ihren Weg – so glatt und sanft wie möglich! Verstanden?«

»Verstanden, alter schwarzer Freund! Behüt Euch Gott!«

»Behüt Euch Gott!« sagte Anna von Rhoda und legte ihr kleines weißes Händchen in die schwarze harte Faust des redlichen Waldarbeiters. »Ich werde immer an Euch gedenken und an den Seigergrund auch. Ich werde immer zu Euch kommen, so lange ich hier im Wald auf dem Trautenstein wohne; – ich will Euch nie vergessen und den heutigen Tag auch nicht – bis in den Tod nicht.«

»Das soll ein Wort sein, lieb' Kind, und Ihr sollt mir willkommen sein wie der Sonnenschein.«

»Gute Nacht! Gute Nacht!«

So nahmen wir Abschied, und mit der Fackel schritt ich voran und leuchtete dem Leutnant Bart und der Anna von Rhoda vor durch den dunkeln Wald.

In der Nähe des wüsten Ortes standen wir alle drei plötzlich still und lauschten einem Gesange, der schwermütig, wie es schien von dem Fußsteige her, welchen wir beschritten, erklang. In der stillen Nacht vernahm man die Worte ganz deutlich:

»Meinen Liebsten sie haben gefangen gebracht,
Sie führeten zwischen den Pferden ihn hin;
Und sie ritten von zwei bis zu vier in der Nacht,
Dem Hufschlag, dem Hufschlag gefolget ich bin.

Und sie ritten bergauf, und sie ritten thalein,
Die Nacht war so dunkel, kein Sternlein gab Licht;
Dem Hufschlag ich folgt' über scharfes Gestein,
Durch Dornen und Distel, und spürte es nicht.

Was Dornen und Distel und scharfes Gestein?
Was Nachtwind und Regen und höhnendes Wort?
Wohl schlug mir das Herze zu schlimmerer Pein,
Sie führten den Liebsten in Ketten mir fort.

Und sie ritten wohl über die hallende Brück',
Da konnt' ich dem Hufschlag nicht folgen mehr;
Wild stießen sie mich von der Pforte zurück
Und kreuzten darüber die eiserne Wehr.

Wohl rauschen die Wasser die ganze Nacht,
Wohl hämmert das Herze und wird nicht still;
Und wird er am Morgen heraus nun gebracht,
Bis zum Tod, in den Tod ich ihm folgen will.«

»Das ist die arme Susanne!« rief der Leutnant. »Sie werden sie uns entgegen geschickt haben, weil sie gefürchtet haben, wir möchten in der Dunkelheit den Weg verfehlen. Susanna! Heda, holla, Susanna!«

Die Stimme der Sängerin klang ein wenig näher:

»Sie jagten mit dem Morgengraun
Wohl über die grüne Heide;
Da rief Herr Schill im Ummeschaun
Die Säbel aus der Scheide!
Und alle Reiter jauchzten laut,
Die haben sich nicht umgeschaut, –
Der Herr von Schill ritt vorne.«

»Susanna! Susann«!« rief der Leutnant, aber die Sängerin fuhr in ihrem Liede fort:

»Vorbei, vorbei die lust'ge Jagd,
Herr Schill, der ist erschossen;
Und manche, die's mit ihm gewagt,
Die stürzten von den Rossen.
Doch jeder rief im Sterben noch:
Der Herr von Schill, der lebe hoch,
Reit uns voran zum Himmel!

Vorbei, vorbei, o Vaterland,
Wie ist's um Dich ergangen;
Es hat der Feind mit böser Hand
Manch kühnen Mann gefangen;
Manch Reiter unterm Hochgericht
Lacht' stolz dem Tode ins Gesicht,
Dem Vaterland zu Ehren,
Der Schillschen Ruhm zu mehren!«

»Ich fürchte mich so vor ihr!« flüsterte Anna, indem sie sich noch dichter an ihren Pflegevater anschloß. »Ich weiß, daß sie mich haßt, und ich möchte immer weinen, wenn ich sie ansehe.«

Jetzt fiel mir erst auf die Seele, was für ein Blutstrom zwischen der Magd vom Trautenstein. und der Tochter Ottos von Rhoda floß. Nun wußte ich, weshalb Susanna mit mir die Ähnlichkeit Annas mit dem Bilde im Betsaal erkannt hatte.

Aus der bewegten, traurig-trotzigen Tonweise ihres letzten Liedes fiel die Sängerin von neuem in die langsame, klagende Melodie ihres ersten Sanges zurück:

»Wohl rauschen die Wasser die ganze Nacht,
Wohl hämmert das Herze und wird nicht still;
Und wird er am Morgen heraus nun gebracht,
Bis zum Tod, in den Tod ich ihm folgen will.«

Der Leutnant stand plötzlich still.

»Was ist das?« sagte er. »Hat sie ein Pferd mit sich gebracht?«

»Das klingt so!« sagte ich und hielt die Fackel hoch, den Fußsteig zu beleuchten.

»Was ist das? Da kommt sie. Seht, Kollaborator, hat sie wie ihre Ahnfrau, die kühne Marie, auch ein Abenteuer auf dem wüsten Ort gehabt? Holla, Susanna, woher hast Du den Schimmel?«

Vor uns stand die Magd, ein weißes schnaufendes Roß am Zügel haltend; eine Laterne in der linken Hand tragend.

»Es ging da reiterlos im Gebüsch; weiß nicht wem's gehören mag. Sattel und Mantelsack liegen ein Stück weiter waldeinwärts, wir können das mitnehmen auf den Heimweg. Sie haben mich Euch entgegen geschickt, daß Ihr Euch nicht verlaufen solltet im Forst.«

»Aber das Roß, das Roß, Susanne! Hast Du keine Spur von dem Reiter gesehen?«

Die Magd schüttelte den Kopf.

»Hatt' keine Lust, nach ihm zu suchen im wilden Wald. Die Männer können nach ihm ausgehen, wenn wir heimgekommen sind.«

»Nun denn, vorwärts. Das ist auch ein merkwürdig Abenteuer. Wahrlich, dies ist ein Tag des Wunders!« rief der Leutnant, und wir setzten unseren Weg fort. Susanne folgte uns mit dem Schimmel.

Ungefähr tausend Schritte weiter rief sie: »Hier sah ich es weiß durchs Buschwerk gehen; es nagte an den Zweigen – dort hinüber an der Eiche liegt das Reitzeug – der Gurt ist gesprungen.«

Ich eilte hinüber und fand richtig einen Sattel und einen Mantelsack. Wir legten beides dem unbekannten Gaul so gut als möglich wieder auf und kamen endlich auf den Heerweg. In der Ferne schimmerten rötlich durch die Baumstämme die Lichter des Trautensteins.

Plötzlich stieß Anna von Rhoda einen Schrei aus.

»Da, seht da, ein Mensch liegt dort!«

Ich sprang mit der Fackel, welche jetzt allmählich zu einem kurzen Stumpf herabgebrannt war, vor. Quer über den Weg lag wirklich ein Körper; der Körper eines stattlichen Mannes auf dem Gesicht. Der Schimmel streckte seinen Hals vor, beroch den Liegenden und wieherte leise. Ich gab die Fackel dem Leutnant und versuchte den Leib vom Gesicht aufzuheben. Der Mann war nicht tot, aber vollständig bewußtlos.

Auch Susanne leuchtete ihm ins Gesicht, auch sie stieß einen gellenden Schrei aus. Von sich warf sie die Laterne und den Zügel des Pferdes. Mit hoch erhobenen Händen stürzte sie fort, dem Trautenstein zu und ließ uns in Verwunderung und neuem Schreck bei dem besinnungslosen unbekannten Mann zurück. Die Fackel war jetzt so weit herabgebrannt, daß der Leutnant sie fallen lassen mußte, wenn er sich nicht die Hand verbrennen wollte.

Im nächsten Augenblick befanden wir uns in tiefer Dunkelheit. –

Wir sollten jedoch gottlob nicht lange in dieser ratlosen Lage bleiben. Vom Trautenstein her wurde es laut unter den Bäumen; Lichter leuchteten von dort herüber, Stimmen und Fußtritte näherten sich uns; – auf einmal fanden wir uns von fast allen Bewohnern des Waldschlosses umgeben.

Laternen und Fackeln warfen ihr unbestimmtes Licht über alle die aufgeregten Gesichter.

»Da, da, da liegt er!« schrie wild Susanne Reußner. »Sehet ihn an, ob er es nicht ist! Gelobt sei Gott der Rächer; ... ich will vergelten, spricht der Herr!«

Sie stürzte neben dem fremden Manne, dessen Haupt in meinem Schoß lag, auf die Knie nieder. Mit unsanfter Hand warf sie ihm die grauen wirren Haare aus der Stirn und blickte ihm starr in die Augen, die er eben öffnete und wirr umhergehen ließ im Kreise.

»Er ist es, er ist es, o heiliger Gott, wie ein Hund liegt er hier an der Landstraße – kennt Ihr ihn? kennt Ihr ihn? seht ihn an – ha ha, er, ein deutscher Edelmann, welcher die französischen Häscher auf den Trautenstein führte. Denk an Konrad Wolf, Du falscher, falscher Verräter! Seht alle, alle, alle, das ist er, – das ist der elende Mann, welcher seines Landes treuestes Blut an die Franzosen verkaufte, – das ist der Herr von Rhoda!«

Wir wußten alle, wen die Susanne in dem fremden Mann erkannt, nun sie aber seinen Namen in die Nacht hinein ausrief, ging es doch wie ein elektrischer Schlag jedem durch alle Glieder. Ohnmächtig lag Anna von Rhoda in meinen Armen.

Ein Murren des Zornes ging von den jüngeren Männern aus, Verwünschungen und Flüche wurden laut. Die älteren Männer jedoch, vor allen der Leutnant und der Vetter Kaltenborn, suchten den Zorn der anderen zu beschwören, suchten die wilde Susanne zu beruhigen.

Der Förster suchte das Mädchen empor zu ziehen.

»Nein, nein, Susanne: so geht das nicht; – steh auf, Dirne, ich will das nicht leiden. Du magst recht haben, es ist der Herr von Rhoda; aber Du sollst ihn nicht töten durch Dein Geschrei. Steh auf, Dirne, und wenn er den ganzen Trautenstein, mit allem was drum und dran hängt, an die Wälschen verkauft hätte, so wollt ich doch nicht solch Wesen um ihn dulden, und ihn jetzt umkommen lassen hier im Graben.«

»Ja, steht auf, Susanne,« sagte der Leutnant. »Seid ein gutes Mädchen und denkt an Eueren Katechismus; Ihr Frauensleute sprecht ihr doch zu, – daß ist ja ein unchristlich Gebahren!«

Die Weiber vom Trautenstein wichen alle zurück und murmelten: »Sie ist in ihrem Recht; er hat ihr ihren Liebsten erschießen lassen unter dem Galgen.«

»Und ich sage, sie soll ihn jetzt lassen; oder ich thue gegen sie, was mich nachher gereut!« schrie wild der Förster Kaltenborn, mit dem Fuße aufstampfend. »Seht, er liegt wieder wie ein Toter und kann uns unter den Händen sterben; man soll vom Vetter Kaltenborn nicht sagen, daß eine Menschenkreatur vor seiner Thür ohne Hilfe umgekommen sei. Wer von euch Burschen will helfen den Mann zum Trautenstein zu tragen?«

Alle die jungen Leute schwiegen finster.

»Nun bei Gott, seht das Volk!« rief der Förster. »Keiner von ihnen hat unterm Feuer gestanden, keiner hat eine Büchse losgebrannt gegen den Feind, jeder trägt seinen Pack Sünden und Laster aufgehuckt und will doch hier den Zimperlichen spielen. Also – Ihr da von der Legion, Vetter Bart, Ihr von den Freiwilligen, junger Herr (dies galt mir) und ich von der Linie, so wollen wir das barmherzige Werk thun. Faßt an, pack Dich, Mädchen, gieb Raum, – packt an, Vetter Bart.«

»Mein Vater! mein Vater!« kreischte das arme Ännchen, jetzt wieder zum Bewußtsein kommend. Im Weinkrampf sank sie nieder auf die Brust des unglücklichen Mannes, der ihr Vater war.

Alle standen von neuem starr und lautlos.

»Ihr Vater? ihr Vater?!« ging es durch den Kreis. »Der Herr von Rhoda des Ännchens Vater?!«

»Ja, ja, es ist so!« rief der Leutnant, neben seinem Pflegekinde niederkniend. »Das ist das Ännchen von Rhoda, das ich gefunden habe auf dem Schlachtfeld von Talavera.« Die Frauen schlugen die Hände über den Köpfen zusammen, die Männer schüttelten die Köpfe. Der Förster war der erste, der seiner Sinne mächtig wurde.

»Nehmt das Fräulein in den Arm,« flüsterte er mir zu; »wir anderen wollen den Hauptmann tragen. Was ist das für eine Geschichte! Fort zum Trautenstein.«

Die neue Enthüllung hatte auf die Gemüter der Leute Einfluß gehabt; willfährig boten alle jungen Burschen ihre Hilfe an. Sanft wurde der Hauptmann vom Boden aufgehoben und nach dem Trautenstein getragen, wo man ihm schnell ein Lager bereitete. Ich trug die arme Annie, und stumm hielt sich Susanne Reußner auf dem ganzen Wege an meiner Seite. –


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