Raabe
Fabian und Sebastian
Raabe

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Vierzehntes Kapitel

Sie hatte allgemach ein gut Teil ihrer ersten Scheu vor dem Europäertum abgestreift, die kleine Inderin nämlich. Wenn wir den Onkel Sebastian ausnehmen, so gab es in dieser so durch und durch zivilisierten, dieser mit Malaien, Laskaren, Batakern, Atchinesen, Chinesen und sonstigem Barbarenvolk gänzlich ungemischt gebliebenen Gesellschaft niemand, der ihr auf dem Markte und der Gasse große Furcht eingejagt hätte. Es war dem Attrappenonkel seltsam, zu bemerken, wie in dem Kinde seines verstorbenen Bruders immer mehr von der Abenteuerlust, dem munteren Blute und dem heitern Mute des Vaters zutage trat und wie es der hübschen Halbbarbarin nur selten an einem passenden Worte auf jede Frage oder umgekehrt an einer Frage nach einem an sie gerichteten Worte mangelte. Sie liebte es, im etwas unberechtigten Gefühl einer Sicherheit, die sie in ihren halbwilden Garnisonen in Holländisch-Indien nicht gekannt hatte, allein durch die Straßen der Stadt zu schlendern, ihre kleinen Einkäufe selber zu besorgen und von Schaufenster zu Schaufenster zu hüpfen. Sie hatte ganz unschuldig dem Onkel Fabian von diesem Behagen gesprochen und war damit ganz an den rechten Mann gekommen. Auch ihm war noch niemals etwas Unangenehmes in den Gassen dieser soliden Residenz begegnet, und so machte er sich kaum einige Sorge um sie, wenn sie auch einmal ein Stündlein über die Zeit ausblieb oder etwas hochrot vom eiligen Lauf ihm in seinem Museo an den Hals sprang und ihm mutwillig-glücklich halb in niederdeutscher und halb in hochdeutscher Zungenüberstürzung mitteilte, an welcher Ecke ihr die Madam Kettner merkwürdigerweise abhanden gekommen sei. Merkwürdigerweise hatte sie gegen den Marktkorb der guten Wirtschafterin des absonderlichen Haushalts in der Fadengasse eine gradeso große Abneigung wie der brave Knövenagel. Unbedingt aber würde sie ihn tausendmal lieber selber geschleppt haben, als ihm nachgetrippelt zu sein, ohne den Versuch machen zu dürfen, der Trägerin bei der ersten geschickten Gelegenheit womöglich abhanden zu kommen. Letztere Gelegenheit hatte sich denn auch heute geboten, und wir treffen sie allein mitten im Gewühl auf dem Blumenmarkte und zwar als glückselige Besitzerin des größten, aber auch ums Doppelte zu teuer erstandenen Asternstraußes des ganzen Marktes. Sie haben ihr des deutschen Herbstwindes wegen einen dicken Schal um den Hals gewunden, aber »einen Schnupfen hat sie doch schon weg« und kennt auch diese deutsche Redensart ganz genau, aber kümmert sich weder ums eine noch ums andere viel. Sie niest nur herzhaft in der Vorfreude über das gutmütig-lächelnde Gesicht des Attrappenonkels über ihren farbenbunten Einkauf hinein und hat, als eine etwas harte Stimme: »Zur Gesundheit, Fräulein!« dicht vor ihr sagt, noch nicht die geringste Ahnung davon, daß sie heute durch ihr längeres Ausbleiben den Onkel Fabian doch in gar große Unruhe und Sorge versetzen wird.

»Oh, Baas Erdener!« rief Konstanze Pelzmann froh überrascht im ersten Augenblick und reichte mitten im lustigen Gedränge des Wochenmarktes dem alten, grauen, ernsten Mann und Freunde von den Schaftriften von Schielau, der mit seinem Hund am Stricke vor ihr stand, die Hand; und – nun sogleich doch wieder an die Frau Therese und die so betrübt veränderten Zustände auf Schielau sich erinnernd, sagte sie:

»Oh, ich freue mich doch, Sie einmal wiederzusehen. Es ist so traurig, daß, wenn einer stirbt, er so vieles mit sich nimmt, woran man zuerst in seinem Kummer gar nicht denken kann. Wie schön war es auf Ihrem Felde, und nun komme ich niemals wieder so zu Ihnen hinaus wie früher; und Sie kommen noch immer nicht in die Stadt zu uns und besuchen den Onkel und mich, und wir würden uns doch so sehr darüber freuen. Nicht wahr, Pilgram?«

Der Hund stieß ein leises Gewinsel aus und suchte seinen zottigen Kopf dem jungen Mädchen in die Hand zu schieben; aber der alte Mann riß rauh des Tier an dem Stricke zurück und schien sich nur mit Mühe zu einem nicht rauhen Gegenwort auf die freundliche, sanfte Anrede der Kleinen zu fassen.

»Es geht ja nicht an! Es geht nicht!« murmelte er. »Sie kommen, Gott sei Dank, so aus der Ferne und der Fremde, daß Sie für mich ganz wunderlich wie nicht unter jenem Dache herstammen und ich mit Ihnen spreche wie mit keinem andern in dem Hause. Und Sie sind zum Glück auch noch so jung, daß Sie keine grausamen Fragen aus Unbedacht an mich richten können. Ja, es ist ein kühler Trunk Wasser, daß ich Sie so gern sehen und mit Ihnen reden kann wie mit einer jungen, lieben Fremden; aber nun fragen Sie mich auch nichts weiter, sondern lassen Sie uns Alte das, was zwischen uns liegt, unter uns allein ausmachen! Und sehen Sie, ich hatte ja auch heute morgen so viele Wege und Geschäfte unter den Menschen, daß ich auch ohne den Eidschwur, den ich nach Gottes Willen lange vor Ihrer Geburt in dem fremden Lande hier im Lande habe tun müssen, nicht zum Besuch zu Ihnen und dem Herrn Onkel Fabian habe kommen können. Und bitte, nun grüßen Sie den Herrn Onkel recht schön von mir. Den Herrn Amtmann finden Sie vielleicht noch zu Hause, wenn Sie nicht zu lange von dort ausbleiben. Er hatte eine wirkliche Sehnsucht nach Ihnen; ich aber habe nun nur noch einen letzten Weg zu tun, ehe ich mich auf den Heimweg mache.«

Das Kind hätte es wirklich nicht aussprechen können, woher es den Mut nahm, dem finstern Alten die Hand auf den Arm zu legen und bittend zu sagen:

»Ich ginge so gern mit Ihnen, Baas Thomas.«

»Auf diesem Wege?« rief der Schielauer Schäfer, im wahrhaftigen Schrecken und Entsetzen zurücktretend. »Auf diesem Wege, den ich jetzt noch vor mir habe?« sagte er leise, mit bitterem Lächeln in das unschuldige Gesichtchen vor ihm starrend. »Kind, Kind, selbst hier den Hund nehme ich ja nur ungern mit dahin bis vor die Tür! Aber, Kind, wissen Sie denn auch nur, wohin ich jetzt noch gehen muß, ehe ich mich wieder auf mein einsam Feld flüchten kann?«

Konstanze nickte weinerlich:

»Ich weiß es von Knövenagel, wohin Sie gehen müssen, wenn Sie in die Stadt kommen und den Onkel Fabian nicht besuchen, Baas Thomas.«

»Was hat Ihnen der Narrenkopf aus seinem dummen Wichtigtun mitgeteilt?« rief der »Baas« zornig. »Hat der Unglücksmensch noch immer nicht genug Unheil und Verdruß angerichtet? Daß ich nach dem Zuchthause gehe, um mein Kind darin zu besuchen, das hat er Ihnen gesagt?«

»Der Onkel Fabian auch! Ich habe sie danach gefragt, weil ich Euch so gern habe und Ihr mich stets immer so kummervoll und vorwurfsvoll angesehen habt, als ob auch ich eine Sünde gegen Euch begangen hätte. Und Knövenagel hat nur gesagt, er sei Schuld daran, denn er habe zuerst Euere Tochter in unser Haus gebracht. Keiner will mir das Rechte und Ganze sagen, und – jetzt möchte ich so gerne mit Euch gehen, Baas Erdener, und Euch helfen auf Euerm Wege. O laßt mich! ich fürchte mich gar nicht; ich habe auch schon Tote gesehen – tote Menschen an den Wegen in meinem Geburtslande. Gewiß, ich fürchte mich gar nicht!«

»Aber ich!« murmelte der Greis, und dann nahm er die kleine Hand, die den großen, für den Arbeitstisch des Attrappenonkels bestimmten Blumenstrauß umklammert hielt, zwischen seine harten, dürren, braunen Hände; und die Leute, deren Verkehr die zwei in ihrem jetzigen Zusammentreffen auf dem Markte des Lebens immerhin ein wenig hinderlich waren, wurden immer ungeduldiger. »Nein, nein, nein, mein Herzenskind, es ist keine Möglichkeit! Und dann – sie erlauben es auch gar nicht. Ich allein habe nur die Vergünstigung dann und wann. O Fräulein, seit ich neulich den Herrn Doktor Baumsteiger auf der Chaussee unter meiner Herde anhielt und er mir verkündete, daß keine Hoffnung mehr für unsere Frau sei, hat mir kein Mensch solche Bangnis eingeflößt als wie Sie jetzt. Deshalb gehen Sie nach Hause mit Ihren Blumen und grüßen Sie von mir den Herrn Onkel Fabian und –«

»Ich gehe mit Ihnen, Baas Thomas, und wenn auch nur wie Pilgram da mit Ihnen bis vor die Tür. Da warte ich mit ihm auf Euch, und die Astern, die eigentlich der Onkel haben sollte, nehmt Ihr mit hinein, – das erlauben sie schon – und sagt, daß sie von uns, dem Onkel und mir, kommen. Und dem Onkel brauche ich nichts vorzulügen, wenn ich nach Hause komme; – ich weiß es, wenn ich auch keinen danach gefragt habe, daß es ihm lieb ist, was ich – was ich Euch zuliebe tun möchte. Ich weiß es aus seinen Augen, wenn die Rede auf Sie kommt, Vater Erdener, wie gern auch er helfen möchte in Ihrem Kummer. Und ich, ich habe den Herrn Amtmann nach Euch gefragt, Baas Thomas, und den Onkel Fabian und Knövenagel; aber jetzt frage ich keinen mehr, sondern gehe mit Pilgram mit Euch, weil ich zu meinen Freunden nicht umsonst aus der Ferne gekommen sein will, wenn ich auch noch zu jung bin, um alles zu verstehen, wie jeder sagt, den ich frage.«

»So komm denn, Kind, und gehe mit mir zu meinem Troste!« rief der alte Mann, und jeder Uneingeweihte hätte wohl meinen dürfen, daß er die Worte im hellen Zorn hinsprach. Es war aber wahrhaftig nicht an dem.

Viele Leute sahen recht verwundert dem abgetragen-bäuerlich gekleideten Schäfer und der eleganten jungen Dame auf ihrem Gange durch die Straßen der Stadt nach, und es war eigentlich sehr schade, daß nicht auch Madame Printemps mit ihrer auf den Faden gezogenen Schar von jungen Fräuleins der ihrer Erziehungsanstalt leider so unverantwortlich entzogenen Nichte des Attrappenonkels begegnete. Wir aber sehen jetzt zum erstenmal das Kreiszuchthaus im hellen Schein der Mittagssonne liegen; und das freundliche Licht, das sonst allem Unheimlichen so viel von seinem Schrecken nimmt, war hier nicht nur machtlos, sondern verstärkte noch die dunkeln Schauer, die über dem Orte in jener schönen Sommernacht lagen, in welcher der Onkel Fabian das Kind am Handgelenk so rasch daran vorüberzog.

Ein unregelmäßig dreieckiger Rasenfleck mit einigem verstaubten, vertrockneten Herbstgebüsch trennte die hohe harteiserne Eingangspforte von der Landstraße und ihrer jetzt gleichfalls herbstlich entfärbten Obstbaumallee. Unter einem dieser Bäume, grade dem stillen, dunkeln Tore gegenüber, befand sich eine Steinbank, und man tat besser, lieber gar nicht darüber nachzudenken, wer wohl schon, abgesehen von den gleichgültigen müden Vorbeiwandernden, auf dieser Bank mit dem Blick auf das stille, hochgetürmte Gebäude und die mitleidlose Tür gesessen haben konnte – wartend, – und was für Gedanken und Bilder da durch menschliche Phantasie und menschliches Herz gegangen sein mochten.

Nun standen sie hier, der Greis und das Kind aus dem Hause Pelzmann und Kompanie, und der Greis legte mit einemmal ganz sanft den Arm um die Schultern des Kindes, sah ihm lange in die dunklen Augen und sagte mit zitternder Stimme:

»Also wirklich? – Aus so weiter Ferne und unbekanntem Lande – über die weite See hierher gekommen bis zu dieser Stelle! Und zu meinem Troste, zu meinem Trost! – Kind, liebes Kind, wenn du es selbst nicht weißt, wer dich geschickt hat: kein anderer in der Welt kann es dann wissen!«

»Ich bin aus mir selber her mit dir gegangen, Baas Thomas!« rief Konstanze Pelzmann schluchzend. »Wer sollte mich denn geschickt haben? Der Onkel Fabian wird nur nichts dagegen haben, wenn ich ihm nachher sage, wo ich gewesen bin; und hier auf dieser Bank will ich nun mit Pilgram warten, und du kannst nun ruhig hineingehen, und sie erlauben es schon, daß du die Blumen mitnimmst. Sage nur – nein, sage gar nichts von mir, sondern alles, wie du es am besten verstehst, und der liebe Gott wird uns allen schon helfen.«

Eine klare, nüchterne Glocke, die Glocke des Uhrturmes des Kreiszuchthauses, schlug langsam elf. Konstanze fühlte die schwere harte Hand von ihrer Schulter sinken, sie sah in einen flimmernden Nebel vor ihren Augen, und als sie wieder alles um sich deutlich wiedererkennen konnte, fand sie sich allein auf der Bank unter dem Obstbaum, soweit man auf einer Landstraße dicht vor dem Tore einer volkreichen Stadt allein sein kann.

Da saß sie im kärglichen Schatten und senkte den Blick vor dem grellen Widerschein des festungsartigen Turmgebäudes gegenüber, und der Hund lag zu ihren Füßen und stand jedesmal auf und knurrte leise, wenn ein Vorübergehender stehen blieb und erstaunt die junge Dame, die sich diesen seltsamen Fleck zum Ruheplatz erwählt hatte, genauer ansehen wollte. Wagen rollten vorbei und erregten dichte Staubwolken; der Septemberwind blies dieselben gegen das schwarze Tor mit den grimmigen Löwenköpfen hin. Sie wußte, daß sie eine halbe Stunde – drinnen rechneten sie auch in dieser Hinsicht genau – auf die Rückkehr des Schäfers Thomas zu warten habe, und schon nach den ersten Minuten ihres Wartens hatte sie jeden Überblick über den Lauf der Zeit verloren. Sie fuhr wieder über das Weltmeer auf dem großen Dampfschiffe und sah die Wasser in ihrem hellsten Lichte leuchten und tanzen. Darein mischten sich Bilder von den Schielauer grünen Wiesen, und nun plätscherte wieder der Schielauer Bach zu ihren Füßen und sie hörte die Stimme der Frau Amtmann im Schielauer Amthause. Sie dachte an des Onkel Fabians wundervolles Museum und an ihr eigenes hübsches, allerliebstes Zimmerchen in der Fadengasse und die Glocke der Michelskirche jenseits der Dächer auf der andern Seite der Gasse; und bei dem allen, trotz dem allen war sie doch da drin – da drinnen in dem schrecklichen stummen Hause mit dem alten Manne. Und weil sie gar nicht wußte, wie es darin aussah und wie die Tochter des alten Mannes aussah und was der Vater und die Tochter grade jetzt einander sagten, so hätte sie vor Angst trotz ihres Mitleids und ihres Mutes doch beinahe laut aufgeschrieen und nach dem Onkel Fabian gerufen, wenn ihr nicht Pilgram mit seinem bösesten Gekläff zu Hülfe hätte kommen wollen, und dann erst erlebte sie das Schlimmste.

Es war nämlich wieder jemand, der des Weges kam, vor ihr stehen geblieben, und diesmal hatte es der Hund des Schäfers von Schielau nicht bei einem leisen warnenden Geknurr bewenden lassen, sondern sich mit grimmigem Gebell auf die Füße gestellt. Durch den Nebel vor ihren Augen sah Konstanze Pelzmann den Onkel Sebastian vor sich stehen und bog sich im höchsten stummen Erschrecken zurück auf ihrem häßlichen Sitze an diesem Wege.

Sie hatte ihn seit längeren Wochen nicht zu Gesicht bekommen, sie hatte gar nicht gedacht, daß er sie erkennen würde, wenn er ihr irgendwo auf der Straße begegnete; aber er erkannte sie wirklich, und nun hatte sie auf einmal das Gefühl, daß er sie immer beobachtet habe, daß er sie, wenn auch widerwillig, gesucht habe, mit dem Auge sowohl als wie mit der Phantasie.

Sie hatte ihn eben wie einen schwarzen Schatten unter der andern Baumreihe der Landstraße gesehen – scheu, schwankenden Schrittes, und nun war es eine Wahrheit, eine Wirklichkeit, daß er vor ihr stand und sie anredete mit heiserem Tone:

»Was ist das? Was willst du hier? Bist du nicht meine Nichte? Wie kommst du auf diese Stelle, Mädchen?«

Wahrlich, er hätte diese selbe Frage an sich selber stellen können, hätte sie von einem andern an sich gerichtet hören können und wäre wohl nicht besser und mehr auf eine rasche Antwort eingerichtet gewesen wie das junge, durch ihn zum Tode erschreckte Kind auf der unheimlichen Steinbank, gegenüber dem Provinzialzuchthause und Zellengefängnis.

Wir wissen es ja wohl, was ihn trieb, aber es läßt sich schwer in Worten ausdrücken, was es war. Es war eben die große Unruhe, für die es keinen rechten Namen gibt – die geheimnisvolle Kraft und Macht im Innern, welche der Mensch selber ist und die ihm doch wie etwas ihm Fremdes sich aufdrängt und ihn zwingt zu bleiben, wo er keine Ruhe findet und nicht bleiben möchte, und hinzugehen, wo er nicht hingehen will, und zu horchen, wo er die ewige Stille vorzöge. Es ist doch im Grunde nur ein ärmlicher Notbehelf der Sprache, wenn sie hier vom bösen Gewissen redet.

Der Hund war auch nicht zu beruhigen; er, welcher den Onkel Sebastian nie in seinem Leben gesehen hatte. Er hatte den Haltestrick, ohne welchen er sich maulkorblos nicht vor dem Auge der Polizei in der Residenz sehen lassen durfte, mit einem Ruck dem jungen Mädchen aus der Hand gerissen und stand nun von ferne, den Onkel Sebastian wütend ankläffend.

»Und der Hund? Was ist mit dem Hunde? Man scheint in einer sonderbaren Weise zu Hause auf dich Achtung zu geben, Fräulein Nichte! Wem gehört das tolle Tier, Mädchen?«

»Dem Schäfer Erdener aus Schielau, Herr«, sagte die Stimme des Greises ruhig hinter dem aufgeregten Manne, und der von seinem schlimmen Morgenbesuche bei der vordem so schönen Marianne Erdener zurückgekehrte Vater stand vor dem auf seinen Füßen schwankenden jüngeren Chef der Firma Pelzmann und Kompanie. Herr Sebastian stieß einen unverständlichen, rauhen Laut aus und wich, den Alten fortwährend anstierend, zurück, Schritt vor Schritt, und zwar nicht vor einem toll gewordenen Hunde oder wütenden Menschen, sondern vor dem Blick und dem Lächeln eines anscheinend sehr ruhigen und keineswegs in tödlicher Feindschaft gegen ihn sein Leben abspinnenden alten Mannes.

Aber mit seiner ruhigen Stimme sagte Thomas Erdener:

»Ich weiß es, Sebastian Pelzmann, daß Gerechtigkeit im stillen an dir geübt wird. Ich habe dich nicht hierher gerufen und will dich auch jetzt nicht hier aufhalten. Wozu das dienen mag, daß du mich und deines Bruders Kind jetzt hier hast treffen müssen, weiß ich nicht. Komm künftig lieber wieder wie sonst in dunkler Nacht vor diese Tür. Mir ist es nichts zu meiner Befriedigung, daß ich jetzt dich ansehe und zu dir rede. Es ist einerlei: gehe oder bleibe, komme wieder oder bleibe weg; – es ist mir nichts – heute und in alle Ewigkeit.«

Er legte der zitternden Konstanze leise und sanft wie vorhin die Hand auf die Schulter und sagte mit einem andern Lächeln:

»Armes Kind, siehst du, es ist nicht meine Schuld, daß es so viel Erschrecken und Angst auch für deinesgleichen und deine jungen Kinderjahre auf der Erde gibt! Und siehst du, da mußt du auch deinen lieben Strauß wieder hinnehmen; sie haben es nicht erlauben können, daß ich ihn nach deinem guten Herzen und Mitleid abgeben mochte. Ich kann dir leider Gottes auch nicht dazu helfen, daß du nun wieder sicher zu deinen Freunden zurückkommst. Es ist nicht anders.«

Sein Hund drängte sich schmeichelnd, winselnd und wedelnd an ihn heran. Er hob den Strick, den das Tier nachschleifte, vom staubigen Boden auf und ging, von dem freudig springenden Pilgram gezogen, ohne sich umzusehen, seines Weges die Straße hinauf, die nach seinen stillen Brachfeldern und Schaftriften zurückführte.

Es tat ihm wirklich leid, aber er konnte ja nichts dafür, daß er das unschuldige, schreckensbleiche Kind in seiner Angst und Ratlosigkeit hinter sich zurücklassen mußte. Konstanze Pelzmann sah sich jedoch auch nicht nach ihm um; sie stützte den Onkel Sebastian, der ohne ihre Gegenwart und schwache Kraft zu Boden gefallen wäre, nun aber mit ihrer Hülfe die Steinbank erreichte und auf derselben niedersank, und den und dessen Firma sie jetzt dem rasch sich um sie her sammelnden Menschenhaufen gegenüber zu repräsentieren hatte.

Da war es denn freilich ein Glück zu nennen, daß Hoheit Prinzeß Gabriele Angelika noch immer »nicht tot zu kriegen« gewesen war, sondern munterer denn je in der vergangenen Nacht von einer ihrer habituellen Unpäßlichkeiten befallen wurde. Und ein ebenso großes Glück war es, daß von ihrer Hoheit Apanage-Landsitz Monplaisir bei Tagesgrauen schon Mère la Chaise, wie der Leibmedikus seine beste Freundin, Gräfin Fredegunde, dann und wann ingrimmig zu betitulieren pflegte, eine Kutsche und einen Boten zu besagtem Hof- und Leibmedikus Baumsteiger gesendet hatte. Die intimste Vertraute der Leiden ihrer Hoheit konnte es nicht ahnen, daß sie sowohl wie die Prinzeß selber schnöder Weise gar nichts weiter bedeuteten als irgendein ander ganz gewöhnlich Mittel zum Zweck in der Hand der Vorsehung; aber der Hofmedikus, nach heuchlerisch geschäftig gelinderten Leiden in seiner Hofequipage von Monplaisir wieder nach Hause fahrend, kam grade im richtigen Augenblick vor der Bank am Wege gegenüber dem Provinzialzuchthause vorbei.

Wie hätte er auch unterlassen können, einen neugierigen Blick auf die, wie es schien, um einen gleichfalls in seinen Geschäftskreis gehörigen Unglücksfall am Wege versammelte Volksgruppe zu werfen.

»Halt da, Kutscher! – Na, was gibt’s da Leute? Wer hat sich nun hier wieder den Magen am Leben verdorben?«

»Ja, sehen Sie nur mal, Herr Hofmedikus! Sie kommen ganz gewiß hier grade recht, Herr Hofmedikus! So laßt doch den Herrn Hofmedikus ’ran!« klang ’s zurück aus dem Haufen, dem der stadtbekannte Mann gewiß nicht unbekannt geblieben war.

Aber Baumsteiger hob nun doch jetzt auf dieser Praxisfahrt die Hände im ungeheuchelten Erschrecken empor.

»Zum Henker – aber was soll – was ist denn das? Sie, Kind – Fräulein Pelzmann? – und er! – Und hier?! – Und in wirklicher Geistesabwesenheit! – So gebt doch Raum, Menschenkinder; glaubt ihr etwa, ihr bringt ihn dadurch wieder zu Atem, daß ihr ihm so auf den Leib drängt? – Fassen Sie sich, Konstanze, es hat nicht das mindeste zu sagen; – da haben wir ihn schon wieder mit wiederkehrender Besinnung unter uns. – Jetzt helft mir ihn sanft in den Wagen schaffen, Leute, damit ihr wirklich zu etwas nutz hier seid. Und du komm, dich trage ich am besten selber, mein Kind! – Nach der Hochstraße, Fritz! Pelzmann und Kompanie! – Nun ist es mir nicht mehr bloß so so, sondern es war wirklich der ungläubige Thomas von Schielau, der mir vorhin an der Straßenkreuzung quer über den Weg stieg. Hm, da säßen wir denn freilich gewissermaßen mitten in der Geschichte. Na, nicht tot zu kriegen, nicht tot zu kriegen, hm, hm.«


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