Wilhelm Raabe
Horacker
Wilhelm Raabe

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Drittes Kapitel

Der junge Philologe sah etwas verschlafen und nicht wenig verdrossen aus, der alte sehr helläugig und munter, als sie beide auf der Schattenseite des Gartens an der Efeumauer auf und ab schritten.

»Also dazu hat mich der graue Halunke aus der süßesten Ferien-Siesta aufstören lassen?« murmelte der junge.

»Mir genügen fünf Minuten des Nachdenkens nach Tisch, Kollege«, sprach der alte. »Nachher bin ich wieder zu allem fähig. Sie gehen mit nach Gansewinckel? He? Es ist vielleicht der letzte Ausflug in den Tagen der Freiheit. Sie wissen, wie bald das Elend und die Plackerei wieder angeht, und regnen kann es auch morgen.«

»Das weiß ich freilich«, brummte der Oberlehrer, »und desto –«

Er vollendete den Satz nicht; aber der vergnügliche Greis wußte doch schon, was er sagen wollte, und ließ ihn heimtückisch-schadenfroh an einem abgerissenen Efeublatt eine Zeitlang weiterkauen, bis er schmeichelnd sagte:

»Der Kollege Windwebel geht auch mit und wird hoffentlich sogleich erscheinen.«

»Das ist freilich das Verlockendste!« ächzte der Oberlehrer, mit einem Ruck stehenbleibend und den bittern Stengel von Hedera helix von sich speiend. »Nein, ich danke ganz gehorsamst! Nächstes Mal!... Ich bin wirklich für die letzten Tage der Vakanz anders beschäftigt.«

»Natürlich, und ungeheuer nützlich!« brummte der Konrektor, und bei sich fügte er hinzu: »O du frisch aufgestecktes Licht im Tempel der Weisheit! Seit sie uns dich von höchster Stelle hergeschickt haben, merkt man freilich erst, in welchem Duster man seinerzeit gelebt hat!«

Der elegante jüngere Kollege schien doch eine Ahnung von dem Kompliment zu haben, welches der ältere in seinem Busen umwendete.

»Götter, welche Kerle!« murmelte er seinerseits bei sich; und die Kollegenschaft in corpore hatte sich für den stummen Ausruf des Überdrusses eines großen und frisch aus der Hauptstadt in die Provinz versetzten Selbstbewußtseins zu bedanken.

Und nun hatte der alte Eckerbusch wiederum eine Ahnung von dem, was der Dr. Neubauer murmelte.

»Ei ja«, meinte er ungemein vergnügt, »es ist freilich eine Art Eleusinischen Mysteriums, daß die Welt uns dann und wann viel trivialer vorkommt, als sie in Wirklichkeit ist –«

»Und da kommt Ihr Kollege Windwebel!« sagte der Oberlehrer. »Unter uns, Herr Kollege, wenn ich eines nicht begreife, so ist's, wie Sie sich mit einem solchen hohlen, nichtssagenden Gesellen so vertraulich einlassen, ja auf den Fuß täglichen Verkehrs und intimer Freundschaft stellen können. Wo ich bei diesem Patron mit dem Knöchel angepocht habe, hat es mir noch immer hohl geklungen.«

»Wirklich?« fragte der alte Herr und hatte abermals zu dem lauten Wort eine stillere Anmerkung zu machen.

»Kleister...!« begann er, »Pinsel!« fuhr er fort und schloß mit einem tief heraufgeholten Atemzug: »Na, es kann nicht jeder die Welt mit den Augen eines belesenen Buchbinders ansehen.«

Er zog dabei heftig an seiner Tabakspfeife und blies den Dampf durch spitzigst zusammengezogene Lippen in den fünfundzwanzigsten Juli hinein:

»Na, was wäre ein Erdball, auf dem es kein Jucken und kein Kratzen gäbe! Willkommen, lieber Windwebel. Ich habe Sie lange nicht mit solcher Sehnsucht als in diesem Moment erwartet!«

Der Herr Oberlehrer riß ein neues Blatt von der Efeuwand, und der Kollege Windwebel trat reisefertig und lächelnd näher.

Er wird auch uns hoffentlich sofort nähertreten; er kam und kommt mit einem wirklichen Lachen auf dem Gesichte durch die Stachelbeerbüsche seines ältern Kollegen und dieser Historie.

Rasch trat er heran, hob den leichten Strohhut von der Stirn und rief:

»Da bin ich, meine Herren, und habe hoffentlich nicht auf mich warten lassen. Eigentlich hätte aber doch nur meine Hedwig auf sich warten lassen – Sie wissen, wenn man eine junge Frau sein nennt, so erfährt man, was es heißt, gute Verhaltungsratschläge mit auf den Weg zu bekommen. Daß du mir nicht fällst! Daß du mir ja nicht kalt trinkst, wenn du erhitzt bist!... Daß du dir ja hübsch die Nase putzt! Und jetzt willst du gar ohne Kuß gehen, Viktor?... Höre, und klettre mir nicht zu wagehalsig! Mein einziger Trost ist nur, daß der Herr Konrektor Eckerbusch dich beaufsichtigt.«

Der Herr Konrektor Eckerbusch lachte herzlich; aber der Kollege Neubauer schien es für seine Pflicht zu halten, um so ernster zu bleiben.

»Sehr ergötzlich!« sagte er, wahrscheinlich, um auch dadurch der Heiterkeit des Augenblicks hoch mehr aufzuhelfen.

»Der Herr Doktor wird uns nicht begleiten, Windwebel; wir haben ihn umsonst aus seiner Nachmittagsruhe aufgestört. Sämtliche neun Musen haben ihn in den Klauen, und was uns zwei angeht, so wissen wir es gar nicht, wie gut wir mit unsern beiden Frauenzimmern dran sind: Sie mit Ihrer jungen Hedwig und ich mit meiner braven alten Ida. Kommen Sie herauf, Windwebel, und trinken Sie noch eine Tasse Kaffee vor dem Abmarsch. Kommen Sie mit, Freund Neubauer?«

»Ich muß wirklich höflichst danken«, sprach der Oberlehrer mit einem Ton und einer Handbewegung, als ob in der Tat eben nur der weise Cicero fröhlich von seinem muntern Halsabschneider Marcus Antonius eingeladen worden sei, noch einen Augenblick mit heraufzukommen. Damit ging er, formaliter grüßend, und der Alte sah ihm nach, anfangs ein wenig verdutzt und grimmig, dann aber mit einem um so sonnigeren Grinsen.

»Nun, Windwebel, dann wollen wir ihn ruhig auf seinem Sofa liegenlassen. Steigen wir hinauf zu meiner Alten!«

»Mit Vergnügen, Herr Kollega«, erwiderte der Zeichenlehrer des Gymnasiums und nahm den Arm des Konrektors. Der Doktor Neubauer jedoch ging nicht hin, um sich von neuem auf sein Sofa zu legen, sondern er setzte sich steif an seinen Schreibtisch, um zu seiner ganz speziellen Tröstung mehrere Aphorismen zu Papier zu bringen. Wir wollen dieselben dem weisen Publiko nicht vorenthalten, denn möglich ist's doch, daß sie irgendeinem unserer Leser gleichfalls zum Trost dienen, was uns denn recht freuen würde.

So schrieb der Herr Oberlehrer:

A. Wer imponiert? Nur der, welcher ruhig seinen eigenen Weg geht.

B. Wo das Tier zum Vorschein kommt, bleibt dem wirklichen Menschen nichts übrig, als unendlich geduldig zu werden.

C. Im Grunde begreift keiner die Tragik im Leben des andern.

D. Ich las gestern im Aulus Gellius über die Schwüre der Römer und Römerinnen. – Beim Herkules schwören nur die Männer, beim Kastor nur die Weiber; aber beim Pollux beide Geschlechter. – Aedepol! Unter welchem Getier beiderlei Geschlechts hat man hier zu vegetieren!...

E. Gibt es nicht Nationen, in denen unbekannt zu bleiben oder von denen vergessen zu werden eine Ehre ist?

Mit dem Wunsche, das Unserige getan zu haben, daß der junge Mann, dieser Herr Oberlehrer Dr. Neubauer, seiner Nation nicht unbekannt bleibe, überlassen wir ihn für jetzt dem ungeheuern Ernste seiner Natur- und Lebensauffassung und steigen mit dem Konrektor und dem Zeichenlehrer hinauf in das Gemach der Frau Konrektorin, deren gutes altes Gesicht sich beim Anblick Windwebels jedenfalls nicht verdüsterte.

Von ihrem Strickzeug munter aufschauend und die Hornbrille auf die Stirn emporschiebend, rief die alte Dame:

»Mehercle, also Sie wollen mir richtig meinen Alten schon wieder einmal verführen, Kollege?«

»Mecastor heißt's!« sprach der Konrektor. »Diesmal bin ich mal wieder der Verführer. Herrjeses, Ida, was würdest du für eine Mutter der Gracchen geworden sein, wenn uns der liebe Himmel Kinder beschert hätte. Nun aber rasch, trinken Sie noch eine Tasse, Windwebel, und dann gehen wir. Eine Flasche Chateau Heidelbeere wird in die Tasche gesteckt; – für das spätere Getränke sorgt Winckler in Gansewinckel.«

»Eckerbusch! Eckerbusch!« rief den Kaffeetopf niedersetzend die Matrone. »Windwebel, ich binde ihn Ihnen auf die Seele und das Gewissen! Daß er eine Reputation aufrechtzuhalten hat, wird ihm nur klar, wenn ein anderer es ihm klarmacht, und auch dann schlägt er gerade erst recht über den Strang. Ich bitte Sie, Windwebel, passen Sie mir auf ihn –«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich, Frau Konrektorin.«

»Jawohl! Sie und Ihre Hedwig haben ihm nicht den Rheumatismus mit einem heißen Plätteisen aus dem Buckel zu bügeln, wenn er sich nach seiner Gewohnheit die feuchteste Stelle im ganzen Walde zum Sitz aufgesucht hat; also denken Sie an mich, und geben Sie mir zuliebe acht, daß er's diesmal nicht tut. Manchmal sucht er sich auch expreß einen Ameisenhaufen aus, um sich hineinzusetzen; – und Sie wissen, wie wenig er seine Stellung zu berücksichtigen pflegt, wenn ihm etwa eine Horde von seinen Schülern begegnet!... Also passen Sie mir recht hübsch auf ihn – ich mache dann wahrscheinlich auch Ihrer kleinen Frau eine Visite und bewahre sie Ihnen vor Schaden.« Lachend fügte sie hinzu: »Und, o Gott, Horacker! Nehmen Sie sich auch vor Horacker in acht! Dieser Angstpfropfen steigt mir nun auch noch zuguterletzt in der Kehle herauf!... Horacker! Es ist zwar dummes Zeug; aber hätte ich früher an den Kerl gedacht, so hätte doch keiner von euch beiden heute die Erlaubnis zu diesem Wege nach Gansewinckel bekommen!«

»Haben Sie den Chateau in die Tasche geschoben, Kollege?... gut; dann lassen Sie uns machen, daß wir aus dem Hause kommen; dies ist ja ganz heillos! Sie, Windwebel, haben sich zu Ihrem Glück nicht mit der Metrik abzugeben und wissen also behaglich auch nicht, was ein Proceleusmaticus ist und wie angenehm einem die Ohren klingen, wenn solch ein Frauenzimmer in lauter Proceleusmaticos ausbricht und sozusagen selber zu solch einem Untier von Rhythmus domesticus wird. Horacker, Rheumatismus, Reputation und kein Ende! Vale, Alte, hast du gar nichts an den Pastor und seine Frau Billa zu bestellen?«

»Grüße Sie, Eckerbusch. Und dann könnt ihr mich und Frau Hedwig demnächst dort auf eine saure Milch anmelden. Wollen Sie, lieber Windwebel?«

Der liebe Windwebel wollte selbstverständlich; und dann sah die Stadt den Konrektor und den Zeichenlehrer ihres illustren Gymnasiums auch diesen Feiertag benutzen; das heißt, viele Leute, die das Weichbild bewohnten, sahen ihnen nach und sprachen: »Da gehen die beiden hin.« Unter welchen Worten sich der geheime Wunsch verbarg:

»Mit den zwei ging ich selber gerne. Daß der alte Eckerbusch heute wieder was erlebt, ist sicher.«

Auch der Doktor Neubauer trat mit der Feder in der Hand an das Fenster und sah die Kollegen dem Stadttor zu ziehen; und da es wieder einmal kein anderer tat, so tat er's selber und lobte sich ausnehmend dadurch, daß er ihnen fast beängstigend nachgähnte.

Nachher ließ er die Welt in dem Wahne, daß er sich auch heute – jetzt einer großen literarisch-dichterisch-philologischen Lebensaufgabe hingebe, und legte sich von neuem mit den »Blättern für literarische Unterhaltung« auf sein Sofa.


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