Wilhelm Raabe
Altershausen
Wilhelm Raabe

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III.

Seine Schwester, der es, wie sie sagte, bei der Geschichte auf ihrem Stuhl an der Festtafel mehr als einmal heiß und kalt geworden war, meinte am andern Morgen ruhiger:

»Hör mal, bester Bruder, ich glaubte doch ziemlich genau zu wissen, was und wieviel du vertragen kannst; aber einen Augenblick kam mir gestern doch der Zweifel, ob ich mich da nicht geirrt habe und ob dir diesmal wenigstens mit den großen Ehren auch das Getränk bedenklich zu Kopfe gestiegen sei. Na, es ist ja, Gott sei Dank, zuletzt noch so ziemlich abgelaufen, aber abdrucken laß das konfuse Zeug nicht unter den dauernden Monumenten deiner geistigen Begabungen, auf die Exzellenz so liebenswürdig war uns nochmal hinzuweisen. Eigentlich ist es schade! grade gestern hatte ich Besseres von dir erwartet! Ich habe jedenfalls Besseres häufig von dir bei Tisch gehört.«

»Vergnüglicheres?«

»Jawohl! geärgert habe ich mich. Bei so ernsten Gelegenheiten soll man nicht den Hanswurst und Hansnarren spielen wollen. Aber das steckt nun einmal in dir, und ich spare da längst meinen Atem, denn ich predige es doch nicht aus dir heraus!« – – – – – – – – – – –

Ludchen Bock!

Ob er wohl noch lebte, der alte Junge? In den Zeitungen war er dem ganz geheimen Kindheitsfreund Fritz Feyerabend nicht erschienen. Weder in politischen Dingen noch in Künsten und Wissenschaften konnte er sich berühmt, bekannt oder anrüchig gemacht haben. Was er sonst gesündigt haben mochte: der Kriminaljustiz war er auch nicht verfallen, wenigstens nicht in einer Weise, die unter der Rubrik »Aus dem Reiche« das Gesamtinteresse des deutschen Volkes in Anspruch genommen hätte.

Ja, ob er wohl noch in der Erscheinungswelt und nicht bloß in jener Jubiläums-Weinlaune des Geheimrats Feyerabend vorhanden war? Und dazu – war er's allein gewesen, was sich dem gefeierten Greis so absonderlich in den höchsten psychologischen Moment jenes hohen Festtages eingedrängt hatte? War es nicht alles gewesen, was damals zu ihm gehörte – die Welt von vor zwei Menschenaltern, ganz Altershausen, und was zu dem gehörte?

»Wenn ich dort den Versuch machte, das Spazierengehen wieder zu erlernen?« seufzte an seinem Fenster, den Rauch seiner Pfeife von sich abwedelnd, der alte Altershausener. –

September war es bereits geworden, aber es war selten so lange schöner Sommer geblieben wie in diesem Jahr. Ferne Gewitter, von denen man in der Nacht nur das Wetterleuchten gesehen hatte, hatten den Horizont nach allen Richtungen hin geklärt. Weit entlegene Bergzüge lockten verführerisch blau zu sich hin und waren sicherlich, in der Nähe gesehen, ebenso grün, wie sie von fern aus blau erschienen. Die Leute am gegenwärtigen Ort in Raum und Zeit kamen aus den Kirchen, gingen in die Konditoreien, lustwandelten in den Parks oder fuhren auf Visiten, und Geheimrat Feyerabend saß in Altershausen in dem höchsten Gipfel einer Tanne, an der ihm zu einem dort hängenden Eichhornnest – Ludchen Bock vorangeklettert war.

Man hatte einen ziemlich kahlen, steinigen »Berg« in des Alten waldiger Heimats-Hügellandschaft zu ersteigen, ehe man zu dem Tannen- und Fichtenbestand gelangte, an dessen Rande der Baum gewachsen war, in dessen Wipfel die zwei Freunde von Menschenrechts wegen auf der Suche nach den Wundern, Abenteuern und Schicksalen des Erdballs waren.

Wie der alte Herr das Harz an den Händen fühlte und wie er den Duft des Weihnachtsbaums in der Julisonne in der Nase hatte! Und wie deutlich er den Taugenichts neben sich, der eben seine zerkratzte schwarze Jungenpfote enttäuscht aus dem »Äkernest« hervorzieht, sagen hört:

»Du, der Rektor weiß gar nichts davon, weil es nicht in seinem Naturgeschichtsbuch und der dicken Bibel steht. Aber ich weiß es von unserm Krischan, weißt du, den mein Vater wegen eurer Hanne aus dem Dienst tun mußte. Dies hier ist mal wieder nicht sein eigentlich Heckequartier, wo er mit seiner Frau und seinen Jungen zu Hause ist. Die Kletterei hätten wir uns sparen können. Der Lork macht es grade wie mein Vater. Wenn es den zu Hause nicht leidet von wegen meiner Mutter, denn weiß er wohl, wo er woanderwo hingehen kann. Er macht sich noch ein paar andere Orte zurecht, wo er sein Vergnügen ruhig haben kann. Einen Buddel hat der Äker hier nicht versteckt stehen, wie mein Vater in unserm Gartenhaus; aber voll Bucheckern liest er sich dies voll und setzt sich dabei und knabbert für sich allein, wenn er nicht vorher schon in Lüders' Wirtschaft – ne, da geht er nicht hin, der Äker, aber mein Vater. Dein Vater, Fritze, geht in den Ratskeller, da hat er seine Pfeife stehen. Es ist eine mit einer Fliege auf dem Kopfe, ich kenne sie ganz gut und habe ein paarmal probiert, ob sie auch Luft hat. Und die anderen Herren aus der Stadt, der Burgemeister und der Doktor, sitzen auch da des Abends, aber Bucheckern knabbern sie nicht. Na, laß uns nur wieder herunter – Harzpech haben wir genug an uns, und daß du ein Loch in der Hose hast, wird dir deine Mutter auch schon sagen!«...

Wie sich das aneinander hing! Der Alte am Fenster hatte nicht das geringste dagegen einzuwenden, daß so liebe Schatten, die Schatten der Eltern, ihm so aus der Tiefe heraufbeschworen wurden. Wer hätte das denn besser besorgen können als der beste Freund des Hauses Feyerabend, als Ludchen Bock?

Da warst du, Mütterchen! Und wie laut die große Stadt ihren Sonntagmorgen begehen mochte, in der Seele des Geheimrats Feyerabend wurde es still und die Pfeife ging ihm aus. Da warst du, schöne junge Frau aus der Welt vor sechzig Jahren, mit deinem guten Lachen, deinem klugen Lächeln, mit deiner Weltweisheit, die nicht aus dem Lehrplan »höherer Töchterschule« stammte, aber im Lebensverdruß und -behagen, bei Sonnenschein und Regen, an der Wiege und am Sarge, unter den Pfingstmaien und unter dem Christbaum sich so weich, so linde wie deine Hand über alles legte, was dich betraf, so weit dein kleines großes Reich auf dieser Erde reichte und Menschenglück und Elend, Wohlsein und Überdruß, Jubel und Jammer umfing.

»Noch immer der alte Sonnenschein, aber – die nicht mehr dabei!« murmelte der Greis an seinem Fenster seufzend, um sich im nächsten Augenblick wieder lächelnd die Stirn zu reiben.

»Du, darin habe ich es besser zu Hause als du. Latein kann meiner nicht«, hörte er es neben sich – hörte er wiederum Ludchen Bock neben sich, die steinige Berglehne im Sonnenschein hinunter nach Altershausen. »Das wäre noch schöner, wenn er mich auch dazu zum Rektor Schuster täte wie deiner dich! Aber deiner ist auch der Klügste in der ganzen Stadt, sagt mein Vater, und der Niederträchtigste und Freundlichste mit den Leuten auch, sagt meine Mutter.«

Wie es dem Alten am Fenster aufklang, alles, was die Leute von Altershausen von seinem jungen Vater sagten, und alles – was er selber von dem wußte aus Altershausen, da er noch unter seinem strengen Blick und versteckten Lächeln mit dem Rektor Schuster im Kampf darob lag, wer von beiden am wenigsten Latein wisse!

Da war er in dem gegenwärtigen Sonnenschein, als ob er nie aufgehört habe, darin mitzuspielen – – – – – – – – – – –

»Ist denn das wirklich dein Ernst?« fragte nachher beim Mittagstisch Schwester Karoline...


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