Wilhelm Raabe
Der Lar
Wilhelm Raabe

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Gottlob, so rasch lief er noch nicht ab, der Thierarzt außer Dienst Schnarrwergk. Da behielt der Doktor – nicht der Philosophie, sondern der Arzneiwissenschaft, diesmal vollkommen Recht. Auf den ersten Hieb fiel der alte Schnarrwergk nicht. So leicht war er nicht umzukriegen. Freund Hain, dem es sonst ganz einerlei ist, ob er Eichbäume oder Binsen niedermäht, war hier an einem von der ersten Sorte auf einen absonderlich harten Ast getroffen, besah seine Sense nachher zweifelhaft eine geraume Weile und griff dann nach seinem Wetzstein: »Nun denn, ein andermal! es braucht ja nicht immer zu heißen: sieben Fliegen auf einen Schlag.« Und während er gutmüthig geduldig die Scharte auswetzte, warf er von Zeit zu Zeit einen beinahe jovialen Seitenblick auf die zwei jungen Leute, Wächter und Wärter am Krankenbett: »Das soll mich doch wundern, ob ihr die Gelegenheit, die ich euch gegeben habe, benutzen werdet oder nicht. Einen besseren Gelegenheitsmacher konntet ihr euch doch wahrlich nicht wünschen. Hm, hm, und da wird man noch verschrien als Feind alles Lebens und wie die sauberen Redensarten in Vers und Prosa sonst noch heißen mögen!«

Was nun die beiden jungen Leute anbetraf, so begannen für die in der That wunderliche Tage und Nächte. Und für den alten Herrn wohl auch; denn wenn es nicht zu beweisen steht, so ist es uns doch sehr glaubhaft – gerade bei seinem Charakter und seiner Konstitution –, daß er den Gebrauch seiner Ohren bedeutend früher wiedergewann als den seiner übrigen Sinnesorgane und sonstigen Gliedmaßen.

»In acht Tagen haben wir ihn, bloß ein bißchen dusselig, schwummerig und ein wenig wackelig auf den Beinen,« versicherte fest der Arzt. »So eine Art Katzenjammerstimmung hängt freilich gewöhnlich noch etwas länger nach, und da muß ich mich denn auf Sie verlassen, Kohl, und auf Sie, Fräulein, daß Sie ihm es ausreden, daß ihm etwas außergewöhnlich Besonderes in den Weg gekommen sei.«

»O, was ich dazu thun kann, das wird gewiß geschehen!« rief Fräulein Rosine, die Augen trocknend. –

So theilten sich denn die Zwei, wenn wir diesmal den Lar nicht mitzählen, in die Pflege des Thierarztes Schnarrwergk. Und sie theilten sich allgemach noch in Mancherlei: Erinnerungen aus der Vergangenheit, Pläne für die Zukunft, gute Gedanken, liebe Gedanken und dann und wann auch sehr schlechte Witze. Letztere schoß Theilhaber Dr. Warnefried Kohl selbstverständlich allein ins Geschäft; und Rosinchen würdigte sie stets nach Verdienst und lachte wenig über sie. Einigemal jedoch sagte sie ziemlich scharf:

»O bitte, Herr Doktor Kohl, Herr Blech wohnt drüben auf der anderen Seite der Gasse. Sehen Sie, eben liegt er auch im Fenster und winkt Ihnen.«

Volle acht Tage und Nächte hatten die beiden jungen Leute, um sie auszunützen, wenn sie den Magen danach hatten, wie sich drüben Herr Bogislaus Blech ausgedrückt haben würde. Eine bessere Gelegenheit, im Herz und in der Seele sich näher an einander zu finden, wurde ihnen schwerlich noch einmal gegeben, um das Mücken- und Menschenspiel auf der Erde im Gange zu halten. Darin hatte Freund Hain Recht.

Es war merkwürdig. sie mißbrauchten die Gelegenheit nicht, sie gebrauchten sie nur. Und wer sie am meisten ausnutzte, das war nicht Warnefried Kohl, sondern das war Fräulein Rosine Müller; und sie war dabei vollkommen in ihrem lieben weiblichen Rechte. Sie mußte es doch endlich einmal ganz genau wissen, was für ein Mensch eigentlich aus dem Jugendbekannten, dem einzigen Sohn ihrer besten Freundin und Wohlthäterin, geworden war!

Er war Doktor der Weltweisheit geworden von Schnarrwergks und ihrer Gnade; er war eigentlich ein entsetzlicher Mensch und manchmal recht grob und ungeschlacht. Aber nun hätte sie doch zu gern gewußt, wer, was und wie er außerdem war. Sie nahm aus früherer Zeit her, wie sie sich im Innersten wie zu ihrer Entschuldigung ausdrückte, immer einigen Antheil an ihm, und »die Frau Professorin hatte das ja auch wirklich um sie wohl verdient«.

Aber um Gottes willen ihn nur nichts hiervon merken lassen! Da zehntausendmal lieber doch alles Rauhe nach außen kehren und im Nothfall so grob wie Bohnenstroh sein!

So war es denn ganz natürlich, daß es sich so gab, wie die Gelegenheit es bot – in den ganzen Gegensatz von Bohnenstroh und Allerleirauh hinein. Ganz natürlich; – bei den Handreichungen für den Kranken, und wenn Der dergleichen Liebesdienst nicht nöthig hatte, im eigenen; nämlich um dem eigenen Seelchen das Kopfkissen auszuschütteln und besser zurechtzurücken in dieser Welt voll von Präkordialangst, Grobheit, Ungeschlachtheit und Bohnenstroh.

In den Weihnachtstagen sah nur der Arzt und die Kräuterfrau vom Altstädterring vor, und die Letztere meinte: »Schade, daß unser Patient noch nicht das richtige Verständniß davon hat, wie gemüthlich das hier um ihn aussieht. So ganz häuslich! Man sieht es doch immer gleich, wo eins von uns mit zugegriffen hat, Fräuleinchen. Wer so mit seinem Affen allein Haus hält, der hat doch eigentlich von Rechts wegen gar keinen Anspruch darauf. Wie niedlich er da liegt und sich Ihre Güte gefallen läßt, Fräuleinchen Müller. Sie müssen doch auch Ihre Freude daran haben, Herr Doktor Kohl. Für Sie muß dies doch sein, als wenn Ihnen sonst das Christkindchen eine Schachtel Zinnsoldaten, den Jäger und seine Jagd, Kreisel, Peitsche und ein Steckenpferd auf einmal mitbrachte.«

»Beinahe!« brummte Kohl. »Wenn das nur je so an mich gekommen wäre, Frau Erbsen!«

Nach den Weihnachtstagen kam allerlei sonderbares Volk, das zu seinem erbärmlichen Schrecken davon vernommen hatte, daß dem Herrn Doktor Schnarrwergk ein Unglück passirt sei. Alle möglichen Leute, die kein Mensch kannte, und sowohl vom Lande wie aus der Stadt. Es wies sich aus, daß er seinen Anhang hatte. Und was für einen!

»Der alte Kurpfuscher!« lachte der Arzt. »Es war nur sein Glück, daß Keinem von uns an der Praxis, die er uns vor der Nase weggriff, gelegen sein konnte. Was für eine Masse von Armenpraxis hat Der und die alte Erbsen vom Altstädterring uns abgenommen. Quod medicamenta non sanant, verbum sanat, Kohl! Er hatte das rechte Wort für sein Lumpengesindel stets zur rechten Zeit, und er reichte damit und mit dem, was der Frau Erbsen in die Hand wuchs, vollkommen aus. Wir hatten wirklich keinen Grund, gegen ihn einzuschreiten.«

Sie hatten längst den Lar wieder umgedreht und ihn auf seinen alten Platz zurückgestellt.

»Ich sehe ihm doch lieber in die Augen als so von hinten,« meinte Rosine. »Er ist so lange Jahre sein einziger treuer Stubengenosse gewesen, und ich halte es für unrecht, daß wir ihn sofort bei Seite geschoben haben. Noch dazu nach der Aufklärung, die er mir über seine Augen gegeben hat. Mir wäre es auch nicht lieb, wenn Jemand bei mir ebenso kurzweg mit Allem aufräumte, wenn ich so verlassen da liegen würde.«

»Ach, reden Sie doch nicht so was, Rosine! Wie wäre das möglich?« rief Doktor Warnefried Kohl und fügte erst nach einer nachdenklichen Weile hinzu: »Uebrigens haben Sie Recht; im Grunde hat er doch eine scheußliche Wüstenexistenz geführt, trotz seinem Vetter oder Pathen Hagenbeck und seinem Lar, bis Sie kamen, Rosinchen.«

»Ich?«

»Ja, Sie! Ja, streicheln Sie nur das Scheusal, den Pithekus da. Ja, wissen Sie, wenn ich in diesem Augenblick der gewohnte Egoist wie sonst wäre, so hätte ich nur einen einzigen Wunsch.«

»Das soll mich doch wundern –«

»Nämlich, daß unser allgemeines Schicksal Sie nicht für den alten Schnarrwergk gespart, sondern für mich, den jungen Kohl, aufgehoben hätte. Es liegt ganz klar in der dunklen Zukunft vor mir, daß, wenn einmal an mich dergestalt die Reihe kommt, es keinem Menschen das geringste Vergnügen machen kann, nur durch die Thürritze zu fragen: ›Nun, Kohl, haben Sie wirklich, wirklich die Aussicht, in einer besseren Welt wieder aufgewärmt zu werden? Na, wenn es nicht anders sein kann, dann leben Sie gefälligst recht wohl, Herr Doktor. Ich wünsche mit herzlicher Theilnahme nur, daß man den Ofen nicht überheizt.‹«

Fräulein Rosine überhörte natürlich auch diesmal zwei Drittel von dem, was der Narr vorbrachte. Sie saß zu tief in ihre eigenen trüben Gedanken versunken und seufzte nur:

»Wie wenig todte Vögel man doch bei seinen Gängen in der Welt findet. Sie haben ja auch ihre Zeit und werden alt und auch wohl krank und sie müssen sterben; aber es ist merkwürdig, wie wenig man davon merkt. Die Lüfte und die Büsche und die Dächer sind voll von ihnen im Sonnenschein, im Sommer, aber auch im Winter; doch wie selten findet man einen todten Vogel. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen?«

»Nein!« brummte Kohl. »Das fiel eben nicht in mein Fach und unser Lokales. Aber Sie haben Recht, Röschen. Es ist auffallend bei genauerer Betrachtung. Katzen allein können die Sache nicht besorgen –«

»O nein, nein! sie bringen sich nur gegenseitig nicht in die Geburts- und Sterbelisten und in die Zeitungen. Sie wissen es schlauer und stiller anzufangen. Sie gehen weg, ohne daß man es merkt und – und vielleicht auch ohne daß sie selber viel davon merken. Ach, wer ihnen so von seinem Fenster aus zusieht! Freilich, ihre Aengste haben sie auch. Da haben sie es wohl nicht viel besser als wir Menschenkinder. Und wenn man so ihr Kopfdrehen und Aufflattern ansieht, möchte man meinen, sie hätten es fast noch schlimmer. Aber ihr Weggehen, ihr Verschwinden ihr Begrabenwerden ohne Aufsehen und Schreiberei zu machen! ihr Vergehen in den blauen Himmel oder die Winternacht hinein, ohne irgend einem Menschen Unkosten, Störung und Ueberdruß zu machen: Das möchte ich ihnen nachmachen können!«

»Sollen wir mal tauschen, Rosine, Fräulein Rosinchen?« rief der Berichterstatter, sein Notizbuch hervorreißend und es dem guten Mädchen hinhaltend. »Lassen Sie mich mal unter die Spatzen und Schwalben und gehen Sie unter die Menschen –«

»Ich verstehe nicht –«

»Ich auch nicht Alles; aber was ich verstehe, das genügt. Sie haben vollkommen Recht: es ist schauderhaft, was für ein Dasein Einem aufgeknetet wird. Und daß man sein verhunztes Leben noch mit einem ungemütlichen, immer mehr oder weniger Aufsehen erregenden Abgang bezahlen muß, das ist einfach lächerlich und zu viel verlangt. Sehen Sie sich einmal so einen Halunken von Spatz an, hat er nicht auch das Seinige in der Hinsicht verdient? Am letzten Ende ist es doch die ewige Ungerechtigkeit. die Einen wurmt! Finden Sie nicht auch, Fräulein Rosine?«

»O Gott, nein!« rief oder flüsterte vielmehr Fräulein Müller. »Man muß sich doch nur in Alles hineinzufinden wissen. Mir persönlich ist es ja noch immer besser ergangen, als ich je verdient habe!«

Vor acht Tagen noch würde Doktor Warnefried Kohl gröblich grinsend geantwortet haben:

»Mir nicht!«

Jetzt war er dazu nicht mehr fähig; jetzt stöhnte auch er mit einem tiefen Seufzer:

»Mir auch!«

und schob seine abgeschmackte Brieftasche wieder zurück in die Brusttasche und hielt statt ihr seine Hand, seine recht ungeschlachte, harte Rechte der treuen Mitwärterin am Bett des alten Schnarrwergk hin und sagte:

»Rosinchen, Röschen, meine Mutter war doch eigentlich eine recht brave Seele, wenn sie es auch nicht so recht aus sich herausgeben konnte.«

»Gegen mich ist sie immer wie ein Engel vom Himmel gewesen.«

»Na, verwöhnt waren Sie freilich in dieser Hinsicht nicht; aber nehmen Sie sie meinetwegen so gefühlvoll, wie Sie wollen, ich habe nichts dagegen. Selbst das, was ich von meinem seligen Alten in mir habe, würde sich nicht dagegen auflehnen, wenn Sie sogar ein bißchen übertrieben. Sagen Sie einmal, Röschen, haben Sie eine Ahnung davon, was die brave Alte bewog, es auf alle ihr mögliche Weise zu verhindern, daß wir zwei armen Würmer uns völlig auf dem brüderlichen und schwesterlichen Standpunkt aufpflanzten? Ich für mein Theil als Unser-Einzigstes hätte wahrhaftig gegen so ein nettes Schwesterchen gar nichts einzuwenden gehabt.«

Fräulein Rosine Müller kannte die Beweggründe der Frau Professorin Kohl nicht. Sie hatte nicht das kleinste Wort zur Aufklärung für den Doktor der Weltweisheit Kohl und den Pithekus von der Insel Borneo hinter ihm. Weshalb sie aber vor der dummen Frage wie in sich selber hineinkroch und sich todt stellte, das wissen Wir nicht.

»Natürlich,« brummte Kohl junior weiter, »es ist ja freilich eine ganz einseitige Geschichte. Ihnen, Fräulein Rosine, konnte selbstverständlich wenig daran gelegen sein, daß sie, meine selige Alte, mir nie gestatten wollte, das brüderliche Du gegen Sie zu gebrauchen. Ihr Vergnügen, Röschen, bittere Gefühle mit mehr Bequemlichkeit in einen anderen teilnehmenden Busen ausschütten zu können, würde damals doch nur mäßig gewesen sein. Rosinchen, thun Sie mir den Gefallen und sagen Sie mir es nachträglich mit deutlichen Worten, für was für einen gräßlichen Flegeljährling Sie mich derzeit zu halten sich verpflichtet gefühlt haben!«

In diesem Augenblick pochte es glücklicher oder unglücklicher Weise draußen an der Thür, und Kohl hatte hinzugehen und zuzusehen, »wer der Esel war«, der ihn und – sie gerade jetzt störte. Er redete auch eine Weile durch die Thürspalte mit Jemand und kam zurück mit einem Gesicht, wie aus den schönen Künsten heraus, aber diesmal wie vom alten und vom jungen Pieter her, vom Bauernbreughel und vom Höllenbreughel.

»Nun?« fragte Fräulein Müller, seltsamer Weise wie erlöst aufathmend, aus ihrer Stellung und Verantwortlichkeit als nächst und eigentlichst am Haushalt des Nachbars Schnarrwergk Betheiligte heraus. »Was war es?«

»Nichts. Blech! Er wünschte zu wissen, wie es uns ginge.«

Kein Springkäferchen ( Elater) hatte sich bei einer neuen leisesten Berührung je so rasch wieder todt gestellt, wie das jetzt Fräulein Rosine that, und zwar zum zweiten Mal an diesem Abend.

Es blieb dem Lokalberichterstatter Dr. Kohl nichts weiter übrig im Verlauf des Abends, als sich so zu stellen, wie wenn ihm ihr Leben, und was an Gefühlen, Erinnerungen, Hoffnungen, Aussichten in die Zukunft dazu gehört, völlig gleichgültig sei. Er ging deshalb auch nur noch einmal zum Fenster und sagte:

»Donnerkeil, wie kalt das auf einmal geworden ist! und wie die Sterne sommern! Sehen Sie nur einmal die Milchstraße, Fräulein. Gerade im rechten Winkel weg über uns und über die Hanebuttenstraße. Es ist doch wirklich was Großartiges um diese Sternenwelt!«

* * *

Wem es jetzt noch nicht klar geworden ist, daß wir eine Gesundheits- und keine Krankheitsgeschichte schreiben, dem ist durch uns nicht zu helfen. Wenn ihn Jemand anders mit der Nase darauf stoßen will – prosit. – Da haben wir den alten Schnarrwergk liegen lassen, als ob ihm gar nichts Bedenkliches begegnet sei. Nicht ein einziges medizinisches Buch haben wir über seinen Fall nachgeschlagen, um mit unserer tiefen Einsicht auch in solche Dinge groß zu thun und hypochondrischen Seelen die Nachmittagsruhe zu verderben. Nein, des Anfalls des Pathen Schnarrwergks und unsertwegen braucht Niemand auf seine tagtägliche behagliche Magenüberladung und das darauf folgende Stündlein stillen Nachdenkens zu verzichten. Wir erinnern Keinen heimtückischer Weise daran, daß er einen fetten, schwammichten, kurzgebauten Körper, eines etwas zu dicken Kopf, einen kurzen Hals habe. Wir beunruhigen Niemand durch Hinweis auf hohe Röthe des Gesichts, Schwindel, Ohrenbrausen, stockendes Gedächtniß, Uebelkeit bei leerem Magen und dergleichen Zufälle. Wir beschwören Niemand, es uns zu Liebe zu thun und nach dem Essen ja keine anstrengende Kopfarbeit zu leisten, zum Beispiel ein neues philosophisches System zu erfinden, dieses Buch zu rezensiren oder auf eine andere aber ähnliche Weise an seinem eigenen Todesurtheile zu arbeiten.

Sterben muß der Mensch ja einmal zum wenigsten, und die Weisesten, die noch nicht an der Reihe sind, beschränken sich bei dieser unabänderlichen Sachlage darauf, wenn die Gelegenheit es giebt, so ruhig als möglich zuzusehen, wie der Andere dazu kommt und wie er sich dabei aufführt.

Nur am Bette der Kinder ist es immer eine nervenaufregende Sache; aber gegenüber so einem alten, zähen, nikotin- und spritdurchseuchten, auf seinen Lar, seinen Orang-Utang, seinen Pongo, Maias, Majas, seinen Gorilla, seinen Pithecus Satyrus L. dressirten Thierarzt außer Dienst, da hält, wer schnupft, seine Prise höchstens den dritten Theil von sechzig Sekunden länger als sonst zwischen Daumen und Zeigefinger, und an einem Gewohnheitsschnupfer ist es das wahrhaftigste Zeichen von Rührung, wenn er dann niest.

Na ja, jetzt, wo wir den alten Schnarrwergk, den Pathen Schnarrwergk glücklich drüber weg haben – nämlich über seinen ersten Aufenthalt im seligen Nichtsmehrvonsichwissen – dürfen wir nicht so häßlich reden, wie wir geredet haben. Es geht bei solchen Gelegenheiten aber immer ein bißchen durcheinander, und ist auch uns kein Vorwurf daraus zu machen, daß sich uns allerhand Gefühle, Stimmungen und Ueberlegungen ein wenig verwirrten.

Es dämmerte noch einmal in ihm, Franz de Paula Schnarrwergk, auf. Die wirre Welt, in der er, wie er meinte, einen außergewöhnlich scharfen Umblick gehalten hatte, stieg noch einmal um ihn her empor aus dem Nichts und zwar jedenfalls in der alten Konfusion, wenn nicht noch ein klein bißchen konfuser. Wir aber haben es hier mit diesem Aufdämmern zu thun. Du lieber Himmel, du klarblauer Himmel, wohin würden wir dabei gerathen, wenn wir zur Aufklärung unseren verehrten Hausarzt, unsere vielen medizinischen Freunde und deren Bibliotheken um ihren fachwissenschaftlichen Inhalt angegangen wären!

Zuerst kam es ihm, dem Nachbar Schnarrwergk, zum Bewußtsein, daß es in ihm und um ihn bitterkalt sei. Und was die Kälte außer ihm anbetraf, so leistete die Jahreszeit die jetzt wirklich. Am Tage des heiligen Märtyrers Stephanus hatte es angefangen zu schneien und erst am Abend vor den Unschuldigen Kindlein damit aufgehört. Am Tage der Unschuldigen Kindlein war dann der Frost eingetreten, um sich so andauernd zu halten, daß er sicher nach hundert Jahren noch im Kalender Aufsehen machen wird.

Die Dächer waren weiß, die Straßen waren weiß, so lange es dauerte; draußen waren Felder und Wälder ebenfalls weiß und erhielten sich ihre Reinlichkeit bis in den März hinein. Am Tage schien die Sonne, wenn auch ohne Wärme, und bei Nacht glitzerten die Sterne, von denen Niemand begehrt, daß sie ihn wärmen sollen, die aber –

»Einem heiß und kalt machen können, wenn man so aus der Hanebuttenstraße zu ihnen aufschaut, wie wir Zwei, Rosine, und da den letzten Alten liegen hat und sich fragt, was das Alles bedeutet und ob es eigentlich einen Sinn hat?«

»O Gott ja,« flüsterte Fräulein Rosinchen Müller, »es ist Alles so einsam! Wir hier und das da oben. Wenn eine Mutter da hinein sieht, so geht sie rasch hin und sieht nach und deckt ihr Kind in seinem kleinen Bett besser zu. Das ist mein Gefühl wenigstens.«

In diesem Augenblick kam zu den Beiden am Fenster, vom Bett des Thierarztes Schnarrwergk her, ein Laut, der sie ebenfalls rasch näher an es herantreten ließ.

»Krrrrrrrrr!«

»O, er hat etwas gesagt –«

»Sagten Sie etwas, Herr Schnarrwergk?«

»Kkkkkk–alt!«

»O bitte, Warnefried, sehen Sie nach dem Ofen! Ich werde ihm noch hier meine Decke überlegen. O Herr Nachbar, wir sind es! Wir sind bei Ihnen. Warne – der Herr Doktor Kohl und ich! O Nachbar, Nachbar, sind Sie endlich wieder bei uns? O, Gott sei Dank – was haben Sie uns für Sorgen gemacht!«

* * *

Es kann Niemand genau sagen, seit wann der Thierarzt außer Dienst Schnarrwergk wieder dagewesen war. So etwas kommt immer ganz allmählich, ganz wie das erste Bewußtsein des Menschen von seinem Dasein in der Welt. Die Umgebung rechnet, wohlberechtigt natürlich von da an, wo der Patient wieder anfängt, vernünftig zu sprechen. Da es für sie das Einfachste ist, werden wir sie selbstverständlich dabei lassen; Nachbar Schnarrwergk aber war in der That schon längere Zeit vorher wieder da und dabei gewesen, ohne vernünftig und verständig mitzureden.

Er hatte die Wirthschaft um sich her wie durch einen anfangs dichten und dann allgemach dünneren Nebel angesehen und durch eine zuerst dichtere und sodann immer dünnere Wand angehört, und er hatte sie, die Wirthschaft gehen lassen, wie sie ging. Uebrigens war er in Betreff seiner Meinung um sein Für oder Wider auch nie so wenig als wie jetzt gefragt worden.

Ja, so ein Wiegen Wagen – Gugen Gagen zwischen Tod und Leben! Ja, so ein Auftauchen oder Wiederauftauchen aus dem Strom, »der von Eden ausging zu wässern den Garten«, und der auch heute noch fließt und weiter rauschen wird von Ewigkeit zu Ewigkeit! mit Wasser vom Strom des Lebens in den Ohren, in der Nase, im ganzen Kopf, und dann und wann mit solchem Kopfweh, immer aber zuerst vollständig unfähig zu begreifen, was mit Einem vorgenommen worden ist und was mit Einem vorgenommen werden soll! . . .

Es dauerte eine geraume Weile, ehe der alte Schnarrwergk den Affen- und Meerkatzentanz, das Satyrgeschnatter, das Pavians-Zahngefletsche um ihn her auf seinen alten, braven, treuen Stubengenossen, seinen einzigen Pithekus, seinen Lar mit dem Auge des Vetters Hagenbeck zusammengezogen hatte.

Als er den nicht mehr als Mitspringer in einem ganzen Walpurgisnachtssabbath, sondern als einzelnen Springer und Fieberphantasietänzer ins Auge zu fassen und darin festzuhalten vermochte, da – »ging es mit ihm schon bedeutend besser«, wenn auch Dr. Kohl und Fräulein Müller nicht viel davon merkten und der Patient selber auch nicht. Es war und blieb noch dumpfe Tage und Nächte durch eine große Merkwürdigkeit, was für ein Nachahmungstalent dieser Lar besaß. Der Nachbar Schnarrwergk sah ihn in hundertfacher Verkleidung neben sich und in hundertfacher Beschäftigung um sich. Es war von seiner jüngsten Kindheit an nicht eine Menschenseele und altbekannte und vielleicht langvergessene Gestalt, welche ihm die Bestie nicht wieder vorstellte und zwar auf ihre Weise. Sie kamen zu dem kranken Greise Alle, mit denen er es zu thun gehabt hatte auf seinem Wege, und sie kamen Alle mit der Zuthat, die sein Lar ihnen gab. Es war nicht angenehm, mit den Meisten von ihnen seinerzeit im Leben zu verkehren; aber es war viel weniger angenehm, jetzt zwischen Leben und Tod ihnen so wieder zu begegnen und sich in dumpfer Verwirrung fragen zu müssen:

»Sind sie es denn wirklich, oder ist es der Lar? oder bin ich es, der sie so sieht? der sie – damals so gesehen hat?«

Es war närrisch, wie er sich verkleiden konnte, der nur zu getreue Lebens-, Haus- und Stubengenosse, und wie wohl, wenn auch nicht gut getroffen er die alten Bekannten dem alten regungslosen, wehrlosen Mann vorzuführen vermochte. Mit allen Hüten und Mützen, Röcken, Unterröcken, mit braunen, blonden, grauen und weißen Perrücken wußte er sich zu kostümiren und grinste durch Alles durch:

»Ich bin ich! oder meinen Sie nicht, Nachbar?«

Eine lange, lange Reihe von Menschenvolk, mit dem der Schützling des Vetters Hagenbeck in den langen, langen Jahren seines Lebens in Verkehr oder gar in Verbindung getreten war, zog allmählich an ihm vorbei. Eltern, Verwandte, Schulmeister, Schulfreunde, Studiengenossen, Kriegsgenossen, Hausgenossen. Aber einerlei, ob sie ihn aus der Wiege oder aus dem Großvaterstuhl ansahen, Weiblein und Männlein, der Pithekus mischte sich in jedes Gesicht und jeden Gestus, der Lar gebrauchte jede Persönlichkeit als persona, als Maske, und grinste, den Augen des wackeren Vetters Hagenbeck zum Trotz, aus ihr vor, und grinste ihn an: »Ja, wir sind es, Du und ich und wir Alle, die wir aus dem Chaos herauf und bis zu dem heutigen Tage herangekommen sind. Ich bin Du und Du bist ich, und eine schöne, eine saubere Gesellschaft sind wir und bleiben wir von Ewigkeit zu Ewigkeit. Was kann uns Neues passiren? Was könnten wir dazu thun, um etwas Neues aufs Tapet zu bringen, oder der Langweilerei endlich ganz ein Ende zu machen?«

Ob es er, der Kreisthierarzt außer Dienst Schnarrwergk war, oder ob es sein Lar, sein Lebens-, Haus- und Stubengenosse war, der sich so Vernunft sprach: der alte Schnarrwergk wußte es nicht. Wenn er eben noch als Oberroßarzt Dr. Schnarrwergk durch das Jahr Achtzehnhundertsechsundsechzig und das Böhmerland mitgeritten war und man ihn ersucht hatte, sich lieber doch nur den Gäulen seines Regiments zu widmen und die Anderen liegen zu lassen, so lag er im nächsten Augenblick selber wieder und hatte die Masern oder das Scharlachfriesel, und hörte seine Mutter hinter dem grünen Bettvorhang sagen: »Allbarmherziger, Mann, das Kind wird nicht wieder!«

Was in diesem Krankheitsbericht diesen »nächsten Augenblick« anbetrifft, so war für uns derselbe nicht unwichtig, denn in ihm, diesem Augenblick, flüsterte Fräulein Rosine Müller:

»Was war das? Hast Du es nicht gehört? Er hat eben etwas gesprochen! Ich habe deutlich gehört, daß er eben etwas gesagt hat!«

»Sagten Sie etwas, Herr Schnarrwergk?« fragte Dr. Kohl, und da der Kranke natürlich ihm keine Antwort gab, so beruhigte Kohl:

»Ich habe nichts gehört. Meines Erachtens sieht er weder, noch hört er was, bis jetzt wenigstens, von der Außenwelt. Wir sind immer noch ganz allein unter uns, mein Herz, mein liebes Mädchen!«

In der letzteren Hinsicht mochten sie wohl ziemlich Recht haben, aber in der anderen irrten sie sich. Er sah und hörte wohl was . . .

Er sah den Pithekus sich über ihn beugen, aber mit einem allerliebsten, frühlingshübsch bebänderten Mädchenhütchen auf dem haarigen Schädel, und er hörte den Nachbar Blech sagen:

»Bester Herr Doktor der Hippologie, Alles in Allem genommen paßt die liebe Puppe ausnehmend in mein Geschäft, und bei zunehmenden Jahren und wachsenden Interessen in der Welt fühlt der Mensch, wenn auch nicht den Wunsch, so doch das Bedürfniß, sich solide an das nächstliegende Schöne zu halten. Was meinen Sie, sollte das liebe Herz sich wohl bereitwillig finden lassen, ihrem Gatten und der Kunst zu Liebe, sich für diskrete Liebhaber –«

Ja, was hörte der alte Schnarrwergk noch? Er hörte etwas wie Jemanden, der mühsam nach Athem röchelt, weil ihm eine kräftige Faust die Kehle zudrückt, und er hörte was, wie wenn was Hals über Kopf die Treppe hinunterpoltert, und vernahm was, wie wenn hinter Jemandem die Thür zugemacht wird, aber nicht mit der Hand, sondern durch einen außergewöhnlich nachdrucksvollen Fußtritt –

»Affenwelt!«

»Hörst Du, er hat wieder gesprochen, er hat wieder was gesagt; ich habe mich nicht getäuscht. Er hat noch seine ganze Sprache, seine ganze Ausdrucksweise bei sich! O, jetzt glaube ich dem Herrn Doktor auch: er ist noch nicht für uns verloren. Er bleibt diesmal noch bei mir – bei uns, wie der Herr Doktor es uns versprochen hat – mein einziger, lieber, alter Nachbar; und er behält auch seinen ganzen, guten, klaren Verstand beisammen, er kann noch ganz deutlich sprechen; er braucht gar nicht zu stottern, wie die Aerzte es gewöhnlich wollen,« flüsterte Rosine.

»Wenn es nur nicht der Wind am Fenster war,« meinte Warnefried, immer noch zweifelnd und kopfschüttelnd

»Nein, nein, ich irrte mich nicht! Ich habe es ganz deutlich gehört, und er sprach wahrscheinlich mit seinem Hausgott, jedenfalls sprach er ganz deutlich von den Affen in der Welt.«

»Dann muß er freilich wieder ein gut Theil bei Troste sein, Röschen; aber Gott segne uns Dein feines Gehör, liebes Mädchen, und erhalte es uns für sämmtliche künftige Zeit.«

Die letztere Redewendung ließ tief blicken, wie der schöne Bogislaus gesagt haben würde; uns zeigt sie natürlich nur noch ein wenig deutlicher an, daß die beiden jungen Jugendbekannten ihre Zeit neben dem Bett des alten Schnarrwergks nicht unbenutzt hatten vorübergehen lassen.

Als der junge Mann eine Stunde später neben dem Bette allein saß, saß er tief gebeugt, mit den festgefalteten Händen zwischen den auseinandergespreizten Schenkeln fast den Erdboden im Hin- und Widersägen streifend; und die Schultern bärenhaft von links nach rechts und von rechts nach links wiegend, seufzte er, melancholisch den kranken, den regungslosen Greis und Thierarzt außer Dienst sich ansehend:

»Wenn er wirklich wieder seit – seit vorgestern so weit wieder bei Troste – bei anwachsendem Bewußtsein gewesen wäre, daß ich ihn jetzt noch um seine Meinung fragen könnte?! Wenn ich ihn fragen würde, was er zu unserer Aufführung sage? – was er – kurz, wie er über unsere Karte: Dr. Warnefried Kohl und Rosine Müller empfehlen sich als Verlobte, möglicher Weise bei vollem Bewußtsein denken werde?!«

Er irrte sich jetzt nicht in dem, was er von dem Krankenlager her erlauschte. Er vernahm's ganz deutlich, der alte Schnarrwergk schnarchte auf seinem Lager wie ein Gesunder. Freilich, daß er dabei irgend sonst gerührte, teilnehmende Bemerkungen gemacht hätte, wußte sich der Berichterstatter späterhin durchaus nicht zu erinnern.

* * *

Daß währenddem die übrige Welt still gestanden habe, um auf den Zehen auf die Abwickelung nur dieser Zustände zu passen, war nicht zu verlangen. Sie ging ihres Weges weiter, spann vor sich hin, wickelte ab, wickelte auf, und das eben vorhandene Geschlecht wünschte in jeder Beziehung sein Interesse zu wahren und sich auf dem Laufenden zu halten. Was ging es die weite Welt an, wenn jetzt in Numero dreiunddreißig der Hanebuttenstraße unser Lokalreporter jedesmal mit einem Kuß von der kleinen Nachbarin des Nachbars Schnarrwergk und dessen Laren und Penaten Abschied nahm, ehe er seinem Berufe folgte und auf Abenteuer für die ihm anbefohlene Spalte »unseres Blattes« ausging?

»Was bringen Sie uns denn gerade in diesen Tagen des Abonnementswechsels für Unsinn, Kohl?« fragte der Chef. »Halten Sie mich zum Narren, halten Sie das Publikum für so kindlich; oder sind Sie von unserer Konkurrenzbude käuflich erworben und beauftragt, uns mit Ihren abgeschmackten Notizen die Kundschaft zu verscheuchen? Da sehen Sie mal – die Anderen bringen's doch, erfahren's doch! Geplatzte Petroleumlampen rundum, hier der delikateste weibliche Leichnam aus den anscheinend besten Ständen. Aus allen Stockwerken fallen Ihnen die Kinder auf den Kopf, aber Sie merken nicht das Geringste davon. Beinbrüche wegen vernachlässigter Bürgersteige an allen Ecken und Enden der Stadt. Wenn ich aber den Herren Verbrechern rathen dürfte, so würde ich denen dringend anempfehlen, zu Ihnen zu gehen und in Ermangelung anderer Schätze Sie selber sich zu holen. Auch nicht den kleinsten Ladendiebstahl liefern Sie uns in die Spalten: Kohl, Kohl, wenn das so fortgeht, so wenden Sie sich doch lieber wieder zur Novellistik zurück und verwenden Ihren Volkskräuterhandel vom Altstädterring, Ihre Mutter Erbsen, deren Salbei und Kamillen, sowie ihre Glückshände, die Sie uns heute aufhängen wollen, da–da–da– darin!«

»Ach, wie Manches ist nur im Liede schön!« brummte Kohl. »Aber es giebt auch Einiges, was außerhalb desselben ungewöhnlich nett ist. Ihre Frau zum Beispiel, lieber Rodenstock.«

»Sie sind sehr krank, lieber Kohl,« sprach der Chef, sich seinem Leitartikel wieder zuwendend. Doch rasch fuhr er wieder auf und herum und wäre beinahe mit seinem Dreibein umgekippt, als sein jüngerer Freund und Federgenosse hinter ihm mittheilte, und zwar als sage er gar nichts Besonderes:

»Sie hat mich ungeheuer gern, die Ihrige; und ich glaube, ich habe mir auch so Eine ausgesucht.«

»Sind Sie verrückt?«

»Verliebt und verlobt.«

»Gott schütze Deutschland! Den Keuchhusten haben Sie gehabt?«

»Ich glaube.«

»Sie fürchten sich also nicht mehr vor ihm?«

»Ne.«

»Na, dann wenden Sie sich meinetwegen an meine Frau; aber mich lassen Sie gefälligst mit Ihren Lokalberichten in Ruhe, Kohl. Was ich für Sie thun kann, wird geschehen. Ich werde mich nach einem Ersatz für Sie umsehen und nach Möglichkeit Ihnen einen anderen Platz offen zu halten suchen.« – –

»O, das ist ja wundervoll; das ist ja zu hübsch!« rief die helle blauäugige Blondine und Chefredakteurin, als Kohl sich in der That an sie wendete mit seiner Last voll Süßigkeiten und Sorgen auf dem Herzen. »Das ändert ja die Sache gänzlich! Nämlich offen gestanden, waren Sie mir bis jetzt zunächst Ihrem Freunde Blech der fatalste Mensch unter der Sonne. Aber dies ist ja zu entzückend, zu reizend, und verändert vollständig meine Ansicht von Ihnen! Dies wollen Sie wagen bei Ihren Aussichten und Einkommen in der Welt? Kohl, ich könnte Sie küssen, wenn nicht die Kinder den Keuchhusten hätten, und ich nicht fürchtete, Sie doch noch anzustecken. Und meinen Mann laß mir von der Redaktion nach Hause kommen! Der hat Sie einen Esel genannt? Der?! Der hat Ihnen in solcher Periode Ihren zerstreuten Stil und Ihre langweiligen Tagesereignisse vorzuwerfen gewagt? Fragen Sie ihn doch mal, wie er es mit mir zu unserer Zeit gemacht hat. Und fragen Sie ihn auch nur, wie wir angefangen haben.«

Die kleine Frau schauderte doch unwillkürlich ein wenig in der Erinnerung; aber Paul Warnefried fragte dessenungeachtet:

»Also Sie glauben, daß es auch bei meinem Charakter angehen und zum Behaglichen ausschlagen könne?«

»Wenn der Mann zuerst seinen Cigarrenkonsum und Kneipenetat beschränkt, und sie keine Gans ist, gewiß! Mein Eugen hat sich stellenweise auch mal das Rauchen abgewöhnt; natürlich um nachher desto ärger zu qualmen. Eine gute Frau wird aber auch mit einem rauchenden Ofen fertig und wischt sich nur verstohlen die thränenden Augen. O, Sie wissen es noch nicht; aber jetzt werden Sie es hoffentlich erfahren, wozu sich Unsereine aufzuschwingen vermag, wenn sie auch nicht ganz an die gute Ottilie aus den Wahlverwandtschaften anreichen sollte.«

»Ich lausche mit Leib und Seele.«

»Mit offenem Gewissen sollten Sie zuhören, Herzens-Kohl. Denn nehmen Sie nur mal dies So-Nach-Drei-Uhr-Morgens-Nachhausekommen an. Auch das lasse ich meinem Manne ungestraft hingehen; vorausgesetzt, daß er mir nicht sein Kopfweh, sondern seinen guten Humor, oder auch nur eine wirklich neue und amüsante Geschichte mitbringt.«

»Und die lassen Sie sich dann noch erzählen!«

»Nun ja. Natürlich. Geweckt ist man doch mal, wenn das Ungeheuer auch noch so leise auftritt!« – – – Es hätten Bände über die Seligkeiten des Ehestandes geredet, geschrieben, gedruckt werden können, sie hätten nicht den Eindruck auf den jüngeren Kohl, den Doktor Paul Warnefried Kohl gemacht wie hier Wort und Bild.

Er ging wahrlich von dieser Zusammenkunft mit einer Sachverständigen nicht ruhig und nachdenklich, nicht überlegend nach Hause, das heißt nach der Hanebuttenstraße heim. Er lief hin und nahm durchaus nicht die gehörige Rücksicht darauf, daß ein Kranker im Hause liege.

»O Röschen, mein Herz, mein liebes Kind,« flüsterte er, »welche Es– welche Nar– welche Thoren sind wir doch gewesen, daß wir Zwei nicht schon von Kindsbeinen an uns nur um uns Beide gekümmert haben. Was weiß die Welt davon, wenn Zwei zu einander gehören?«

Aber Fräulein Rosine Müller legte angsthaft, beschwichtigend, warnend den Finger auf den Mund.

»Pst! um Gottes willen, leise, Warnefried! Jetzt schläft er wieder; aber er ist völlig wach gewesen! Er hat mit mir gesprochen! Ganz vernünftig, ganz verständig.«

»Wahrhaftig?«

»Ja! aber auch ganz in seiner Art.«

»Das ist ja der beste Trost. Na, was hat er denn gesagt?«

»Gefragt hat er: Sieh, bist Du einmal allein bei mir, Kind? Wo steckt denn der – der – dumme Junge? Dein – Doktor der Weltweisheit?«

»Dann muß er wirklich auffällig längere Zeit ganz heimtückischer, ganz verstohlener Weise bei vollem Bewußtsein gewesen sein!«

»Du – Du – nimmst das mir doch wohl nicht übel, Herzens-Warnefried?«

»Dir?« fragte Kohl mit ausgeprägtester Verwunderung. »Was kannst denn Du dafür, daß ihn sein Zufall nicht milder und menschlicher und, kurz und gut, nicht höflicher gemacht hat? Na, laß ihn aber mir nur erst wieder ganz erwachen: Der wird sich über meine Umkehr des Rauhen nach innen und des Weichen nach außen wundern! Meinst Du nicht, mein Herz, mein Kind, mein Engel, kurz und gut mein braves, liebes altes Mädchen, daß der alte Sünder und Affenvater einen ganz anderen Menschen in mir wiederfinden wird?«

»Ach ja! jawohl! Aber – nein, nein! um Gottes willen, ganz gewiß nicht; das wäre zu schlimm! Du wärest mir heute wirklich nicht Der, welcher Du immer gewesen bist, wenn Du so auf einmal so ein ganz Anderer geworden wärest!«

»Das Gegentheil hat mir eben noch Frau Doktor Rodenstock als höchstes Lob angerechnet,« lächelte Paul Warnefried, und was hierauf in den nächsten Minuten noch Weiteres und Näheres am Krankenlager des Herrn Thierarztes außer Dienst Schnarrwergk erfolgt ist, das ist uns in der Abenddämmerung verloren gegangen.

Es war nämlich sehr Abenddämmerung geworden, und das barmherzige Pärlein am Schmerzensbett hatte, wie die österreichischen Brüder und Schwestern deutscher Zunge in solchen Fällen sagen: gänzlich darauf vergessen, die Lampe anzuzünden. Auch nach dem Ofen hatten sie nicht gesehen, trotzdem, daß jetzt, wie schon berichtet worden ist, es draußen, und nicht nur draußen, bitter kalt war und der Schnee hoch lag und unter den Füßen und Hufen knirschte und die Räder zum Kreischen und Quieken brachte.

Mit einem Mal schauderte Fräulein Rosine Müller zusammen, und der Lokalreporter sah nach dem Ofen; aber wer war's, der wiederum gesprochen hatte, der Lar, der Pithekus, oder der alte Schnarrwergk?


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