Ludwig Quidde
Erinnerungen. Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im Kaiserlichen Deutschland
Ludwig Quidde

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Der Staatsanwalt mir auf den Fersen

In den Jahren, die dem Erscheinen des Caligula folgten, habe ich eine außerordentlich rege politische Tätigkeit entfaltet, in München und außerhalb in Versammlungen. Fortwährend war ich unterwegs wie der reine »Commis voyageur« der deutschen Demokratie. Im Winter 1894/95 stand der Kampf gegen die vom Kaiser geforderte Umsturzvorlage im Vordergrund. Später spielte für mich eine Hauptrolle die Bekämpfung des widerlichen Byzantinismus, der sich der vom Kaiser vollzogenen Umtaufung Wilhelms I. in »Wilhelm den Großen« anpaßte. Daneben waren des Kaisers Flottenrüstungspläne zu bekämpfen. Die um sich greifende Seuche der Majestätsbeleidigungsprozesse gab Anlaß zu scharfen Protesten. Nach Erledigung der Umsturzvorlage kam die einer ganz direkt vom Kaiser ausgegebenen Parole entsprungene Zuchthausvorlage an die Reihe. Aus diesen Fragen der Tagespolitik ergab sich von selbst die Notwendigkeit, sich immer wieder mit dem Kaiser persönlich auseinanderzusetzen.

Das war um so mehr geboten, da er nicht abließ, durch sein Auftreten die Kritik herauszufordern. Was er tat und sagte, gab zum Teil sehr unerfreulichen Anlaß zu ernsten Besorgnissen, gab zum Teil aber auch willkommenen Anlaß zur Bekämpfung der monarchischen Gesinnung und ihrer Ausartungen, der Lakaiengesinnung, die einen Teil des deutschen Volkes beherrschte, des kritiklosen Kultus, der mit der Monarchie getrieben wurde. Wir süddeutschen Demokraten (obgleich in Bremen geboren und dem alten Hanseatengeist, wie ich hoffe, nicht entfremdet, zähle ich mich durch meine politische Entwicklung doch ganz zur süddeutschen 41 Demokratie) waren durchweg Republikaner. Das heißt: wir verfolgten keine Pläne, die auf Beseitigung der Monarchie abzielten; denn es war uns klar, daß die Monarchie im deutschen Volke viel zu fest verankert war, und daß man eine Republik ohne Republikaner nicht gründen könne; für die Gegenwart war uns die Demokratisierung der Verfassung und der Verwaltung viel wichtiger als die Frage der Staatsform; aber wir waren gesinnungsgemäß Republikaner, pflegten in unseren Reihen den Geist der Demokraten von 1848, trugen die schwarzrotgoldenen Farben der Deutschen Republik, bekämpften den Monarchismus und suchten republikanische Gesinnung zu verbreiten.

In der Betreibung dieser Propaganda und in der bewußten Zuspitzung des Kampfes auch gegen die Person des Kaisers war ich einer der Eifrigsten. Es war natürlich ein gefährlich Handwerk, um so gefährlicher, da die Staatsanwaltschaft mich mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit beehrte. Mehr als einmal mußte ich mich vor dem Untersuchungsrichter verantworten. Einige Fälle sind mir genauer in Erinnerung geblieben.

In reaktionären Kreisen spielte man damals mit dem Gedanken, das allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht zu beseitigen. In einer Versammlung sagte ich, ein solcher Staatsstreich bedeute Blut; er werde die Massen auf die Barrikaden treiben. Es folgte eine Anklage auf Grund der §§ 110 und 130 wegen Aufreizung von Bevölkerungsklassen zu Gewalttätigkeiten. Ich hatte es leicht, zu erwidern, daß meine Absicht nicht war, aufzureizen, sondern zu warnen. Der Untersuchungsrichter schien von der Haltlosigkeit der Anklage überzeugt zu sein.

Ganz anders in einem anderen Falle. Ich hatte mein Lieblingsthema »Wilhelm den Großen« behandelt, hatte ausgeführt, wieviel menschlich Sympathisches man an dem alten Kaiser rühmen könne, seine Ritterlichkeit, seine Bescheidenheit, seine Güte – wenn auch mit starker Einschränkung; denn wo die Güte mit den Traditionen militärischer Brutalität in Konflikt gekommen sei, habe sie versagt, wie in dem Fall der preußischen Landwehrmänner, die, da sie sich im Manöver weigerten, einen Viehwagen zu besteigen, zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt und nicht begnadigt wurden. Ich rühmte weiter seine Fähigkeit, hinter den Männern seines Vertrauens zurückzutreten, um sich mit der Rolle des Herrschers zu begnügen, statt selbst regieren zu wollen und den Ministern hineinzuregieren. Niemand aber könne behaupten, er sei ein großer, ein genialer Mann, auch nur ein Mensch von überragender Bedeutung gewesen, eine Persönlichkeit, die ihrer Zeit das Gepräge gegeben und die nationale Entwicklung entscheidend beeinflußt habe. Die Gründung des Deutschen 42 Reiches, die Wiederbelebung des Kaisertums sei nicht durch ihn, sondern gegen ihn erfolgt; sein Preußentum sei ihm lieber gewesen als die Einigung, wenn auch die preußisch-kleindeutsche Einigung Deutschlands; er habe Bismarck noch am Tage der Kaiserproklamation nicht verziehen, daß er ihn zum Deutschen Kaiser gemacht habe. Von seinen geistigen Gaben habe man gesagt, er würde, wenn bürgerlich geboren, ein guter Unteroffizier geworden sein. Es sei deshalb durchaus unberechtigt, von einem »Wilhelm dem Großen« zu sprechen, und wenn man das beim Kaiser als dem Enkel noch begreifen könne, so sei es im Munde von anderen, die es dem Kaiser charakterlos nachbeteten, eine skandalöse Geschichtsfälschung; dem deutschen Bürger dürfe man es nicht verzeihen, wenn er von »Wilhelm dem Großen« spreche. Außerdem hatte ich in der Rede die Rechtspflege, besonders soweit sie sich auf politische Vergehen bezog, scharf kritisiert und der Lobpreisung dieser Rechtspflege durch den Kaiser ein sehr scharf geprägtes Urteil gegenübergestellt.

Diese Rede gab Anlaß zu einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung und Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen. Der Untersuchungsrichter war ein sehr lebhafter junger Herr, der, statt mich ruhig zu vernehmen, sich immer politisch und moralisch über mich entrüstete, dabei die politischen Paragraphen des Strafgesetzbuches so wenig kannte, daß er sich fortwährend Blößen gab und ich ihm weit überlegen war. Allerdings hatte ich, da ich in meinen Reden und Artikeln immer auf des Messers Schneide balancierte, alle Veranlassung, mich genau zu unterrichten, was nach deutschem Strafrecht politisch erlaubt war und was nicht. Das Verhör versuche ich im folgenden wiederzugeben. Natürlich kann ich nicht für jedes Wort einstehen; aber ich bitte mir zu glauben, daß die entscheidenden Äußerungen wirklich so gefallen sind, und daß ich nicht aufschneide.

Er: »Sie haben sich der Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen schuldig gemacht.«

Ich: »Welche Tatsachen, die falsch oder entstellt sind, soll ich denn behauptet haben?«

Er: »Was soll das? Sie haben sich über die Rechtspflege verächtlich geäußert, noch dazu im Widerspruch zu Seiner Majestät.«

Ich: »Dazu habe ich volles Recht. Ich darf Staatseinrichtungen verächtlich machen, so viel ich will.«

Er: »Das wäre noch schöner. Das wäre ja zügellose Verhetzung. Nach dem Strafgesetz ist es strafbar.«

Ich: »Bitte um Entschuldigung. Nur, wenn ich erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behaupte, um dadurch Staatseinrichtungen verächtlich zu machen.«

Er: »Kein guter Bürger wird Staatseinrichtungen verächtlich machen. Das wäre ja empörend.«

Ich: »Über das, was ein guter Bürger zu tun hat, gehen eben unsere Ansichten weit auseinander. Ich halte es für meine Pflicht, Staatseinrichtungen, die mir verächtlich scheinen, auch
43 verächtlich zu machen. Was aber erlaubt oder nicht erlaubt ist, steht zum Glück fest. Ich berufe mich auf § 131 des Strafgesetzbuch.«

Er (blättert im Strafgesetzbuch): »Dort steht freilich diese Einschränkung. Darum bleibt die Verächtlichmachung der Rechtspflege, die Sie sich haben zuschulden kommen lassen, doch strafbar.«

Ich: »Probieren Sie es. Es würde mich freuen, vor Gericht meine Auffassung vertreten zu können.«

Er: »Nun, lassen wir das jetzt. Der zweite Punkt der Anklage ist doch eigentlich die Hauptsache. Sie haben sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht.«

Ich: »Wieso der Majestätsbeleidigung? Ich habe doch über den Kaiser kein beleidigendes, nicht einmal die Achtung verletzendes Wort gesagt. Wollen Sie etwa indirekte Majestätsbeleidigung konstruieren, wie es in letzter Zeit vor preußischen Gerichten versucht worden ist, indem man behauptete, ein geringschätziges Urteil über Einrichtungen und Personen, die vom Kaiser hochgeschätzt würden, könne als indirekte Majestätsbeleidigung bestraft werden? Ich glaube nicht, daß Sie damit vor bayerischen Richtern Glück haben werden.«

Er: »Nun angenommen selbst, daß Ihre Äußerungen, soweit sie den Kaiser berühren, keine Beleidigungen enthalten, so haben Sie doch über den alten Kaiser Wilhelm sich in hohem Maße beleidigend geäußert.«

Ich: » Das kann ich nicht zugeben; ich glaube vielmehr, daß ich dem alten Kaiser alle Gerechtigkeit habe widerfahren lassen, ich habe sehr zurückhaltend und zum Teil sogar respektvoll über ihn gesprochen. Ich glaube, jeder wird mein Urteil als eine im wesentlichen zutreffende objektive Würdigung anerkennen müssen.«

Er (in höchster Erregung): »Das muß ich mir aber sehr verbitten. Im Namen aller guten Deutschen protestiere ich. Es ist ja einfach empörend, was Sie über des alten Kaisers Majestät gesagt haben. Unter anderm haben Sie geäußert, er würde, wenn bürgerlich geboren, ein guter Unteroffizier geworden sein.«

Ich: »Was diese letzten Worte anlangt, so habe ich sie nur zitiert. Sie rühren von einem der beiden Humboldts her, ich weiß im Augenblick nicht, ob von Alexander oder Wilhelm v. Humboldt. Das waren doch wohl beides Menschen, die ein Urteil hatten, und die auch nicht beleidigen wollten. Außerdem, was soll das alles? Gegen den alten Kaiser kann ich doch keine Majestätsbeleidigung verüben.«

Er: »Oho, das wäre noch besser. Auch der verstorbene Kaiser genießt den Schutz des Gesetzes.«

Ich: »Bitte wieder um Entschuldigung. Das mag Ihrer politischen Gesinnung entsprechen, aber nicht dem Strafgesetzbuch. Das Strafgesetzbuch kennt nur eine Majestätsbeleidigung, die gegen den Kaiser oder den Landesherrn verübt wird. Dabei ist selbstverständlich nur an den lebenden Kaiser und Landesherrn gedacht. Sehen Sie nur § 95 nach.«

Er (wieder im Strafgesetzbuch blätternd): »Ja, das kann man allerdings so auffassen. Aber dann würde es sich um die Beschimpfung des Andenkens eines Verstorbenen handeln.«

Ich: »Ich bestreite auf das entscheidenste, daß ich das Andenken Kaiser Wilhelms beschimpft habe.«

Er (wieder empört): »Für mich haben Sie ihn beschimpft!«

Ich: »Gut, wenn Sie mich deshalb verfolgen wollen, haben Sie dann einen Antrag der Großherzogin von Baden?«

Er: »Das ist doch aber empörend. Nun ziehen Sie auch noch die Großherzogin von Baden hinein. Was soll die mit Ihrer Rede zu tun haben?«

Ich: »Sehr viel; denn die Beschimpfung des Andenkens eines Verstorbenen, die übrigens nur strafbar ist, wenn jemand wider besseres Wissen eine unwahre Tatsache behauptet, ist bekanntlich ein Antragsvergehen, und die Großherzogin von Baden ist die einzige Persönlichkeit, die antragsberechtigt wäre. Wenigstens ist es mir so aus dem § 198 in Erinnerung, daß nur die Eltern, die Kinder oder der Ehegatte des Verstorbenen klagen können.«

Er (wieder blätternd und lange schweigend): »Nun protokollieren wir.«

44 Es gab natürlich keine Klage, die ganz aussichtslos gewesen wäre. Gefährlicher war ein anderer Fall, der auch zu einem lustigen, aber ganz anders gearteten Verhör führte.

Als im Herbst 1895 der Parteitag der Deutschen Volkspartei in München stattfand, veranstalteten wir eine große Volksversammlung im Münchner Kindlkeller. Payer hielt die Hauptrede, ganz vortrefflich und mit großem Erfolg. Ich führte als Vorsitzender des Münchner Vereins den Vorsitz und sprach ein Schlußwort. Zum Abschluß dieses Schlußwortes konnte ich es mir natürlich nicht versagen, wieder auf mein Lieblingsthema zu kommen. Ich geißelte es, daß man jetzt von »Wilhelm dem Großen« spreche, und sagte, es bestehe wirklich kein Grund, den alten Kaiser »Wilhelm den Großen« zu nennen, außer wenn man ihn von einem zukünftigen »Wilhelm dem Kleinen« unterscheiden wolle. Das Publikum raste vor Vergnügen.

Als wir die Versammlung verließen, sagte Leopold Sonnemann zu mir: »Hören Sie, Quidde, Sie sollten doch eigentlich solche Scherze lassen; sie sind Ihrer Stellung eigentlich nicht ganz würdig und außerdem sehr gefährlich.« Payer bemerkte darauf: »Lassen Sie ihn nur. Er kennt offenbar sein Publikum und hat mit diesem Witz am Schluß ja einen viel größeren Erfolg erzielt als wir mit all unseren Reden. Mit dem Staatsanwalt wird er schon fertig werden.« Bei einer späteren Gelegenheit hat mich allerdings auch Payer gemahnt, das gefährliche Spiel der am Kaiser geübten Kritik aufzugeben. »Er ist doch stärker als Sie und hält es länger aus.« Das hat sich ja nun freilich nicht bewahrheitet.

Auch diese Rede hatte eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung zur Folge. Dieses Mal war der Untersuchungsrichter ein älterer, sehr sympathischer und ruhiger Herr, wenn ich nicht irre, Landgerichtsrat. Ich will versuchen, auch dieses Verhör in Rede und Gegenrede, wieder mit dem Vorbehalt, daß nicht gerade jedes Wort stimmt, aber mit der Versicherung, daß am Gang des Gespräches nichts geändert ist, wiederzugeben.

Er: »Die Staatsanwaltschaft beschuldigt Sie, in Ihrem Schlußwort in der Versammlung im Münchener Kindlkeller Majestätsbeleidigung verübt zu haben.«

Ich: »Majestätsbeleidigung? Ich habe doch vom Kaiser gar nicht gesprochen. Worin soll denn die Majestätsbeleidigung liegen?«

Er: »Der Staatsanwalt bezieht sich auf Ihre letzten Worte, es läge kein Grund vor, von einem Wilhelm dem Großen zu sprechen, außer wenn man ihn von einem zukünftigen Wilhelm dem Kleinen unterscheiden wolle.«

Ich: »Da ist doch auch vom Kaiser nicht die Rede. Der gegenwärtige Kaiser ist doch kein zukünftiger Wilhelm der Kleine.«

Er: »Ich weiß ja nicht, wie der Staatsanwalt die Stelle auffaßt; aber vermutlich nimmt er an, 45 Sie hätten sagen wollen, daß die Geschichte einmal dem jetzigen Kaiser den Beinamen Wilhelm der Kleine geben könne.«

Ich (mit der Hand vor die Stirne schlagend): »Herrgott, das ist freilich möglich; aber das ist doch sehr weit hergeholt.«

Er: »Es muß doch nicht so sehr weit hergeholt sein; denn in den Zeitungsberichten und in den Berichten der überwachenden Beamten steht: ›Stürmischer, nicht endenwollender Beifall.‹«

Ich: »Und daraus schließt der Staatsanwalt, daß die Worte einen den Kaiser beleidigenden Sinn gehabt hätten? Dann scheint mir der Staatsanwalt sich einer Majestätsbeleidigung schuldig zu machen.«

Er: »Machen Sie keine schlechten Witze. Das können Sie in einem Zeitungsartikel schreiben oder in einer Volksversammlung sagen, aber doch nicht mir. Es ist doch klar, daß das Publikum nicht in Beifallskundgebungen sich ergehen wird, wenn Sie von einem noch gar nicht geborenen Wilhelm sprechen.«

Ich (sehr treuherzig): »Ja sehen Sie, das ist bei mir eine eigene Sache. Sie wissen, ich habe vor 1½ Jahren eine Schrift veröffentlicht, Caligula. In der hat man eine Satire gegen den Kaiser gefunden. Seitdem kann ich sprechen, wovon ich will, die allerharmlosesten Sachen, und die Leute glauben immer, ich spreche vom Kaiser.«

Er (amüsiert): »Das ist wirklich ein rechtes Unglück für Sie. Nun wollen wir protokollieren: Der Beschuldigte erscheint und erklärt, er habe bei seinen Worten den Kaiser nicht gemeint und nicht an ihn gedacht.«

Ich (zögernd): »Nein, das möchte ich lieber nicht so gesagt haben. Protokollieren wir: Der Angeschuldigte erscheint und erklärt, er könne nicht begreifen, wie ein zukünftiger Wilhelm mit dem gegenwärtigen Kaiser identifiziert werden könne.«

Er: »Wenn Sie so wollen, gut. Ich muß aber sagen, an Ihrer Stelle würde ich lieber meine Fassung nehmen.«

Damit hatte er ja eigentlich sehr recht. Aber ich bin auch so durchgekommen. Das Landgericht lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Die Staatsanwaltschaft erhob Beschwerde dagegen beim Oberlandesgericht. Aber auch das Oberlandesgericht lehnte ab, ich darf wohl sagen: zu meiner großen Befriedigung, weil es vor Gericht wohl nicht so gemütlich zugegangen wäre wie beim Untersuchungsrichter, und ein ganz klein wenig auch zu meiner Verwunderung.

Bei einer anderen Gelegenheit hat mich der Staatsanwalt dann glücklich doch erwischt. In einer sozialdemokratischen Versammlung, auch im Münchner Kindlkeller, sprach ich als Diskussionsredner. Auch hier wieder mein Lieblingsthema, dem ich aber (das muß ich schon sagen) immer wieder neue Seiten abgewann. Dieses Mal ging ich ausführlich darauf ein, wie kläglich die Haltung eines großen Teils des deutschen Bürgertums sei. Beim Kaiser, dem Enkel, dem Angehörigen der Dynastie, die unter Wilhelm I. zu einer Weltstellung emporgestiegen, dem Fürsten mit Prinzenerziehung und Anschauungen, in die ein gewöhnlicher Sterblicher sich nicht hineindenken könne, liege die Sache anders; aber wenn im Bürgertum Leute, dem Kaiser nachfolgend, von Wilhelm dem Großen sprächen, so sei das entweder eine Gedankenlosigkeit, ermöglicht nur durch die 46 Gewöhnung an servile Gefolgschaft, oder (noch schlimmer) bewußter Byzantinismus, eine elende Heuchelei. Ich griff noch besonders die Münchner Stadtvertretung an, die in einem Telegramm an den Kaiser von Wilhelm dem Großen gesprochen hätte. Wie beschämend das sei, zeige ein Vergleich mit dem Großherzog von Baden, dem Schwiegersohn des alten Kaisers, der in seinem gleichzeitigen Telegramm von Wilhelm dem Siegreichen gesprochen habe. Das war so weit alles schön und gut, auch vollkommen unangreifbar. Nun aber hatte ich, gewohnt zu improvisieren, keinen Schluß parat und improvisierte in diesem Fall sehr unglücklich. Um dem Byzantinismus noch einmal einen Spiegel, den Spiegel der Zukunft, vorzuhalten, sagte ich ungefähr: In diesen Tagen hat man ein Denkzeichen gestiftet mit der Aufschrift: »Zum Gedächtnis Wilhelms des Großen.« Wenn nach Jahrzehnten einmal jemand diese Medaille in die Hand bekommt, so wird er sich sagen: »Zum Gedächtnis einer Lächerlichkeit und politischen Unverschämtheit.« Das war, abgesehen davon, daß es stilistisch, wenigstens für mein Stilgefühl, miserabel formuliert war, sehr unvorsichtig; denn da Wilhelm I. diese Medaille gestiftet hatte, konnte man die »Lächerlichkeit und Unverschämtheit« auf ihn beziehen, während ich sie lediglich auf ein byzantinisches Bürgertum bezogen haben wollte. Als ich nach Hause kam, sagte ich: »Heute ist mir etwas Ärgerliches passiert. Ich fand die Adjektiva nicht, die ich brauchte, und aus dem, was ich sagte, können sie mir, wenn sie wollen, einen Strick drehen.« Dabei hatte ich den Kaiser wirklich nicht gemeint. Heute könnte ich's ja sagen, wenn's so wäre.

Es erfolgte denn auch, wie vorauszusehen, die Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens.

Obschon Parteigenossen von mir in der Versammlung gewesen waren, die bereit waren, zu bezeugen, daß meine Schlußworte nach dem ganzen Zusammenhang nicht auf den Kaiser gingen, verzichtete ich darauf, sie laden zu lassen. Man weiß eben nie, was bei Zeugen herauskommen kann. Einzige Zeugen waren die beiden überwachenden Polizeibeamten. Deren Vernehmung gab dem Publikum Anlaß zu respektwidriger Heiterkeit. Der eine hatte die unter Anklage stehenden Schlußworte nicht mitgeschrieben; denn er sei von der Rede so gepackt worden, daß er das Mitschreiben vergessen habe. Der andere konnte seine Notizen nicht lesen, und die Sitzung mußte eine Viertelstunde unterbrochen werden, damit er sich in seinen Aufzeichnungen zurechtfand. Einer von ihnen, gefragt, ob er in meiner Rede eine Beleidigung des Kaisers gefunden hätte, antwortete: Nein, der Redner habe ja gar nicht vom regierenden Kaiser 47 gesprochen. Als man ihm dann die Schlußworte vorhielt, meinte er kopfschüttelnd: Ja freilich, das müsse ja auf den Kaiser gehen. Ich versuchte dem Gericht an diesem Ergebnis des Zeugenverhörs klarzumachen, daß die Worte, die, isoliert vorgelesen, auch ich auf den Kaiser deuten würde, im Zusammenhang der Rede nicht auf ihn zu beziehen waren; der Beamte, nach seinem Gesamteindruck gefragt, habe Majestätsbeleidigung verneint und habe offenbar, als er die Rede hörte, sie auch in den Schlußworten nicht gefunden.

Diese Argumentation verfing nicht. Ich wurde zu 3 Monaten verurteilt, und zwar nicht, wie sonst in ähnlichen Fällen üblich war, zu Festung, sondern zu Gefängnis. Das war Rache für Caligula. Aus der Rede des Staatsanwaltes Dr. Guggenheimer, des späteren Direktors bei der Augsburg-Nürnberger Maschinenfabrik, ging das ganz deutlich hervor. Er fing sein Plädoyer damit an, daß ich der strafenden Gerechtigkeit immer entschlüpft sei, zuerst beim Caligula und dann noch oft mit der größten Keckheit, daß man mich jetzt aber glücklich gefaßt habe und nicht wieder entkommen lassen werde. Auch das Urteil des Gerichts nahm auf den Caligula Bezug, um zu begründen, daß mir die Majestätsbeleidigung zuzutrauen sei.

Jeder Jurist sagte mir, daß das ein klarer Revisionsgrund sei; das Reichsgericht werde das Urteil aufheben müssen, da es untersagt sei, im Urteil Bezug zu nehmen auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Verhandlung gewesen seien. Das Reichsgericht lehnte aber die Revision ab: die Bezugnahme auf den Caligula sei freilich unzulässig, aber sie sei für das Urteil unwesentlich. Es blieb bei den drei Monaten Gefängnis.

Meine Verurteilung trug dazu bei, die Erinnerung an den Caligula wieder zu beleben. Unter den Zeugnissen dessen, die ich jetzt unter alten Papieren gefunden habe, ist auch die hier abgebildete Zeichnung mit der Unterschrift »Jung-Ajax verschlingt seinen Quidde« aus The Weekly Times and Echo. In dem beigefügten Text heißt es:

»Prof. Quidde von München beging Majestätsverbrechen an Seiner Majestät und hat geziemenderweise drei Monate dafür erhalten. Das schreckliche Löwenmaul auf der Gigantentreppe in Venedig war nichts gegenüber dem von Jung-Ajax. Es symbolisiert passenderweise die geräumige Gefängniseinrichtung, bestimmt für Leute, die des Kaisers unbegrenzte Vortrefflichkeit nicht zu schätzen wissen. In Deutschland kann man wahrhaftig davon mit den Worten des Propheten sprechen: ›Die Hölle hat ihren Schlund weit aufgesperrt‹ – oder den des Kaisers, was ungefähr das gleiche ist.«

Ich habe meine drei Monate in Stadelheim vom 10. Juli bis 10. Oktober abgesessen. Mir kam die Sache mehr komisch als ernsthaft vor. Niemals habe ich so viel stillvergnügt für mich gelacht. Die Gefängnisdiener sagten 48 zu meiner Frau, die mich ein paarmal hinter einem Drahtgitter sehen durfte, einen so »liebenswürdigen, immer gleich freundlichen« Gefangenen hätten sie noch nicht gehabt. Dabei war, trotzdem man sichtlich bestrebt war, meiner Stellung als politischer Gefangener Rechnung zu tragen, manches recht unangenehm. Von meinen Gefängniserlebnissen erzähle ich wohl ein andermal.

Als ich am 10. Oktober gegen Mittag herauskam, fuhr ich direkt auf den Parteitag der Deutschen Volkspartei in Ulm; man hatte ihn meinetwegen einige Wochen später angesetzt, als sonst üblich war. Den Empfang kann man sich vorstellen. Ich mußte natürlich beim Begrüßungsabend sprechen und sagte unter anderem: »Ich komme, wie Sie wissen, aus dem Gefängnis, wegen einer Majestätsbeleidigung, die ich nicht begangen habe. Das schmerzt mich, wenn ich daran denke, eine wie schöne Majestätsbeleidigung man für 3 Monate Gefängnis schon hätte verüben können!« Als ich im Lauf der Rede, ohne schon am Schluß zu sein, auf die Freiheit zu sprechen kam, stimmte die Militärkapelle, die für den Abend genommen war, einen Tusch an. Conrad Haußmann zog aus meiner Rede den Schluß, die Besserungstheorie des Strafrechts sei durch diese Erfahrung glänzend widerlegt; ich sei ja schlimmer herausgekommen als hineingegangen. In einer wie freiheitlichen Stadt wir aber tagten, zeige die Tatsache, daß eine Militärkapelle von selber Tusch blase, wenn ein entlassener Gefangener von der Freiheit spreche. Dem Militärkapellmeister wurde die Erlaubnis, am nächsten Tag zu unserem Mittagessen zu spielen, entzogen.

Von Ulm fuhr ich nach Ostpreußen, um alte Freunde zu besuchen. Auf der Rückreise sollte ich in Berlin in einer vom dortigen Demokratischen 49 Verein berufenen großen Versammlung über Majestätsbeleidigung sprechen. Kaum hatte ich angefangen: »Die Majestätsbeleidigung war im römischen Recht . . .«, da erhob sich der überwachende Polizeibeamte, setzte den Helm auf und erklärte die Versammlung auf Grund von § 2 des Preußischen Vereinsgesetzes für aufgelöst. Es war die reine Willkür; denn in § 2 stand nur, daß politische Vereine ihre Versammlungen anzeigen müßten. Auf die eingelegte Beschwerde kam der Bescheid, der Demokratische Verein in Berlin habe nur eine kleine Zahl von Mitgliedern; eine Versammlung von vielen Hunderten könne deshalb nicht als eine Versammlung des Vereins gelten. Die Behörde dachte wohl, mich mit diesem Verbot los zu sein; aber sie hatte nicht mit meiner und der Berliner Demokraten Zähigkeit gerechnet. Einige Wochen später kam ich zu einer neu berufenen Versammlung eigens von München wieder nach Berlin. Der gleiche Verlauf wie vor einigen Wochen. Auflösung auf Grund des § 2 des Vereinsgesetzes. Aber dieses Mal hatten wir uns vorgesehen. In dem Moment, da der Polizeileutnant die Auflösung aussprach, erschienen Leute im Saal, die auf Stangen große Plakate trugen: »In einer halben Stunde findet im gleichen Saal eine neue Versammlung mit dem gleichen Thema und dem gleichen Referenten statt.« Als der letzte Besucher den Saal geräumt hatte, strömte das Publikum wieder herein. Der Polizeileutnant und seine Untergebenen blieben der Einfachheit wegen gleich auf ihren Plätzen. Die neue Versammlung war nicht vom Demokratischen Verein, sondern von einem Herrn Lehmann einberufen. Nun durften auch Frauen teilnehmen, die nach dem Preußischen Vereinsgesetz wohl von politischen Vereinen und deren Versammlungen, aber nicht von sonstigen Versammlungen ausgeschlossen waren. Ich fing wieder an: »Die Majestätsbeleidigung war nach römischen Recht . . .« Das ganze Publikum blickte auf den Polizeileutnant, ob er wohl wieder aufstehen, den Helm aufsetzen und auflösen werde. Aber er blieb sitzen. Wir konnten die Versammlung ruhig zu Ende führen, dank der Auffassung der Polizei: daß der einzelne Herr Lehmann mehr Rechte hätte als der Demokratische Verein. Mit solchem Unfug hatten wir uns damals herumzuschlagen. Zwei Beamte schrieben mit fieberhaftem Eifer nach, während ein dritter unentwegt Bleistifte spitzte; aber es passierte nichts. Die Rede war bei aller Schärfe unangreifbar.

Ich hatte ein neues Thema für meine Versammlungspropaganda gewonnen. Das Hauptgewicht legte ich immer darauf, daß harmlose Leute, wenn irgendein elender Kerl den Denunzianten machte, mit einer Majestätsbeleidigung, die politisch ganz bedeutungslos sei, hereinfallen und ins 50 Gefängnis wandern, während ein erfahrener Journalist und Versammlungsredner, wenn er ein wenig vorsichtig sei und nicht so leichtfertig improvisiere wie ich an jenem Abend, alles sagen könne, was er sagen wolle, ohne gefaßt zu werden. Die Pest der Majestätsbeleidigungsprozesse, die damals wütete, war wirklich etwas, was jeden rechtlich Denkenden empören mußte. Freuen wir uns, daß wir sie jetzt los sind.

Zum Dessert dieses Abschnitts nur noch ein Nachspiel aus der Kriegszeit. Ich drucke eine Erklärung von mir ab, die wohl keiner Erläuterung bedarf.

Eine offene Antwort

Verschiedene Zeitungen bringen einen, übrigens mir persönlich nicht zugegangenen, »offenen Brief an den bayerischen Landtagsabgeordneten Dr. Quidde«, unterzeichnet von einem Dr. Otto Schaeffer. Darin werden an mich drei Fragen gestellt, die ich bitte, an dieser Stelle beantworten zu dürfen.

Erste Frage: Ob ich der Professor Quidde sei, der vor Jahren die Broschüre Caligula geschrieben? Antwort: Ja.

Zweite Frage: Ob ich als Verfasser dieser Schrift wegen Majestätsbeleidigung zu Gefängnis verurteilt sei? Antwort: Nein. Wegen des Caligula ist überhaupt kein Strafverfahren gegen mich eröffnet worden. Meine Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung zu 3 Monaten Gefängnis erfolgte zwei Jahre später wegen einer Äußerung, die ich in einer Versammlung bei Bekämpfung der damals aufkommenden Bezeichnung »Wilhelm der Große« und des sich dabei breit machenden Byzantinismus getan hatte.

Dritte Frage: Ob ich der Mann sei, der nach der Verurteilung seine Strafe nicht abgesessen habe, sondern an den Beleidigten habe »ein Gnadengesuch einreichen lassen, weil er die Gefängnishaft wohl nicht ertragen könne, da er lungenkrank (d. h. doch wohl schwindsüchtig) sei«? Antwort: Ich habe meine drei Monate Gefängnis abgesessen und freue mich dessen noch in der Erinnerung; ich habe niemals für mich ein Gnadengesuch eingereicht oder einreichen lassen, weder an den Kaiser, noch an den dafür zuständigen Landesherrn.

Der Verfasser des offenen Briefes ruft mir nach der Räubergeschichte von meinem »Jammergesuch« pathetisch und in Sperrdruck zu: »Waren Sie der Mann, Herr Professor? Ja, Sie sind der Mann!« Ich erlaube mir die bescheidene Gegenfrage an den Doktor Schaeffer: Sind Sie der Mann, der leichtfertig Unwahrheiten in der Tagespresse verbreitet? Ja, Sie sind der Mann!

München, 30. September 1917

L. Quidde                        

 


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