Alexander S. Puschkin
Boris Godunow
Alexander S. Puschkin

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Alexander Puschkin: Entwurf eines Vorwortes zum »Boris Godunow« (1829/30?)

Das Studium Shakespeares, Karamsins und unserer alten Chroniken gab mir den Gedanken ein, eine der dramatischsten Epochen der neueren Geschichte in dramatische Form einzukleiden. Von keinem anderen Einfluß verwirrt, ahmte ich Shakespeare, seine freie und breite Schilderung der Charaktere, die ungekünstelte und einfache Zusammenstellung der Typen nach; Karamsin folgte ich in der übersichtlichen Entwicklung der Ereignisse, in den Chroniken bemühte ich mich, den Gedankengang und die Sprache der damaligen Zeit zu enträtseln. Reiche Quellen! Ob es mir gelungen ist, sie zu nutzen, weiß ich nicht. Wenigstens waren meine Bemühungen emsig und gewissenhaft.

Lange konnte ich mich nicht entschließen, mein Drama drucken zu lassen. – Der gute oder schlechte Erfolg meiner Gedichte, das wohlwollende oder strenge Urteil der Zeitschriften über irgendeine Erzählung in Versen beruhigten meine Eigenliebe nicht sonderlich. Die schmeichlerischen Besprechungen haben sie nicht geblendet. Beim Lesen der beleidigendsten Besprechungen war ich bemüht, die Meinung der Kritik zu erraten und mit möglichster Kaltblütigkeit zu begreifen, worin ihre Beschuldigungen eigentlich bestehen, und wenn ich auf sie nie erwiderte, so geschah es nicht aus Verachtung, sondern einzig aus der Überzeugung, daß unsere Literatur il est indifférent, ob dieses oder jenes Kapitel aus dem Onjegin höher oder tiefer stehe als ein anderes. Aber ich gestehe aufrichtig, der Mißerfolg meines Dramas würde mich kränken; denn ich bin überzeugt, daß unserem Theater die volkstümlichen Gesetze des Shakespearedramas anstehen, nicht aber die höfische Sitte der Tragödie Racines, und daß jedes mißlungene Experiment die Umgestaltung unserer Bühne verlangsamen würde. (Der Jermak von A. S. Chomjakow ist mehr ein lyrisches Werk als ein Drama. Seinen Erfolg verdankt es nur seinen herrlichen Versen.)

Ich gehe nun zu einigen näheren Erklärungen über. Der von mir angewandte Vers (der fünffüßige Jambus) wird gewöhnlich von den Engländern und Deutschen angewandt. – Bei uns finden wir, dünkt mich, das erste Beispiel dafür in den Argiviern. A. Shandr verwendet in dem Bruchstück seiner schönen, in freien Rhythmen geschriebenen Tragödie vornehmlich dieses Versmaß. – Ich behielt die Zäsur des französischen Pentameters auf dem zweiten Fuß und habe damit, scheint mir, einen Irrtum begangen, da ich dadurch meinen Vers der ihm eigenen Mannigfaltigkeit freiwillig beraubte.

Es gibt da derbe Scherze, volkstümliche Szenen. Der Dichter darf nicht nach eigenem Belieben vulgär sein, wenn er es vermeiden kann; ist es aber notwendig, darf er sich nicht davor scheuen.

Als ich in der Geschichte einem meiner Vorfahren begegnete, der in dieser unglücklichen Epoche eine wichtige Rolle spielte, brachte ich ihn auf die Bühne, ohne an die Kitzligkeit des Anstandes zu denken, con amore, aber ohne jeden versteckten Adelsstolz. Von allen meinen Nachahmungen Byrons wäre der Adelsstolz die lächerlichste. Unsere Aristokratie wird vom neuen Adel gebildet, der alte ist in Verfall geraten; seine Rechte sind den Rechten der anderen Stände angeglichen, die großen Güter sind längst zerstückelt, vernichtet . . . Einer solchen Aristokratie anzugehören, ist in den Augen des vernünftigen Pöbels gar kein Vorzug, und die einsame Verehrung des Ruhms der Vorfahren kann einem lediglich den Vorwurf der äußersten Geschmacklosigkeit oder der Nachahmung der Ausländer zuziehen.

(II)

Der Geist des Zeitalters fordert große Veränderungen auch auf der dramatischen Bühne. Es ist möglich, daß auch sie die Hoffnungen der Reformatoren enttäuschen werden. Der auf der Höhe des Schaffens lebende Dichter sieht vielleicht auch die Mängel der gerechten Forderungen klarer und das, was sich vor den Blicken der erregten Menge verbirgt; aber es wäre vergeblich für ihn, darum zu kämpfen . . . So gaben Lope de Vega, Shakespeare und Racine dem Strom nach. Aber das Genie bleibt Genie, welche Richtung es auch immer wählt: das Urteil der Nachwelt wird das Gold, das ihm gehört, von den Schlacken scheiden. (1830)


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