Alexander Puschkin
Der Postmeister und andere Erzählungen
Alexander Puschkin

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Dubrowskij

Vor Jahren lebte ein Herr vom alten russischen Schlag auf seinen Gütern, Kirila Petrowitsch Trojekurow. Sein Reichtum, seine Abstammung aus einer der ersten Familien und die guten Verbindungen bewirkten, daß er in dem Gouvernement eine wichtige Rolle spielte. Von seiner Umgebung verwöhnt und von Natur temperamentvoll, ließ er sich völlig gehen und gab jedem Einfall seines beschränkten Geistes hemmungslos nach. Seine Nachbarn fügten sich bereitwillig seinen Launen; die Beamten zitterten schon bei seinem Namen. Kirila Petrowitsch nahm alle diese Zeichen der Unterwürfigkeit als den ihm gebührenden Tribut hin. Sein Haus wimmelte von Gästen, die bereit waren, dem adeligen Müßiggänger die Zeit zu vertreiben und an seinen tollen Vergnügungen teilzunehmen. Niemand wagte es, seine Einladungen abzulehnen oder an einem bestimmten Tage nicht mit der gebührenden Ehrfurcht in seinem Dorfe Pokrowskoje zu erscheinen. Kirila Petrowitsch war ein sehr gastfreier Mann. Trotz seiner ungewöhnlichen körperlichen Leistungsfähigkeit litt er mindestens zweimal in der Woche an den Folgen seiner Trunkenheit und war jeden Abend angeheitert.

Selten entgingen die Mägde den lüsternen Anschlägen des Fünfzigjährigen. Außerdem lebten in einem Flügel seines Hauses sechzehn Mägde, die mit Handarbeiten beschäftigt waren. Die Fenster dieses Flügels hatten Holzgitter, die Türen Schlösser. Die Schlüssel dazu hatte Kirila Petrowitsch selbst in Verwahrung. Die jungen Gefangenen gingen zu bestimmten Stunden unter der Aufsicht zweier alter Frauen im Garten spazieren. Von Zeit zu Zeit verheiratete Kirila Petrowitsch einige von ihnen, und neue traten an deren Stelle. Mit den Bauern und Dienstboten ging er streng um, aber dennoch waren sie ihm ergeben. Sie prahlten mit Reichtum und Ansehen ihres Herrn und nahmen sich ihrerseits den Nachbarn gegenüber allerhand heraus.

Die Hauptbeschäftigung des Herrn von Pokrowskoje bestand im Herumfahren auf seinen weitläufigen Besitzungen, in ausgedehnten Gelagen und Streichen, deren er täglich neue erfand. Ab Opfer suchte er sich in der Regel einen neuen Bekannten. Freilich entgingen ihm auch die alten Freunde nicht immer: nur Andreij Gawrilowitsch Dubrowskij war davon ausgenommen.

Dubrowskij, ein ehemaliger Gardeleutnant, war sein nächster Nachbar, der ein Gut mit siebzig Seelen besaß. Trojekurow, der selbst Personen höchsten Standes gegenüber äußerst hochmütig war, schätzte Dubrowskij trotz seines bescheidenen Vermögens sehr hoch. Sie waren einst Regimentskameraden gewesen, und Trojekurow kannte aus Erfahrung das empfindliche und entschlossene Wesen seines Freundes.

Das ruhmvolle Jahr 1762 hatte die beiden für lange getrennt. Trojekurow, ein Verwandter der Fürstin Daschkow, stieg im Rang immer höher, während Dubrowskij seiner zerrütteten Vermögensverhältnisse wegen den Abschied nehmen und sich auf das ihm noch verbliebene Dorf zurückziehen mußte. Als Kirila Petrowitsch davon erfuhr, bot er ihm seine Protektion an, aber Dubrowskij lehnte dankend ab. Er blieb arm, aber unabhängig. Einige Jahre später kam Trojekurow als abgedankter General auf sein Gut. Die beiden Kameraden sahen sich wieder und freuten sich. Seit dieser Zeit kamen sie täglich zusammen, und Kirila Petrowitsch, der sein Leben lang niemanden mit seinem Besuch beehrt hatte, fuhr ohne Umstände zu dem Häuschen seines alten Kameraden. Als Altersgenossen, im gleichen Stande geboren und gemeinsam erzogen, waren sie bis zu einem gewissen Grad einander auch im Charakter und in ihren Neigungen ähnlich. In mancher Hinsicht hatten sie auch das gleiche Schicksal: beide hatten aus Liebe geheiratet, beide verloren bald ihre Frauen durch den Tod, und beiden blieb nur ein Kind. Der Sohn Dubrowskijs wurde in Petersburg erzogen, die Tochter des Kirila Petrowitsch wuchs unter den Augen des Vaters auf. Oft sagte Trojekurow zu Dubrowskij: »Höre, Bruder Andreij Gawrilowitsch, wenn aus deinem Wolodijka etwas wird, werde ich ihm meine Mascha geben, wenn er auch arm ist wie eine Kirchenmaus.« Aber Andreij Gawrilowitsch antwortete darauf gewöhnlich kopfschüttelnd: »Nein, Kirila Petrowitsch, mein Wolodijka ist kein Bräutigam für deine Mascha. Ein armer Adeliger wie er heiratet besser ein armes Edelfräulein und bleibt Herr im Hause, als daß er der Verwalter eines verwöhnten Frauenzimmers wird.«

Alle sahen mit Neid auf das gute Verhältnis zwischen Trojekurow und seinem Nachbarn und wunderten sich über den Freimut Dubrowskijs, wenn er am Tische von Kirila Petrowitsch oft seine Meinung geradeheraus sagte, ohne Rücksicht darauf, ob sie der des Gastgebers widersprach. Einige hatten zwar den Versuch gemacht, ihn nachzuahmen und aus der pflichtgemäßen Unterwürfigkeit herauszugehen, aber Kirila Petrowitsch hatte sie sofort dermaßen eingeschüchtert, daß ihnen ein für allemal die Lust zu solchen Versuchen vergangen war. Dubrowskij blieb der einzige, der außerhalb des allgemeinen Gesetzes stand. Ein unverhoffter Zufall zerstörte und änderte alles. Eines Tages, zu Beginn des Herbstes, bereitete Kirila Petrowitsch einen Jagdzug in ein weit entferntes Jagdgebiet vor. Tags zuvor hatten die Hundeaufseher und Reitknechte den Befehl erhalten, um fünf Uhr morgens bereitzustehen. Ein Zelt und eine Küche waren an den Ort vorausgeschickt worden, wo Kirila Petrowitsch zu Mittag speisen wollte. Der Jagdherr und seine Gäste gingen in den Hundezwinger, wo mehr als fünfhundert Hetz- und Windhunde behaglich und warm lebten und in ihrer Hundesprache die Großzügigkeit des Kirila Petrowitsch priesen. Hier war auch ein Lazarett für kranke Hunde, das der Aufsicht des Stabsveterinärs Timoschka unterstand. In einer weiteren Abteilung warfen die Hündinnen und säugten ihre Jungen. Kirila Petrowitsch war auf dieses herrliche Hundeheim sehr stolz und versäumte keine Gelegenheit, sich damit vor seinen Gästen zu brüsten, obwohl jeder von diesen es mindestens schon zwanzigmal besichtigt hatte. Inmitten seiner Gäste und in Begleitung von Timoschka und den Hundewärtern schritt er im Zwinger auf und ab, blieb vor einzelnen Abteilungen stehen, erkundigte sich nach dem Befinden der kranken Hunde, machte mehr oder minder strenge und gerechte Bemerkungen, rief vertraute Hunde zu sich und sagte ihnen schmeichelnde Worte. Die Gäste hielten sich für verpflichtet, den Hundezwinger des Kirila Petrowitsch zu bewundern, nur Dubrowskij schwieg mit mürrischer Miene. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, aber seine Vermögensverhältnisse erlaubten ihm nicht, mehr als zwei Hetzhunde und eine Windhündin zu halten, so daß ihn beim Anblick dieses herrlichen Hundezwingers unwillkürlich ein Gefühl des Neides überkam.

»Warum so verdrossen, Bruder?« fragte Ihn Kirila Petrowitsch. »Oder gefällt dir etwa mein Hundezwinger nicht?« »Doch«, antwortete Dubrowskij barsch, »der Zwinger ist wunderbar; Ihre Leute werden wohl kaum ein so schönes Leben haben wie Ihre Hunde.« Einer von den Hundewärtern fühlte sich durch diese Äußerung gekränkt und sagte: »Wir haben dank Gott und unserem Herrn keinen Grund zu klagen; aber das ist wahr, daß es für manchen Edelmann gar nicht schlecht wäre, seinen Hof mit einer von den hiesigen Hundehütten zu vertauschen: er bekäme mehr zu essen und hätte es wärmer.«

Kirila Petrowitsch lachte bei dieser frechen Bemerkung seines Sklaven laut auf, und die Gäste lachten pflichtschuldig mit, obwohl sie die Empfindung hatten, daß der Scherz des Hundewärters auch auf sie gemünzt sein konnte. Dubrowskij war bleich geworden und sagte kein Wort. In diesem Augenblick brachte man Kirila Petrowitsch in einem Körbchen neugeborene Hunde. Er betrachtete sie, wählte zwei davon aus und befahl, die anderen zu ertränken. Inzwischen war Andreij Gawrilowitsch verschwunden, ohne daß jemand etwas davon gemerkt hätte.

Als Kirila Petrowitsch mit seinen Gästen vom Hundezwinger zurückkehrte, setzte er sich zum Abendessen nieder und fragte nach Dubrowskij, dessen Abwesenheit er erst jetzt bemerkte. Man antwortete ihm, Dubrowskij sei nach Hause gefahren. Trojekurow befahl, ihm sofort nachzufahren und ihn unbedingt zum Umkehren zu veranlassen. Er war nämlich noch nie ohne Dubrowskij auf die Jagd gefahren, weil er ein erfahrener, ausgezeichneter Hundekenner und ein unfehlbarer Schiedsrichter in allen möglichen Jagdstreitigkeiten war.

Der Diener, der ihm nachgaloppierte, kam zurück, als noch alles bei Tisch saß, und meldete seinem Herrn, daß Andreij Gawrilowitsch sozusagen den Gehorsam verweigert habe und nicht zurückkommen wolle. Kirila Petrowitsch, der wie gewöhnlich schon vom Schnaps erhitzt war, wurde böse. Er schickte den gleichen Diener nochmals fort und ließ Andreij Gawrilowitsch sagen, wenn er nicht sofort nach Pokrowskoje zurückkomme und dort übernachte, so sei das Tischtuch zwischen ihnen für immer zerschnitten. Der Diener galoppierte wieder fort. Kirila Petrowitsch erhob sich vom Tisch, entließ die Gäste und ging zu Bett.

Am anderen Tage war seine erste Frage: »Ist Andreij Gawrilowitsch da?« Darauf überreichte man ihm einen dreieckig zusammengefalteten Brief. Kirila Petrowitsch befahl seinem Schreiber, ihn laut vorzulesen, und vernahm folgendes:

»Mein gnädigster Herr!

Ich bin entschlossen, so lange nicht nach Pokrowskoje zu kommen, bis Sie Ihren Hundewärter Paramoschka mit einem Schuldgeständnis zu mir geschickt und es meinem Willen überlassen haben, ihn zu bestrafen oder zu begnadigen. Ich bin nicht gewillt, von Ihren Sklaven Sticheleien einzustecken, und werde mir das auch von Ihnen nicht bieten lassen, denn ich bin kein Hanswurst, sondern ein Edelmann aus altem Geschlecht. Damit verbleibe ich Ihr ergebenster

Andreij Dubrowskij.«

Nach den heutigen Begriffen von Etikette wäre ein solcher Brief durchaus unziemlich. Aber er erzürnte Kirila Petrowitsch nicht durch das Absonderliche des Stils und der Ausdrucksweise, sondern nur durch seinen Inhalt.

»Wie«, schrie Trojekurow, barfuß aus dem Bett springend, »ich soll meine Leute mit einem Schuldbekenntnis zu ihm schicken! Es soll seinem freien Willen überlassen sein, sie zu bestrafen oder zu begnadigen! Ja, was fällt ihm denn da eigentlich ein? Weiß er nicht, mit wem er es zu tun hat? Aber ich werde es ihm zeigen! Er wird sich bei mir noch ausweinen! Er wird erfahren, was das heißt, mit Trojekurow anzubinden!« Sogleich kleidete sich Trojekurow an und fuhr mit gewohntem großen Aufzug auf die Jagd. Aber diese verlief schlecht. Den ganzen Tag sah man nur einen Hasen, und nicht einmal dieser wurde gefangen. Das Mittagessen im Freien unter dem Zelt war ebenfalls mißlungen oder mindestens nicht nach dem Geschmack von Kirila Petrowitsch. Er verprügelte den Koch, beschimpfte seine Gäste und nahm heimwärts mit seinem ganzen Troß absichtlich den Weg über die Felder Dubrowskijs.

 

Es vergingen einige Tage, aber die Feindschaft zwischen den beiden Nachbarn legte sich nicht. Andreij Gawrilowitsch kam nicht mehr nach Pokrowskoje. Kirila Petrowitsch langweilte sich ohne ihn, und er machte seinem Ärger in den beleidigendsten Ausdrücken Luft, die dank dem Eifer der dortigen Adeligen Dubrowskij in noch verstärkter Fassung hinterbracht wurden. Ein neuer Umstand vernichtete auch die letzte Hoffnung auf eine Versöhnung.

Dubrowskij fuhr eines Tages auf seiner kleinen Besitzung herum. Als er sich dabei einem Birkenwäldchen näherte, hörte er Axthiebe und eine Minute später das Krachen eines stürzenden Baumes. Er eilte auf den Platz zu und traf auf Bauern aus Pokrowskoje, die in aller Gemütsruhe in seinem Wald Holz stahlen. Als sie ihn kommen sahen, ergriffen sie die Flucht, aber Dubrowskij und sein Kutscher fingen zwei von ihnen ab und brachten sie gefesselt auf seinen Hof. Drei feindliche Pferde fielen ebenfalls dem Sieger als Beute zu. Dubrowskij war aufs äußerste erzürnt, denn bisher hatte keiner der als Räuber berüchtigten Bauern von Pokrowskoje es gewagt, auf seinem Gebiet zu plündern, da ihnen seine guten Beziehungen zu ihrem Herrn bekannt waren. Nun sah Dubrowskij, daß sie aus dem Zerwürfnis Nutzen zogen, und beschloß, entgegen allen Begriffen von Kriegsrecht, seinen Gefangenen mit denselben Ruten eine Lehre zu erteilen, von denen sie sich in seinem Wald einen Vorrat hergerichtet hatten. Ihre Pferde reihte er seiner Herde ein; sie sollten bei der Arbeit Verwendung finden.

Die Kunde von diesem Zwischenfall gelangte noch am selben Tag zu den Ohren von Kirila Petrowitsch. Er geriet außer sich und beschloß im ersten Augenblick seines Zornes, mit allen seinen Hofleuten einen Überfall auf Kistenjewka (so hieß das Dorf seines Nachbarn) zu unternehmen. Er wollte es dem Erdboden gleichmachen und den Gutsbesitzer selbst auf seinem Wohnsitz einschließen. Solche Heldentaten waren bei ihm nichts Außergewöhnliches, aber seine Gedanken nahmen bald eine andere Richtung. Als er im Saal mit schweren Tritten auf und ab stolzierte, schaute er einmal zufällig zum Fenster hinaus und sah ein am Tor haltendes Dreigespann stehen. Ein kleiner Mann in Ledermütze und Friesmantel stieg aus und begab sich in den Seitenbau zum Verwalter.

Trojekurow erkannte in ihm den Assessor Schabaschkin und ließ ihn zu sich rufen. Schon nach einer Minute stand Schabaschkin vor Kirila Petrowitsch, machte eine Verbeugung um die andere und wartete unterwürfig auf seine Befehle.

»Guten Tag . . . wie heißt du eigentlich?« sagte Trojekurow. »Warum kommst du hierher?« »Ich fahre in die Stadt, Exzellenz«, antwortete Schabaschkin, »und bin bei Iwan Demjanow vorgefahren, um zu fragen, ob er irgendeinen Befehl Eurer Exzellenz für mich hat.« »Du kommst gerade im rechten Augenblick . . . na,wie heißt du denn? Ich brauche dich. Da, trink einen Schnaps und höre zu.«

Dieser liebenswürdige Empfang war eine Überraschung für den Assessor. Er verzichtete auf den Schnaps und begann mit gespanntester Aufmerksamkeit den Ausführungen von Kirila Petrowitsch zuzuhören.

»Ich habe da einen Nachbarn«, sagte Trojekurow, »einen Grobian, dem ich sein Gut wegnehmen will . . . wie denkst du darüber?« »Wenn irgendwelche Dokumente vorhanden sind, Eure Exzellenz . . .« »Quatsch, mein Lieber, wozu brauchst du Dokumente? Dafür gibt es Gesetze. Darin besteht ja die Macht, daß man jedem ohne jedes Recht sein Gut wegnehmen kann. Aber warte! Dieses Gut hat einst uns gehört. Es ist seinerzeit von einem gewissen Spyzin gekauft und dann an den Vater von Dubrowskij verkauft worden. Könnte man da nicht einhaken?« »Schwerlich, Exzellenz, denn wahrscheinlich ist dieser Verkauf genau nach Gesetz und Recht erfolgt.« »Denk nach, Freund, und überlege dir die Sache genau.« »Wenn Eure Exzellenz beispielsweise von Ihrem Nachbarn auf irgendeine Art eine Urkunde bekommen könnten, kraft deren er rechtmäßiger Besitzer seines Gutes ist, dann natürlich . . .« »Ich verstehe, aber das ist ja der Jammer, bei einem Brand sind alle Papiere vernichtet worden.« »Wie, Exzellenz, die Papiere sind verbrannt? Was wollen Sie noch mehr! In diesem Fall geruhen Sie nur gemäß den Gesetzen vorzugehen, und es steht außer jedem Zweifel, daß Sie vollauf befriedigt werden.« »Glaubst du? Also gut, sieh zu, ich rechne auf deine Unterstützung, und du kannst von meiner Dankbarkeit überzeugt sein.«

Schabaschkin verneigte sich beinahe bis zur Erde und entfernte sich. Noch am gleichen Tag begann er in dieser Sache Schritte zu unternehmen, und dank seiner Gewandtheit bekam Dubrowskij schon nach zwei Wochen aus der Stadt die Aufforderung, unverzüglich die erforderlichen Erklärungen abzugeben, da von dem General Trojekurow eine Klage betreffs seines unrechtmäßigen Besitzes des Dörfchens Kistenjewka eingereicht worden sei. Andreij Gawrilowitsch, den diese unerwartete Aufforderung aufs höchste überraschte, schrieb noch am gleichen Tag eine ziemlich grobe Antwort, in der er erklärte, daß ihm das Dorf Kistenjewka beim Tode seines seligen Vaters als Erbe zugefallen sei. Gemäß Anerbenrecht sei er der rechtmäßige Besitzer und Trojekurow habe damit überhaupt nichts zu schaffen. Jeder fremde Anspruch auf dieses sein Eigentum sei Schikane und Gaunerei. Dubrowskij hatte keinerlei Erfahrung im Prozessieren. Er folgte meistens dem gesunden Menschenverstand, der aber selten zuverlässig und fast immer unzulänglich ist. Dieser Brief machte auf den Assessor Schabaschkin einen sehr angenehmen Eindruck, denn erstens sah er daraus, daß Dubrowskij von Prozessen sehr wenig verstand, und zweitens, daß es nicht schwer sein werde, einen so hitzigen und unüberlegten Mann in die ungünstigste Lage zu versetzen.

Die Sache begann sich in die Länge zu ziehen. Von seinem Recht überzeugt, kümmerte sich Andreij Gawrilowitsch nicht viel darum. Er empfand weder Lust, noch hatte er die Möglichkeit, mit Geld herumzuwerfen. Er machte sich sogar über das käufliche Gewissen der Federfuchser lustig, und der Gedanke, er könnte etwa das Opfer einer Verleumdung werden, kam ihm gar nicht in den Sinn.

Aber auch Trojekurow beschäftigte sich seinerseits ebensowenig mit dem von ihm begonnenen Prozeß und dachte nicht daran, ihn zu gewinnen. Schabaschkin war sein Vertreter, der in seinem Namen handelte, die Richter bestach und die Gesetze nach allen Richtungen drehte und wendete.

Wie dem auch sei, am 9. Februar des Jahres 18.. empfing Dubrowskij durch die städtische Polizei in N. die Vorladung, vor dem Kreisgericht zur Verkündung des Urteils in Sachen des zwischen ihm, dem Leutnant Dubrowskij, und dem General Trojekurow umstrittenen Gutes zu erscheinen und durch seine Unterschrift die Annahme oder Ablehnung des Urteils zu bestätigen.

Dubrowskij begab sich noch am gleichen Tage in die Stadt. Unterwegs überholte ihn Trojekurow. Sie sahen einander hochmütig an, und Dubrowskij bemerkte ein boshaftes Lächeln im Gesicht seines Gegners.

Nach seiner Ankunft in der Stadt stieg Andreij Gawrilowitsch bei einem ihm bekannten Kaufmann ab, übernachtete dort und begab sich am anderen Morgen in die Sitzung des Kreisgerichts. Kein Mensch kümmerte sich um ihn. Bald nach ihm traf auch Kirila Petrowitsch ein. Da standen die Schreiber auf und steckten die Federn hinter die Ohren, die Beisitzer empfingen ihn mit dem Ausdruck tiefster Ergebenheit und schoben ihm aus Achtung vor seinem Rang und seinem Alter einen Sessel hin. Er ließ sich nieder, während Andreij Gawrilowitsch an die Wand gelehnt stand.

Tiefe Stille trat ein. Der Sekretär verlas mit lauter Stimme die gerichtliche Entscheidung.

Als der Beamte fertig war, erhob sich der Assessor und wandte sich mit einer tiefen Verbeugung an Trojekurow mit dem Ersuchen, das ihm vorgelegte Schriftstück zu unterzeichnen. Triumphierend nahm er die Feder und bestätigte mit seiner Unterschrift seine vorbehaltlose Zustimmung zu dem Gerichtsbeschluß, der ihm Kistenjewka zusprach.

Jetzt kam die Reihe an Dubrowskij. Der Sekretär legte ihm das Protokoll vor, aber er blieb mit gesenktem Haupt unbeweglich stehen. Der Sekretär wiederholte seine Aufforderung, »sein vollkommenes und uneingeschränktes Einverständnis oder seine deutliche Ablehnung unterschriftlich zu bestätigen, falls er wider Erwarten nach bestem Gewissen die Meinung habe, daß seine Sache eine gerechte und er entschlossen sei, innerhalb der gesetzlichen Frist bei dem zuständigen Gericht Berufung einzulegen«.

Dubrowskij sagte kein Wort . . . Auf einmal erhob er den Kopf, seine Augen funkelten, er stampfte mit dem Fuß und versetzte dem Sekretär einen derartigen Stoß, daß er hinfiel. Dann ergriff er das Tintenfaß und schleuderte es auf den Assessor. Mit wuterstickter Stimme schrie er: »Wie, Gottes Kirche schänden! Fort mit euch, ihr gemeines Gesindel!« Dann wandte er sich an Kirila Petrowitsch: »Hat man je so etwas gehört, Eure Exzellenz, daß die Hundepfleger Hunde ins Gotteshaus führen! Daß Hunde in der Kirche herumlaufen! Ich werde es euch schon zeigen!«

Alles war entsetzt. Die Wächter kamen auf den Lärm hin gelaufen und konnten ihn nur mit Mühe überwältigen. Man führte ihn hinaus und setzte ihn in seinen Schlitten. Trojekurow ging in Begleitung des ganzen Gerichtspersonals hinter ihm her. Der plötzliche Nervenzusammenbruch Dubrowskijs hatte einen tiefen Eindruck auf sein Gemüt gemacht und ihm die Freude an seinem Sieg vergällt. Die Richter, die auf seine Dankbarkeit gerechnet hatten, bekamen kein freundliches Wort von ihm zu hören. Er begab sich sofort nach Pokrowskoje, im geheimen von seinem Gewissen gequält und ohne die Befriedigung seiner Rache voll genossen zu haben.

Dubrowskij lag inzwischen im Bett. Der Kreisarzt (zum Glück kein unwissender Rohling) hatte Zeit gefunden, ihn zur Ader zu lassen, ihm Blutegel und spanische Fliegen anzulegen. Abends besserte sich sein Zustand, und am anderen Tage überführte man ihn nach Kistenjewka, das ihm schon beinahe nicht mehr gehörte.

 

Es vergingen einige Wochen, aber der Gesundheitszustand des armen Dubrowskij hatte sich nicht gebessert. Er bekam zwar keine Tobsuchtsanfälle mehr, aber seine Kräfte nahmen zusehends ab. Er dachte gar nicht mehr an seine frühere Beschäftigung, verließ nur selten das Zimmer und verbrachte ganze Tage und Nächte in tiefem Nachsinnen. Jegorowna, eine gute Alte, die einst seinen Sohn gepflegt hatte, wurde jetzt seine Kinderfrau. Sie gab auf ihn acht wie auf ein kleines Kind, erinnerte ihn an die Zeiten des Essens und Schlafens, fütterte ihn und brachte ihn zu Bett. Andreij Gawrilowitsch folgte ihr und kam außer mit ihr mit keinem Menschen in Berührung. Er war unfähig, an seine Geschäfte zu denken oder Anordnungen in seinem landwirtschaftlichen Betrieb zu geben, so daß Jegorowna die Notwendigkeit erkannte, den jungen Dubrowskij von allem zu benachrichtigen. Dieser diente in einem Garde-Infanterieregiment und befand sich zu jener Zeit in Petersburg. Und so riß sie aus ihrem Ausgabenbuch ein Blatt heraus und diktierte dem Koch Chariton, der in Kistenjewka als einziger des Lesens und Schreibens kundig war, einen Brief, den sie noch am gleichen Tage in die Stadt zur Post schickte.

Aber jetzt ist es Zeit, den Leser mit dem eigentlichen Helden unserer Erzählung bekannt zu machen.

Wladimir Dubrowskij war im Kadettenkorps erzogen und als Fähnrich zur Garde entlassen worden. Sein Vater scheute keine Opfer für einen standesgemäßen Unterhalt, und der junge Mann erhielt von zu Hause mehr, als er eigentlich hätte erwarten dürfen. Da er unüberlegt und ehrgeizig war, gestattete er sich kostspielige Liebhabereien, er spielte Karten und machte Schulden, ohne sich um die Zukunft zu kümmern. Nur flüchtig dachte er zuweilen, daß er früher oder später einmal eine reiche Erbin werde heiraten müssen. Eines Abends, als einige Offiziere bei ihm saßen und auf einem Sofa sich räkelnd aus seinen Bernsteinpfeifen rauchten, übergab ihm sein Kammerdiener Grischa einen Brief, dessen Adresse und Siegel dem jungen Mann höchst auffallend vorkamen. Er öffnete den Brief rasch und las:

»Du unser Herr, Wladimir Andrejewitsch, ich, Deine alte Kinderfrau, erkühne mich, Dir etwas vom Gesundheitszustand Papachens mitzuteilen. Es geht ihm sehr schlecht; zuweilen redet er irre. Den ganzen Tag sitzt er da wie ein dummes Kind, aber über Leben und Tod herrscht Gottes Wille, – komme Du zu uns, mein lieber, lichter Falk, wir schicken Dir Pferde nach Pessotschnoje. Es heißt, daß das Kreisgericht zu uns kommt und uns dem Kirila Petrowitsch übergeben will – weil wir angeblich die Seinigen seien. Aber wir sind von jeher die Eurigen – und haben von Kindesbeinen auf nie etwas anderes gehört. Da Du in Petersburg bist, könntest Du davon dem Väterchen Zar berichten, er wird uns vor dem Unrecht beschützen. Bei uns regnet es schon seit zwei Wochen, und der Hirte Rodja ist um den Nikolaustag herum gestorben. Grischa schicke ich meinen mütterlichen Segen. Dient er Dir auch gut? Ich verbleibe Deine treue Sklavin und Kinderfrau

Arina. Jegorowna Busyrewa.«

Wladimir Dubrowskij las diese einfältigen Zeilen mehrmals hintereinander durch und geriet dabei in starke Aufregung. Er hatte schon als kleines Kind seine Mutter verloren und war im achten Lebensjahr, fast ohne seinen Vater zu kennen, nach Petersburg gebracht worden. Trotzdem verband ihn eine romantische Zuneigung mit ihm, und er liebte das Familienleben um so mehr, je weniger er dessen stille Freuden hatte genießen können.

Der Gedanke, seinen Vater zu verlieren, legte sich ihm schwer aufs Herz, und die Lage des armen Kranken, die er sich nach dem Brief seiner Kinderfrau unschwer vorstellen konnte, entsetzte ihn. Er stellte sich den Vater vor, wie er in dem einsamen Dörfchen, unter den Händen der einfältigen Alten und des Gesindes geblieben, von irgendeinem Unglück bedroht und ohne Hilfe unter körperlichen und seelischen Qualen dahinsiechte. Wladimir machte sich selbst verbrecherische Nachlässigkeit zum Vorwurf. Obwohl er lange Zeit vom Vater keinerlei Nachrichten erhalten hatte, war es ihm gar nicht eingefallen, sich nach ihm zu erkundigen, in der Annahme, daß er auf Reisen oder von Angelegenheiten seines Betriebes in Anspruch genommen sei. Noch am gleichen Tag kam er um Urlaub ein, und zwei Tage später machte er sich, begleitet von seinem treuen Grischa, mit Postpferden auf die Heimreise.

Wladimir Andrejewitsch näherte sich der Station, von der aus er nach Kistenjewka einbiegen mußte. Sein Herz war voll trauriger Vorahnungen: er fürchtete, den Vater nicht mehr lebend anzutreffen, er malte sich schon das düstere Bild von dem Leben aus, das ihn auf dem Dorf erwartete: Öde, Einsamkeit, Armut, mühsame Arbeit mit Dingen, von denen er keine Ahnung hatte. Nach seiner Ankunft auf der Station ging er zum Posthalter und verlangte Mietpferde. Der Posthalter, der ihn fragte, wohin er reisen wolle, teilte ihm mit, daß die Pferde aus Kistenjewka schon den vierten Tag auf ihn warteten. Bald darauf erschien der alte Kutscher Anton, der ihn einst im Stall herumgeführt und sein kleines Pferdchen versorgt hatte. Anton traten Tränen in die Augen, als er ihn sah. Er beugte sich bis zur Erde, sagte ihm, der alte Herr sei noch am Leben, und lief schnell weg, um die Pferde anzuspannen. Wladimir Andrejewitsch lehnte ein ihm angebotenes Frühstück ab und trachtete möglichst schnell weiterzukommen. Anton fuhr ihn auf Feldwegen, und es entspann sich zwischen ihnen folgendes Gespräch:

»Sag mir, bitte, Anton, was ist denn zwischen meinem Vater und Trojekurow eigentlich los?« »Ach, weiß der Himmel, Väterchen Wladimir Andrejewitsch, unser Herr hat sich, wie man hört, mit Kirila Petrowitsch verkracht, und dieser hat die Sache dem Gericht übergeben – obwohl er sonst meistens sein eigener Richter ist. Es steht ja uns Knechten nicht zu, über das Tun der Herren zu entscheiden, aber, bei Gott, Ihr Väterchen hat sich Kirila Petrowitsch gegenüber nicht richtig verhalten. Mit der Peitsche kann man keine Axt durchhauen.« »Das heißt also, dieser Kirila Petrowitsch tut bei uns, was er will?« »Ganz gewiß, Herr; vor dem Assessor hat er, wie alle sagen, nicht für einen Groschen Respekt, der Kreishauptmann ist nichts als sein Laufbursche, die Herrschaften kommen angefahren, um ihm zu huldigen, mit einem Wort, wo ein Trog ist, da gibt es auch Säue.« »Ist es wahr, daß er uns das Gut wegnehmen will?« »Ach, Herr, davon haben wir auch schon gehört. Erst dieser Tage hat der Küster von Pokrowskoje beim Taufschmaus von unserem Dorfschulzen gesagt: ›Jetzt ist Schluß mit eurer Bummelei, jetzt wird euch Kirila Petrowitsch bald richtig in die Hand nehmen.‹ Aber der Schmied Mikita hat zu ihm gesagt: ›Hör auf, Sawelitsch, mach den Gevatter nicht traurig und bring die Gäste nicht durcheinander. Kirila Petrowitsch ist eine Sache für sich, und Andreij Gawrilowitsch ist wieder eine Sache für sich – wir sind alle Gottes und des Zaren, und was man nicht aufhalten kann, muß man eben laufen lassen.‹« »Ihr wollt also Trojekurow nicht als Herrn bekommen?« »Trojekurow als Herr! Gott schütze und bewahre uns davor! Bei ihm haben es die eigenen Leute schon schlecht, und wenn er jetzt noch fremde dazu bekommt, so wird er ihnen nicht nur die Haut, sondern auch das Fleisch abschinden. Nein, Gott schenke Andreij Gawrilowitsch ein langes Leben, aber wenn Gott ihn zu sich nehmen sollte, so brauchen wir sonst niemanden als dich, unsern Be- schützer. Verlaß nur du uns nicht, wir werden schon zu dir stehen.«

Bei diesen Worten schwang Anton die Peitsche und zerrte an den Zügeln, daß die Pferde in schnellen Trab übergingen.

Gerührt von der Ergebenheit des alten Kutschers, schwieg Dubrowskij und hing seinen Gedanken nach. Es verging über eine Stunde; auf einmal weckte ihn Grischa mit dem Ausruf: »Da ist Pokrowskoje!«

Dubrowskij erhob den Kopf. Er fuhr am Ufer eines großen Sees entlang, aus dem ein Flüßchen abfloß, das sich durch einen Höhenzug durchwand und sich dann in weiter Ferne verlor. Auf einer dieser Höhen ragte über dichtem Waldesgrün das grüne Dach eines riesigen steinernen Hauses empor, auf einer anderen eine Kirche mit fünf Kuppeln und einem altertümlichen Glockenturm. Um sie herum lagen zerstreut die Bauernhäuser mit ihren Gärten und Brunnen. Dubrowskij erkannte diese Örtlichkeit wieder; er erinnerte sich, daß er auf dieser Anhöhe mit der kleinen Mascha Trojekurowa gespielt hatte, die um zwei Jahre jünger war als er und schon damals eine Schönheit zu werden versprach. Er hätte sich gern bei Anton nach ihr erkundigt, aber ein Gefühl, daß dies unter den gegebenen Verhältnissen unpassend sei, hielt ihn davon ab.

Als er an dem Herrenhaus vorüberfuhr, sah er zwischen den Bäumen des Gartens ein weißes Kleid aufschimmern. In diesem Augenblick hieb Anton auf die Pferde ein und fuhr mit dem allen Herrschafts- und sonstigen Kutschern eigenen Ehrgeiz im schärfsten Galopp über die Brücke und an dem Garten vorbei. Als sie aus dem Dorf herausgefahren waren, ging es bergauf, und Wladimir sah ein Birkenwäldchen und rechts davon auf einem freien Platz – ein graues Haus mit rotem Dach. Sein Herz fing an höher zu schlagen – vor ihm lag Kistenjewka und das ärmliche Vaterhaus.

Zehn Minuten später fuhr er in den herrschaftlichen Hof ein. In unbeschreiblicher Erregung schaute er sich um: zwölf Jahre lang hatte er seine Heimat nicht mehr gesehen. Die kleinen Birken, die noch zu seiner Zeit am Zaune gesetzt worden waren, standen jetzt als große, weitverzweigte Bäume da. Der Hof, der damals mit drei gradlinigen Blumenbeeten geschmückt war, durch die ein breiter, sorgfältig reingehaltener Weg führte, war jetzt in eine ungemähte Wiese verwandelt, auf der ein Pferd weidete. Die Hunde bellten, als sie aber Anton erkannt hatten, verstummten sie und wedelten mit ihren struppigen Schwänzen. Die Hofleute kamen aus ihren Stuben, umringten den jungen Herrn und gaben ihrer Freude über seine Ankunft geräuschvoll Ausdruck. Nur mit Mühe konnte er sich durch die begeisterte Menge hindurchdrängen und schritt eilig die baufällige Freitreppe hinauf. Im Hausflur kam ihm Jegorowna entgegen und umarmte weinend ihren ehemaligen Zögling.

»Guten Tag, guten Tag, Amme«, sagte er wiederholt und drückte die Hand der guten Alten an sein Herz. »Wie geht es dem lieben Vater? Wo ist er? Was treibt er?«

In diesem Augenblick betrat ein bleicher, magerer, hochgewachsener Greis in Schlafrock und Zipfelmütze das Zimmer. Er konnte nur mühsam die Beine voreinander setzen. »Wo ist Wolodijka?« sagte er mit schwacher Stimme, und Wladimir umarmte in heißer Liebe seinen Vater.

Die Freude hatte den Kranken zu sehr erschüttert. Er bekam einen Schwächeanfall, die Beine versagten, und er wäre gefallen, wenn ihn der Sohn nicht aufgefangen hätte. »Warum bist du vom Bett aufgestanden?« sagte Jegorowna zu ihm. »Er kann sich nicht auf den Beinen halten und möchte doch immer bei den Leuten sein.«

Sie brachten den Alten in das Schlafzimmer. Er gab sich alle Mühe, mit dem Sohn zu sprechen, aber die Gedanken gingen ganz wirr durch seinen Kopf, so daß seine Worte keinen Sinn hatten. Dann schwieg er und verfiel in Schlummer. Wladimir war von seinem Zustand erschüttert. Er richtete sich im Schlafzimmer ein und bat, man solle ihn mit dem Vater allein lassen. Die Dienstboten gehorchten und wandten sich nun Grischa zu, den sie in die Gesindestube führten, wo sie ihn auf ländliche Art auf das gastlichste bewirteten und ihn mit Fragen und Begrüßungen ganz müde machten.

 

Wo eine reichgedeckte Tafel war, da steht jetzt ein Sarg. Einige Tage nach seiner Ankunft wollte der junge Dubrowskij sich der geschäftlichen Dinge annehmen, aber sein Vater war außerstande, ihm die notwendigen Erklärungen zu geben; Andreij Gawrilowitsch hatte leider auch keinen Anwalt. Als der Sohn die Papiere des Gutsherrn durchlas, fand er nur das Schreiben des Assessors und den Entwurf einer Antwort darauf. Aber daraus konnte er sich kein klares Bild über den Prozeß machen. Daher beschloß er, in der Hoffnung auf die Gerechtigkeit seiner Sache, das weitere abzuwarten.

Inzwischen verschlechterte sich der Zustand Andreij Gawrilowitschs von Stunde zu Stunde. Wladimir erwartete das baldige Ende und verließ den Alten, der in völlige Kindlichkeit verfallen war, keine Minute.

Indessen war auch die gesetzliche Frist abgelaufen, und Berufung war nicht eingelegt worden. Kistenjewka war somit in das Eigentum Trojekurows übergegangen. Schabaschkin erschien bei ihm und ersuchte ihn unter kriecherischen Beglückwünschungen, einen Termin zu bestimmen, wann es Seiner Exzellenz belieben würde, den Besitz des neuerworbenen Gutes anzutreten – ob er es selbst tun wolle oder jemanden mit seiner Vertretung zu beauftragen beabsichtige?

Kirila Petrowitsch geriet in Verlegenheit. Er war von Natur aus nicht habgierig. Seine Rachgier hatte ihn zu weit geführt, und jetzt empfand er Gewissensbisse. Er wußte, in welchem Zustand sich sein Gegner, der alte Kamerad seiner Jugend, befand, und der Sieg machte ihm keine Freude. Er schaute Schabaschkin drohend an und suchte, wo er einhaken könnte, um ihn tüchtig zu beschimpfen, da er aber keinen genügenden Anlaß dazu finden konnte, sagte er ihm nur böse: »Pack dich fort, ich habe keine Zeit für dich!«

Schabaschkin sah, daß Seine Exzellenz schlechter Laune war, und entfernte sich eiligst. Kirila Petrowitsch, der nun allein war, begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er die Melodie »Siegesdonner erschalle« vor sich hin pfiff, was bei ihm immer auf eine ungewöhnliche Erregung schließen ließ.

Endlich befahl er, eine Renndroschke anzuspannen, zog sich etwas wärmer an (es war schon Ende September) und fuhr, das Pferd selbst lenkend, aus dem Hof.

Bald erblickte er das Haus von Andreij Gawrilowitsch. Widerstreitende Empfindungen erfüllten seine Seele. Der Gedanke an befriedigte Rache und die Herrschsucht betäubten bis zu einem gewissen Grade die edleren Gefühle, diese errangen aber schließlich doch die Oberhand. Er war entschlossen, sich mit seinem alten Nachbarn auszusöhnen, die Spuren des Streites zu verwischen und ihm sein Gut zurückzugeben. Nachdem er seine Seele mit diesem guten Vorsatz erleichtert hatte, lenkte Kirila Petrowitsch sein Pferd im Trab auf den Wohnsitz seines Nachbarn zu – und fuhr stracks in den Hof hinein.

Zu dieser Zeit saß der Kranke am Fenster seines Schlafzimmers. Er erkannte Kirila Petrowitsch – und eine schreckliche Bestürzung drückte sich auf seinem Gesicht aus: tiefe Röte trat an die Stelle der sonstigen Blässe, seine Augen funkelten, und er stieß unverständliche Laute aus. Sein Sohn, der in dem Zimmer über Wirtschaftsbüchern saß, schaute auf und war über den Zustand des Vaters höchst verwundert. Der Kranke deutete mit dem Finger auf den Hof, in seinem Gesicht malten sich Entsetzen und Zorn. In diesem Augenblick hörte man die Stimme und den schweren Tritt Jegorownas: »Herr, Herr! Kirila Petrowitsch ist gekommen! Kirila Petrowitsch ist an der Freitreppe!« Dann schrie sie auf: »O Gott, o mein Gott! Was ist denn das? Was ist mit ihm geschehen?«

Andreij Gawrilowitsch hatte schnell mühsam die Schöße seines Schlafrocks zusammengerafft und wollte aus seinem Sessel aufstehen. Kaum aber hatte er sich erhoben – da fiel er plötzlich um. Der Sohn stürzte auf ihn zu, aber der Alte lag leblos und ohne zu atmen da: der Schlag hatte ihn getroffen.

»Schnell, schnell in die Stadt, holt den Arzt!« schrie Wladimir. »Kirila Petrowitsch will Sie sprechen«, sagte im gleichen Moment ein hereintretender Diener.

Wladimir warf einen schrecklichen Blick auf ihn. »Sag Kirila Petrowitsch, er soll schauen, daß er so rasch wie möglich weiterkommt, ehe ich befehle, ihn aus dem Hof zu jagen . . . Marsch!« Der Diener lief voll Freude weg, diesen Befehl auszuführen. Jegorowna schlug die Hände zusammen. »Liebes Väterchen«, sagte sie mit winselnder Stimme, »du wirst dich zugrunde richten! Kirila Petrowitsch wird uns auffressen.« »Schweig, Amme«, sagte Wladimir erbost. »Schicke sofort Anton in die Stadt nach dem Arzt.«

Jegorowna verließ das Zimmer. Der Vorraum war leer. Alles war auf den Hof gelaufen, um Kirila Petrowitsch zu sehen. Jegorowna trat auf die Freitreppe hinaus und hörte die Antwort, die der Diener im Namen des jungen Herrn gab. Kirila Petrowitsch nahm sie auf seiner Droschke sitzend entgegen. Sein Gesicht wurde finsterer als die Nacht. Er lächelte verächtlich, schaute die Hofleute drohend an und fuhr im Schritt um den Hof herum. Er schaute auch in das Fenster, an dem vor einigen Minuten noch Andreij Gawrilowitsch gesessen hatte, wo jetzt aber niemand mehr war.

Jegorowna stand auf der Freitreppe; sie hatte den Befehl des Herrn ganz vergessen. Die Hofleute unterhielten sich geräuschvoll über das Ereignis. Plötzlich erschien Wladimir Andrejewitsch in ihrer Mitte und sagte kurz: »Wir brauchen den Arzt nicht mehr – der Vater ist tot.«

Alle waren erschüttert und eilten in das Schlafzimmer des alten Herrn. Er lag in dem Lehnstuhl, in den ihn Wladimir gebracht hatte. Sein rechter Arm hing bis zum Boden hinab, der Kopf lag auf der Brust – es war kein Lebenszeichen mehr in diesem Körper, der noch nicht erkaltet, aber vom Tod bereits entstellt war. Jegorowna weinte laut, die Leute umringten die Leiche, die nun ihrer Fürsorge überlassen wurde. Sie wuschen den Toten, zogen ihm die Uniform an, die noch aus dem Jahre 1797 stammte, und bahrten ihn auf demselben Tisch auf, an dem sie so viele Jahre lang ihren Herrn bedient hatten.

 

Das Begräbnis fand am dritten Tag statt. Die Leiche des armen Alten lag im Sarge, mit dem Totenhemd bedeckt und von Kerzen umgeben. Das Eßzimmer war voll von Dienstboten, die dem Leichenbegängnis beiwohnen wollten. Wladimir und drei Diener hoben den Sarg auf. Der Geistliche ging in Begleitung des Mesners voran, und sie sangen die Totenresponsorien. Zum letzten Male überschritt der Herr von Kistenjewka die Schwelle seines Hauses. Der Sarg wurde durch ein Wäldchen getragen, hinter dem sich die Kirche befand. Es war ein heller, kalter Herbsttag; die Blätter fielen von den Bäumen. Beim Ausgang aus dem Wäldchen wurden das hölzerne Kirchlein von Kistenjewka und der von alten Linden beschattete Friedhof sichtbar. Hier ruhte die Mutter Wladimirs, dort, neben ihrem Grab, war tags vorher ein frisches Grab ausgehoben worden. Die Kirche war voll von Bauern aus Kistenjewka, die gekommen waren, um ihrem Herrn die letzte Ehre zu erweisen.

Der junge Dubrowskij stand am Chor. Er weinte nicht und betete nicht, aber sein Gesicht war furchtbar anzusehen. Er trat als erster vor, um von der Leiche Abschied zu nehmen, dann kamen die Hofleute. Schließlich wurde der Sarg zugenagelt. Die Weiber heulten, und nicht wenige der Bauern wischten mit der Faust eine Träne von den Augen. Wladimir und dieselben drei Diener trugen den Toten in Begleitung des ganzen Dorfes auf den Friedhof hinaus. Sie ließen den Sarg in die Grube hinab, und alle Anwesenden warfen ein Häufchen Sand hinein. Dann schaufelten sie die Grube zu, verneigten sich und gingen auseinander. Wladimir entfernte sich schnell, überholte alle und verschwand im Wäldchen von Kistenjewka.

Jegorowna, die in seinem Namen den Popen und die übrige Klerisei zum Leichenschmaus eingeladen hatte, erklärte, der junge Herr habe sich nicht entschließen können, daran teilzunehmen. Also begaben sich Vater Anissim, die Popenfrau Fedorowna und der Mesner zu Fuß nach dem Herrenhof. Dabei unterhielten sie sich mit Jegorowna über die Vorzüge des Verstorbenen und über das, was offenbar seinen Erben erwartete. Der Besuch Trojekurows und der ihm bereitete Empfang hatten sich schon in der ganzen Gegend herumgesprochen, und die einheimischen Politiker prophezeiten, daß dieser Zwischenfall bedeutsame Folgen haben werde.

»Was kommt, das kommt«, sagte die Popenfrau, »aber es wäre sehr schade, wenn Wladimir Andrejewitsch nicht unser Herr würde. Er ist ein Prachtkerl, da ist nichts zu sagen.« »Aber wer sollte denn sonst unser Herr sein, wenn nicht er?« unterbrach Jegorowna. »Kirila Petrowitsch ereiferte sich umsonst – er hat es mit keinem Schüchternen zu tun. Mein lichter Falke wird schon seinen Mann stellen, und – Gott gebe es – seine Wohltäter werden ihn nicht im Stich lassen. Kirila Petrowitsch bildet sich gar zu viel ein! Aber er ist doch ganz klein geworden, wie ihn mein Grischa angebrüllt hat: ›Hinaus mit dir, alter Hund! Marsch aus dem Hof!‹«

»Ach, du, Jegorowna«, sagte der Mesner, »wie hat Grischa das nur über den Mund gebracht? Ich muß schon sagen, ich würde mich eher getrauen, mich über den Bischof zu beschweren, als Kirila Petrowitsch auch nur schief anzusehen. Man braucht ihn nur anzuschauen – Angst und Schrecken steigen in einem auf! Und der Rücken wird von selber krumm, immer krummer . . .« »Alles ist eitel!« sagte der Pope, »und auch für Kirila Petrowitsch wird man eines Tages ›Ewiges Gedenken‹ singen, wie es heute über Andreij Gawrilowitsch gesungen wurde. Vielleicht wird das Leichenbegängnis prunkvoller sein, und es werden mehr Trauergäste kommen, aber ist das vor Gott nicht gleich?«

»Ach, ehrwürdiger Vater, auch wir beabsichtigten, die ganze Nachbarschaft einzuladen, aber Wladimir Andrejewitsch wollte das nicht. Sie können unbesorgt sein, wir haben genug von allem, um Gäste zu bewirten . . . aber was soll man machen? Wenn sonst keine Leute da sind, so will ich wenigstens euch, meine lieben Gäste, gut bewirten.«

Dieses freundliche Versprechen und die Hoffnung, eine schmackhafte Pastete vorzufinden, beschleunigten die Schritte der kleinen Gesellschaft, und sie gelangten wohlbehalten zum Herrenhaus, wo der Tisch schon gedeckt war und Schnaps angeboten wurde. Indessen war Wladimir immer tiefer in das Dickicht des Waldes eingedrungen, wo er durch Bewegung und Ermüdung seinen Seelenschmerz zu betäuben suchte. Er ging dahin, ohne auf den Weg zu achten, ständig streiften ihn Zweige und zerkratzten ihn, alle Augenblicke versanken seine Füße im Sumpf – er bemerkte gar nichts davon. Endlich gelangte er zu einem kleinen, von dichtem Wald umsäumten Hohlweg. Ein Bächlein schlängelte sich geräuschlos zwischen den vom Herbst schon halb entblätterten Bäumen dahin. Wladimir blieb stehen, setzte sich auf den kalten Rasen, und Gedanken, einer trauriger als der andere, bedrängten seine Seele . . .

Die Einsamkeit lastete schwer auf ihm, und die Zukunft erschien ihm von finsteren Wolken verhängt. Die Feindschaft mit Trojekurow kündete ihm neues Unglück. Seine armselige Habe konnte von ihm fort und in fremde Hände übergehen, und in diesem Falle erwartete ihn bittere Armut.

Lange saß er unbeweglich auf demselben Fleck. Er starrte auf den stillen Lauf des Bächleins, das welkes Laub mit sich führte und ihm lebhaft ein Gleichnis des Lebens darbot – ein wahrheitsgetreues und alltägliches Gleichnis. Endlich merkte er, daß es schon dämmerte. Er stand auf und suchte den Weg nach Hause, irrte aber noch lange in dem ihm unbekannten Wald herum, bis er endlich auf einen Pfad gelangte, der ihn geradewegs vor das Tor seines Hauses führte.

Unterwegs begegnete ihm der Pope mit der ganzen Klerisei. Der Gedanke, daß ihm diese Begegnung Unglück bringen könnte, fuhr ihm durch den Kopf. Unwillkürlich trat er beiseite und verbarg sich hinter den Bäumen. Sie bemerkten ihn nicht und unterhielten sich eifrig miteinander.

»Meide das Böse und tue Gutes«, sagte der Pope zu seiner Frau. »Wir brauchen nicht hierzubleiben, und du brauchst dich nicht darum zu kümmern, wie die Sache ausgeht!« Die Popenfrau gab darauf eine Antwort, aber Wladimir konnte nicht verstehen, was sie sagte.

Als er sich dem Hause näherte, sah er einen Haufen Leute. Die Bauern und das Hofgesinde drängten sich auf dem Gutshof. Schon von weitem hörte Wladimir ungewöhnlichen Lärm und Stimmengewirr. Vor der Scheune standen zwei Dreigespanne. Auf der Freitreppe schienen sich einige unbekannte Leute in Uniform über etwas zu besprechen.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Wladimir ärgerlich Anton, der ihm entgegenlief. »Was sind das für Leute und was wollen sie hier?« »Ach, Väterchen Wladimir Andrejewitsch«, erwiderte der Alte keuchend, »die Herren vom Gericht sind gekommen. Sie werden uns Trojekurow übergeben, sie nehmen uns Deiner Gnaden weg!«

Wladimir senkte den Kopf; die Leute umringten ihren unglücklichen Herrn.

»Du bist unser Vater«, schrien sie und küßten ihm die Hände. »Wir wollen keinen anderen Herrn als dich. Lieber sterben wir, als daß wir dich verraten. Befiehl, Herr, mit den Gerichtsherren werden wir schon fertig werden.«

Wladimir schaute sie an, und düstere Gefühle bestürmten ihn. »Bleibt ruhig stehen«, sagte er zu ihnen, »ich will mit den Herren vom Gericht sprechen.« »Rede, Väterchen«, tönte es aus der Menge, »rede den Verdammten ins Gewissen!«

Wladimir ging auf die Beamten zu. Schabaschkin, der eine Schirmmütze auf dem Kopf trug, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und stand, stolz umherblickend, da. Der Kreishauptmann, ein großer, dicker Mann von etwa fünfzig Jahren, mit rotem Gesicht und Schnurrbart, räusperte sich, als er Dubrowskij herankommen sah, und sagte mit heiserer Stimme: »Also, ich wiederhole euch, was ich schon einmal gesagt habe: Zufolge einer Entscheidung des Kreisgerichts gehört ihr von heute an Kirila Petrowitsch Trojekurow, den der hier anwesende Herr Schabaschkin vertritt. Gehorcht ihm in allem, was er befiehlt, und ihr, Weiber, liebt und achtet ihn, er ist ein großer Verehrer von euch.« Bei diesem derben Scherz lachte der Kreishauptmann. Schabaschkin und die übrigen Beamten taten es ihm nach. Wladimir kochte vor Wut.

»Gestatten Sie die Frage, was das zu bedeuten hat?« fragte er den lustigen Kreishauptmann mit gespielter Kaltblütigkeit. »Das bedeutet«, antwortete der geistreiche Beamte, »daß wir hierhergekommen sind, dieses Gut in den Besitz von Kirila Petrowitsch Trojekurow zu überführen und alle anderen zu ersuchen, sich im guten fortzumachen.« »Da hätten Sie sich aber meines Erachtens zuerst an mich und nicht an meine Bauern wenden und mir als dem Gutsbesitzer die Enteignung eröffnen müssen . . .« »Der ehemalige Gutsbesitzer Andreij Gawrilowitsch von der Familie Dubrowskij ist nach Gottes Ratschluß gestorben, aber wer sind Sie?« sagte Schabaschkin mit frecher Miene. »Wir kennen Sie nicht und wollen Sie auch gar nicht kennen.« »Euer Wohlgeboren, das ist doch unser junger Herr Wladimir Andrejewitsch!« sagte eine Stimme aus der Menge. »Wer erfrecht sich hier, das Maul aufzureißen!« sagte der Kreishauptmann drohend. »Was für ein Herr! Was für ein Wladimir Andrejewitsch! Euer Herr heißt Kirila Petrowitsch Trojekurow . . . Verstanden, ihr Dummköpfe?« »Warum denn nicht gar?« sagte dieselbe Stimme. »Das ist ja Aufruhr!« brüllte der Kreishauptmann. »He, Schulze, vortreten!«

Der Schulze trat vor.

»Such mir sofort den Kerl heraus, der sich erfrecht hat, mir dazwischen zu reden, ich werde ihm auf die Sprünge helfen!« Der Schulze wandte sich mit der Frage an die Menge, wer gesprochen habe, aber alles schwieg. Bald erhob sich in den hinteren Reihen ein Gemurmel, das immer lauter wurde und plötzlich in ein fürchterliches Wutgeheul umschlug. Der Kreishauptmann senkte seine Stimme und wollte ihnen gütlich zureden.

»Was sollen wir auf ihn aufpassen«, schrien die Hofleute. »He, Burschen, packt sie!« Und die Menge setzte sich in Bewegung. Schabaschkin und die Beamten flüchteten schnell in den Hausflur und sperrten die Tür hinter sich zu.

»Drauf, Burschen!« schrie dieselbe Stimme, und die Menge begann nachzudrängen.

»Halt!« schrie in diesem Moment der junge Dubrowskij. »Ihr Dummköpfe! Was macht ihr denn da? Ihr richtet euch und mich zugrunde. Geht heim auf eure Höfe und laßt mich in Ruhe. Habt keine Angst, der Zar ist gnädig. Ich werde ihn bitten – er wird uns nicht kränken – wir sind alle seine Kinder. Aber wie soll er sich für euch einsetzen, wenn ihr anfangt, wie Aufwiegler und Räuber aufzutreten?«

Die Ansprache des jungen Dubrowskij, seine klingende Stimme und sein imposantes Aussehen riefen die gewollte Wirkung hervor. Die Volksmenge beruhigte sich und ging auseinander, der Hof leerte sich, und die Beamten saßen im Haus. Traurig stieg Wladimir die Freitreppe hinan. Schabaschkin öffnete die Türe und bedankte sich mit unterwürfigen Verneigungen bei Dubrowskij für den gnädigen Beistand. Wladimir hörte ihn verächtlich an und gab keine Antwort.

»Wir haben beschlossen, mit Ihrer Erlaubnis hier zu übernachten«, fuhr der Assessor fort. »Es ist schon dunkel, und Ihre Bauern könnten uns am Ende unterwegs überfallen. Wollen Sie die Güte haben und uns wenigstens etwas Heu ins Wohnzimmer legen lassen. Sobald der Morgen graut, wollen wir heimfahren.« »Machen Sie, was Sie wollen«, antwortete ihm Dubrowskij trocken. »Ich bin hier nicht mehr Herr.« Mit diesen Worten zog er sich in das Zimmer seines Vaters zurück und verschloß die Türe.

 

»Jetzt ist also alles aus!« sagte Wladimir zu sich selbst. »Heute früh besaß ich noch ein Stück Brot und einen Winkel, morgen muß ich das Haus verlassen, in dem ich geboren wurde. Mein Vater und die Erde, in der er ruht, werden dem verhaßten Mann gehören, der an seinem Tod und an meiner Armut schuld ist!« Wladimir biß die Zähne zusammen, und seine Augen waren unbeweglich auf das Bildnis seiner Mutter gerichtet. Der Maler hatte sie, auf ein Geländer gestützt, im weißen Morgenkleid mit einer Rose im Haar dargestellt.

»Auch dieses Bild wird in Besitz des Feindes meiner Familie übergehen«, dachte Wladimir. »Es wird zusammen mit den zerbrochenen Stühlen in eine Rumpelkammer geschmissen oder in einem Vorzimmer aufgehängt werden und den Gegenstand des Hohnes und des Spottes seiner Hundewärter bilden. Und in ihrem Schlafzimmer, in dem Zimmer, wo der Vater starb, wird sich der Verwalter breitmachen oder er seinen Harem einrichten. Nein, nein! Dieses traurige Haus, aus dem er mich vertrieben hat, soll auch ihm nicht gehören.«

Furchtbare Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Die Stimmen der Beamten drangen zu ihm. Sie benahmen sich, als ob sie die Herren im Hause wären, verlangten bald dieses, bald jenes und lenkten ihn in unangenehmer Weise von seinen traurigen Gedanken ab. Endlich wurde alles still.

Nun öffnete Wladimir die Kommoden und Fächer und beschäftigte sich mit der Durchsicht der Papiere des Verstorbenen. Sie bestanden größtenteils aus Wirtschaftsrechnungen und geschäftlicher Korrespondenz. Wladimir zerriß sie ungelesen. Unter den Papieren kam ihm auch ein Paket unter die Hände mit der Aufschrift: »Briefe meiner Frau«. Mit tiefer innerer Bewegung begann Wladimir sie durchzulesen. Sie waren während des türkischen Feldzuges geschrieben und aus Kistenjewka an die Armee adressiert. Sie beschrieb ihm ihr ländliches Leben und ihre Wirtschaftsangelegenheiten. In zärtlichen Worten klagte sie über die Trennung und rief ihn nach Hause zurück in die Arme seiner guten Freundin. In einem der Briefe brachte sie ihre Besorgnis über den Gesundheitszustand des kleinen Wladimir zum Ausdruck, in einem anderen die Freude über seine rasche geistige Entwicklung und prophezeite ihm eine glückliche und glänzende Zukunft. Wladimir war so in das Lesen dieser Briefe vertieft, daß er die Umwelt völlig vergaß. Er war mit ganzer Seele in die Welt des Familienglücks untergetaucht, so daß er gar nicht merkte, wie die Zeit verrann; die Wanduhr schlug elf. Er steckte die Briefe in die Tasche, nahm die Kerze und verließ das Zimmer. Im Saal schliefen die Beamten auf dem Fußboden. Auf dem Tisch standen die von ihnen geleerten Gläser, und in dem ganzen Raum war ein starker Geruch nach Rum zu spüren. Von Ekel erfaßt, ging Wladimir an ihnen vorüber in das Vorzimmer. Dort war es finster. Irgend jemand, der das Licht sah, sprang zur Seite. Als sich Wladimir mit seiner Kerze ihm zuwandte, sah er, daß es der Schmied Archip war. »Was machst denn du hier?« fragte er ihn erstaunt. »Ich wollte . . . ich bin gekommen, um nachzusehen, ob alle zu Hause sind«, antwortete Archip stockend. »Und wozu hast du ein Beil bei dir?« »Das Beil? Ja, wie soll man heutzutage ohne Beil herumgehen? Diese Beamten sind ja so frech, da heißt es aufpassen . . .« »Du bist betrunken. Tu das Beil weg, geh und schlaf dich aus.« »Ich betrunken? Väterchen Wladimir Andrejewitsch, Gott ist mein Zeuge, daß nicht ein Tropfen über meine Zunge gekommen ist . . . Kann man denn jetzt überhaupt an Schnaps denken? Hat man so etwas gehört, die Beamten haben sich vorgenommen, über uns zu herrschen, die Beamten vertreiben unsere Herrschaft von Haus und Hof . . . Ah, wie sie schnarchen, diese Verdammten, man sollte sie alle auf einmal totschlagen, kein Hahn würde danach krähen.« Dubrowskijs Gesicht verfinsterte sich. »Höre, Archip«, sagte er nach kurzem Schweigen, »laß deinen Unsinn, die Beamten können nichts dafür. Zünde eine Laterne an und folge mir.«

Archip nahm seinem Herrn die Kerze aus der Hand, suchte hinter dem Ofen eine Laterne, zündete sie an, und beide stiegen leise die Freitreppe hinunter und gingen auf den Hof. Die Nachtwächter begannen auf die gußeiserne Platte zu schlagen, und die Hunde bellten.

»Wer hat die Wache?« fragte Dubrowskij. »Wir, Väterchen«, antwortete eine dünne Stimme, »Wassilissa und Luberja.« »Geht heim«, sagte Dubrowskij zu ihnen. »Wir brauchen euch nicht.« »Schluß!« murmelte Archip. »Wir danken dir, Wohltäter«, antworteten die Weiber und gingen sofort heim. Dubrowskij ging weiter. Zwei Männer kamen auf ihn zu und riefen ihn an. Dubrowskij erkannte die Stimmen Antons und Grischas. »Warum schlaft ihr nicht?« fragte er sie. »Wie sollen wir schlafen können«, antwortete Anton, »was müssen wir jetzt erleben, wer hätte das gedacht . . .« »Leiser!« unterbrach ihn Dubrowskij. »Wo ist Jegorowna?« »Im Herrenhaus, in ihrer Kammer«, antwortete Grischa. »Geh und hole sie hierher und führe auch alle unsere Leute aus dem Haus. Es darf kein Mensch außer den Beamten drinnen bleiben. Und du, Anton, spann einen Wagen an.«

Grischa ging weg und kam gleich darauf wieder mit seiner Mutter zurück. Die Alte hatte sich in dieser Nacht nicht ausgezogen. Außer den Beamten hatte kein Mensch im Hause ein Auge zugetan. »Sind alle da?« fragte Dubrowskij. »Ist bestimmt niemand im Haus zurückgeblieben?« »Niemand, außer den Beamten«, antwortete Grischa. »Bringt Stroh oder Heu her«, sagte Dubrowskij.

Die Leute liefen in den Stall und kamen mit Haufen Heu in den Armen zurück. »So, legt es unter die Freitreppe. Und nun, Kinder, Feuer!« Archip öffnete die Laterne, und Dubrowskij zündete einen Kienspan an. »Warte«, sagte er zu Archip, »ich habe, wie mir scheint, in der Eile die Tür zum Vorzimmer verschlossen; geh schnell und mache sie auf.« Archip lief ins Vorzimmer, die Tür war offen. Er sperrte sie zu und murmelte dabei: »Ja freilich, aufsperren auch noch.« Dann kehrte er zu seinem Herrn zurück.

Dubrowskij hielt den brennenden Span an das Heu, das sofort Feuer fing. Eine Flamme schoß empor und erleuchtete den ganzen Hof. »Ach!« schrie Jegorowna klagend. »Was tust du, Wladimir Andrejewitsch!« »Schweig!« sagte Dubrowskij. »Und nun, Kinder, lebt wohl! Ich gehe, wohin Gott mich führen wird. Werdet glücklich unter eurem neuen Herrn!« »Du unser Vater und Wohltäter«, schrien die Leute. »Wir sterben lieber – wir lassen dich nicht im Stich! Wir wollen mit dir gehen!«

Die Pferde fuhren vor. Dubrowskij bestieg mit Grischa den Wagen, Anton hieb auf die Pferde ein, und sie fuhren zum Hof hinaus.

In diesem Augenblick hatte das Feuer auf das ganze Haus übergegriffen. Die Böden fielen krachend auseinander, brennende Balken stürzten herab, roter Rauch qualmte über dem Dach, und man vernahm Wehklagen und Schreie: »Zu Hilfe!«

»Das wäre gerade recht«, sagte Archip und schaute mit boshaftem Lächeln in das Feuer. »Archipaschka«, sagte Jegorowna zu ihm, »rette sie, die Verdammten. Gott wird dir's lohnen.« »Warum nicht gar?« antwortete der Schmied.

In diesem Augenblick erschienen die Beamten am Fenster und versuchten, die Doppelrahmen auszubrechen. Da stürzte krachend das Dach zusammen, und die Hilferufe verstummten.

Bald war das ganze Gesinde im Hof versammelt. Die Weiber suchten unter Wehgeschrei ihren Kram zu retten, die Kinder sprangen herum und bewunderten das Feuer. Die Funken flogen in dem Feuernebel überall hin und setzten auch die Bauernhäuser in Brand.

»Jetzt ist alles gut!« sagte Archip. »Wie schön es brennt, was? Das muß man auch von Pokrowskoje aus herrlich sehen können.«

In diesem Augenblick erregte eine neue Erscheinung seine Aufmerksamkeit. Eine Katze lief auf dem Dach des brennenden Stalles hin und her und konnte keinen Absprung finden. Von allen Seiten umgab sie das Feuer. Das arme Tier schrie kläglich miauend um Hilfe, die Buben schüttelten sich vor Lachen beim Anblick seiner Verzweiflung.

»Was lacht ihr da, ihr Teufelsbrut?« sagte der Schmied böse. »Ihr habt keine Gottesfurcht. Da kommt ein Geschöpf Gottes um, und ihr lacht darüber in eurer Dummheit.« Er stellte eine Leiter an das brennende Dach und stieg hinauf, um die Katze herunterzuholen. Sie erkannte seine Absicht und krallte sich in hastiger Dankbarkeit an seinem Ärmel fest. Versengt stieg der Schmied mit seiner Beute herab. »Und nun, meine lieben Kinder«, sagte er zu dem verlegenen Gesinde, »lebt wohl. Ich habe hier nichts mehr zu tun. Bleibt glücklich und behaltet mich in gutem Andenken.«

Der Schmied ging fort; der Brand wütete noch eine Zeitlang, endlich legte sich das Feuer. Verkohlte Trümmer schwelten noch ohne Flammen im Dunkel der Nacht, und an der Stätte der Verwüstung irrten die verstörten Bewohner von Kistenjewka umher.

 

Am anderen Tag verbreitete sich die Nachricht von dem Brand in der ganzen Nachbarschaft. Alles unterhielt sich darüber und erging sich in den verschiedensten Vermutungen und Ansichten. Die einen wollten wissen, daß sich die Leute Dubrowskijs beim Leichenschmaus betrunken und aus Fahrlässigkeit das Haus in Brand gesteckt hätten, die anderen beschuldigten die Beamten mit der Behauptung, diese hätten sich bei der Hausübernahme betrunken. Einige ahnten den wahren Sachverhalt und behaupteten, daß Dubrowskij selbst die Schuld an diesem schrecklichen Unglück trage. Zorn und Verzweiflung hätten ihn dahin gebracht. Viele glaubten berichten zu können, er selber sei mit den Gerichtsbeamten und allen Dienstboten umgekommen.

Trojekurow begab sich gleich am nächsten Tage an die Brandstätte und führte die Untersuchung selbst. Es wurde festgestellt, daß der Kreishauptmann, der Assessor des Kreisgerichts, der Fiskal und der Schreiber, ebenso Wladimir Dubrowskij, die Kinderfrau Jegorowna, der Diener Grigorij, der Kutscher Anton und der Schmied Archip verschwunden waren. Niemand konnte über ihren Verbleib Angaben machen. Alle Hofleute bekundeten, daß die Beamten verbrannt seien, als das Dach einstürzte. Ihre verkohlten Knochen wurden zusammengesucht. Die Weiber Wassilissa und Luberja sagten, sie hätten Dubrowskij und den Schmied Archip noch einige Minuten vor dem Ausbruch des Brandes gesehen. Nach übereinstimmenden Aussagen war der Schmied Archip noch am Leben und wahrscheinlich wenn nicht der einzige Brandstifter, so doch der Hauptbeteiligte. Auch auf Dubrowskij fiel ein starker Verdacht. Kirila Petrowitsch sandte einen genauen Bericht über den Vorfall an den Gouverneur, und es begann ein neuer Prozeß.

Bald aber gaben andere Nachrichten der Neugier und dem Gerede neue Nahrung. Räuber traten auf und versetzten die ganze Gegend in Schrecken. Die von den Behörden gegen sie angewandten Maßnahmen erwiesen sich als völlig unzureichend. Es erfolgten Ausplünderungen, von denen eine bemerkenswerter war als die andere, es gab keine Sicherheit mehr, weder auf den Straßen noch in den Dörfern. Einige mit Räubern besetzte Dreigespanne fuhren am hellen Tag im ganzen Gouvernement herum, hielten die Reisenden und die Post an, erschienen in den Dörfern, plünderten die Häuser der Gutsbesitzer aus und steckten sie in Brand.

Der Anführer dieser Räuberbande war berühmt durch seine Klugheit, Kühnheit und eine Art Großmut. Man erzählte Wunderdinge von ihm. Der Name Dubrowskij war in aller Mund. Man war davon überzeugt, daß er und kein anderer das Haupt der tollkühnen Verbrecher sei.

Man wunderte sich nur über eines: die Besitzungen Trojekurows blieben verschont. Die Räuber hatten bei ihm noch nicht einen einzigen Stall geplündert und nicht eine einzige seiner Fuhren angehalten. In seiner gewohnten Aufgeblasenheit schrieb Trojekurow das einerseits der Angst zu, die er dem ganzen Gouvernement einzuflößen verstanden hatte, andererseits der besonders guten Polizei, die er auf seinen Dörfern unterhielt. Anfänglich lachten die Nachbarn über das Großgetue Trojekurows, und jeder wartete darauf, daß die unerwünschten Gäste Pokrowskoje heimsuchten, wo sie reiche Beute hätten machen können, aber schließlich mußten sie doch zugeben, daß sogar die Räuber vor ihm einen unbegreiflichen Respekt hatten. Trojekurow triumphierte, und bei jeder Nachricht von einer neuen Plünderung durch Dubrowskij erging er sich in hämischen Bemerkungen über den Gouverneur, die Kreishauptleute und Polizeioffiziere, denen Dubrowskij immer unversehrt entkam.

Indessen nahte der erste Oktober, der Tag der Kirchweih im Pfarrdorf Trojekurows. Aber ehe wir an die Schilderung der weiteren Ereignisse gehen, müssen wir den Leser mit Persönlichkeiten bekannt machen, die entweder für ihn neu sind oder die wir am Anfang unserer Erzählung nur nebenbei erwähnt haben.

Der Leser hat wahrscheinlich schon geahnt, daß die Tochter von Kirila Petrowitsch, über die wir bisher nur einige Worte gesagt haben, die Heldin unserer Erzählung ist. In der von uns beschriebenen Zeit war sie siebzehn Jahre alt, und ihre Schönheit stand in voller Blüte. Der Vater vergötterte sie, behandelte sie aber mit dem ihm angeborenen Eigensinn. Einerseits war er bestrebt, ihr auch die geringste Laune zu erfüllen, andererseits erschreckte er sie wieder durch sein grobes, ja manchmal hartes Verhalten. Er war zwar von ihrer Anhänglichkeit überzeugt, konnte aber ihr Zutrauen nie gewinnen. Sie war es gewohnt, ihre Empfindungen und Gedanken vor ihm zu verbergen, da sie nie sicher wußte, wie sie aufgenommen würden. Sie hatte keine Freundin und war ganz einsam aufgewachsen. Die Frauen und Töchter ihrer Nachbarn kamen nur selten zu Kirila Petrowitsch, denn die dort üblichen Gespräche und Belustigungen paßten nur für eine Gesellschaft von Männern, aber nicht für Damen. Unsere Schönheit erschien auch nur selten inmitten der Gäste, die bei Kirila Petrowitsch schmausten.

Eine riesige, hauptsächlich aus den Werken französischer Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts bestehende Bibliothek stand ihr ganz zur Verfügung. Ihr Vater, der außer dem Buch »Die vollkommene Köchin« niemals etwas las, konnte ihr bei der Auswahl der Bücher nie an die Hand gehen, so daß Mascha natürlicherweise, nachdem sie alles mögliche gelesen hatte, bei der Romanliteratur landete. Auf diese Art vervollkommnete sie die Erziehung, die einst unter der Führung von Mamsell Mimi begonnen hatte. Dieser Mamsell Mimi hatte Kirila Petrowitsch großes Vertrauen und Wohlwollen entgegengebracht, war aber schließlich genötigt gewesen, sie in aller Stille auf ein anderes Gut zu schicken, als die Folgen dieser Freundschaft allzu deutlich sichtbar wurden.

Mamsell Mimi hatte sehr angenehme Erinnerungen an sich hinterlassen. Sie war eine gutmütige Frau, die den Einfluß, den sie offensichtlich auf Kirila Petrowitsch ausübte, niemals zum Bösen mißbrauchte. Sie unterschied sich dadurch von den anderen Favoritinnen, die sehr häufig wechselten. Kirila Petrowitsch schien sie mehr geliebt zu haben als die anderen, und der schwarzäugige Knabe, ein Lausbub von sechs Jahren, dessen südländische Züge an Mamsell Mimi erinnerten, wurde in seinem Hause erzogen und als sein Sohn anerkannt, obwohl ein ganzes Rudel barfüßiger Kinder, die Kirila Petrowitsch ähnlich sahen wie ein Ei dem anderen, vor seinen Fenstern herumlief und zum Gesinde zählte. Kirila Petrowitsch ließ für seinen kleinen Sascha einen französischen Lehrer aus Moskau kommen, der während der hier geschilderten Ereignisse in Pokrowskoje eintraf.

Dieser Lehrer gefiel Kirila Petrowitsch durch sein angenehmes Äußeres und sein bescheidenes Benehmen. Er legte ihm Zeugnisse und einen Brief eines Verwandten der Trojekurows vor, bei dem er vier Jahre lang als Hofmeister gelebt hatte. Kirila Petrowitsch las alles aufmerksam durch und war nur mit der Jugend des Franzosen unzufrieden. Er nahm zwar nicht an, daß dieser liebenswerte Mangel mit der für den unglückseligen Beruf eines Lehrers so notwendigen Geduld und Erfahrung unvereinbar sei, vielmehr gingen seine Bedenken in anderer Richtung, und er entschloß sich, sie ihm auch sofort zu eröffnen. Zu diesem Zweck ließ er Mascha zu sich rufen (Kirila Petrowitsch sprach nicht Französisch, und sie diente ihm als Dolmetscherin).

»Komm her, Mascha, sag diesem Musjö, daß ich ihn also aufnehme, aber nur unter der Bedingung, daß er sich nicht untersteht, meinen Mägden nachzulaufen, sonst werde ich ihn, den Hundesohn . . . Übersetze ihm das, Mascha.«

Mascha errötete, wandte sich dem Lehrer zu und sagte ihm auf französisch, daß ihr Vater auf seine Bescheidenheit und anständige Aufführung rechne. Der Franzose verneigte sich und erwiderte, er hoffe, sich die Achtung zu verdienen, selbst wenn ihm die Gewogenheit versagt bleiben sollte. Mascha übersetzte diese Antwort Wort für Wort.

»Gut, gut«, sagte Kirila Petrowitsch. »Er braucht weder Gewogenheit noch Achtung. Seine Sache ist nur, sich um Sascha zu kümmern und ihm Arithmetik und Geographie beizubringen . . . Übersetze ihm das.«

Marja Kirilowna milderte in ihrer Übersetzung die groben Ausdrücke des Vaters, und Kirila Petrowitsch entließ den Franzosen in das Seitengebäude, wo ein Zimmer für ihn bereitgehalten war.

Mascha schenkte dem jungen Franzosen keinerlei Aufmerksamkeit. Sie war in aristokratischen Vorurteilen aufgewachsen, und daher war ein Lehrer für sie eine Art Diener oder Handwerker, und ein Diener oder Handwerker war für sie kein Mann. Sie bemerkte daher weder den Eindruck, den sie auf Deforge gemacht hatte, noch sein Erbeben, seine Verwirrung und die Veränderung seiner Stimme. Auf unerwartete Weise gewann sie von ihm aber ein ganz anderes Bild.

Im Hofe des Kirila Petrowitsch wurden gewöhnlich einige junge Bären aufgezogen, die eine der Hauptunterhaltungen des Gutsbesitzers von Pokrowskoje bildeten. In ihrer ersten Jugend wurden die kleinen Bären täglich in den Salon gebracht, wo Kirila Petrowitsch sich stundenlang mit ihnen unterhielt, indem er Katzen und junge Hunde auf sie hetzte. Wenn sie größer waren, wurden die Bären in Erwartung einer richtigen Hatz angekettet. Zuweilen führte man einen von ihnen vor die Fenster des Herrenhauses, wo man ihm ein leeres Weinfaß zurollte, das mit Nägeln bespickt war. Der Bär beschnupperte es und berührte es dann vorsichtig, zerstach sich die Tatzen, wurde wütend und stieß es noch heftiger von sich, wobei seine Schmerzen noch größer wurden. Er geriet in völlige Raserei und warf sich brüllend auf das Faß, bis man der armen Bestie den Gegenstand ihres fruchtlosen Wütens wegnahm. Es kam auch vor, daß man ein Paar Bären an einen Wagen spannte und dort Gäste hineinsetzte, ob sie wollten oder nicht. Dann ließ man die Bären rennen, wohin sie wollten. Als Hauptspaß galt aber bei Kirila Petrowitsch folgendes:

Ein ausgehungerter Bär wurde in ein leeres Zimmer eingesperrt, wo er mit einem Strick an einen in die Wand eingeschraubten Ring festgebunden wurde. Der Strick war fast so lang wie das ganze Zimmer, so daß nur die gegenüberliegende Ecke vor den Angriffen des schrecklichen Tieres Sicherheit bieten konnte. Für gewöhnlich brachte man einen Neuling vor die Tür dieses Zimmers, stieß ihn wie zufällig zu dem Bären hinein, verschloß die Tür und ließ das unglückliche Opfer mit dem haarigen Einsiedler allein. Der arme Gast fand sehr bald mit gerissenen Rockschößen und zerkratzter Hand den sicheren Winkel, wo er zuweilen drei Stunden lang an die Wand gepreßt zusehen mußte, wie das wütende Tier zwei Schritte vor ihm aufsprang, sich auf die Hinterbeine stellte, brüllte, sich würgte und alles aufbot, um an ihn heranzukommen. Das waren die edlen Vergnügungen eines russischen Herrn!

Einige Tage nach der Ankunft des Lehrers erinnerte sich Trojekurow seiner und beschloß, ihm mit dem Bärenzimmer aufzuwarten. Zu diesem Zweck ließ er ihn eines Morgens rufen und führte ihn durch dunkle Gänge; plötzlich öffnete sich eine Seitentür – zwei Diener stießen den Franzosen hinein und sperrten die Türe zu. Als der Lehrer wieder zu sich kam, sah er den angebundenen Bären. Die Bestie fing an zu schnauben und beschnüffelte ihren Gast aus der Ferne. Plötzlich erhob sie sich auf die Hinterbeine und ging auf ihn los . . .

Der Franzose ließ sich nicht aus der Fassung bringen; er lief nicht davon, sondern erwartete den Angriff. Der Bär kam näher. Da zog Deforge eine kleine Pistole aus der Tasche, setzte sie an das Ohr der hungrigen Bestie und drückte ab. Der Bär brach zusammen. Alles lief herbei, die Tür öffnete sich wieder – Kirila Petrowitsch trat ein, sehr überrascht von dem Erfolg seines Scherzes.

Kirila Petrowitsch verlangte unbedingt eine Klärung der ganzen Angelegenheit. Wer hatte Deforge auf den ihm zugedachten Schabernack vorbereitet oder warum hatte er eine geladene Pistole in der Tasche? Er schickte nach Mascha. Diese kam sofort und übersetzte dem Franzosen die Fragen des Vaters. »Ich hatte von dem Bären nichts gewußt«, antwortete Deforge, »aber ich trage immer Pistolen bei mir, weil ich auf keinen Fall eine Beleidigung einstecken will, für die ich bei meinem Stand keine Genugtuung fordern kann.«

Mascha sah ihn erstaunt an und übersetzte Kirila Petrowitsch seine Worte. Dieser sagte kein Wort dazu. Er ließ den Bären herausschleppen und ihm das Fell abziehen. Dann wandte er sich zu seinen Leuten und sagte: »Was für ein Kerl! Er hat gar keine Angst gehabt, bei Gott, er hat keine Angst gehabt!«

Von da an empfand er für Deforge eine gewisse Zuneigung und dachte nicht mehr daran, ihn auf die Probe zu stellen.

Einen noch größeren Eindruck hatte aber der Vorfall auf Marja Kirilowna gemacht. Ihre Phantasie wurde gereizt: sie sah den toten Bären und Deforge, der ruhig vor ihm stand und ohne jede Aufregung mit ihr sprach. Sie hatte erfahren, daß Tapferkeit und stolzes Selbstbewußtsein nicht ausschließlich ihrem Stande eigen waren. Seitdem begann sie dem jungen Lehrer eine Wertschätzung zu zeigen, die immer deutlicher zum Ausdruck kam. Allmählich kamen sie sich näher. Mascha besaß eine herrliche Stimme und hatte ein großes Talent für Musik. Deforge bot sich an, ihr Stunden zu geben. Nach all dem dürfte der Leser unschwer erraten, daß Mascha sich in ihn verliebte, ohne daß sie sich selber dessen bewußt war.

 

Am Tage vor dem Feste begannen die Gäste anzukommen. Die einen fanden im Herrenhause und in den Flügelgebäuden Unterkunft, andere beim Verwalter, wieder andere beim Popen oder bei wohlhabenden Bauern. Die Ställe waren voller Kutschpferde, in den Höfen und Remisen wimmelte es von Fahrzeugen aller Art. Um neun Uhr morgens riefen die Glocken zur Messe, und alle begaben sich in langem Zug zu der neuen steinernen Kirche, die von Kirila Petrowitsch erbaut worden war und zu deren Verschönerung er alljährlich neue Stiftungen machte.

Es hatte sich eine derartige Menge vornehmer Kirchenbesucher angesammelt, daß die einfachen Bauern in der Kirche keinen Platz mehr fanden und in der Vorhalle und Umfriedigung stehen mußten.

Der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen, man wartete auf Kirila Petrowitsch. Er kam in einem Sechsergespann angefahren und schritt wie ein Triumphator in Begleitung Marja Kirilownas auf seinen Platz. Die Blicke der Männer und Frauen waren auf sie gerichtet – jene bewunderten ihre Schönheit, diese musterten aufmerksam ihr prachtvolles Kleid.

Die Messe begann. Die Haussänger sangen im Chor. Auch Kirila Petrowitsch sang mit, betete, weder nach rechts noch nach links sehend, und verneigte sich in stolzer Demut bis zur Erde, als der Mesner mit lauter Stimme auch des Stifters dieses Tempels gedachte.

Nach Beendigung des Gottesdienstes trat Kirila Petrowitsch als erster zum Kuß des Kreuzes vor. Alle folgten ihm; die Nachbarn begrüßten ihn ehrerbietig, die Damen scharten sich um Mascha. Nachdem Kirila Petrowitsch die Kirche verlassen hatte, lud er alle zum Mittagessen ein, setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Alle folgten ihm. Die Zimmer waren voll von Gästen, jeden Augenblick kamen neue an und konnten sich nur mühsam zum Gastgeber vordrängen. Die Damen saßen in ihren altmodischen, abgetragenen, aber doch kostbaren Kleidern, mit Perlen und Brillanten geschmückt, steif im Halbkreis herum, die Männer drängten sich bei geräuschvoller, vielstimmiger Unterhaltung um Kaviar und Schnaps.

Im Saal wurde eine Tafel mit achtzig Gedecken hergerichtet. Die Diener eilten geschäftig hin und her, stellten Flaschen und Karaffen auf und strichen die Tischtücher glatt. Endlich rief der Haushofmeister: »Es ist angerichtet«, und Kirila Petrowitsch setzte sich als erster auf seinen Platz. Ihm folgten die Damen, die mit würdevoller Miene ihre Plätze einnahmen, wobei sie einen gewissen Altersrang beobachteten. Die jungen Damen drängten sich wie eine Herde scheuer Ziegen zusammen und wählten ihre Plätze nebeneinander. Ihnen gegenüber nahmen die Männer Platz, und am Ende der Tafel saß der Lehrer neben dem kleinen Sascha.

Die Diener begannen nach der Rangordnung zu servieren, wobei sie sich in Zweifelsfällen von lavaterschen Vermutungen leiten ließen und sich fast niemals irrten. Das Geklapper der Teller und Bestecke vermischte sich mit der lauten Unterhaltung der Gäste. Kirila Petrowitsch schaute gut gelaunt über seine Tafel hin und genoß vollkommen das Glück des Gastgebers. In diesem Augenblick fuhr eine mit sechs Pferden bespannte Kalesche in den Hof ein. »Wer ist das?« fragte der Hausherr. »Anton Pafelltitsch«, antworteten einige.

Die Tür ging auf – und Anton Pafelltitsch Spizyn, ein dicker Fünfziger mit rundem, pockennarbigem Gesicht, das mit einem dreifachen Kinn geziert war, wälzte sich unter Verbeugungen lächelnd ins Gastzimmer und entschuldigte sich wortreich.

»Ein Gedeck hierher!« schrie Kirila Petrowitsch. »Willkommen, Anton Pafelltitsch, nimm Platz. Aber sage uns, was soll denn das heißen? Du warst nicht in meiner Messe und kommst auch noch zu spät zum Essen? Das sieht dir nicht gleich, denn du bist sowohl ein Betbruder als auch ein guter Esser.« »Verzeihung«, antwortete Anton Pafelltitsch und steckte die Serviette in das Knopfloch seines erbsenfarbenen Rockes, »Verzeihung, Väterchen Kirila Petrowitsch, ich bin schon früh aufgebrochen, aber kaum war ich zehn Werst gefahren, da bricht mir auf einmal eine Speiche des Vorderrades. Was tun? Zum Glück war ein Dorf in der Nähe. Bis wir den Wagen dorthin schleppten, den Schmied fanden und den Schaden einigermaßen behoben, sind drei Stunden vergangen. Aber es war nichts zu machen. Den nächsten Weg über den Wald von Kistenjewka habe ich mich nicht zu fahren getraut und einen Umweg gemacht.« »Hehe!« unterbrach ihn Kirila Petrowitsch, »du bist, scheint mir, keiner von dem tapferen Dutzend . . . Wovor fürchtest du dich denn?« »Wie? Was ich fürchte, Väterchen Kirila Petrowitsch? Und dieser Dubrowskij? Ehe du dich dessen versiehst, fällst du ihm in die Hände. Er ist ein Mordskerl, der keinen durchläßt, und mir würde er die Haut wahrscheinlich zweimal abziehen.« »Wofür diese Bevorzugung, Bruder?« »Wofür, Väterchen Kirila Petrowitsch? Für den Prozeß des verstorbenen Andreij Gawrilowitsch. Habe ich denn nicht, um Ihnen einen Gefallen zu tun, das heißt nach bestem Wissen und Gewissen, bezeugt, – daß Dubrowskij nicht nach Recht und Gesetz, sondern einzig und allein dank Ihrer Nachsicht als Herr auf Kistenjewka sitzt? Und hat nicht der Verstorbene (Gott schenke ihm die ewige Ruhe) gelobt, auf seine Art mit mir abzurechnen? Das Söhnchen wird wahrscheinlich das Wort des Vaters einlösen. Bis jetzt war mir Gott gnädig. Im ganzen haben sie mir nur eine Scheuer geplündert, aber sie können sich, ehe man daran denkt, auch über das Herrenhaus hermachen.« »Ja, im Haus hätten sie alles reichlich«, unterbrach Kirila Petrowitsch, »auch die rote Schatulle wäre gestopft voll.« »Ja woher, Väterchen Kirila Petrowitsch, sie war voll, aber jetzt ist sie vollständig leer!« »Geh, lüg doch nicht so, Anton Pafelltitsch. Wir kennen dich doch. Wo soll denn bei dir das Geld hinkommen? Daheim lebst du wie in einem Saustall, empfängst keinen Menschen, und deine Bauern schindest du – du tust doch nichts als Geld zusammenscharren.« »Sie sind immer zu Scherzen aufgelegt, Väterchen Kirila Petrowitsch«, murmelte Anton Pafelltitsch lächelnd. »Aber wir haben uns, bei Gott, ruiniert.« Und Anton Pafelltitsch ließ sich auf den Scherz des Hausherrn hin ein fettes Stück Pastete gut schmecken.

Kirila Petrowitsch ließ von ihm ab und wandte sich dem neuen Kreishauptmann zu, der zum ersten Male als Gast zu ihm gekommen war und am anderen Ende der Tafel neben dem Lehrer saß. »Nun, wie steht's, Herr Kreishauptmann, werden Sie den Dubrowskij bald einfangen?«

Der Kreishauptmann machte eine verlegene Verbeugung, lächelte und sagte schließlich stotternd: »Wir bemühen uns, Eure Exzellenz.« »Hm! Wir bemühen uns. Ihr bemüht euch schon lange, sehr lange, aber es kommt trotzdem nichts dabei heraus. Doch es ist wahr, warum sollt ihr ihn auch einfangen? Die Räubereien Dubrowskijs sind ja ein wahrer Segen für die Kreishauptleute: da gibt es Dienstreisen, Untersuchungen, Zweispänner und Geld in der Tasche. Warum einem solchen Wohltäter den Garaus machen? Hab ich nicht recht, Herr Kreishauptmann?« »Absolut, Eure Exzellenz«, antwortete der vollkommen verwirrte Kreishauptmann. Die Gäste brachen in lautes Gelächter aus.

»Ich lobe den Kerl für seine Aufrichtigkeit«, sagte Kirila Petrowitsch. »Offenbar muß ich mich selbst der Sache annehmen und nicht erst lange auf die Unterstützung der hiesigen Behörde warten. Ach, wie schade, daß der Kreishauptmann Taras Alexejewitsch nicht mehr lebt. Wenn sie den nicht verbrannt hätten, wäre es in der ganzen Gegend ruhiger. Aber was hört man von Dubrowskij? Wo hat man ihn zuletzt gesehen?«

»Bei mir, Kirila Petrowitsch«, ertönte hierauf eine tiefe Frauenstimme. »Am vergangenen Dienstag hat er bei mir zu Mittag gespeist.«

Aller Augen waren auf Anna Sawischma Globowa gerichtet, eine ganz einfache Witwe, die sich wegen ihres gutmütigen und fröhlichen Wesens allgemeiner Beliebtheit erfreute. Alle hörten mit gespannter Aufmerksamkeit ihrer Erzählung zu.

»Also vor drei Wochen habe ich meinen Verwalter mit einem Brief an meinen Wanjuscha auf die Post geschickt. Ich verwöhne meinen Sohn nicht, ich könnte das auch nicht, selbst wenn ich wollte, aber Sie wissen selbst, daß ein Gardeoffizier standesgemäß leben muß, und ich teile meine Einnahmen mit Wanjuscha, so gut es eben geht. Ich habe ihm also zweitausend Rubel geschickt. Freilich habe ich öfters auch an Dubrowskij gedacht, aber ich meinte, die Stadt ist nicht weit entfernt, es sind im ganzen nur sieben Werst, und Gott wird vielleicht helfen.

Da schau, am Abend kommt mein Verwalter bleich und abgerissen zu Fuß zurück. Ich schreie auf: ›Was ist passiert? Was ist mit dir geschehen?‹ Er antwortete mir: ›Mütterchen Anna Sawischna, die Räuber haben mich ausgeplündert und beinahe umgebracht. Dubrowskij selber war dabei und wollte mich aufhängen, dann hat er aber doch Mitleid mit mir gehabt und mich laufen lassen. Dafür hat er mir alles abgenommen, auch das Pferd und den Wagen.‹

Ich war sprachlos. Mein himmlischer Vater, was wird aus meinem Wanjuscha? Aber es war nichts zu machen. Ich schrieb einen neuen Brief, in dem ich ihm alles erzählte und meinen Segen, aber keine Kopeke schickte.

Es verging eine Woche und noch eine. Auf einmal fährt ein Wagen in meinen Hof. Ein General wünscht mich zu sprechen; ich lasse ihn bitten. Ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann, braun, mit dunklem Haar, Schnurr- und Vollbart, das reinste Bild von Kulnew, trat bei mir ein. Er stellte sich mir als Freund und Kamerad meines verstorbenen Mannes Iwan Andrejewitsch vor und sagte, er sei hier vorgefahren und habe es nicht unterlassen wollen, seine Witwe zu besuchen, da er wisse, daß sie hier lebe.

Ich bewirtete ihn, so gut es ging; wir unterhielten uns über dies und jenes und endlich auch über Dubrowskij. Dabei erzählte ich ihm von meinem Verdruß. Der General bekam ein finsteres Gesicht.

›Das ist sonderbar‹, sagte er, ›ich habe gehört, daß Dubrowskij nicht jeden überfällt, sondern nur bekannte reiche Leute, und auch da nimmt er sich nur einen Teil und plündert sie nicht vollständig aus. Einer Mordtat beschuldigt ihn kein Mensch. Ob hier nicht eine Gaunerei vorliegt? Lassen Sie doch Ihren Verwalter herkommen.‹

Er wurde geholt und kam ins Zimmer. Kaum hatte er den General gesehen, da wurde er totenblaß.

›Erzähle mir mal, Brüderchen, wie Dubrowskij dich ausgeraubt hat und wie er dich aufhängen wollte!‹ Mein Verwalter fing an zu zittern und warf sich dem General zu Füßen: ›Verzeih, Väterchen, der Böse hat mich verleitet! Ich habe gelogen!‹ ›Wenn es so ist‹, antwortete der General, ›so erzähle gefälligst der Herrin, wie alles zugegangen ist, und ich will zuhören.‹

Der Verwalter konnte gar nicht zu sich kommen.

›Nun, wird's bald?‹ fuhr der General fort, ›erzähle! Wo bist du mit Dubrowskij zusammengetroffen?‹ ›Bei den zwei Linden, Väterchen, bei den zwei Linden.‹ ›Und was hat er zu dir gesagt?‹ ›Er hat mich gefragt, wem ich gehöre, wohin und warum ich fahre.‹ ›Nun, und dann?‹ ›Dann hat er den Brief und das Geld von mir verlangt. Ich habe ihm dann beides gegeben.‹ ›Und er?‹ ›Er . . . verzeiht, Väterchen!‹ ›Nun, was hat er getan?‹ ›Er hat mir Brief und Geld zurückgegeben und gesagt: Geh mit Gott und bring das zur Post.‹ ›Nun?‹ ›Verzeiht, Väterchen!‹ ›Ich werde mit dir schon abrechnen, mein Lieber‹, sagte der General drohend. ›Sie aber, gnädige Frau, lassen Sie den Koffer dieses Lumpen durchsuchen und übergeben Sie ihn mir, ich werde ihm eine entsprechende Lektion erteilen. Sie sollen wissen, daß Dubrowskij selbst Gardeoffizier war und keinem Kameraden ein Unrecht zufügen will.‹

Ich erriet, wer diese Exzellenz war, und da gab es nicht mehr viel zu reden. Die Kutscher banden den Verwalter am Bock des Wagens fest, das Geld wurde gefunden, und der General beendete seine Mahlzeit. Dann ist er gleich weitergefahren und hat den Verwalter mitgenommen. Wir haben ihn am anderen Tag im Wald gefunden. Er war an eine Eiche gefesselt und zerschunden wie eine junge Linde.«

Alle hatten der Erzählung von Anna Sawischna schweigend zugehört, besonders die jungen Damen. Viele von ihnen empfanden eine heimliche Sympathie für Dubrowskij, den sie wie einen Romanhelden verehrten, besonders Marja Kirilowna, die eine glühende, mit allen geheimnisvollen Schrecken der Romane gesättigte Schwärmerin war.

»Du glaubst also, Anna Sawischna, daß Dubrowskij selber bei dir gewesen ist?« fragte Kirila Petrowitsch. »Aber da bist du schwer im Irrtum. Ich weiß zwar nicht, wer dich besucht hat, aber Dubrowskij war es bestimmt nicht.« »Warum, Väterchen, soll es Dubrowskij nicht gewesen sein? Wer streift denn sonst auf den Straßen herum, hält die Reisenden an und durchsucht sie, wenn nicht er?«

»Ich weiß das nicht, aber Dubrowskij war es bestimmt nicht. Ich erinnere mich an ihn, wie er noch ein kleiner Bub war. Ob seine Haare inzwischen schwarz geworden sind, kann ich nicht sagen, aber damals war er ein lockiger, hellblonder Knabe. Auch das weiß ich sicher, daß Dubrowskij um fünf Jahre älter ist als meine Mascha und daß er infolgedessen nicht fünfunddreißig, sondern höchstens dreiundzwanzig Jahre alt sein kann.«

»Sehr richtig, Eure Exzellenz!« bemerkte der Kreishauptmann. »Ich habe die Personalbeschreibung Dubrowskijs in der Tasche. Dort heißt es tatsächlich, daß er dreiundzwanzig Jahre alt ist.«

»Aha!« sagte Kirila Petrowitsch. »Übrigens, lesen Sie uns das mal vor, wir hören zu. Es wird ganz gut sein, wir kennen diese Personalbeschreibung. Wenn er uns dann mal in die Hände fällt, wird er nicht mehr entkommen.«

Der Kreishauptmann nahm ein ziemlich fleckiges Blatt Papier aus der Tasche, legte es auseinander und begann mit singender Stimme zu lesen:

»Personalbeschreibung des Dubrowskij, aufgestellt nach den Angaben seiner früheren Dienstboten: Dreiundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, glattes Gesicht, Augen braun, Haare blond, Nase gerade. Besondere Kennzeichen: keine.«

»Ist das alles?« fragte Kirila Petrowitsch. »Jawohl«, antwortete der Kreishauptmann und faltete das Papier wieder zusammen.

»Gratuliere, Herr Kreishauptmann! Allen Respekt vor diesem Papier! Auf Grund dieser Personalbeschreibung wird es für euch ja gar kein Kunststück sein, Dubrowskij ausfindig zu machen! Wer ist nicht mittelgroß, wer hat keine blonden Haare, wer hat keine gerade Nase und wer keine braunen Augen? Ich gehe jede Wette ein, auf drei Stunden im Umkreis wirst du mit Dubrowskij sprechen und nicht herausbringen, mit wem dich der liebe Gott zusammengeführt hat. Kluge Köpfchen sind sie allesamt, diese Federfuchser, da ist nichts zu sagen!«

Der Kreishauptmann hatte sein Papier ergeben wieder eingesteckt und machte sich schweigend über ein Stück Gans mit Kohl her. Inzwischen hatten die Diener schon mehrmals Zeit gefunden, die Runde zu machen und den Gästen die Gläser zu füllen. Einige Flaschen kaukasischer und Donwein wurden geräuschvoll entkorkt und wohlwollend als Champagner hingenommen. Die Gesichter begannen sich zu erhitzen, die Unterhaltung wurde lauter, unzusammenhängender und lärmender. »Nein«, fuhr Kirila Petrowitsch fort, »einen Kreishauptmann, wie der selige Taras Alexejewitsch einer war, werden wir nicht mehr zu sehen bekommen! Der hat sich nicht so leicht anführen lassen und war keine Schlafmütze. Schade, daß sie diesen Prachtkerl verbrannt haben! Dem wäre nicht einer von der ganzen Bande entkommen! Er hätte jeden einzelnen erwischt, und auch Dubrowskij selbst hätte sich nicht herausgewunden. Taras Alexejewitsch hätte vielleicht von ihm Geld angenommen, ihn selber aber auch nicht mehr losgelassen. Das war so seine Art. Es ist schon so, ich muß mich offenbar selbst der Sache annehmen und mit meinen eigenen Leuten gegen die Räuber vorgehen. Fürs erste will ich mal zwanzig Mann ausrüsten, damit sie das Diebesnest säubern. Die Leute sind nicht feige; jeder von ihnen geht auf einen Bären los und wird also auch vor den Räubern nicht zurückweichen.«

»Wie geht es denn Ihren Bären, Väterchen Kirila Petrowitsch?« sagte Anton Pafelltitsch, der sich bei diesen Worten an seine haarigen Bekannten und einige Scherze erinnerte, deren Opfer er geworden war.

»Mischa hat das Zeitliche gesegnet«, antwortete Kirila Petrowitsch. »Er ist den Heldentod gestorben. Hier sein Besieger!« Kirila Petrowitsch deutete auf Deforge. »Da, nimm dir ein Beispiel an einem Franzosen. Er hat sich für deine . . . mit Verlaub zu sagen . . . weißt du noch?« »Wie soll ich es nicht mehr wissen?« sagte Anton Pafelltitsch und kratzte sich im Nacken. »Ich weiß es noch sehr gut. Also ist Mischa tot – schade um ihn, bei Gott, schade! Was war das für ein nettes, kluges Tier. So einen Bären wird man nicht leicht wieder finden. Aber warum hat ihn der Musjö getötet?«

Kirila Petrowitsch erzählte mit schmatzendem Behagen die Heldentat seines Franzosen, denn er besaß die glückliche Gabe, mit allem zu prahlen, was ihn umgab. Die Gäste hörten aufmerksam der Schilderung von Mischas Tod zu und schauten mit Staunen auf Deforge, der gar nicht merkte, daß man sich über seine Tapferkeit unterhielt, und, ruhig auf seinem Platz sitzend, seinem mutwilligen Zögling moralische Ermahnungen erteilte.

Das Mittagessen, das sich bis gegen drei Uhr hinzog, war beendet. Der Hausherr legte seine Serviette auf den Tisch, dann erhoben sich alle und begaben sich in den Salon, wo Karten, Kaffee und weitere Getränke sie erwarteten, von denen sie schon im Eßzimmer reichlich genossen hatten.

 

Gegen sieben Uhr abends wollten einige Gäste wegfahren, aber der vom Punsch angeheiterte Hausherr ließ die Tore schließen und erklärte, er lasse vor dem kommenden Morgen niemanden aus dem Hof. Bald ertönte Musik, die Saaltüren wurden geöffnet, und der Ball begann. Der Hausherr und seine nächste Umgebung setzten sich in eine Ecke, leerten ein Glas nach dem anderen und freuten sich über die Fröhlichkeit der Jugend. Die Alten saßen beim Kartenspiel. Wie überall da, wo keine Ulanenbrigade steht, gab es weniger Kavaliere als Damen. Daher wurden alle tanzfähigen Männer herangezogen. Unter ihnen zeichnete sich Deforge besonders aus. Er tanzte mehr als alle. Alle jungen Damen wählten ihn und fanden, daß mit ihm sehr angenehm zu walzen sei. Einige Runden tanzte er auch mit Marja Kirilowna, worüber die anderen jungen Damen spöttische Bemerkungen machten. Endlich, gegen Mitternacht, erhob sich der ermüdete Hausherr und unterbrach den Tanz mit dem Befehl, das Abendessen zu reichen. Er selbst ging schlafen.

Die Abwesenheit von Kirila Petrowitsch verlieh der Gesellschaft mehr Bewegungsfreiheit und Munterkeit. Die Kavaliere durften es jetzt wagen, neben den Damen Platz zu nehmen. Die Mädchen lachten und flüsterten mit ihren Nachbarn, und die älteren Damen unterhielten sich laut über den Tisch hin. Die Männer tranken, stritten und lachten, mit einem Wort, das Abendessen verlief außergewöhnlich lustig und hinterließ viele angenehme Erinnerungen.

Nur ein Mann nahm keinen Anteil an der allgemeinen Ausgelassenheit. Anton Pafelltitsch saß finster und schweigsam an seinem Platz, aß zerstreut und machte einen außergewöhnlich beunruhigten Eindruck. Die Gespräche über die Räuber hatten seine Phantasie stark erregt. Wir werden bald sehen, daß er reichlich Grund hatte, sie zu fürchten.

Anton Pafelltitsch hatte Gott zum Zeugen angerufen, daß die rote Schatulle tatsächlich leer sei. Er hatte nicht gelogen und gesündigt; die rote Schatulle war wirklich leer. Das sonst in dieser Schatulle aufbewahrte Geld war in einen Lederbeutel übergegangen, den er unter dem Hemd auf der Brust trug. Nur durch diese Vorsichtsmaßnahme konnte er das Mißtrauen und die ewige Angst beruhigen. Da er gezwungen war, in einem fremden Haus zu übernachten, fürchtete er, daß man ihm ein entlegenes Zimmer anweisen würde, in das leicht Diebe eindringen könnten. Er schaute daher nach einem zuverlässigen Schlafgenossen aus und wählte endlich Deforge. Sein Äußeres, das Kraft verriet, noch mehr aber die bewiesene Tapferkeit beim Zusammentreffen mit dem Bären, an den sich der arme Pafelltitsch nicht ohne Schaudern erinnern konnte, waren für seine Wahl entscheidend. Als man sich von der Tafel erhob, schwänzelte Anton Pafelltitsch um den jungen Franzosen herum und wandte sich schließlich mit den Worten an ihn:

»Hm! Hm! Musjö, könnte ich nicht in Ihrem Zimmer übernachten, weil ich, weißt du . . .«

»Que désire monsieur?« fragte Deforge mit höflicher Verneigung.

»Ach! Es ist ein Jammer, daß du noch nicht Russisch gelernt hast. Sche me wö sche wu kusche, verstehst du?«

»Monsieur, très volontiers«, antwortete Deforge, »veuillez donner des ordres en conséquence.«

Anton Pafelltitsch, mit seinen französischen Sprachkenntnissen sehr zufrieden, ging sofort hinaus, um das Notwendige zu veranlassen.

Die Gäste verabschiedeten sich voneinander, und jeder begab sich auf sein Zimmer; Anton Pafelltitsch aber ging mit dem Lehrer nach dem Flügelgebäude. Die Nacht war finster. Deforge beleuchtete den Weg mit einer Laterne. Anton Pafelltitsch folgte ihm ziemlich munter und tastete zuweilen nach dem auf seiner Brust ruhenden Beutel, um sich zu überzeugen, daß er sein Geld noch bei sich habe.

Als sie im Flügelbau angekommen waren, zündete Deforge eine Kerze an, und beide begannen sich auszukleiden. Dabei ging Anton Pafelltitsch im Zimmer umher und prüfte Tür und Fenster, und er schüttelte den Kopf. Die Tür war nur mit einem Riegel verschließbar, und am Fenster fehlte der Doppelrahmen. Er wollte sich darüber bei Deforge beklagen, aber seine Kenntnisse des Französischen waren für eine so ausführliche Erklärung nicht ausreichend. Der Franzose verstand ihn nicht, und so war Anton Pafelltitsch genötigt, seine Klage zu unterdrücken. Ihre Betten standen einander gegenüber. Beide legten sich nieder, und der Franzose löschte die Kerze aus.

»Purkua wu tusche, purkua wu tusche?« schrie Anton Pafelltitsch, indem er mühsam das russische Wort »tuschu« (ich lösche aus) auf französische Art beugte. »Ich kann im Finstern nicht dormir.« Deforge verstand seinen Ausruf nicht und wünschte ihm gute Nacht. »Verfluchter Ausländer!« brummte Spizyn und wickelte sich in seine Decke ein. »Wozu braucht er die Kerze auszulöschen. Um so schlimmer für ihn. Ich kann ohne Licht nicht schlafen. – Musjö, Musjö«, fuhr er fort, »sche wö awek wu parle.«

Aber der Franzose gab keine Antwort und fing alsbald an zu schnarchen.

»Da schnarcht diese Bestie von einem Franzosen«, dachte Anton Pafelltitsch, »aber ich kann an Schlaf gar nicht denken. Auf einmal kommen Diebe daher, reißen die Türe auf oder klettern durchs Fenster herein, und ihn, diese Bestie, kann man auch mit Kanonen nicht aufwecken. Musjö, he, Musjö! Der Teufel soll dich holen!« Anton Pafelltitsch schwieg. Müdigkeit und der in den Kopf gestiegene Wein siegten allmählich über seine Furchtsamkeit. Er schlummerte ein, und bald bemächtigte sich seiner ein tiefer Schlaf.

Es war ihm aber dann ein seltsames Erwachen beschieden. Er fühlte noch im Schlaf, wie jemand behutsam an seinem Hemdkragen zupfte. Anton Pafelltitsch schlug die Augen auf und sah im fahlen Licht des Herbstmorgens Deforge vor sich stehen. Der Franzose hielt in der einen Hand eine Taschenpistole, während er mit der anderen den inhaltsreichen Beutel abknüpfte.

Anton Pafelltitsch war starr.

»Kess ke se, Musjö, kess ke se«, sagte er mit ersterbender Stimme. »Leise! Still!« antwortete der Lehrer in reinstem Russisch. »Still! Oder Sie sind verloren! Ich bin Dubrowskij.«

 

Jetzt bitten wir den Leser um die Erlaubnis, ihm die letzten in unserer Erzählung geschilderten Ereignisse dadurch zu erläutern, daß wir ihm über einige vorausgegangene Vorkommnisse berichten, die wir bisher noch nicht darlegen konnten.

Auf der schon erwähnten Station X. im Hause des Posthalters saß in einer Ecke ein Reisender mit jener friedlichen und geduldigen Miene, die den Nichtadeligen oder Ausländer kennzeichnet, das heißt einen Mann, der auf der Poststraße nichts zu sagen hat. Sein kleiner Wagen stand im Hof und wartete auf das Schmieren der Räder. Dort lag ein kleiner Reisesack, der keineswegs auf größeren Wohlstand des Reisenden schließen ließ, der sich weder Tee noch Kaffee bestellte, sondern nur zum Fenster hinausschaute und zum großen Ärger der im Verschlag sitzenden Posthalterin ständig pfiff.

»Was hat uns der liebe Gott da für einen Pfeifer geschickt«, sagte sie halblaut. »Wie er pfeift! Platzen soll er, der verfluchte Ausländer!« »Was denn?« sagte der Posthalter. »Was schadet denn das? Laß ihn doch ruhig pfeifen.« »Was das schadet?« antwortete giftig die Posthalterin, »kennst du vielleicht die Vorbedeutung nicht?« »Was für eine Vorbedeutung?« »Daß das Pfeifen das Geld verscheucht.« »Ach, Pachomowna, ob bei uns einer pfeift oder nicht pfeift, ist ganz wurscht, wir haben so und so kein Geld.« »So laß ihn doch weiterfahren, Sidorytsch. Hältst du ihn zum Spaß hier? Gib ihm Pferde, er soll sich zum Teufel scheren.« »Er soll warten, Pachomowna. Im Stall sind im ganzen nur drei Dreigespanne, das vierte muß rasten. Ehe man sich umschaut, kommen vornehme Reisende, und ich will mir wegen dieses Franzosen da keine Unannehmlichkeiten auf den Hals laden. Horch! Man ist schon da! Da kommt schon einer angaloppiert! Oho! Und wie schnell! Ob das nicht ein General ist?« Ein Wagen hielt an der Rampe. Ein Diener sprang vom Bock, öffnete die Tür, und eine Minute später trat ein junger Mann in einem Militärmantel und weißer Mütze zum Posthalter. Hinter ihm kam der Diener mit einer Schatulle und stellte diese auf das Fensterbrett. »Pferde!« sagte der Offizier im Befehlston. »Sofort!« antwortete der Posthalter. »Bitte, den Reisepaß!« »Ich habe keinen Reisepaß. Ich reise ohne Papiere – kennst du mich etwa nicht?«

Der Posthalter wurde auf diese Bemerkung hin sehr diensteifrig und eilte hinaus, um die Postillione anzutreiben. Der junge Mann ging im Zimmer auf und ab, trat hinter den Verschlag und fragte die Posthalterin leise: »Wer ist denn dieser Reisende da?« »Das weiß der liebe Gott«, antwortete die Posthalterin, »es ist ein Franzose. Er wartet jetzt schon fünf Stunden auf Pferde und pfeift immer. Ich habe ihn satt, den verdammten Kerl.«

Der junge Mann sprach den Reisenden auf französisch an: »Wohin belieben Sie zu reisen?« fragte er ihn. »In die nächste Stadt«, antwortete der Franzose. »Von da fahre ich zu einem Gutsbesitzer, der mich als Lehrer angestellt hat, ohne daß ich mich vorgestellt habe. Ich glaubte, schon heute an Ort und Stelle zu kommen, aber der Herr Posthalter hat es anders beschlossen. In diesem Lande ist es schwer, Pferde zu bekommen, Herr Offizier.« »Bei welchem der hiesigen Gutsbesitzer wollen Sie denn eintreten?« fragte der Offizier. »Bei Herrn Trojekurow«, antwortete der Franzose. »Bei Trojekurow? Wer ist denn dieser Trojekurow?« »Ma foi, monsieur, ich habe von ihm wenig Gutes gehört. Man sagt, er sei ein stolzer und eigensinniger Herr, der seine Dienstboten sehr schlecht behandelt. Niemand könne sich mit ihm vertragen, und alle zittern schon bei Nennung seines Namens. Mit den Lehrern mache er ebenfalls keine Umstände und habe schon zwei totgeprügelt.« »Aber ich bitte Sie, und da wagen Sie es, bei einem solchen Ungeheuer in Stellung zu gehen?« »Was soll ich machen, Herr Offizier? Er hat mir ein hohes Gehalt angeboten, dreitausend Rubel jährlich und alles frei. Vielleicht habe ich mehr Glück als meine Vorgänger. Ich habe eine alte Mutter, der ich die Hälfte meines Einkommens zu ihrem Lebensunterhalt schicken will. Von dem übrigen Geld kann ich mir in fünf Jahren ein kleines Kapital ersparen, das genügen wird, um mich künftig unabhängig zu machen. Dann – bon soir – fahre ich nach Paris und fange ein Geschäft an.« »Kennt Sie jemand im Hause Trojekurows?« fragte der Offizier. »Kein Mensch«, antwortete der Lehrer. »Er hat mich aus Moskau über einen seiner Freunde bestellt, dessen Koch ein Landsmann von mir ist. Sie müssen wissen, daß ich eigentlich von Beruf kein Lehrer, sondern Konditor bin, aber man hat mir gesagt, daß in Ihrem Lande der Lehrerberuf bedeutend einträglicher sei.«

Der Offizier hatte ihm nachdenklich zugehört.

»Hören Sie«, unterbrach er den Franzosen, »wie wäre es, wenn man Ihnen statt dieser Zukunft bare zehntausend Rubel anbieten würde, unter der Bedingung, daß Sie sofort nach Paris zurückreisen?«

Der Franzose schaute den Offizier erstaunt an und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Die Pferde sind fertig!« sagte der eintretende Posthalter. Der Diener bestätigte diese Meldung.

»Gleich«, antwortete der Offizier, »geht einen Augenblick hinaus.« Der Posthalter und der Diener verließen das Zimmer. »Ich mache keinen Scherz«, fuhr er auf französisch fort, »ich kann Ihnen zehntausend Rubel geben. Ich brauche nur Ihre Abwesenheit und Ihre Papiere.«

Bei diesen Worten öffnete er die Schatulle und entnahm ihr einen Pack Banknoten. Der Franzose riß die Augen auf und wußte nicht, was er denken sollte.

»Meine Abwesenheit . . ., meine Papiere«, wiederholte er erstaunt. »Hier sind meine Papiere . . . Aber Sie scherzen doch nur? Wozu brauchen Sie meine Papiere?« »Das geht Sie nichts an. Ich frage Sie, sind Sie einverstanden oder nicht?« Der Franzose, der seinen Ohren immer noch nicht traute, überreichte dem Offizier seinen Paß, der ihn durchsah.

»Ihr Paß . . . gut, Ihr Empfehlungsschreiben . . . wollen mal sehen, Geburtszeugnis . . . ausgezeichnet. Hier haben Sie Ihr Geld, und nun reisen Sie zurück. Leben Sie wohl.« Der Franzose blieb wie angewurzelt stehen. Da kehrte der Offizier um und sagte: »Ich habe die Hauptsache vergessen: geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß die Sache unter uns bleibt . . . Ihr Ehrenwort.« »Mein Ehrenwort«, antwortete der Franzose. »Aber meine Papiere? Was mache ich ohne sie?« »Sie erklären in der nächsten Stadt, sie seien von Dubrowskij ausgeplündert worden. Man wird Ihnen glauben und Ihnen die notwendigen Legitimationen ausstellen. Leben Sie wohl; Gott helfe Ihnen, daß Sie möglichst bald nach Paris kommen und Ihr Mütterchen bei guter Gesundheit antreffen.« Dubrowskij verließ das Zimmer, stieg in seinen Wagen und fuhr im Galopp davon.

Der Posthalter schaute durch das Fenster, und als der Wagen weggefahren war, wandte er sich an seine Frau und rief: »Pachomowna! Weißt du was? Das war ja Dubrowskij!«

Die Posthalterin stürzte hastig ans Fenster, aber es war schon zu spät; Dubrowskij war über alle Berge. Da fing sie an, ihren Mann zu beschimpfen. »Du hast doch gar keine Gottesfurcht, Sidorytsch! Warum hast du das nicht früher gesagt? Ich hätte mir Dubrowskij angesehen, aber jetzt heißt es warten, bis er wiederkommt. Du bist ein gewissenloser Mensch, wirklich gewissenlos!«

Der Franzose stand immer noch wie angewurzelt da. Die Abmachung mit dem Offizier, das viele Geld – alles kam ihm vor wie ein Traum. Aber er hatte die Bündel Banknoten in der Tasche, und diese gaben ihm ein beredtes Zeugnis für die Wirklichkeit des wunderbaren Erlebnisses.

Er entschloß sich, bis zur Stadt Pferde zu mieten. Der Kutscher fuhr ihn im Schritt, und es wurde Nacht, bis er ihn in die Stadt geschleppt hatte.

Vor der Ankunft am Schlagbaum, an dem statt eines Wachtpostens ein verfallenes Schilderhaus stand, ließ der Franzose halten, stieg aus dem Wagen und ging zu Fuß weiter. Dem Kutscher hatte er durch Zeichen zu verstehen gegeben, daß er ihm den Wagen und seinen Reisesack als Trinkgeld schenke. Dieser war über eine solche Freigebigkeit nicht weniger erstaunt, als es der Franzose über den Vorschlag Dubrowskijs gewesen war. Da er aber daraus schloß, daß der Fremde verrückt geworden sei, dankte der Kutscher mit einer eifrigen Verbeugung, und weil er meinte, es sei besser, nicht in die Stadt hinein zu fahren, begab er sich in eine Kneipe, deren Wirt ein Freund von ihm war. Dort brachte er die ganze Nacht zu und machte sich am nächsten Morgen ohne Wagen und Reisetasche, aber mit geschwollenem Gesicht und geröteten Augen mit den Pferden allein auf den Heimweg.

Nachdem Dubrowskij die Papiere des Franzosen erhalten hatte, begab er sich, wie wir bereits gesehen haben, keck zu Trojekurow und ließ sich in dessen Haus nieder. Wie auch immer seine geheimen Absichten waren – wir werden sie später kennenlernen –, sein Verhalten erregte nicht den geringsten Verdacht. Mit der Ausbildung des kleinen Sascha befaßte er sich nur wenig. Er ließ ihm volle Freiheit für seine mutwilligen Streiche und nahm es auch mit den Aufgaben nicht streng, die er ihm nur der Form halber gab. Dagegen verfolgte er mit um so größerem Eifer die Fortschritte, die seine Schülerin in der Musik machte, und saß stundenlang mit ihr am Klavier.

Alle hatten den jungen Lehrer gern: Kirila Petrowitsch wegen seiner kühnen Gewandtheit auf der Jagd, Marja Kirilowna wegen seiner grenzenlosen Hingabe, Sascha wegen der Nachsicht gegenüber seinen Streichen, die Dienerschaft wegen seiner Liebenswürdigkeit und Freigebigkeit, die eigentlich mit seinem Stand nicht zu vereinbaren war. Er selbst schien der ganzen Familie zugetan und zählte sich bereits zu ihren Mitgliedern.

Seit seinem Eintritt bis zu dem denkwürdigen Fest war fast ein Monat vergangen, und kein Mensch vermutete, daß sich hinter dem bescheidenen jungen Franzosen der gefürchtete Räuber verbarg, dessen Name alle benachbarten Gutsbesitzer in Schrecken versetzte. Während dieser ganzen Zeit hatte Dubrowskij Pokrowskoje nie verlassen, aber die Gerüchte über seine Räubereien waren dank der erfinderischen Phantasie der Landbewohner trotzdem nicht verstummt. Es ist aber ebenso wahrscheinlich, daß seine Bande ihre Tätigkeit auch während der Abwesenheit ihres Anführers weiter ausübte.

Als Dubrowskij mit dem Mann in einem Zimmer übernachtete, den er als seinen persönlichen Feind und als den Hauptschuldigen an seinem Unglück ansehen mußte, vermochte er der Versuchung nicht zu widerstehen. Er wußte von dem Beutel und beschloß, sich seiner zu bemächtigen. Wir haben gesehen, wie er den armen Anton Pafelltitsch durch seine plötzliche Verwandlung vom Lehrer in einen Räuber überraschte.

 

Um neun Uhr morgens kamen die Gäste, die in Pokrowskoje übernachtet hatten, einer nach dem andern in den Salon, wo schon der Samowar summte, vor dem Marja Kirilowna in einem Morgenkleid saß und Kirila Petrowitsch in Friesrock und Pantoffeln aus einer großen, fast einer Spülschüssel ähnlichen Tasse seinen Tee schlürfte.

Als letzter erschien Anton Pafelltitsch. Er war so blaß und machte einen so verstörten Eindruck, daß sich alle über sein Aussehen wunderten und Kirila Petrowitsch sich nach seinem Befinden erkundigte. Spizyn gab ganz sinnlose Antworten und starrte entsetzt den Lehrer an, der ruhig dasaß, als ob nichts geschehen wäre.

Nach einigen Minuten kam ein Diener und meldete Spizyn, daß der Wagen bereitstehe. Anton Pafelltitsch verabschiedete sich hastig, ging rasch aus dem Zimmer und fuhr davon. Den Gästen und dem Hausherrn war es unverständlich, was mit ihm los war. Kirila Petrowitsch erklärte sich das Verhalten Spizyns damit, daß dieser sich beim Essen übernommen habe. Nach dem Tee und einem Abschiedsfrühstück fuhren auch die übrigen Gäste nach und nach heim. Bald war Pokrowskoje leer, und alles nahm wieder seinen üblichen Gang.

Nun verstrichen einige Tage ohne irgendein bemerkenswertes Ereignis. Das Leben der Bewohner von Pokrowskoje war eintönig. Kirila Petrowitsch fuhr jeden Tag auf die Jagd; Lesen, Spaziergänge und Musikstunden, diese ganz besonders, beschäftigten Marja Kirilowna. Bei einer gewissenhaften Selbstprüfung mußte sie sich, wenn auch widerwillig, gestehen, daß sie den Vorzügen des jungen Franzosen gegenüber nicht gleichgültig geblieben war. Er selbst überschritt niemals die Grenzen der Ehrerbietung und strengen Schicklichkeit, wodurch er ihren Stolz und ihre ängstlichen Zweifel beruhigte. Mit immer größerem Vertrauen gab sie sich der bezaubernden Gewohnheit hin. Sie langweilte sich ohne Deforge; in seiner Gegenwart war sie immer mit ihm beschäftigt. Über alles wollte sie seine Meinung wissen, und sie war immer mit ihm einverstanden. Vielleicht war sie noch nicht verliebt, aber beim ersten zufälligen Widerstand oder einer unerwarteten Schicksalsfügung mußte die Flamme der Leidenschaft in ihrem Herzen hell auflodern.

Eines Tages, als Marja Kirilowna in den Saal kam, wo der Lehrer sie erwartete, bemerkte sie an seinem bleichen Gesicht, daß er sehr aufgeregt war. Sie öffnete den Flügel und sang einige Noten, aber Dubrowskij entschuldigte sich mit dem Vorgeben, er habe Kopfschmerzen. Er hörte mit dem Unterricht auf, und während er das Notenbuch zuklappte, drückte er ihr verstohlen einen Zettel in die Hand. Marja Kirilowna kam gar nicht zum Besinnen; sie nahm ihn an, bereute es aber sofort. Inzwischen hatte aber Dubrowskij den Saal schon verlassen. Marja Kirilowna ging auf ihr Zimmer, öffnete den Zettel und las folgendes: »Kommen Sie heute abend um sieben Uhr in die Laube am Bach, ich muß Sie unbedingt sprechen.«

Sie war vor Neugierde sehr erregt. Schon längst hatte sie eine Erklärung erwartet, gewünscht, aber auch gefürchtet. Es wäre ihr angenehm gewesen, eine Bestätigung dessen zu vernehmen, was sie ahnte, aber sie fühlte, daß es für sie unschicklich sei, eine Erklärung von einem Mann entgegenzunehmen, der nach seinem Stand niemals damit rechnen konnte, ihre Hand zu erhalten. Sie beschloß, zu diesem Stelldichein zu gehen, war sich aber in dem einen Punkt unschlüssig: wie sollte sie die Erklärung des Lehrers entgegennehmen? Mit aristokratischer Entrüstung, mit freundschaftlicher Verwarnung, mit einigen Scherzworten oder mit wortloser Teilnahme? Inzwischen sah sie alle Augenblicke nach der Uhr. Es wurde dunkel, und man brachte Kerzen. Kirila Petrowitsch hatte sich hingesetzt, um mit Gästen aus der Nachbarschaft Boston zu spielen. Die Uhr im Speisezimmer schlug dreiviertel sieben. Marja Kirilowna ging leise auf die Freitreppe hinaus, sah sich nach allen Seiten um und lief schnell in den Garten.

Die Nacht war finster, der Himmel mit Wolken bedeckt, so daß man keine drei Schritte weit sehen konnte. Aber Marja Kirilowna ging auf den ihr wohlbekannten Wegen und war schon nach wenigen Minuten vor der Laube. Hier blieb sie stehen, um zu sich zu kommen und vor Deforge in gleichmütiger und gemessener Haltung zu erscheinen. Aber Deforge stand schon vor ihr. »Ich danke Ihnen«, sagte er mit leiser, trauriger Stimme, »daß Sie mir meine Bitte nicht abgeschlagen haben. Ich wäre verzweifelt gewesen, wenn Sie mir abgesagt hätten.« Marja Kirilowna antwortete mit der vorbereiteten Phrase: »Ich hoffe, daß Sie mich nicht in die Lage versetzen, mein Entgegenkommen zu bereuen.«

Er schwieg und schien Mut zu sammeln.

»Die Umstände fordern – ich muß Sie verlassen«, sagte er schließlich, »Sie werden vielleicht bald erfahren . . . aber vor der Trennung muß ich mich mit Ihnen aussprechen.« Marja Kirilowna gab keine Antwort. Sie sah in diesen Worten nur die Einleitung zu der erwarteten Erklärung. »Ich bin nicht derjenige, für den Sie mich halten«, fuhr er fort und ließ den Kopf sinken, »ich bin nicht der Franzose Deforge, ich bin – Dubrowskij.«

Marja Kirilowna schrie auf.

»Um Gottes willen, fürchten Sie sich nicht! Sie brauchen meinen Namen nicht zu fürchten. Ja, ich bin jener Unglückliche, den Ihr Vater, nachdem er ihm das letzte Brot weggenommen hat, aus dem Vaterhaus vertrieben und gezwungen hat, unter die Räuber zu gehen. Aber Sie brauchen nichts zu fürchten, weder für sich noch für ihn. Es ist alles vorüber . . . ich habe ihm verziehen. Hören Sie, Sie haben ihn gerettet. Meine erste blutige Heldentat hätte ihm gelten sollen. Ich schlich um das Haus herum, um festzustellen, wo das Feuer aufflammen sollte, wo man in sein Schlafzimmer eindringen und ihm jeden Fluchtweg versperren könnte. Da gingen Sie wie eine himmlische Erscheinung an mir vorüber, und Friede zog in mein Herz. Das Haus, in dem Sie wohnen, wurde mir zum Heiligtum, und kein Wesen, das mit Ihnen durch die Bande des Blutes verbunden war, unterlag mehr meinem Fluch. Ich entsagte meinen Rachegelüsten wie einer wahnsinnigen Idee.

Tagelang streifte ich um die Gärten von Pokrowskoje, in der Hoffnung, von weitem Ihr weißes Kleid zu sehen. Bei Ihren unvorsichtigen Spaziergängen folgte ich Ihnen, stahl mich von Strauch zu Strauch, beglückt durch den Gedanken, daß es dort, wo ich heimlich zugegen bin, für Sie keine Gefahr gebe. Endlich bot sich eine Gelegenheit . . . Ich ließ mich in Ihrem Hause nieder. Diese Wochen waren für mich Wochen des Glückes; die Erinnerung daran wird der Trost meines traurigen Lebens sein . . . Heute habe ich eine Nachricht erhalten, die mein ferneres Hierbleiben unmöglich macht . . . Ich scheide von Ihnen heute, noch in dieser Stunde . . . aber ich mußte mich Ihnen vorher entdecken, damit Sie mich nicht verfluchen und nicht verachten. Denken Sie zuweilen an Dubrowskij. Sie sollen wissen, daß er für eine andere Bestimmung geboren wurde, daß sein Herz Sie hätte lieben können, daß niemals . . .«

Hier ertönte ein lauter Pfiff, und Dubrowskij verstummte. Er ergriff ihre Hand und drückte sie an seine glühenden Lippen. Der Pfiff ertönte zum zweiten Mal.

»Leben Sie wohl«, sagte Dubrowskij. »Man ruft mich; jede Minute kann mein Verderben bringen . . .« Er entfernte sich. Marja Kirilowna stand unbeweglich da. Dubrowskij kam nochmals zurück und ergriff ihre Hand. »Wenn Sie«, sagte er mit zärtlicher Stimme, »wenn Sie einmal ein Unglück trifft und Sie von keiner Seite Hilfe oder Schutz erwarten können, wollen Sie mir versprechen, in diesem Fall sich an mich zu wenden und von mir alles zu Ihrer Rettung Dienliche zu verlangen? Versprechen Sie mir, meine Ergebenheit nicht zurückzuweisen?« Marja Kirilowna weinte wortlos. Der Pfiff ertönte zum dritten Male. »Sie richten mich zugrunde!« sagte Dubrowskij. »Ich verlasse Sie nicht, ehe Sie mir Antwort gegeben haben — versprechen Sie es mir oder nicht?« »Ich verspreche es«, flüsterte die arme Schöne.

Als Marja Kirilowna, die das Zusammentreffen mit Dubrowskij stark erregt hatte, aus dem Garten zurückkam, sah sie, daß sich im Hof eine Menge Leute angesammelt hatten. An der Freitreppe stand ein Dreigespann. Von den Dienstboten war niemand anwesend, das ganze Haus war in Bewegung. Von weitem hörte sie die Stimme ihres Vaters. Schnell eilte sie in die Wohnräume in Furcht, ihre Abwesenheit könnte bemerkt werden. Im Saal begegnete ihr Kirila Petrowitsch. Die Gäste hatten unseren Bekannten, den Kreishauptmann, umringt und bestürmten ihn mit Fragen. Der Kreishauptmann, im Reiseanzug und bis an die Zähne bewaffnet, antwortete ihnen mit geheimnisvoller und wichtigtuerischer Miene.

»Wo warst du, Mascha?« fragte Kirila Petrowitsch. »Ist dir vielleicht Deforge begegnet?« Mascha konnte nur mühsam eine verneinende Antwort geben. »Denk dir nur«, fuhr Kirila Petrowitsch fort, »der Kreishauptmann ist gekommen, um ihn zu verhaften. Er behauptet steif und fest, daß er – Dubrowskij selbst sei.« »Alle Kennzeichen stimmen, Exzellenz«, sagte der Kreishauptmann ehrerbietig. »Ach, Bruder«, unterbrach ihn Kirila Petrowitsch, »scher dich doch – du weißt schon wohin – mit deinen Kennzeichen. Ich liefere dir meinen Franzosen nicht aus, ehe ich die Geschichte nicht selbst untersucht habe. Wie kann man nur auf das Gerede von Anton Pafelltitsch etwas geben. Er ist ein Feigling und ein Bauer. Er hat geträumt, daß ihn der Lehrer berauben wollte. Warum hat er denn nicht gleich am anderen Morgen ein Wort zu mir gesagt?« »Der Franzose hat ihn eingeschüchtert, Exzellenz«, antwortete der Kreishauptmann. »Er hat ihm den Schwur abgenommen, daß er nichts sagen werde.« »Dummes Geschwätz«, entschied Kirila Petrowitsch. »Ich werde die ganze Sache gleich aufklären. Wo ist der Lehrer?« fragte er einen eintretenden Diener. »Er ist nirgends zu finden«, antwortete dieser. »So sucht ihn!« schrie Kirila Petrowitsch, dem jetzt doch Zweifel kamen. »Zeig mir deine gepriesenen Kennzeichen«, sagte er zum Kreishauptmann, der ihm sofort das Papier überreichte. »Hm! Hm! Dreiundzwanzig Jahre und so weiter. Stimmt. Aber das beweist noch gar nichts. Wo ist der Lehrer?« »Nicht zu finden«, lautete die Antwort abermals.

Kirila Petrowitsch wurde unruhig. Mascha war mehr tot als lebendig.

»Du bist bleich, Mascha«, sagte der Vater. »Hat man dich erschreckt?« »Nein, Väterchen«, antwortete Mascha, »ich habe Kopfschmerzen.« »Geh auf dein Zimmer, Mascha, und rege dich nicht auf.«

Mascha küßte ihm die Hand und begab sich schnell auf ihr Zimmer. Dort warf sie sich in ihr Bett und schluchzte in einem heftigen Weinkrampf. Die Mägde liefen herbei, entkleideten sie, und es gelang ihnen unter großen Mühen, sie mit kaltem Wasser, Essig und allerlei Essenzen zu beruhigen. Man brachte sie zu Bett, und sie schlief ein.

Indessen hatte man den Franzosen immer noch nicht gefunden. Kirila Petrowitsch ging in seinem Zimmer auf und ab und pfiff laut »Siegesdonner erschalle«. Die Gäste wisperten untereinander. Der Kreishauptmann schien wieder der Dumme zu sein; der Franzose war unauffindbar. Wahrscheinlich war er von irgendeiner Seite gewarnt worden und hatte Zeit gefunden, sich zu verbergen. Aber von wem und wie? Das blieb ein Geheimnis.

Es war elf Uhr geworden, und niemand dachte ans Schlafengehen. Endlich sagte Kirila Petrowitsch giftig zum Kreishauptmann: »Nun, was gibt's? Du kannst doch nicht bis morgen früh hier bleiben; mein Haus ist kein Wirtshaus. Mit deiner Gewandtheit fängt man keinen Dubrowskij, wenn er schon Dubrowskij sein soll. Fahre heim und sei in Zukunft geschickter. Und auch für euch ist es Zeit«, fuhr er, zu den Gästen gewandt, fort. »Laßt anspannen, ich will schlafen gehen.« So ungnädig trennte sich Trojekurow von seinen Gästen.

 

Einige Zeit verstrich ohne bemerkenswerte Ereignisse. Aber am Anfang des darauffolgenden Sommers kam es zu vielen Veränderungen im Familienleben von Kirila Petrowitsch.

Etwa dreißig Werst von ihm entfernt befand sich das reiche Besitztum des Fürsten Wereiskij. Der Fürst war lange Zeit in fremden Ländern gewesen. Sein Vermögen verwaltete ein abgedankter Major, und zwischen Pokrowskoje und Arbatowo bestanden keinerlei Beziehungen. Aber Ende Mai war der Fürst aus dem Ausland zurückgekehrt und auf sein Gut gekommen, das er zeit seines Lebens noch nie gesehen hatte. Er war an Zerstreuungen gewöhnt, und die Einsamkeit des Landlebens war ihm unerträglich. Daher begab er sich schon am dritten Tage nach seiner Ankunft zum Mittagessen zu Trojekurow, mit dem er früher einmal bekannt gewesen war.

Der Fürst war etwa fünfzig Jahre alt, aber er machte einen bedeutend älteren Eindruck. Ausschweifungen aller Art hatten seine Gesundheit untergraben und ihm ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Er brauchte ständig Zerstreuungen und langweilte sich immer. Trotzdem war sein Äußeres angenehm und bemerkenswert, und die Gewohnheit, stets in Gesellschaft zu sein, verlieh ihm eine gewisse Liebenswürdigkeit namentlich Frauen gegenüber. Kirila Petrowitsch war über seinen Besuch höchst erfreut, da er ihn als Zeichen der Achtung eines Weltmannes wertete. Seiner Gewohnheit gemäß unterhielt er den Gast mit der Besichtigung seiner Einrichtungen und führte ihn auch in den Hundezwinger. Aber der Fürst erstickte schier in dieser Hundeatmosphäre und beeilte sich fortzukommen, wobei er sein mit Parfüm besprengtes Taschentuch vor die Nase hielt. Der altmodische Garten mit den gestutzten Linden, dem viereckigen Teich und den schnurgeraden Alleen gefiel ihm auch nicht. Er schwärmte für englische Gärten und die sogenannte Natur. Aber er stellte sich trotzdem, als ob ihm alles recht gut gefiele, und sparte nicht mit Lob. Ein Diener meldete, daß das Essen serviert sei, und man begab sich ins Haus. Der Fürst, den der Rundgang ermüdet hatte, hinkte ein wenig, und es reute ihn schon, diesen Besuch gemacht zu haben.

Aber im Saal traf er auf Marja Kirilowna, – und der alte Schwerenöter war von ihrer Schönheit betroffen. Trojekurow ließ seinen Gast neben ihr Platz nehmen, und der Fürst lebte in ihrer Gegenwart auf.

Er war aufgeräumt und fand durch seine interessanten Schilderungen Gelegenheit, mehrmals die Aufmerksamkeit Maschas auf sich zu ziehen. Nach dem Mittagessen schlug Kirila Petrowitsch einen Spazierritt vor, aber der Fürst entschuldigte sich mit dem Hinweis auf seine Samtstiefel und mit einem Scherz über seine Gicht. Er brachte eine Spazierfahrt in einem Jagdwagen in Vorschlag, um von seiner schönen Nachbarin nicht getrennt zu werden. Der Wagen kam, die Alten setzten sich mit der Schönen hinein, und man fuhr fort. Die Unterhaltung riß nicht ab. Marja Kirilowna hörte mit Vergnügen die schmeichelhaften und humorvollen Bemerkungen an, die dieser Weltmann an sie richtete. Plötzlich wandte sich Wereiskij mit der Frage an Kirila Petrowitsch, was dieses abgebrannte Gebäude zu bedeuten habe und ob es ihm gehöre. Kirila Petrowitsch machte ein finsteres Gesicht. Die Erinnerungen, die der abgebrannte Herrensitz in ihm wachrief, waren ihm unangenehm. Er erwiderte, daß das Land jetzt sein Eigentum sei und früher Dubrowskij gehört habe. »Dubrowskij?« wiederholte Wereiskij. »Wie, diesem berühmten Räuber?« »Seinem Vater«, antwortete Trojekurow, »aber auch der Vater war ein richtiger Räuber.« »Wohin wird wohl unser Rinaldo verschwunden sein? Hat man ihn gefaßt und lebt er überhaupt noch?« »Er lebt und ist frei, und solange es bei uns Schufte und Gauner als Kreishauptleute gibt, solange wird er nicht erwischt werden. Übrigens, Fürst! Dubrowskij ist doch auch bei dir in Arbatowo gewesen?« »Ja, im vorigen Jahr hat er meines Wissens etwas verbrannt und ausgeraubt. Nicht wahr, Marja Kirilowna, es müßte doch interessant sein, diesen romantischen Helden näher kennenzulernen?« »Was, interessant!« sagte Trojekurow. »Sie kennt ihn ja. Er hat ihr drei Wochen lang Musikunterricht gegeben, aber, Gott sei Dank, nichts dafür genommen.«

Hier begann Kirila Petrowitsch seine Erzählung von dem falschen Lehrer. Marja Kirilowna saß wie auf Nadeln. Wereiskij hörte sehr aufmerksam zu, fand alles sehr seltsam und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Als sie zurückgekommen waren, verlangte er sofort seinen Wagen und empfahl sich trotz der dringenden Bitten Kirila Petrowitschs, über Nacht zu bleiben, gleich nach dem Tee. Vorher aber hatte er Kirila Petrowitsch gebeten, ihn mit Marja Kirilowna zu besuchen. Der stolze Trojekurow versprach das, denn angesichts des fürstlichen Ranges, der zwei Ordenssterne und der dreitausend Seelen seines Erbgutes hielt er den Fürsten doch bis zu einem gewissen Grad für seinesgleichen.

 

Zwei Tage nach dem Besuch des Fürsten begab sich Kirila Petrowitsch mit seiner Tochter zum Gegenbesuch dorthin. Als sie auf Arbatowo zufuhren, konnte er nicht umhin, die sauberen und freundlichen Bauernhäuser und das steinerne Herrenhaus zu bewundern, das im Stil der englischen Schlösser erbaut war. Vor dem Haus erstreckte sich eine ovale, tiefgrüne Wiese, auf der Schweizer Kühe mit ihren klingenden Glocken weideten. Ein ausgedehnter Park umgab das Haus von allen Seiten. Der Hausherr empfing die Gäste auf der Freitreppe und reichte der jungen Schönen den Arm. Sie traten in einen prächtigen Saal, wo der Tisch für drei gedeckt war. Der Fürst führte seine Gäste zum Fenster, wo sich ihnen eine entzückende Aussicht bot, im Hintergrund die Wolga; beladene Barken mit geblähten Segeln fuhren auf ihr dahin, und jene Fischerboote flitzten vorbei, die so bezeichnend »Seelenverkäufer« genannt werden. Jenseits des Flusses dehnten sich Hügel und Felder; mehrere Dörfer machten das Bild der Gegend noch lebendiger.

Dann ging man an die Besichtigung der Galerie von Gemälden, die der Fürst im Ausland erworben hatte. Er erklärte Marja Kirilowna ihre Vorzüge und Mängel. Er tat dies aber nicht in der üblen Sprache eines lehrhaften Kenners, sondern mit Gefühl und Phantasie, so daß ihm Marja Kirilowna mit Vergnügen zuhörte. Dann ging man zu Tisch. Trojekurow ließ den Weinen seines Amphitrio und der Kunst seines Koches volle Gerechtigkeit widerfahren, und Marja Kirilowna unterhielt sich mit dem Mann, den sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben sah, vollkommen zwanglos und unbefangen.

Nach dem Essen schlug der Hausherr den Gästen vor, in den Garten zu gehen. Sie tranken Kaffee in einer Laube am Ufer eines großen Sees, in dem zahlreiche Inseln lagen. Plötzlich ertönte Musik von Blasinstrumenten, und ein Boot mit sechs Ruderern legte unmittelbar vor der Laube an. Dann fuhren sie auf den See um die Inseln herum und besuchten einige davon. Auf der einen fanden sie eine Marmorstatue, auf der anderen eine einsame Grotte, auf der dritten ein Denkmal mit einer geheimnisvollen Inschrift, die die mädchenhafte Neugier Marja Kirilownas erregte, die jedoch nicht befriedigt wurde, da sich der Fürst nur auf höfliche Andeutungen beschränkte.

Unmerklich verrann die Zeit, und es fing an zu dunkeln. Unter dem Vorwand, daß es zu kühl und taufeucht werde, beschleunigte der Fürst die Rückkehr ins Haus, wo sie schon der Samowar erwartete. Der Fürst bat Marja Kirilowna, im Hause eines alten Junggesellen die Rolle der Hausfrau zu übernehmen. Sie goß den Tee ein und hörte den unerschöpflichen Erzählungen des liebenswürdigen Schwätzers zu. Auf einmal krachte ein Schuß – eine Rakete erhellte den Himmel . . . Der Fürst reichte Marja Kirilowna einen Schal und bat sie und Trojekurow auf den Balkon. Vor dem Hause flammten im Dunkel buntfarbige Feuer auf, kreisten, stiegen als Garben in die Höhe, ergossen sich in Fontänen und sprühten herab, erloschen und flammten wieder auf. Marja Kirilowna ergötzte sich an dem Feuerwerk wie ein Kind. Fürst Wereiskij freute sich über ihr Entzücken, und Trojekurow war außerordentlich zufrieden, da er es als Zeichen der Hochachtung und des Wunsches hinnahm, jenem zu gefallen.

Das Abendessen stand in seiner Güte dem Mittagessen nicht nach. Die Gäste begaben sich in die für sie bereitgestellten Zimmer und verließen am anderen Morgen den liebenswürdigen Hausherrn, wobei sie sich gegenseitig versprachen, sich bald wieder zu treffen.

 

Marja Kirilowna saß, mit einer Stickerei beschäftigt, am offenen Fenster ihres Zimmers.

Plötzlich streckte sich eine Hand behutsam zum Fenster herein. Jemand legte einen Brief auf den Stickrahmen und war verschwunden, ehe Marja Kirilowna sich dessen versah. In demselben Augenblick trat ein Diener ins Zimmer und rief sie zu Kirila Petrowitsch. Zitternd verbarg sie den Brief unter dem Brusttuch und begab sich eilig zu ihrem Vater ins Arbeitszimmer. Kirila Petrowitsch war nicht allein, der Fürst Wereiskij saß bei ihm. Beim Eintritt Marja Kirilownas erhob er sich und verneigte sich schweigend in einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Verlegenheit.

»Komm her, Mascha«, sagte Kirila Petrowitsch, »ich habe dir eine Neuigkeit mitzuteilen, die dich, wie ich hoffe, freuen wird. Hier ist dein Bräutigam, der Fürst hat um deine Hand angehalten.«

Mascha war starr vor Bestürzung, Totenblässe überzog ihr Gesicht. Sie schwieg. Der Fürst ging auf sie zu, nahm sie bei der Hand und fragte sie bewegt, ob sie einwillige, ihn glücklich zu machen. Mascha sagte kein Wort.

»Sie willigt ein, natürlich willigt sie ein«, sagte Kirila Petrowitsch. »Aber du mußt wissen, Fürst, einem jungen Mädchen fällt es schwer, dieses Wort auszusprechen. Nun, Kinder, küßt euch und werdet glücklich.«

Mascha stand unbeweglich da. Der alte Fürst küßte ihr die Hand. Plötzlich rannen Tränen über ihr blasses Gesicht. Dem Fürsten wurde es unbehaglich.

»Geh, geh, geh!« sagte Kirila Petrowitsch. »Trockne deine Tränen und komm vergnügt zu uns zurück. Sie weinen alle bei der Verlobung«, fuhr er, zu Wereiskij gewandt, fort, »das ist schon so Brauch bei ihnen. Jetzt aber wollen wir sachlich miteinander reden, das heißt von der Mitgift.«

Marja Kirilowna machte sogleich von der Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen, Gebrauch. Sie rannte in ihr Zimmer, wo sie ihren Tränen freien Lauf ließ bei dem Gedanken, die Frau des alten Fürsten werden zu müssen. Er kam ihr jetzt auf einmal widerwärtig vor . . . Sie schreckte vor einer Ehe mit ihm zurück wie vor dem Schafott oder vor dem Grab. »Nein, nein!« wiederholte sie verzweifelt, »lieber ins Kloster, lieber heirate ich Dubrowskij!«

Da fiel ihr der Brief ein, und in der Ahnung, daß er von ihm sei, machte sie sich hastig daran, ihn zu lesen. In der Tat hatte er ihn geschrieben. Der Brief enthielt nur folgende Worte: »Heute um neun Uhr abends an dem bekannten Platz.«

Der Mond schien, im Dorf herrschte nächtliche Stille, nur zuweilen erhob sich ein Lüftchen, und leise rauschten die Bäume.

Wie ein leichter Schatten näherte sich die junge Schöne dem Platz des bestimmten Zusammentreffens. Es war noch niemand zu sehen. Plötzlich trat Dubrowskij hinter der Laube hervor.

»Ich weiß alles«, sagte er mit leiser, trauriger Stimme. »Erinnern Sie sich an Ihr Versprechen?« »Sie bieten mir Ihren Schutz an?« antwortete Marja Kirilowna, »aber, seien Sie nicht böse, ich habe Angst davor. Auf welche Weise wollen Sie mir helfen?« »Ich könnte Sie von dem verhaßten Mann befreien.« »Um Gottes willen, rühren Sie ihn nicht an! Wagen Sie es nicht, ihn anzurühren, wenn Sie mich lieben. Ich will nicht die Ursache irgendeiner Schreckenstat sein . . .« »Ich werde ihn nicht anrühren. Ihr Wille ist mir heilig. Er verdankt Ihnen sein Le- ben. Niemals wird eine Untat in Ihrem Namen verübt werden. Sie sollen rein bleiben selbst in meinem Verbrechen. Aber wie soll ich Sie vor Ihrem grausamen Vater retten?« »Ich habe noch eine Hoffnung: ihn mit meinen Tränen und meiner Verzweiflung zu rühren. Er ist eigensinnig, aber er hat mich sehr lieb.« »Sie hoffen vergeblich. In diesen Tränen sieht er nur die übliche Ängstlichkeit und Abneigung, die allen Mädchen eigen ist, die nicht aus Neigung heiraten, sondern eine Vernunftehe eingehen. Wenn er es sich aber in den Kopf gesetzt hat, trotz Ihres Weigerns Ihr Glück zu machen? Wenn man Sie mit Gewalt zum Traualtar führt, um für immer Ihr Schicksal der Hand eines hinfälligen Mannes auszuliefern?« »Dann – dann bleibt mir nichts übrig – dann kommen Sie und holen mich – ich werde Ihre Frau.«

Dubrowskij erbebte. Sein bleiches Gesicht bedeckte sich mit flammender Röte und wurde gleich wieder blasser als sonst. Mit gesenktem Kopf stand er lange schweigend da. »Nehmen Sie alle Kraft Ihrer Seele zusammen, flehen Sie den Vater an, werfen Sie sich ihm zu Füßen, stellen Sie ihm alle Schrecken Ihrer Zukunft, stellen Sie ihm Ihre Jugend vor, die neben dem hinfälligen und lasterhaften Alten dahinwelken wird! Sagen Sie ihm, daß der Reichtum Ihnen nicht eine Minute Glücks verschaffen wird; Reichtum befriedigt nur die Armut und auch sie nur bis zu dem Augenblick, wo man sich daran gewöhnt hat. Geben Sie ihm keine Ruhe und lassen Sie sich weder durch seinen Zorn noch durch Drohungen einschüchtern, solange noch ein Funke von Hoffnung vorhanden ist; um Gottes willen, lassen Sie nicht nach! Und wenn es kein anderes Mittel mehr gibt – dann entschließen Sie sich zu der grausamen Erklärung: Sagen Sie ihm, wenn er unerbittlich bleibt, daß Sie einen schrecklichen Beschützer finden werden . . .«

Bei diesen Worten schlug Dubrowskij die Hände vors Gesicht; seine Stimme versagte. Mascha weinte . . .

»Welch grausames Schicksal!« sagte er mit einem bitteren Seufzer. »Ich hätte mein Leben geopfert, Sie nur aus der Ferne zu sehen. Ihre Hand zu berühren war eine Wonne für mich; und da sich mir die Möglichkeit eröffnet, Sie an mein erregtes Herz zu drücken und zu sagen: Engel, wir wollen sterben! – muß ich Ärmster auf dieses Glück verzichten, muß Sie mit aller Kraft von mir stoßen! Ich wage es nicht, Ihnen zu Füßen zu fallen und dem Himmel für die unbegreifliche, unverdiente Belohnung zu danken. Oh! wie müßte ich eigentlich jenen hassen . . ., aber ich fühle es, in meinem Herzen ist jetzt für Haßgefühl kein Raum.«

Schweigend umfaßte er ihre schlanke Gestalt und zog sie sanft an sein Herz. Sie legte den Kopf an die Schulter des jungen Räubers – beide schwiegen . . . Die Zeit verrann.

»Ich muß gehen«, sagte Mascha schließlich.

Dubrowskij schien aus tiefer Versunkenheit zu erwachen. Er nahm ihre Hand und steckte einen Ring an ihren Finger. »Wenn Sie sich entscheiden, Ihre Zuflucht zu mir zu nehmen«, sagte er, »so bringen Sie diesen Ring hierher und versenken Sie ihn in die Höhlung dieser Eiche; ich weiß dann, was ich zu tun habe.«

Dubrowskij küßte ihre Hand und verschwand zwischen den Bäumen.

 

Die Verlobung des Fürsten Wereiskij war für die Nachbarschaft kein Geheimnis mehr. Kirila Petrowitsch nahm Glückwünsche entgegen; die Hochzeit wurde vorbereitet. Mascha verschob die entscheidende Aussprache von einem Tag auf den anderen. Ihr Benehmen gegenüber dem alten Bräutigam war kalt und gezwungen. Der Fürst machte sich darüber keine Gedanken: er verlangte keine Liebe, sondern war mit ihrem stummen Einverständnis zufrieden.

Aber die Zeit lief weiter. Endlich entschloß sich Mascha zu handeln und schrieb dem Fürsten Wereiskij einen Brief. Sie versuchte, in seinem Herzen das Gefühl der Großmut wachzurufen, indem sie ihm freimütig erklärte, daß sie nicht die geringste Neigung für ihn empfinde. Sie beschwor ihn, auf ihre Hand zu verzichten und sie vor der väterlichen Gewalt zu beschützen. Diesen Brief steckte sie dem Fürsten heimlich zu. Dieser las ihn für sich, war aber durch die Aufrichtigkeit seiner Braut nicht im geringsten gerührt. Im Gegenteil, er erachtete es als unumgänglich, die Hochzeit zu beschleunigen, und hielt es sogar für notwendig, seinem künftigen Schwiegervater den Brief zu zeigen.

Kirila Petrowitsch raste. Nur mit Mühe konnte ihn der Fürst dazu bewegen, Mascha nichts davon merken zu lassen, daß er über ihren Brief unterrichtet sei. Kirila Petrowitsch willigte ein, ihr davon nichts zu sagen, beschloß aber, keine Zeit zu verlieren und die Hochzeit schon auf den nächsten Tag festzusetzen. Der Fürst fand das sehr vernünftig; er begab sich zu seiner Braut und erklärte ihr, daß ihr Brief ihn sehr betrübt habe, daß er aber hoffe, mit der Zeit ihre Zuneigung zu gewinnen. Der Gedanke, sie zu verlieren, sei für ihn unerträglich und er besitze nicht die Kraft, seinem Todesurteil zuzustimmen. Dann küßte er ihre Hand und fuhr fort, ohne ihr ein Wort über den Entschluß von Kirila Petrowitsch gesagt zu haben.

Kaum war er aus dem Hof hinausgefahren, da kam der Vater und befahl ihr geradeheraus, sich für den morgigen Tag vorzubereiten. Marja Kirilowna, die schon durch die Erklärung des Fürsten Wereiskij sehr aufgeregt war, zerfloß in Tränen und warf sich dem Vater zu Füßen.

»Väterchen!« schrie sie mit mitleiderregender Stimme. »Väterchen! Richten Sie mich nicht zugrunde! Ich liebe den Fürsten nicht, ich will nicht seine Frau werden!« »Was soll das heißen?« sagte Kirila Petrowitsch drohend. »Bis jetzt hast du kein Wort gesagt und warst einverstanden. Und jetzt, wo alles beschlossen ist, fällt es dir ein, deinen Launen nachzugeben und dein Wort zurückzunehmen. Sei so gut und mache keine Dummheiten, bei mir erreichst du damit gar nichts.« »Richten Sie mich nicht zugrunde!« wiederholte die arme Mascha. »Warum jagen Sie mich von sich weg und liefern mich einem ungeliebten Manne aus! Sind Sie meiner überdrüssig geworden? Ich will wie bisher bei Ihnen bleiben, Väterchen, Sie werden ohne mich traurig sein und noch trauriger, wenn Sie bedenken müssen, daß ich unglücklich bin. Väterchen, zwingen Sie mich nicht: ich will nicht heiraten.«

Kirila Petrowitsch war gerührt. Er verbarg aber seine Gemütsbewegung und unterbrach sie mit den strengen Worten: »Das ist alles Unsinn, hörst du? Ich weiß besser als du, was zu deinem Glück nötig ist. Deine Tränen helfen dir nichts; übermorgen ist die Hochzeit.« »Übermorgen!« schrie Mascha. »O mein Gott. Nein, nein, das ist unmöglich, das kann nicht sein! Väterchen, hören Sie, wenn Sie schon entschlossen sind, mich zugrunde zu richten, so werde ich einen Beschützer finden, an den Sie nicht denken. Sie werden sehen, Sie werden sich entsetzen über das, wozu Sie mich getrieben haben.« »Was? was?« sagte Trojekurow. »Drohungen? Drohungen? Freches Mädchen! Weißt du, daß ich mit dir etwas tun kann, was du dir gar nicht vorstellst? Du wagst es, mir mit einem Beschützer zu drohen? Ich möchte nur wissen, wer dieser Beschützer ist.« »Wladimir Dubrowskij«, erwiderte Mascha voller Verzweiflung. Kirila Petrowitsch dachte, sie sei von Sinnen, und schaute sie erstaunt an. »Gut«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Warte, auf welchen Beschützer du willst. Aber vorläufig bleibst du hier in deinem Zimmer – vor der Hochzeit wirst du es nicht mehr verlassen.« Mit diesen Worten verließ Kirila Petrowitsch das Zimmer und sperrte die Türe hinter sich zu.

Lange weinte das arme Mädchen bei der Vorstellung dessen, was alles es erwartete. Aber doch hatte die stürmische Aussprache ihre Seele erleichtert, und sie konnte über ihr Los und das, was weiter zu tun war, ruhiger nachdenken. Das wichtigste war für sie, dieser verhaßten Ehe zu entgehen; ihr Los als Frau eines Räubers schien ihr ein Paradies im Vergleich zu dem ihr zugedachten Schicksal. Sie schaute den Ring an, den ihr Dubrowskij zurückgelassen hatte. Sie empfand den glühenden Wunsch, mit ihm noch einmal allein zusammenzukommen und sich mit ihm vor der entscheidenden Minute ausführlich zu besprechen. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, daß sie Dubrowskij am Abend im Garten nahe bei der Laube finden würde. Sie war entschlossen, gleich bei Eintritt der Dämmerung dorthin zu gehen und auf ihn zu warten.

Die Dämmerung kam, und Mascha machte sich bereit, aber die Türe war verschlossen. Das Stubenmädchen antwortete ihr hinter der Türe, daß Kirila Petrowitsch verboten habe, sie herauszulassen. Sie war also in Haft. Tief gekränkt setzte sie sich ans Fenster und blieb bis in die tiefe Nacht angekleidet dort sitzen, unbeweglich in den finsteren Himmel starrend. Gegen Morgengrauen schlief sie ein, aber ihr leichter Schlummer wurde immer von leidvollen Tränen unterbrochen, bis die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sie weckten.

 

Als sie erwachte, kam ihr beim ersten Gedanken der ganze Ernst ihrer Lage zum Bewußtsein. Sie klingelte, und eine Magd trat ein, die auf Befragen antwortete, Kirila Petrowitsch sei am Abend nach X. gefahren und erst spät zurückgekommen. Er habe strengen Befehl erteilt, sie nicht aus dem Zimmer zu lassen und darauf zu achten, daß niemand mit ihr spreche. Das Mädchen erzählte Mascha weiter, daß von besonderen Vorbereitungen zur Hochzeit nichts zu bemerken sei, aber dem Popen sei befohlen worden, sich unter keinen Umständen vom Dorf zu entfernen. Nach diesen Mitteilungen ließ das Mädchen Marja Kirilowna allein und sperrte die Türe wieder zu. Die Worte der Magd erbitterten die junge Gefangene. Ihr Kopf glühte, und ihr Blut pulste; sie war entschlossen, Dubrowskij von allem Kenntnis zu geben, und suchte nach einer Möglichkeit, den Ring in die Höhlung der bekannten Eiche bringen zu lassen. In diesem Augenblick schlug ein Steinchen an ihr Fenster, daß die Scheibe klirrte. Marja Kirilowna schaute in den Hof hinab und sah den kleinen Sascha, der ihr Zeichen gab. Sie kannte seine Anhänglichkeit und freute sich über ihn. Sie öffnete das Fenster. »Guten Tag, Sascha, warum rufst du mich?« »Ich bin gekommen, Schwesterchen, um von Ihnen zu erfahren, ob Sie etwas brauchen? Väterchen ist böse und hat dem ganzen Haus verboten, Ihnen zu gehorchen. Aber befehlen Sie mir, was Sie wünschen, ich werde für Sie alles tun.« »Danke, mein lieber Sascha. Höre, du kennst doch die alte Eiche mit der Höhlung, die bei der Laube steht?« »Ja, Schwesterchen.« »Also, wenn du mich so gern hast, so laufe schnell hin und lege diesen Ring in die Höhlung. Gib aber acht, daß dich niemand sieht.«

Mit diesen Worten warf sie ihm den Ring zu und schloß das Fenster. Der Knabe hob den Ring auf, rannte, so schnell er konnte, davon und war nach drei Minuten bei dem bezeichneten Baum. Hier blieb er atemlos stehen, sah sich nach allen Seiten um und legte den Ring in die Höhlung. Nach glücklicher Erledigung seines Auftrages wollte er dies Marja Kirilowna sofort melden, da huschte plötzlich ein rothaariger, abgerissener Bub aus der Laube vor, stürzte auf die Eiche zu und steckte die Hand in die Höhlung. Flinker als ein Eichhörnchen warf sich Sascha auf ihn und krallte sich mit beiden Händen an ihm fest. »Was machst du hier?« sagte er drohend. »Was geht das dich an?« antwortete der Knabe und suchte sich von ihm zu befreien. »Laß diesen Ring liegen, Rothaariger«, schrie Sascha, »oder ich will dir was zeigen.«

Statt einer Antwort schlug ihn der Knabe mit der Faust ins Gesicht; aber Sascha ließ nicht locker und schrie, was er herausbrachte: »Diebe, Diebe! Hierher, hierher!«

Der Knabe gab sich alle Mühe loszukommen. Er war offenbar zwei Jahre älter als Sascha und bedeutend kräftiger, aber Sascha war flinker. Sie rauften einige Minuten, schließlich kam der Rothaarige obenauf. Er hatte Sascha zu Boden geworfen und an der Gurgel gepackt. In diesem Augenblick aber krallte sich eine starke Hand in sein rotes, borstiges Haar, und der Gärtner Stepan hob ihn eine halbe Elle vom Boden. »Ach, du rothaarige Bestie«, sagte der Gärtner, »wie erfrechst du dich, unseren jungen Herrn zu schlagen?« Sascha konnte aufstehen und sich etwas erholen.

»Du hast mich unter den Achseln gepackt«, sagte er, »sonst hättest du mich niemals umgeworfen. Gib sofort den Ring her und mach, daß du weiterkommst!« »Das könnte dir passen!« sagte der Rothaarige, machte unerwartet eine Drehung auf der Stelle und befreite damit seine Borsten aus der Hand Stepans. Er jagte davon, aber Sascha holte ihn ein und gab ihm einen Stoß in den Rücken, so daß er auf alle viere hinstürzte. Der Gärtner packte ihn wieder und fesselte ihn mit einem Riemen.

»Gib den Ring her!« schrie Sascha. »Warte, Herr«, sagte Stepan, »wir werden ihn zum Verwalter bringen, der wird mit ihm abrechnen.«

Der Gärtner führte den Gefangenen in den Hof, und Sascha begleitete ihn, wobei er unruhig seine zerrissenen und mit Grasflecken bedeckten Pumphöschen betrachtete. Auf einmal standen alle drei vor Kirila Petrowitsch, der gerade in seinem Stall Nachschau halten wollte. »Was ist denn da los?« fragte er Stepan. Dieser schilderte in kurzen Worten den ganzen Vorgang. Kirila Petrowitsch hörte aufmerksam zu.

»Du Strick«, sagte er zu Sascha, »warum hast du dich mit ihm eingelassen?« »Er hatte aus der Eiche einen Ring gestohlen, Väterchen. Befehlen Sie ihm, daß er ihn herausgibt.« »Was für einen Ring? Aus welcher Eiche?« »Marja Kirilowna hat mir ja . . . diesen Ring da . . .«

Sascha geriet in Verwirrung. Kirila Petrowitsch runzelte die Stirn und sagte kopfschüttelnd: »Hier ist Marja Kirilowna im Spiel. Gestehe alles, oder ich werde dich dermaßen mit der Rute durchhauen, daß dir Hören und Sehen vergeht.« »Bei Gott, Väterchen . . . ich . . . Väterchen . . . Marja Kirilowna hat mir nichts befohlen, Väterchen.« »Stepan! Geh und schneide mir eine gute, frische Birkenrute ab!« »Warten Sie, Väterchen, ich will Ihnen alles erzählen. Ich bin heute im Hof herumgelaufen, da hat Schwesterchen Mascha das Fenster aufgemacht und ich bin hingelaufen und das Schwesterchen hat aus Versehen den Ring fallen lassen und ich habe ihn in die Eiche versteckt . . . und . . . und dieser rothaarige Bube wollte den Ring stehlen.« »Aus Versehen hat sie ihn fallen lassen, und du wolltest ihn verstecken . . . Stepan! Geh und hol die Ruten.« »Väterchen, warten Sie, ich will alles erzählen. Das Schwesterchen Marja Kirilowna hat mir befohlen, ich sollte zu der Eiche laufen und den Ring in die Höhlung legen. Dann bin ich hingelaufen und habe den Ring hineingelegt, aber dieser abscheuliche Bube da . . .«

Kirila Petrowitsch wandte sich an den abscheulichen Buben und fragte ihn streng: »Wem gehörst du?« »Ich gehöre zu den Hofleuten von Dubrowskij«, antwortete er. Das Gesicht von Kirila Petrowitsch wurde finster. »Du erkennst mich scheinbar nicht als Herrn an – gut. Aber was hast du in meinem Garten zu tun gehabt?« »Ich habe Himbeeren gestohlen«, sagte der Knabe ganz kaltblütig. »Aha! Wie der Herr, so der Knecht, wie der Pope, so die Pfarre. Aber wachsen vielleicht bei mir die Himbeeren auf den Eichen? Hast du so etwas schon gehört?« Der Knabe gab keine Antwort. »Väterchen, sagen Sie ihm, er soll den Ring herausgeben«, sagte Sascha. »Halt den Mund, Alexander!« antwortete Kirila Petrowitsch, »und vergiß nicht, daß ich mit dir noch ein Wörtchen zu reden habe. Geh auf dein Zimmer. Und du, schieläugiger Tropf, scheinst mir nicht dumm zu sein. Wenn du mir alles gestehst, werde ich dich nicht durchprügeln, sondern dir noch einen Fünfer für Nüsse schenken. Gib den Ring her, dann kannst du gehen. (Der Knabe öffnete die Faust und zeigte, daß er nichts in der Hand hatte.) Wenn nicht, dann werde ich mit dir etwas anfangen, woran du gar nicht denkst. Nun!«

Der Knabe sagte kein Wort, stand mit gesenktem Kopf da und machte ein blödes Gesicht.

»Gut«, sagte Kirila Petrowitsch, »sperrt ihn irgendwo ein und gebt acht, daß er nicht entwischt, sonst ziehe ich euch allen die Haube ab.«

Stepan führte den Knaben in das Taubenhaus, sperrte ihn dort ein und befahl der alten Geflügelaufseherin Agafia, auf ihn achtzugeben.

»Da ist gar kein Zweifel: sie steht mit dem verdammten Dubrowskij in Verbindung. Ist es tatsächlich möglich, daß sie ihn zu Hilfe gerufen hat?« dachte Kirila Petrowitsch, der im Zimmer auf und ab ging und grimmig »Siegesdonner erschalle« pfiff. »Vielleicht habe ich da eine frische Spur gefunden, und er entwischt uns nicht mehr. Wir werden diese Gelegenheit ausnützen . . . Horch! Pferdeglocken! Gottlob, das ist der Kreishauptmann. Man bringe den gefangenen Knaben hierher!«

Inzwischen war ein kleiner Wagen vorgefahren, und der uns bekannte Kreishauptmann trat, über und über mit Staub bedeckt, ins Zimmer. »Eine gute Nachricht!« sagte Kirila Petrowitsch. »Ich habe Dubrowskij gefangen.« »Gott sei Dank, Exzellenz!« sagte der Kreishauptmann mit freudiger Miene. »Wo ist er?« »Das heißt, nicht Dubrowskij, aber einen von seiner Bande. Gleich wird man ihn bringen. Er wird uns helfen, seinen Hauptmann zu fangen. Da ist er schon.«

Der Kreishauptmann, der erwartet hatte, einen gefährlichen Räuber zu sehen, war erstaunt, als er einen dreizehnjährigen, ziemlich schwächlich ausschauenden Buben vor sich sah. Er wandte sich erstaunt zu Kirila Petrowitsch und wartete auf eine Erklärung. Dieser erzählte ihm alles, was sich am Morgen ereignet hatte, allerdings ohne Marja Kirilowna zu erwähnen. Der Kreishauptmann hörte ihm aufmerksam zu und beobachtete dabei ständig den kleinen Spitzbuben, der sich ganz blöd stellte und sich scheinbar um das, was um ihn vorging, überhaupt nicht kümmerte. »Gestatten Sie, Exzellenz«, unterbrach endlich der Kreishauptmann, »daß ich mit Ihnen allein spreche.«

Kirila Petrowitsch führte ihn in ein anderes Zimmer und verschloß die Tür hinter sich.

Nach einer halben Stunde kamen sie wieder in den Saal, wo der Gefangene die Entscheidung über sein weiteres Schicksal erwartete.

»Der gnädige Herr wollte dich im Stadtgefängnis einsperren, mit der Rute auspeitschen und dann nach Sibirien verschicken lassen«, sagte der Kreishauptmann, »aber ich habe mich für dich verwendet und dir Verzeihung erwirkt. Bindet ihn los.« Man nahm dem Knaben die Fessel ab. »Bedanke dich bei dem gnädigen Herrn«, sagte der Kreishauptmann. Der Knabe ging zu Kirila Petrowitsch hin und küßte ihm die Hand. »Geh heim«, sagte dieser, »und stiehl in Zukunft keine Himbeeren mehr aus Baumhöhlen.«

Der Knabe entfernte sich, sprang vergnügt die Freitreppe hinunter und lief, ohne sich umzusehen, querfeldein nach Kistenjewka. Als er das Dorf erreichte, blieb er vor einer der ersten halb verfallenen Hütten stehen und klopfte ans Fenster. Dieses öffnete sich und eine alte Frau kam zum Vorschein. »Großmutter, Brot!« sagte der Knabe. »Ich habe seit heute früh nichts mehr gegessen, ich sterbe vor Hunger!« »Ach, du bist es, Mitja! Wo hast du dich denn herumgetrieben, du Galgenstrick?« antwortete die Alte. »Das erzähle ich dir später, Großmutter, um Gottes willen Brot!« »So komm' in die Hütte.« »Hab keine Zeit, Großmutter! Ich muß noch schnell wohin laufen. Brot, um Christi willen Brot!« »So ein Wildfang«, brummelte die Alte, »da hast du ein Stück«, und reichte ihm ein Stück Schwarzbrot durchs Fenster. Der Knabe biß gierig hinein, und kauend entfernte er sich langsam.

Es fing an zu dämmern. Mitja schlich an den Scheunen und Gemüsegärten vorbei zum Wäldchen von Kistenjewka. Als er zu den zwei Tannen gekommen war, die wie Vorposten dastanden, blieb er stehen, schaute sich nach allen Seiten um, ließ einen lauten, kurzen Pfiff ertönen und horchte. Ein leiserer und langgedehnter Pfiff wurde als Antwort hörbar. Ein Mann trat aus dem Wäldchen und ging auf ihn zu.

 

Kirila Petrowitsch ging im Saal auf und ab und pfiff lauter als gewöhnlich seine Melodie. Das ganze Haus war in Bewegung. Diener liefen hin und her, die Mägde waren geschäftig, im Stall schirrten die Kutscher einen Wagen an. Auf dem Hof drängten sich die Leute. Vor einem Spiegel im Ankleidezimmer schmückte eine von Mädchen umringte Dame die bleiche, steif dastehende Marja Kirilowna, deren Kopf sich fast unter dem Gewicht des Brillantschmuckes neigte. Sie zuckte leicht zusammen, wenn eine unvorsichtige Hand sie stach, schwieg aber und starrte gedankenlos in den Spiegel. »Seid ihr bald fertig?« hörte man hinter der Türe die Stimme von Kirila Petrowitsch. »Sofort!« antwortete die Dame. »Marja Kirilowna, stehen Sie auf und schauen Sie. Ist es recht so?« Marja Kirilowna erhob sich, gab aber keine Antwort. Die Türen wurden geöffnet. »Die Braut ist fertig«, sagte die Dame zu Kirila Petrowitsch, »wollen Sie jetzt den Wagen vorfahren lassen.« »Mit Gott!« antwortete Kirila Petrowitsch und nahm ein Heiligenbild vom Tisch. »Komm her, Mascha«, sagte er mit bewegter Stimme, »ich will dich segnen . . .« Das arme Mädchen fiel ihm zu Füßen und weinte bitterlich. »Väterchen . . . Väterchen . . .« sagte sie unter Tränen, und ihre Stimme erstarb.

Kirila Petrowitsch erteilte ihr rasch seinen Segen, dann hob man sie auf und trug sie fast in den Wagen. Die Brautmutter und eine der Mägde setzten sich zu ihr, und dann fuhren sie zur Kirche, wo sie der Bräutigam schon erwartete. Er ging der Braut entgegen und war über ihre Blässe und ihr sonderbares Wesen überrascht. Sie gingen zusammen in die kalte, leere Kirche; die Tür wurde hinter ihnen geschlossen. Der Priester trat hinter dem Altar hervor und begann sofort mit der heiligen Handlung. Marja Kirilowna sah und hörte nichts. Seit dem Morgen beherrschte sie nur ein Gedanke: sie erwartete Dubrowskij. Keinen Augenblick hatte sie die Hoffnung auf ihn aufgegeben. Als sich aber der Priester mit der üblichen Frage an sie wandte, fuhr sie zusammen, und es vergingen ihr fast die Sinne. Sie zögerte, wartete immer noch. Aber der Geistliche wartete ihre Antwort gar nicht ab und sprach die ewig bindenden Worte.

Die Trauung war zu Ende. Marja Kirilowna fühlte den kalten Kuß des ungeliebten Gatten, sie vernahm die schmeichelnde Beglückwünschung der Anwesenden, sie konnte es aber immer noch nicht glauben, daß sie fürs ganze Leben gefesselt sein sollte und Dubrowskij nicht zu ihrer Befreiung herbeigeeilt war. Der Fürst wandte sich mit zärtlichen Worten an sie – sie verstand sie nicht. Sie gingen aus der Kirche, wo sich vor dem Portal die Bauern von Pokrowskoje drängten. Ihr Blick streifte sie flüchtig, dann verfiel sie sofort wieder in die bisherige Teilnahmslosigkeit.

Die Neuvermählten stiegen in den Wagen, um nach Arbatowo zu fahren, wohin sich Kirila Petrowitsch schon vorher begeben hatte, um sie dort zu empfangen. Als der Fürst mit seiner jungen Frau allein war, beunruhigte ihn ihr kaltes Wesen nicht im geringsten. Er langweilte sie nicht mit süßlichen Erklärungen und begeisterten Redensarten, die hier lächerlich gewirkt hätten. Seine Worte waren einfach und forderten keine Antwort. So legten sie etwa zehn Werst zurück. Die Pferde jagten schnell über die holperigen Feldwege, aber der Wagen mit seinen englischen Federn ließ sie kaum eine Erschütterung verspüren.

Plötzlich wurden Schreie von Verfolgern laut; der Wagen wurde angehalten und von einer Schar bewaffneter Männer umringt. Ein Mann mit einem Visier öffnete den Wagenschlag an der Seite, wo die junge Fürstin saß, und sagte zu ihr: »Sie sind frei! Steigen Sie aus!« »Was soll das heißen!« schrie der Fürst. »Wer bist du?« »Das ist Dubrowskij«, antwortete die Fürstin.

Der Fürst verlor seine Geistesgegenwart nicht. Er zog eine Reisepistole aus der Seitentasche und schoß auf den maskierten Räuber. Die Fürstin schrie auf und bedeckte voll Schrecken ihr Gesicht mit beiden Händen. Dubrowskij war an der Schulter verwundet und blutete. Ohne Zeit zu verlieren, zog der Fürst eine zweite Pistole hervor, aber er kam nicht mehr dazu, sie abzufeuern. Die Wagentüren wurden aufgerissen, einige starke Fäuste zerrten ihn heraus und rangen ihm die Pistole aus der Hand. Messer blitzten über ihm auf. »Rührt ihn nicht an!« schrie Dubrowskij, und seine finsteren Gesellen traten zurück. »Sie sind frei!« fuhr Dubrowskij zu der bleichen Fürstin fort. »Nein!« antwortete sie. »Zu spät! Ich bin getraut, ich – bin die Gattin des Fürsten Wereiskij.« »Was sagen Sie!« schrie Dubrowskij voll Entsetzen. »Nein, Sie sind nicht seine Frau, Sie sind gezwungen worden, Sie konnten niemals einwilligen!« »Ich habe eingewilligt, ich habe gelobt«, sagte sie mit Festigkeit. »Der Fürst ist mein Mann. Befehlen Sie, daß man ihn freiläßt, und lassen Sie mich bei ihm. Ich habe Sie nicht betrogen, ich habe bis zur letzten Minute auf Sie gewartet . . ., aber jetzt – ich wiederhole es Ihnen – jetzt ist es zu spät. Lassen Sie uns frei.«

Aber Dubrowskij hörte sie schon nicht mehr sprechen. Der Wundschmerz und die seelische Erregung beraubten ihn der Kräfte. Er brach neben den Wagenrädern zusammen, wo ihn die Räuber umringten. Er brachte noch die Kraft auf, ihnen einige Worte zu sagen. Sie setzten ihn auf ein Pferd; zwei von ihnen stützten ihn, ein dritter nahm das Pferd am Zügel, und alle entfernten sich auf einem Seitenweg. Den Wagen, die gefesselten Leute des Fürsten, die ausgespannten Pferde hatten sie mitten auf der Straße stehengelassen, aber ohne etwas geplündert oder aus Rache für die Verwundung ihres Hauptmanns einen Tropfen Blut vergossen zu haben.

 

Auf einer schmalen Lichtung im Walddickicht erhob sich eine kleine Erdfestung mit Wall und Graben, hinter denen sich einige Bretter- und Erdhütten befanden. Innerhalb der Umfriedung lagerte ein Haufen von Leuten ohne Kopfbedeckung um einen Kessel herum beim gemeinsamen Mittagessen. An der Verschiedenheit ihrer Kleidung und an ihren Waffen konnte man sie sofort als Räuber erkennen. Auf dem Wall saß neben einer kleinen Kanone ein Posten mit untergeschlagenen Beinen. Er setzte einen Flicken auf eines seiner Kleidungsstücke und führte dabei die Nadel mit einer Fertigkeit, die den erfahrenen Schneider verriet. Dabei sah er sich immer nach allen Seiten um.

Obwohl eine Schnapsflasche mehrmals von Hand zu Hand herumgegangen war, herrschte eine auffallende Ruhe. Die Räuber hatten ihr Mittagessen beendet. Einer nach dem andern erhob sich und betete. Einige zogen sich in ihre Hütten zurück, andere zerstreuten sich im Wald oder legten sich nach russischem Brauch zu einem Mittagsschläfchen nieder.

Der Posten war mit seiner Arbeit fertig, schüttelte seine Lumpen aus, betrachtete zufrieden seine Arbeit und steckte die Nadel in den Ärmel. Dann setzte er sich rittlings auf die Kanone und begann aus voller Kehle das melancholische alte Lied zu singen:

»Rausche nicht, Vater, du grüner Laubwald,
Und stör' mich Braven nicht in meinem Sinnen.«

Da ging die Tür einer der Hütten auf und eine alte Frau mit weißer Haube, sauber und sorgfältig gekleidet, erschien auf der Schwelle. »Hör doch auf, Stepka!« sagte sie böse. »Der gnädige Herr ruht, und du fängst an zu brüllen. Ihr habt doch weder Gewissen noch Mitleid.« »Verzeih, Jegorowna«, ant- wortete Stepka, »ich werde es nicht mehr tun. Soll sich nur ausruhen, unser Väterchen, und wieder gesund werden.« Die Alte ging wieder in die Hütte zurück, und Stepka begann auf dem Wall auf und ab zu gehen.

In der Hütte, aus der kurz vorher die Alte getreten war, lag hinter dem Verschlag der verwundete Dubrowskij auf einem Feldbett. Vor ihm lagen auf einem Tischchen seine Pistolen, ein Säbel hing zu Häupten des Bettes. Boden und Wände der Hütte waren mit kostbaren Teppichen belegt und behangen, in einer Ecke stand ein Damen-Toilettentisch aus Silber und ein großer Wandspiegel. Dubrowskij hielt ein dickes Buch in der Hand, aber seine Augen waren geschlossen. Die Alte, die hinter dem Verschlag nach ihm sah, konnte nicht feststellen, ob er schlief oder nur seinen Gedanken nachhing.

Auf einmal fuhr Dubrowskij in die Höhe. In der Festung war es unruhig geworden, und Stepka steckte den Kopf zum Fenster herein. »Väterchen, Wladimir Andrejewitsch!« schrie er. »Man gibt uns Zeichen – wir werden gesucht.«

Dubrowskij sprang von seinem Bett auf, ergriff seine Waffen und verließ die Hütte. Die Räuber sammelten sich geräuschvoll im Hof. Bei seinem Erscheinen wurde es ganz still. »Sind alle da?« fragte Dubrowskij. »Alle, außer den Spähern«, war die Antwort. »Auf eure Plätze!« schrie Dubrowskij, worauf jeder seinen bestimmten Platz einnahm.

In diesem Augenblick liefen drei Späher an das Tor. Dubrowskij ging ihnen entgegen. »Was gibt's?« fragte er. »Soldaten sind im Wald«, antworteten sie, »sie umzingeln uns.«

Dubrowskij ließ das Tor schließen und prüfte selbst die Kanone. Im Wald wurden Stimmen laut und kamen näher. Die Räuber erwarteten sie schweigend. Auf einmal traten drei oder vier Soldaten aus dem Wald und machten sofort kehrt, um ihre Kameraden durch Schüsse zu verständigen.

»Macht euch zum Kampf fertig!« sagte Dubrowskij. Unter den Räubern entstand Bewegung, dann war wieder alles still. Darauf hörten sie den Lärm des sich nähernden Kommandos, und zwischen den Bäumen blitzten Gewehre auf. Etwa hundertfünfzig Mann schwärmten aus dem Wald und stürmten schreiend auf den Wall zu. Dubrowskij setzte die Lunte an, der Schuß traf – einem Soldaten wurde der Kopf weggerissen, zwei waren verwundet. Unter den Soldaten entstand Verwirrung, aber ihr Offizier stürmte vorwärts, die Soldaten folgten ihm und liefen in den Graben hinunter. Die Räuber feuerten mit Gewehren und Pistolen auf sie und machten Anstalten, den Wall mit Beilen in den Händen zu verteidigen gegen die erbittert anstürmenden Soldaten, die im Graben an die zwanzig verwundete Kameraden zurückgelassen hatten. Es kam zum Handgemenge. Die Soldaten waren schon auf dem Wall, und die Räuber fingen an zu wanken, da ging Dubrowskij auf den Offizier los, setzte ihm die Pistole auf die Brust und drückte ab. Der Offizier stürzte, aber einige Soldaten fingen ihn in ihren Armen auf und trugen ihn eiligst in den Wald, während die übrigen, des Führers beraubt, nicht mehr weiter vordrangen. Die dadurch ermutigten Räuber nutzten diesen Augenblick der Verwirrung, überwältigten ihre Widersacher und drängten sie in den Graben hinunter. Die Belagerer ergriffen die Flucht, und die Räuber verfolgten sie unter großem Geschrei.

Der Sieg war entschieden. Der völligen Niederlage des Feindes sicher, ließ Dubrowskij seine Leute anhalten und zog sich in die Festung zurück. Er verdoppelte die Wachen, befahl, daß niemand sich entferne, und ließ die Verwundeten sammeln.

Diese letzten Ereignisse lenkten jetzt die volle Aufmerksamkeit der Regierung auf die verwegenen Räubereien Dubrowskijs. Man stellte Nachforschungen über seinen Aufenthalt an und sandte eine Kompanie Soldaten aus, mit dem Befehl, ihn lebend oder tot einzubringen. Einige von seiner Bande wurden dabei eingefangen, aber diese sagten aus, daß Dubrowskij nicht mehr unter ihnen sei.

Einige Tage zuvor hatte er alle seine Anhänger versammelt und ihnen erklärt, daß er sich entschlossen habe, sie für immer zu verlassen. Er rate auch ihnen, ein anderes Leben anzufangen. »Ihr seid unter meiner Führung reich geworden«, sagte er, »jeder von euch hat einen Paß, mit dem er sich ohne Gefahr nach irgendeinem entfernten Gouvernement durchschlagen und dort den Rest seines Lebens in ehrlicher Arbeit und im Überfluß zubringen kann. Aber ihr alle seid – Schurken und werdet wahrscheinlich euer Handwerk nicht aufgeben wollen.«

Nach dieser Ansprache verließ er sie und nahm nur X. mit sich. Niemand wußte, wohin er sich begeben hatte. Anfangs zweifelte man an der Richtigkeit dieser Behauptungen, denn die Anhänglichkeit der Räuber an ihren Hauptmann war bekannt, und man nahm an, daß sie sich um seine Rettung bemühten. Aber die Folgezeit bestätigte das Gesagte. Die schreckenerregenden Heimsuchungen, Brände und Plünderungen hatten aufgehört, die Wege wurden wieder frei.

Aus anderen Berichten erfuhr man, daß Dubrowskij ins Ausland geflohen sei.

 


 


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