Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Siebenzehntes Kapitel

Das Blatt Papier, von dem uns wenigstens ein Stück erhalten worden ist, liegt heute noch in der Bibel Ehrn Gottlieb Holtnickers, wahrscheinlich an derselben Stelle, wo er es seinerzeit einschob. In den Klageliedern Jeremias, zwischen dem »Jammerlied über der Juden Trübsal« und dem Gebet des Propheten um »Erlösung des übelgeplagten jüdischen Volkes«. Und man sieht es heute noch der Handschrift an, wie schwer es auf dem Herzen lag, von welchem aus damals die Feder gelenkt wurde. Was von dem Text noch vorhanden und zu entziffern ist, lautet:

»Heute, am Abend vor Adam und Eva, im Jahre 1757, ist uns, meiner Ehefrau und mir, unsere liebe Pflegetochter Johanna Gottliebe Holtnicker durch Gottes Zulassung abhanden gekommen und uns nunmehr aus einem Herzens- auch zu einem Schmerzenskind geworden. Der Feind hat mein Haus überschwemmet, doch das, was er suchte, unseren aus christlichem Mitleid und nach unserer Pflicht beherbergten Gast, Seiner Durchlaucht künstlichen Porcelainemaler Mr. Wille aus Braunschweig, nicht vorgefunden und in Banden mit sich nehmen können. Sie haben in ihrem Zorn mir und meinem lieben Ehegespons viel Ungemach angerichtet in Stube, Küche, Keller, Haus und Stall. Aus dem Dorfe hat das fremde Kriegsvolk mit sich geführt Jürgen Sickenberg, Halbspänner Stuckenbergs, und August Dörgern, Brinksitzer Dörgers Jungen. Unter Vorgeben, daß auch sie nach der Konvention von Kloster Zeven durch Bewilligung Serenissimi, unseres Durchlauchtigsten Herrn Herzog Karls, unter die Fahnen und in den Eid des Königs von Frankreich gestellt worden seien. Vater und Mutter sind ihrer Kinder wegen bei mir gewesen mit Fluchen und Jammern um Hilfe oder Trost. Wehe, sie kommen um das auch zu anderen Zeiten nur zu oft umsonsten: woher sollte ich dergleichen heute aus der eigenen zerschlagenen Seele nehmen? Der allbarmherzige Gott halte seine Hand über alle, so gezwungen oder freiwillig aus ihrer Zugehörigkeit ins Elend mußten! Unser Pflegekind und liebe Tochter Johanna ist freiwillig –«

Hier reißt das Blatt ab – ist das Folgende abgerissen worden, fehlt der Rest geradeso wie bei den Jahrbüchern des Cajus Cornelius Tacitus. Wer sagt uns, wozu im Laufe der Zeiten der Rest der Aufzeichnung verwendet wurde: ob zu einem Fidibus für die Tabakspfeife, ob zu anderem, dem andringenden Augenblick nutzbarem Zwecke? Wo blieben wir mit unserem Wissen von den Schicksalen des Bienchens von Boffzen und ihres Blumenmalers, wenn wir die mündliche Überlieferung nicht hätten? –

Wir haben leider schon von vielen dunklen Tagen in diesen Historien und Annalen berichten müssen; einer der dunkelsten war der Dreiundzwanzigste des Christmonds dieses schlimmen Jahres.

An diesem Tage hat Hauptmann Balthasar Uttenberger in französischen Diensten seinen Herrn verleugnet wie der heilige Petrus den seinigen, aber mit größerer Berechtigung. Er ist auch nachher, beim ersten Hahnenkraht, nicht hingegangen und hat bitterlich geweint. Als der Gockel, Meister Hennink, zum erstenmal den neuen Morgen ansang, hat er auch wach gesessen auf seinem Bett, wieder in großen körperlichen Schmerzen und dazu schweren Sorgen und Ängsten um die Frage:

»Wo wandern die Kinder? Was wird itzt in dieser kalten nordischen Winternacht aus Daphnis und Chloe?«

Ach, der alte Altenburger Kabinettprediger Gottlieb Cober hätte um diese Stunde doch wohl besseren Trost für ihn gehabt als der junge Zürcher Poete, Monsieur Salomon Geßner, mit seinem: »Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!« – – –

Die fremdländische Besatzung von Höxter hatte jetzt wirklich ihre Gewehrkolben der Pastorin von Boffzen wenn auch nicht auf die Krähenaugen, so doch dicht vor den Schuhspitzen auf den Boden gestoßen – hatte sich bei ihr zuerst, vor allen anderen im Hause, erkundigt, wo sie ihren Blumenmaler vor dem König Louis, dem Römischen Reiche und der Königin von Ungarn versteckt halte. Ihren Blumenmaler! . . . Wer damals in den Nußbüschen unter Schloß Fürstenberg der Mutter Holtnicker gesagt hätte, welche bebende Herzensangst sie binnen kurzem um den Bösewicht zu tragen haben würde! Wer ihr gesagt hätte, wie sie ihr Leben lieber hingegeben haben würde, als daß sie dem französischen Korporal verraten hätte, wo sich dieser Nichtsnutz von Blumenmaler, der ihr aus ihrem Garten und Leben die schönste Blume stehlen wollte, sozusagen hinter ihren ausgebreiteten Armen, unter ihren Röcken verkrochen hatte vor den Griffen dessen, was sie vordem vielleicht in ihrer Aufregung die ewige Gerechtigkeit genannt haben würde!

»Ah pardon, mon capitaine«, hatte nur der in Hauptmann Uttenbergers Gemach schauende Souslieutenant der Streifpartei, den Hut berührend, gelacht und nach freundlichem Gegengruß des invaliden Kameraden und höflicher gegenseitiger Erkundigung nach dem augenblicklichen Befinden den Kopf wieder aus der Tür zurückgezogen, ohne weiter stören zu wollen. Ach, wer noch auf dem Schlachtfelde von Hastenbeck dem alten Schweizersöldner gesagt haben würde, daß er binnen kurzem imstande sein werde, seinem Kriegsherrn einen seiner grimmigsten Gegner aus dem Heer des Herzogs von Cumberland, den Blumenmaler Pold Wille von der Wendenstraße und Schloß Fürstenberg, zu verleugnen! . . .

Unter seiner Bettstatt, auf der er wie gewöhnlich auch den Tag über, in seinen Rockelor gehüllt, saß, hatte er den Deserteur des Kurfürsten von Hannover stecken, während ihn der Kommandant von Höxter im Boffzener Pastorhause nicht nur hinter jeder Stuben-, Kammer-, Stall-, Boden- und Kellertür, sondern bis in den Kleiderschrank der geistlichen Hirtin und ihres Eheherrn hinein suchte. Und das wahrlich nicht wie junge Dirnen, die aufs Veilchenpflücken gehen, oder Kinder, die dem Osterhas die Eier aus dem Nest nehmen möchten!

»Die Schweine! die Schweine! die Schweine!« jammerte mit zornmütig geballten Fäusten Dörthe Krüger, nachdem bei einbrechender Nacht dieser Besuch vom anderen Weserufer wieder Abschied genommen und der letzte aus der Gesellschaft ihr bei vergeblicher anderer Liebesmühe wenigstens noch einen Kuß gestohlen hatte.

»Und als ob der Herrgott es mir gerade so diesmal zum Heiligen Christ aufgehoben hätte!« ächzte die Frau Pastorin, bei machtlos hangenden Armen verstörten Blickes in ihrem verwüsteten Heimwesen um sich starrend. »Und das alles um solchen –«

»Frau! Frau – liebe Johanne!« rief der Pastor von seinem Lehnstuhl aus, seine Arme und Hände wie bittend und beschwörend erhebend. »Bedenke dich, liebe Johanne!«

»Jawohl, Holtnicker, wo steckt denn das Kind nur? . . . Hanne! Hannchen! Hannchen! Hat denn niemand sich um das Kind in dem Tumult, in der Niedertracht gekümmert? Vater, hast denn du nicht es bei dir gehabt? Vater, wenn das Kind – wenn dem Kind –«

Der alte Herr hatte sich zitternd, mit bebenden Knien aus seinem Sorgenstuhl erhoben und murmelte:

»Das Kind! das Kind?«

»Holtnicker! Vater, Vater, wenn uns das Mädchen –«

»Es hat an meinem Halse gehangen, als sie zu uns eindrangen«, rief der Pastor. »Wie in der höchsten Not hat es mich umfaßt, als sie zum Herrn Hauptmann die Treppe hinaufstiegen. Es hat mich heiß in unserer Angst geküßt, mit Tränen immer wieder geküßt und immer wie in Verwirrung von der Mutter, seiner lieben, lieben Mutter geredet, und dann kam der Franzos wieder vom Herrn Hauptmann herunter und drohte auf französisch, und was er fragte, verstand ich nicht, und währenddem ist das Kind mir aus der Stube geflohen, und ich bin bis jetzt des Trostes gewesen, Mutter, es habe nun bei dir seine Zuflucht genommen.«

Es war nach all dem wüsten Lärm in diesem Augenblick so still, daß man, wie Dörthe nachher meinte, die Totenuhr in der Wand klopfen hören konnte. Jedenfalls konnte man den Hauptmann Uttenberger, auf seinen Stab gestützt, die Treppe herunterstapfen hören.

Da stand er nun unter der Hausgenossenschaft. Sie hatten unwillkürlich mit ihren Fragen und Antworten und Ausrufen innegehalten, bis sie auch ihn nun als Teilhaber an allem anschreien, ihm klagen und ihm sein Teil an jeglicher Verantwortlichkeit zuschieben konnten. Und was das letztere anbetraf, so nahm er das auch sofort auf sich.

»Habet nit Sorge, habet nit Kummer!« sagte er. »Da ihr christliche Leut seid und unter einem geistlichen Dach hauset, so habet euern Herrgott auch jetzt nit unnütz im Munde – der Herr Pfarr weiß es ja, wie das Bibelbuch davor warnet. Fraueli, Muetterli, Fraueli, singet und betet nit bloß von seiner Gütigkeit und Allweisheit, sondern trauet auf sie! Ich mein, er hat im richtigen Augenblick gesagt: ›He nun so denn, so lauft, Kindli!‹, und meine Meinung war es auch.«

Der Frau Pastorin Meinung war's fürs erste noch nicht.

»Was geht mich der Junge an? Das Mädchen! Holtnicker, unser Kind! Kann uns das Kind, unser an uns und an unser Herz genommenes Pflegekind das angetan haben?«

Und den alten Reisläufer vom Uri-Rotstock am Arm fassend und heftig schüttelnd, kreischte sie fast:

»Hauptmann Uttenberger, Monsieur, Herr Hauptmann, hat Er Seine Hand dabei, daß das Mädchen uns um den jungen Fürstenberger Fant, den Vagabunden so untreu geworden ist, so mag Ihm Gott verzeihen, ich aber vermag es nicht in dieser Stunde. Vater, Vater, kann es denn die Möglichkeit sein, daß das Taternblut, das du – ja und ich auch – das wir von deinem Gotteswunderwagen wie unter den Rädern vorgezogen und an uns genommen und uns zu eigen gemacht hatten, uns auf unsere alten Tage um den ersten besten hergelaufenen Fremden so mitspielen dürfe? Wenn das so ist, so verschwöre ich –«

»O Mutter, Mutter«, rief der Pastor mit vor Angst und Kummer heiserer Stimme, indem er nach den zuckenden Händen der vor Aufregung zitternden Frau griff. »Mutter, halte noch dein Wort zurück! Laß uns erst alles genau wissen, was uns Gott auferlegen will in diesen wilden, blutigen, tosenden Tagen. Laß uns dem Herrn nicht zu rasch mit bösem, ungeduldigem Wort in seinen Willen fallen. Er hat uns das Kind so manches Jahr durch zu unserer Freude im Haus gelassen, nachdem er es uns hergereichet hatte von seinem Wunderwagen herab: es wird gewißlich sein Wille nicht sein, es uns nunmehr zu einem Ärgernis und Fluch in unserem Alter zu machen. Geduld, Geduld, Mutter, o Mutter, laß uns Geduld haben unter jeglichem Kreuz, so uns der Herr auflegt!«

»Madame darf versichert sein, daß ich nichts dazu getan habe, Ihr Ihren liebsten Segensschatz zu nehmen«, sagte Hauptmann Uttenberger. »Aber uf mi armi türi Seele, Madame mag mir auch glauben, daß ich auch nichts dagegen gesagt haben würde, wenn das Kind mich gefragt hätte, ob es den Weg gehen solle, den es wohl gegangen sein mag. Muetterli, Muetterli, Sie hat Ihr Leben im Frieden gelebet und hat noch keine Erfahrung davon, was der Mensch alles im Krieg über sich ergehen lassen muß und in Gottes Namen traget, weil er nit anders kann. Mein guter Kamerad aus dem Turm, mein Kriegskamerad aus dem Landwehrturm –«

»Die Wackerhahnsche!« schrie gellend des Bienchens von Boffzen Pflegemutter. »Dörthe! . . . Börries, Börries! Wo steckt denn der Mensche? er soll mir sofort nach dem Landwehrturm und mir die Alte holen. Weit können sie noch nicht sein, und wenn mir einer zu meinem Recht an meinem Pflegekind hilft, so ist's jetzt die Wackerhahnsche!«

»Die läßt schön grüßen, die Frau Förstern«, sagte Knecht Börries, in der Tür erscheinend. »Sie, die Frau Pastern, möchten sich nicht zu viele unnützliche Sorgen machen. Sie, als was die Frau Förstern Wackerhahn ist, kennte den Solling gut genug und brächte unsere Mamsell und Musche Willen auch bei Nacht und zur Winterszeit schon durch und richtig unserem Herzog hin in sein Eksil in Blankenburg.«

»Hol mir den Mantel, Dörthe, bring mir meine Pelzkappe!« kreischte die Frau Pastorin. »Steck die Laterne an, Börries, und nimm den Knüppel! Der Hund soll auch mit – weit können sie noch nicht sein . . . Taternblut! o Taternblut! . . . Mann, Mann, Holtnicker! Vater, Vater, was erleben wir da um unserer christlichen Barmherzigkeit und guten Herzens willen?!«

Damit brach sie in den Armen ihres ratlosen Eheherrn in einen Weinekrampf aus, und Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann, der so was auch noch nicht erlebt hatte, stand mit hängenden Armen und gefalteten Händen vor der kläglichen Gruppe und murmelte unverständliche Beruhigungsworte, die weder aus dem Kabinettprediger Cober noch aus dem Idyllenbuch seines jungen Landsmannes Salomon Geßner herstammten, sondern nach dem Feldlager, dem Exerzierplatz und dem Einrücken in die Schlachtlinie in manches Herrn Land schmeckten und sich ungefähr anhören ließen wie: »Tusend Tüfel! Mort dieu! Che diamine!«

Später, in seinem Losament fragte er den guten Knecht Börries natürlich noch weiter aus.

»Mit Gesundheit in den Solling hinein sind die Frau Förstern und unsere jungen Herrschaften, Herr Hauptmann. Und noch mit knapper Not zur richtigen Zeit. Am Turm hinauf sind sie, die Franschen, und weil die Frau Förstern ihre Hausgelegenheit beiseite gebracht hatte, auf der Feuerleiter von der Kirche. Was der Jude für das gibt, was sie oben gefunden haben, kann ich nicht wissen; aber unser Mamsellchen und ihren Schatz haben sie nicht gefunden. Ach, Herr Hauptmann, wenn Dörthe Krüger unten bei der Frau Pastern so was um mich vollbringen würde, wie unsere Mamsell um ihren Musche Wille, ich wüßte nicht, was ich ihr dann zuliebe tun könnte!« . . .

Es wurde eine böse, unruhige Nacht für das Boffzener Pfarrhaus. Niemand kam darin zu einem gesegneten, ruhigen Schlaf, auch der Hund Ryn nicht. Der hatte von dem welschen Überfall auch sein Teil abgekriegt, verspürte die Kolbenstöße und Fußtritte noch an seinen Rippen, träumte davon und schnappte im Traum mit heiserem Gebell um sich und der Schlacht bei Hastenbeck und der Konvention von Kloster Zeven nach. –

 


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