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Mir war Gilberte schon fast ganz gleichgültig geworden, als ich zwei Jahre später mit meiner Großmutter nach Balbec reiste. Ergriff mich der Reiz eines neuen Gesichtes, hoffte ich mit Hilfe eines anderen jungen Mädchens gotische Kathedralen, Paläste und Gärten Italiens kennen zu lernen, dann sagte ich mir trübselig: soweit unsere Liebe Liebe zu einem bestimmten Geschöpf ist, mag sie wohl nichts recht Wirkliches sein, erst fesseln unser Gefühl für einige Zeit Assoziationen mit angenehmen oder schmerzlichen Träumereien an eine Frau, und wir glauben schon, es sei uns von dieser mit zwingender Gewalt eingegeben, dann aber machen wir uns absichtlich oder unbewußt von diesen Assoziationen frei, aufs neue erwacht die Liebe, als käme sie spontan aus uns allein, und wendet sich einer andern Frau zu. Und doch: zur Zeit der Abreise und zu Anfang meines Aufenthaltes in Balbec war meine Gleichgültigkeit noch intermittierend. So wenig ist unser Leben chronologisch, es durchkreuzt das Nacheinander der Tage mit Anachronismen; oft lebte ich, älter als gestern und vorgestern, in Tagen meiner Liebe zu Gilberte. Dann war es mir plötzlich schmerzlich, sie nicht zu sehen; genau so wie es mir damals schmerzlich gewesen wäre. Nachdem es doch schon fast ersetzt war durch ein neues Ich, lebte das alte wieder auf, das Ich, das Gilberte geliebt hatte; und wiedergegeben wurde es mir viel häufiger durch etwas Geringfügiges als durch etwas Wichtiges. Ein Beispiel aus der Zeit meines Aufenthaltes in der Normandie, das ich vorwegnehme: in Balbec hörte ich einen Unbekannten, dem ich auf der Mole begegnete, sagen: »Die Familie des Direktors vom Postministerium«. Damals wußte ich noch nicht, daß diese Familie einmal in mein Leben eingreifen sollte, und so hätten mich die Worte kalt lassen müssen: und doch gaben sie mir einen Stich, wie ein Ich ihn fühlt, das schon seit langem so gut wie abgeschafft ist: Schmerz, mit Gilberte auseinander zu sein. Nie war mir seither ein Gespräch wieder in den Sinn gekommen, das Gilberte einmal in meiner Gegenwart mit ihrem Vater über die Familie des Direktors vom Postministerium geführt hatte. Liebeserinnerungen bilden keine Ausnahme von den allgemeinen Gesetzen des Gedächtnisses, die wiederum regiert werden von den noch allgemeineren Gesetzen der Gewohnheit. Da Gewohnheit alles abschwächt, erinnert uns gerade, was wir vergessen haben, am meisten an ein Wesen (Vergessenes ist bedeutungslos gewesen, und dadurch haben wir ihm seine ganze Kraft gelassen). Daher ist auch der beste Teil unseres Gedächtnisses außer uns, in einem regenschweren Windzug, im eingeschlossenen Geruch von Zimmerluft, im Geruch eines aufflammenden Feuers, in alledem, worin wir selbst uns wiederfinden, was unser Bewußtsein verschmäht hat, weil es ihm nicht verwendbar war. Letzte Reserve der Vergangenheit, ihre beste: wenn alle unsere Tränen versiegt scheinen, wird sie uns noch weinen machen. Außer uns? Nein, richtiger gesagt, in uns, versteckt in länger oder kürzer dauerndem Vergessen. Diesem Vergessen allein haben wir zuzuschreiben, daß wir von Zeit zu Zeit uns wiederfinden, wie wir einst waren, den Dingen gegenüberstehen, wie wir ihnen gegenüberstanden, von neuem leiden, weil wir nicht mehr wir sind, sondern dies andere Wesen, und weil es liebte, was uns jetzt gleichgültig ist. Im Tageslichte des gewohnten Gedächtnisses verblassen die Bilder der Vergangenheit nach und nach, sie löschen aus, es bleibt von ihnen nichts, wir werden sie nicht mehr wiederfinden. Vielmehr: wiederfinden würden wir sie nicht mehr, wenn nicht Worte wie »Direktor im Postministerium« sorgsam in das Vergessen eingeschlossen worden wären, wie man etwa auf der Staatsbibliothek ein Exemplar von einem Buche deponiert, das sonst möglicherweise unauffindbar würde.

Aber dieser Schmerz und das Wiederaufblühen der Liebe zu Gilberte dauerten nicht länger als solche Erlebnisse im Traume dauern; und diesmal hörten sie so schnell auf, gerade weil in Balbec die alte Gewohnheit nicht mehr da war, die ihnen hätte Dauer verschaffen können. Danach scheinen die Wirkungen der Gewohnheit widerspruchsvoll; das macht, sie gehorcht vielfältigen Gesetzen. In Paris war ich immer gleichgültiger gegen Gilberte geworden dank der Gewohnheit. Der Gewohnheitswechsel, das heißt, das momentane Aufhören der Gewohnheit vollendete, als ich nach Balbec reiste, das Werk der Gewohnheit. Sie schwächt ab, aber stabilisiert, sie führt den Verfall herbei, gibt ihm aber endlose Dauer. Jeden Tag pauste ich seit Jahren, so gut es ging, meinen Seelenzustand auf den des vorigen Tages durch. Das neue Bett, an das mir in Balbec morgens ein ganz anderes erstes Frühstück gebracht wurde als in Paris, konnte nicht mehr den Gedanken Raum geben, die meine Liebe zu Gilberte gespeist hatten. Es gibt Fälle (sie sind allerdings ziemlich selten), in denen Ortswechsel das beste Mittel ist, Zeit zu gewinnen, während Seßhaftigkeit die Stunden erstarren macht. Meine Reise nach Balbec war wie der erste Ausgang eines Rekonvaleszenten, auf den er nur gewartet hat, um zu bemerken, er sei geheilt.

Heute würde man diese Reise wohl lieber im Automobil machen; das wäre angenehmer. In einem bestimmten Sinne würde sie dadurch sogar richtiger, denn im Automobil folgt man in viel näherer, unmittelbarerer Berührung dem wechselnden Auf und Ab der Erdoberfläche. Aber das Besondere, was man beim Reisen genießt, ist nicht, unterwegs aussteigen und haltmachen zu können, wenn man müde ist, nein, der Unterschied zwischen Abfahrt und Ankunft darf nicht abgeschwächt werden, sondern so stark wie irgend möglich muß er werden, er will unbeeinträchtigt in seiner ganzen Intensität erlebt sein, so wie er in unserer Phantasie bestand, als sie uns von dem Ort, an dem wir lebten, mitten in den ersehnten Ort versetzte. Dieser Gedankensprung war wunderbar, nicht weil er eine Entfernung übersprang, sondern weil er verschiedene Individualitäten der Erde vereinte, uns von einem Namen zu einem andern Namen führte; auf einer Spazierfahrt, bei der man nach Belieben aussteigen kann, gibt es keine Ankunft, bei der Eisenbahnfahrt aber wird der Unterschied von Ankunft und Abfahrt geheimnisvoll schematisiert durch eine Operation, die sich in den Bahnhöfen, diesen ganz besondern Stätten, vollzieht, die sozusagen kein Teil der Stadt sind und doch die Essenz ihrer Persönlichkeit so deutlich enthalten wie sie auf dem Signalschild ihren Namen tragen.

In allem hat unsere Zeit die fixe Idee, die Dinge nur inmitten ihrer wirklichen Umgebung zu zeigen, und unterdrückt dadurch das Wesentliche, den geistigen Akt, der sie von der Wirklichkeit isoliert. Ein Gemälde wird mitten unter Möbeln, Nippsachen und Wandbespannungen seiner Epoche ›präsentiert‹, und diese fade Dekoration zusammenzustellen, ist Stolz mancher Dame des Hauses, die gestern noch ganz ungebildet war und heut ihre Tage in Archiven und Bibliotheken zubringt. So gibt uns denn heutzutage unterm Diner ein Meisterwerk nicht das berauschende Glück, wie man in einem Museumssaal es von ihm haben kann; solch ein nackter, auf allen besondern Schmuck verzichtender Saal symbolisiert weit besser den Seelenraum, in dem der Künstler sich von der Welt abgetrennt hat, um zu schaffen. Leider sind diese wunderbaren Stätten, die Bahnhöfe, von denen man sich zu fernen Bestimmungsorten aufmacht, zugleich tragische Stätten. Soll sich das Wunder vollziehen, das uns mitten in Ländern, die bisher nur in unsern Gedanken existierten, leben läßt, so müssen wir dagegen beim Verlassen des Wartesaals darauf verzichten, bald die befreundete Stube wiederzufinden, in der wir eben noch waren. Man muß alle Hoffnung aufgeben, zum Schlafen nach Hause zu kommen, sobald man sich entschlossen hat, in die verpestete Höhle einzudringen, aus der man zum Mysterium gelangt, in eine der großen Glashallen wie die von Saint-Lazare, in der nun ich den Zug nach Balbec suchte. Über einer auseinandergerissenen Stadt spannte sie ihren weiten wüsten Himmel voll drohender Dramen; so modern, so fast pariserisch sind manche Himmel von Mantegna oder Veronese, unter solcher Wölbung kann sich nur etwas Furchtbares und Feierliches vollziehen, eine Abfahrt auf der Eisenbahn oder die Kreuzerhöhung.

Solange ich mich damit begnügt hatte, die sturmumwehte persische Kirche von Balbec von meinem Pariser Bett aus anzuschauen, hatte mein Körper gegen die Reise nichts einzuwenden gehabt Das fing erst an, als er begriffen hatte, man habe es auf ihn mit abgesehen und werde mich am Abend der Ankunft in »mein« Zimmer führen, ein Zimmer, das er gar nicht kannte. Noch größer wurde seine Empörung, als ich am Tage vor der Abfahrt erfuhr, meine Mutter werde uns nicht begleiten (mein Vater konnte nämlich bis zum Zeitpunkt seiner Abreise nach Spanien mit Herrn von Norpois Paris nicht verlassen und hatte deshalb ein Sommerhaus in der Umgebung gemietet). Übrigens ließ sich meine Sehnsucht, Balbec mit Augen anzuschauen, dadurch nicht beeinträchtigen, daß ich diesen Anblick mit Schmerzen erkaufen sollte. Ja, die Schmerzen waren mir ein Sinnbild und eine Garantie dafür, daß der Eindruck, den ich suchte, Wirklichkeit werden würde. Für diesen Eindruck wäre es kein Ersatz gewesen, irgendein angeblich äquivalentes Schauspiel, ein »Panorama« zu besuchen, um nachher heimzugehen und in meinem Bett zu schlafen. Nicht zum ersten Male fühlte ich, daß Liebende und Genießende nicht dieselben Menschen sind. Ich glaubte mich ebensosehr nach Balbec zu sehnen wie mein Arzt, der sich am Morgen der Abreise über mein unglückliches Aussehen wunderte und sagte: »Sie können mir glauben, wenn ich auch nur acht Tage Zeit hätte, Seeluft zu atmen, ich ließe mich nicht lange bitten. Sie werden da Rennen haben und Regatten, es wird herrlich sein.« Ich hatte schon lange, bevor ich die Berma hören ging, gelernt: was immer ich lieben sollte, blieb fernes Ziel eines qualvollen Strebens, und auf dem Wege zu diesem höchsten Gut mußte ich zunächst meinen Genuß zum Opfer bringen, statt ihm nachzugehen.

Für meine Großmutter war unsere Abreise natürlich etwas anderes. Von jeher bemüht, den Geschenken, die ich erhalten sollte, einen künstlerischen Charakter zu geben, hatte sie, um mir einen Teil dieser Reise als »Ersten Zustand« darzubieten, gewollt, wir sollten halb mit der Eisenbahn und halb im Wagen die Route verfolgen, auf der Frau von Sévigné von Paris über Chaulnes und »le Pont-Audemer« nach »l'Orient« gereist war. Aber diesen Plan mußte sie aufgeben, mein Vater wollte nichts davon wissen. Er kannte ihre Art, eine Reise so zu organisieren, daß möglichst viel geistiger Genuß dabei herauskam, und wußte, wieviel versäumte Züge, verlorene Gepäckstücke, Erkältungen und Polizeistrafen dabei vorauszusehen waren. Eine Freude blieb ihr wenigstens unbenommen: wir würden, wenn wir zum Strande wollten, nicht wie ihre geliebte Sévigné sagte, »eine verdammte Karosse voll lästiger Leute« abbekommen, da wir keine Bekannten in Balbec haben würden. Legrandin hatte uns kein Empfehlungsschreiben an seine Schwester angeboten. (Das gefiel meinen Tanten Céline und Victoire weniger, sie hatten die vornehme Dame, die sie immer, um die frühere Intimität zu betonen, »Renée von Cambremer« nannten, als junges Mädchen gekannt und besaßen von ihr Geschenke, die ihnen noch zum Zimmerschmuck und als Gesprächsstoff dienen konnten, aber keiner aktuellen Beziehung entsprachen. Um die Beleidigung, die man uns angetan, zu rächen, sprachen sie, wenn sie bei der alten Frau Legrandin zu Besuch waren, nicht ein einziges Mal den Namen ihrer Tochter aus und auf dem Heimweg beglückwünschten sie einander zu dieser feinen Rache mit Wendungen wie »Auf die bewußte habe ich mit keinem Wort angespielt« oder »Ich glaube, man wird schon begriffen haben.«)

Wir würden also einfach mit dem Zuge 1 Uhr 22 von Paris abfahren. Den hatte ich schon oft – immer mit der Erregung, fast der beglückenden Illusion der Abreise – im Kursbuch nachgeschlagen, ich war schon gut mit ihm bekannt. Um unsere Glücksmöglichkeiten zu formulieren, hält unsere Phantasie sich mehr an unsere Wünsche als an das, was wir über diese Möglichkeiten Genaues wissen. Und so glaubte ich das Glück, das mir bevorstand, bis in alle Einzelheiten zu kennen und machte mich mit Gewißheit auf ein spezielles Vergnügen im Eisenbahnwagen gefaßt, wenn der Tag sich langsam abkühlen und ich in der Nähe der und der Station in die Landschaft hinaussehen werde. Mit dem Gedanken an den Zug 1 Uhr 22 tauchten immer wieder die Bilder derselben Städte, eingehüllt in das Nachmittagslicht seiner Fahrt, in mir auf, und er war für mich etwas anderes als alle anderen Züge. Es ging mir schließlich mit ihm wie mit einem Menschen, den man nie gesehen hat, in der Phantasie aber schon als vertrauten Freund sich vorstellt: ich gab ihm eine ausgesprochene, unveränderliche Physiognomie, er wurde mir zu einem blonden Künstler auf Reisen, der seine Straße mich mitnahm, bis ich zu Füßen der Kathedrale von Saint-Lo ihm Lebewohl sagen würde, ehe er sich gen Sonnenuntergang entfernte.

Meine Großmutter konnte sich nicht entschließen, ohne interessante Unterbrechung direkt nach Balbec zu reisen, und wollte sich unterwegs einen Tag bei einer Freundin aufhalten; ich aber sollte am gleichen Abend weiterfahren, um der Dame keine Umstände zu machen, und auch, um am nächsten Tage die Kirche von Balbec zu besuchen, die, wie wir erfahren hatten, ziemlich weit vom Bad Balbec ablag, weswegen ich vermutlich nachher, wenn meine Badekur begonnen, nicht so bald einen Ausflug dahin machen könnte. Es hatte auch etwas Beruhigendes für mich, mein wunderbares Reiseziel eingeordnet zu wissen vor die erste qualvolle Nacht, in der ich eine neue Wohnung betreten und dort zu leben mich entschließen sollte. Erst aber hieß es die alte verlassen; meine Mutter wollte am gleichen Tage ihre Wohnung in Saint-Cloud beziehen und hatte alle Vorkehrungen getroffen, nachdem sie uns zur Bahn gebracht, sich direkt dahin zu begeben, ohne noch einmal nach Hause zu müssen, oder sie tat wenigstens so, weil sie fürchtete, ich würde sonst, statt nach Balbec zu reisen, lieber mit ihr heimkehren wollen. Und unter dem Vorwand, viel im neu gemieteten Hause zu tun und wenig Zeit dazu zu haben – in Wahrheit aber, um mir die Qual dieser besonderen Art von Abschied zu ersparen, hatte sie beschlossen, nicht bis zur Abfahrt des Zuges bei uns zu bleiben. Denn dann auf dem Bahnsteig, erst noch hingehalten zwischen all dem Gehen und Kommen und lauter Vorbereitungen, die zu keinem Ende führen, wird die nun doch unvermeidliche Trennung ein jäher unerträglicher Schmerz, zusammengedrängt in einen letzten furchtbaren Augenblick voll äußerster ohnmächtiger Hellsichtigkeit.

Zum ersten Male fühlte ich, es sei möglich, daß meine Mutter ohne mich, auf eine andere Weise als für mich, ein ganz anderes Leben lebe. Sie würde für sich wohnen mit meinem Vater, sie fand vielleicht, ich mache ihm durch meine schwache Gesundheit und Nervosität das Dasein etwas schwierig und traurig. Noch trostloser wurde die Trennung für mich, wenn ich mir sagte, sie sei bei meiner Mutter das Ergebnis fortgesetzter Enttäuschungen, die ich ihr bereitet, die sie mir zwar verschwiegen, durch die sie aber eingesehen habe, wie schwer es sei, die Ferien gemeinsam zu verbringen. Vielleicht auch wollte sie damit zum ersten Male ein Dasein erproben, in das sie sich künftig ergeben mußte, wenn nun allmählich die Jahre kämen, in denen mein Vater und sie mich seltener sehen würden, die Zeit, in der sie für mich – das hatten mir nicht einmal meine Angstträume bisher vergegenwärtigt – schon etwas fremd würde, eine Dame, die man allein in ein Haus, in dem ich nicht bin, treten und den Portier fragen sieht, ob Briefe von mir gekommen seien. Kaum konnte ich dem Dienstmann antworten, der mir die Handtasche abnehmen wollte. Um mich zu trösten, wandte meine Mutter Mittel an, die ihr die wirksamsten schienen. Sie hielt es für zwecklos, meinen Kummer scheinbar zu übersehen, sie zog es vor, mich sanft damit zu necken.

»Was würde wohl die Kirche von Balbec denken, wenn sie wüßte, daß man so unglücklich zu ihr auf Besuch geht? Ist das der begeisterte Reisende, von dem Ruskin spricht? Nun, ich werde schon merken, ob du auf der Höhe der Situation bist, auch in der Ferne werde ich bei meinem kleinen Jungen sein. Morgen bekommst du einen Brief von deiner Mama.«

»Mein Kind,« sagte die Großmutter zu ihr, »ich sehe dich wie Frau von Sévigné eine Landkarte studieren und uns keinen Augenblick verlassen.«

Mama versuchte mich zu zerstreuen; sie fragte, was ich mir zu essen bestellt habe, dann bewunderte sie Françoise, machte ihr Komplimente über ihren Mantel und Hut. Die erkannte sie nicht wieder, obgleich sie sie früher einmal scheußlich gefunden hatte, als sie neu waren und meine Großtante sie trug, den Hut mit einem Riesenvogel drauf und den Mantel voll greulicher Jet-Dessins. Als die Tante ihn nicht mehr trug, hatte Françoise ihn wenden lassen, und nun kam die schöne Farbe der ungemusterten Rückseite zur Geltung. Der Vogel war schon lange zerbrochen und in die Rumpelkammer gewandert. Raffinements, um die sich große Künstler bewußt bemühen, überraschen bisweilen in einem Volkslied, an einem Bauernhaus, dessen Fassade über der Tür an der passendsten Stelle eine weiße oder schwefelfarbene Rose schmückt: so hatte Françoise Samtschleife und Bandknoten, die auf einem Porträt von Chardin oder Whistler entzückend gewesen wären, mit sicherem natürlichen Geschmack angebracht, und der Hut war sehr hübsch geworden. Der bescheiden-ehrbare Ausdruck, der das Gesicht unserer alten Dienerin adelte, hatte sich auch der Kleidung mitgeteilt, die Françoise in der zurückhaltenden, doch nie servilen Art, mit der sie die »Würde ihrer Stellung wahrte«, für die Reise angelegt hatte, um, ohne sich vorzudrängen, neben uns sich zeigen zu können; in dem abgeblaßten Kirschrot des Mantels und dem weichhaarigen Pelz des Kragens erinnerte sie – um auf entlegenere Zeiten zurückzugreifen – an ein Bild der Königin Anne von Bretagne, wie es etwa ein alter Meister in sein Stundenbuch malt: da ist alles an seinem Platz, das Gefühl für Gesamtwirkung hat sich über alle Teile verbreitet, und die reiche, uns fernliegende Eigenart des Kostüms wirkt ebenso würdig und fromm wie Augen, Lippen und Hände.

Von Nachdenken konnte bei Françoise nicht die Rede sein. Alles in allem wußte sie nichts (wenn man Nichtwissen mit dem Nichtverstehen gleichsetzt), nichts als die wenigen Wahrheiten, die das Herz unmittelbar erfaßt. Die weite Welt der Ideen existierte für sie nicht. Aber von ihrem klaren Blick, von den zarten Linien der Nase und der Lippen (Merkmalen, die bei gebildeten Leuten, denen sie oft mangeln, höchste Distinktion, edle Freiheit erlesener Geister bezeichnet hätten) war man bisweilen betroffen wie von dem guten, klugen Blick eines Hundes, dem doch alle menschlichen Vorstellungen fremd sind. So gibt es wohl unter unsern schlichten Brüdern, den Bauern, eine Art Elite der Armen im Geiste; ein ungerechtes Geschick hat sie verdammt, unter diesen geistig Armen zu leben; Erkenntnis fehlt ihnen, aber sie stehen von Natur im wesentlichen den höheren Menschen näher als die Mehrzahl der Gebildeten; sie sind verstreute, verlorene, der Vernunft beraubte Glieder der heiligen Familie, kindgebliebene Geschwister der höchsten Geister; an dem unverkennbaren Leuchten in ihren Augen, das allerdings auf nichts Bestimmtes hindeutet, sieht man: zur Begabung fehlt ihnen nur das Wissen.

Meine Mutter sah, daß ich kaum die Tränen zurückhalten konnte, und sagte: »Regulus pflegte in bedeutsamen Momenten ... Und dann ist es auch nicht nett gegen deine Mama. Um wie deine Großmutter mit Frau von Sévigné zu sprechen: »Ich werde gezwungen sein, den ganzen Mut, der dir fehlt, aufzubringen.‹« Und da sie wußte, wie Anteilnahme am Schicksal des Nächsten von selbstsüchtigen Schmerzen ablenkt, unterhielt sie mich, um mir Vergnügen zu machen, von ihren Angelegenheiten: sie rechne auf eine angenehme Fahrt nach Saint-Cloud, sei mit der Droschke zufrieden, habe sie behalten, der Kutscher sei höflich, der Wagen bequem. Ich gab mir Mühe, über diese Einzelheiten zu lächeln, und nickte zustimmend, zufrieden. Doch alles, was Mama sagte, machte ihre Abreise mir nur noch wirklicher, und mit beklommenem Herzen sah ich sie, als wäre sie schon von mir getrennt, dastehen in dem rundem Strohhut, den sie fürs Land gekauft, in dem leichten Kleid, das sie für die lange Fahrt bei großer Hitze angelegt hatte; so war sie schon anders, gehörte schon zur Villa ›Montretout‹, in der ich sie nicht sehen sollte.

Um die Erstickungsanfälle, die sich als Folge der Reise einstellen könnten, zu vermeiden, hatte der Arzt mir geraten, im Augenblick der Abfahrt eine größere Quantität Bier oder Kognak zu mir zu nehmen, um dadurch in den von ihm als ›Euphorie‹ bezeichneten Zustand zu kommen, in dem das Nervensystem für den Augenblick weniger verletzlich ist. Noch war ich nicht sicher, daß ich es tun würde, wollte aber wenigstens, die Großmutter solle anerkennen, wenn ich mich dazu entschlösse, wären Recht und Vernunft auf meiner Seite. So sprach ich denn davon, als hätte ich mich nur über den Ort, wo ich den Alkohol trinken wollte, noch nicht entschieden, Stationsbüfett oder die Bar im Zuge. Als mich aber die Großmutter vorwurfsvoll ansah und schon vor dem Gedanken an mein Vorhaben zurückschrak, stand plötzlich mein Entschluß zu trinken fest; ihn auszuführen, wurde, da schon die bloße Ankündigung auf Widerstand stieß, notwendig, um meine Freiheit zu erhärten, und ich rief: »Du weißt doch, wie krank ich bin, du weißt, was der Arzt mir gesagt hat, und jetzt rätst du mir ab!« Da bekam das gütige Gesicht meiner Großmutter einen ganz untröstlichen Ausdruck, und als sie sagte: »So geh schnell Bier oder einen Likör trinken, wenn dir das gut tun soll«, warf ich mich in ihre Arme und bedeckte sie mit Küssen. Dann trank ich allerdings viel zuviel in der Bar des Zuges, aber nur weil ich fühlte, ich könnte sonst einen heftigen Anfall bekommen, und das würde sie doch am meisten bekümmern. Als ich an der ersten Station wieder in unsern Wagen stieg, sagte ich zu der Großmutter, ich sei so glücklich, nach Balbec zu reisen, ich fühle, alles werde gut gehen, im Grunde würde ich mich schnell daran gewöhnen, fern von Mama zu sein, der Zug sei angenehm, Barmann und Angestellte sehr liebenswürdig, diese Strecke möchte ich oft fahren, um die Leute wiederzusehen. Die Großmutter schien nicht so erfreut wie ich über all die guten Neuigkeiten. Meinem Blick ausweichend, entgegnete sie: »Du solltest ein bißchen zu schlafen versuchen«, und sie sah zum Fenster hinüber, an dem wir den Vorhang heruntergelassen hatten. Der bedeckte die Scheibe nicht ganz, und so konnte die Sonne (eine viel beredtere Reklame als die richtigen von der Eisenbahngesellschaft zu hoch an den Wänden angebrachten Reklamebilder, deren Unterschrift ich nicht entziffern konnte) über das gewachste Eichenholz der Coupétür und den Stoffbezug der Bank dasselbe laue verschlafene Licht gleiten lassen, das draußen in den Waldlichtungen ausruhte.

Die Großmutter glaubte, ich habe die Augen geschlossen, ich sah, wie sie von Zeit zu Zeit unter ihrem Schleier mit den dicken Tupfen einen Blick auf mich warf, weg- und dann wieder hersah wie jemand, der bemüht ist, sich an eine beschwerliche Pflicht zu gewöhnen.

Da redete ich zu ihr, aber das war ihr offenbar nicht sehr angenehm. Und mir machte doch der Klang der eigenen Stimme so viel Vergnügen und ebenso die unmerklichsten innersten Bewegungen meines Körpers; jedes betonte Wort zog ich in die Länge, fühlte, daß jeder Blick von mir da, wo er hinfiel, sich wohlbefand und länger als gewöhnlich haften blieb. »Du mußt dich ausruhen,« sagte meine Großmutter, »wenn du nicht schlafen kannst, lies etwas.« Und sie reichte mir einen Band von Frau von Sévigné; den öffnete ich, während sie sich in die Memoiren der Frau von Beausergent vertiefte; nie reiste sie ohne ein Buch der einen oder der andern. Es waren das ihre beiden Lieblingsschriftsteller. Ich mochte jetzt nicht gern den Kopf bewegen, es war mir eine Lust, die einmal eingenommene Lage beizubehalten; so hielt ich denn ruhig das Buch der Frau von Sévigné, ohne es aufzuschlagen, senkte auch nicht meinen Blick; der hatte nichts vor sich als den blauen Store des Fensters. Diesen Store zu betrachten, schien mir wunderbar, und hätte jemand versucht, mich von meiner Betrachtung abzulenken, ich hätte mir nicht die Mühe genommen, ihm zu antworten. Nicht weil es schön, sondern weil es so lebendig und eindringlich war, verloschen vor dem Blau der Stores alle Farben, die ich vom Tage meiner Geburt bis zu dem Augenblick, als ich mein Getränk hinunterschluckte, vor Augen gehabt hatte. Von diesem Augenblick an hatte das Blau des Stores zu wirken begonnen, und neben ihm waren alle andern Farben so fahl und nichtig, wie für Blindgeborene, die spät operiert werden und endlich Farben sehen, die Dunkelheit, in der sie früher gelebt haben, es retrospektiv werden mag. Ein alter Schaffner erschien und bat um unsere Billette. An den silbernen Reflexen auf den Metallknöpfen seines Rockes konnte ich mich nicht sattsehen. Ich wollte ihn bitten, sich zu uns zu setzen. Aber er ging in ein anderes Coupé weiter, und ich dachte mit Sehnsucht an das Leben der Eisenbahnbeamten, die ihre ganze Zeit im Zuge verbrachten und tagtäglich diesen alten Schaffner sehen konnten. Schließlich nahm meine Lust, den blauen Store zu betrachten und zu fühlen, daß mein Mund halb offen war, mehr und mehr ab. Ich wurde regsamer; ein wenig bewegte ich mich, schlug das Buch auf, das die Großmutter mir gereicht hatte, und konnte nunmehr meine Aufmerksamkeit auf die Seiten richten, die ich hier und da auswählte. Beim Lesen fühlte ich, wie meine Bewunderung für Frau von Sévigné; größer wurde.

Man muß sich nicht durch rein formale Besonderheiten, die mit der Epoche und dem Salonleben zusammenhängen, irreführen lassen, wie das gewisse Leute tun, die mit Frau von Sévigné fertig zu sein glauben, wenn sie sagen: ›Entbiete mir meine Bonne‹ oder ›Dieser Graf schien mir von vortrefflichen Geistesgaben‹ oder ›Heuen ist das Schönste auf der Welt‹. Schon Frau von Simiane bildet sich ein, ihrer Großmutter zu gleichen, wenn sie schreibt: ›Herrn von La Boulie geht es ausgezeichnet, er ist in bestem Zustande, um die Nachricht von seinem eigenen Tode zu bekommen‹ oder ›O mein lieber Marquis, Ihr Schreiben erfreut mich über die Maßen. Wie brächte ich's fertig, nicht zu antworten‹ oder auch ›Mir scheint, verehrter Herr, Sie sind mir eine Antwort schuldig, und ich Ihnen Bergamottdosen. Ich erfülle meine Pflicht zunächst mit acht Stück, später folgen mehr ...; nie hat die Erde soviel getragen. Offenbar, um Ihnen Freude zu machen.‹ Und in derselben Art schreibt sie den Brief über den Aderlaß, die Zitronen usw., die ihr wie richtige Sévignébriefe vorkommen. Meine Großmutter aber war von innen, durch ihre Liebe zu den Ihren und zur Natur, zu Frau von Sévigné gekommen und hatte die wahren Schönheiten dieser Briefe, die von ganz anderer Art sind, zu lieben mich gelehrt. Bald sollten sie mir noch besonders nahegebracht werden, denn Frau von Sévigné war eine Künstlerin von derselben Familie wie ein Maler, dem ich in Balbec begegnete und der einen so tiefgehenden Einfluß auf mein Weltbild gewann: Elstir. Da wurde mir klar, daß sie uns die Dinge darbietet wie er: sie leitet sie nicht erst erklärend aus ihren Ursachen ab, sie hält sich an den Gang unserer Wahrnehmung. Aber schon an dem Nachmittag im Coupé, als ich wieder den Brief las, in dem der Mondschein vorkommt: ›Da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen: ich tu all mein Hauben- und Kapuzenzeug auf, was gar nicht nötig war, ich gehe auf die Promenade, wo die Luft so gut ist wie in meinem Zimmer! Ich finde lauter putzige Leute, weiße und schwarze Mönche, graue und weiße Nonnen, Wäsche hier und da herumliegen, stehend in Stämmen begrabene Menschen‹ –, da entzückte mich etwas, das ich einige Zeit später (zeichnet sie doch Landschaften wie er Charaktere) das Dostojewskiartige der Briefe der Frau von Sévigné genannt haben würde.

Nachdem ich dann am Abend die Großmutter zu ihrer Freundin begleitet, dort einige Stunden verbracht hatte und dann allein wieder in den Zug gestiegen war, hatte die einbrechende Nacht nichts Quälendes für mich; ich brauchte sie ja nicht in dem Gefängnis eines Zimmers zu verbringen, dessen Schlummer mich wachgehalten hätte, ich war umgeben von der beruhigenden Rastlosigkeit, mit der der Zug sich bewegte: das leistete mir Gesellschaft, das bot sich zur Unterhaltung, wenn ich keinen Schlaf finden sollte, das wiegte mich mit Geräuschen, die ich wie Glockenklang von Combray bald mit diesem, bald mit jenem Rhythmus verband (ich hörte erst vier gleichmäßige Sechzehntel, dann ein Sechzehntel, das wild gegen ein Viertel stieß); diese Bewegungen hoben die Zentrifugalkraft meiner Schlaflosigkeit auf und übten einen Gegendruck auf sie aus, der mich im Gleichgewicht hielt. Von ihnen konnte ich mich, erst stilliegend und dann bald einschlafend, tragen lassen, wie wachsame Natur- und Lebensmächte meine Ruhe getragen hätten, wenn ich für den Augenblick die Gestalt des Fisches hätte annehmen können, der im Meere schläft und sich von Strömungen und Wellen treiben läßt, oder die des Adlers, der nur auf dem stützenden Sturme ruht.

Der Sonnenaufgang gehört als Begleiter zu langen Eisenbahnreisen wie die harten Eier, die illustrierten Zeitungen, die Kartenspiele, die Bäche, in denen Boote sich bewegen, ohne vorwärtszukommen. Einmal, als ich gerade die Gedanken aufzählen wollte, die in den vorhergehenden Minuten mir in den Sinn gekommen waren, um festzustellen, habe ich geschlafen oder nicht (das unsichere Gefühl, das mich auf diese Frage brachte, war schon nahe daran, mir eine bejahende Antwort zu liefern); –, sah ich im Fenster über einem kleinen schwarzen Walde zackige Wolken, deren zarter Flaum rosa war, ein festsitzendes totes Rosa, das unveränderlich aussah wie das auf Flügelfedern, die es assimiliert haben, oder auf einem Pastell, auf dem die Phantasie des Malers es festgelegt hat. Aber ich bemerkte, daß die Farbe durchaus nicht leblos oder launenhaft, vielmehr notwendig, voller Leben war. Bald häuften sich hinter ihr Lichtreserven. Sie belebte sich, und um das Inkarnat des Himmels besser zu sehen, drückte ich mein Gesicht an die Scheibe, denn ich fühlte, wie diese Farben mit dem tiefsten Wesen der Natur zusammenhingen, aber da hatte die Linie der Eisenbahn ihre Richtung geändert, der Zug machte einen Bogen, statt der morgendlichen Szene erschien im Fenster ein nächtliches Dorf mit mondscheinblauen Dächern, ein vom opalenen Perlmutterglanz der Nacht geflecktes Waschbecken, darüber ein noch ausgestirnter Himmel; schon war ich trostlos, meinen rosa Himmelsstreifen verloren zu haben, da erschien er von neuem, dieses Mal aber rot und im Fenster gegenüber, – um bei der nächsten Biegung des Geleises es wieder zu verlassen. So verbrachte ich denn die Zeit damit, von einem Fenster zum andern zu laufen, um die intermittierenden Fragmente meines schönen, wankenden, scharlachroten Morgens hüben und drüben zusammenzubringen, aufzuspannen, eine Gesamtansicht, ein dauerndes Bild zu bekommen.

Die Landschaft wurde hügelig, abschüssig, der Zug hielt in einem kleinen Bahnhof zwischen zwei Bergen. Tief in der Schlucht sah man am Rande des Gießbachs ein einzelnes Wärterhäuschen, das im Wasser, das seine Fenster bespülte, beinahe verschwand. Wenn wirklich ein Wesen das Produkt seines Bodens ist und man in ihm dessen besonderen Reiz genießen kann, dann mußte ich das – mehr noch als an der Bäuerin, deren Erscheinen ich so ersehnt hatte, als ich allein in der Gegend von Méséglise in den Wäldern von Roussainville irrte – hier an dem großen Mädchen erleben, das jetzt aus dem Hause trat und im schrägen Schein der aufgehenden Sonne den Pfad zum Bahnhof mit einem Milchkruge heraufkam. In dem Tale, das Höhen rings vor der übrigen Welt verbargen, mochte sie wohl keinen Menschen sehn außer in Zügen, die nur einen Augenblick hielten. Sie ging die Wagen entlang und bot einigen Reisenden, die schon wach waren, Milchkaffee an. Purpurn vom Morgenschein übergossen, war ihr Gesicht rosiger als der Himmel. Ich fühlte bei ihrem Anblick Sehnsucht zu leben, wie sie jedesmal in uns erwacht, wenn uns von neuem Schönheit und Glück bewußt werden. Wir vergessen immer wieder, daß sie individuell sind, und unterschieben ihnen einen konventionellen Typus, ein Mittelding, das wir uns aus den verschiedenen Gesichtern, die uns gefallen, den Genüssen, die uns geworden sind, bilden; so bekommen wir nur abstrakte Gebilde, schale, verblasene, ohne das Präzise, Neue und Unterscheidende, das der Schönheit, dem Glück eigen ist. Wir urteilen pessimistisch über das Leben und glauben uns dazu berechtigt in dem Gefühl, Schönheit und Glück mit in Betracht gezogen zu haben, und haben sie doch ausgelassen und durch Synthesen ersetzt, die kein Atom von ihnen enthalten. Darum gähnt der Belesene gleich, wenn man ihm von einem neuen schönen Buch spricht, er stellt sich darunter ein Mischgebilde aus all den schönen Büchern vor, die er gelesen hat, und ein schönes Buch ist doch etwas Einmaliges, das sich nicht vorhersehen, nicht aus der Summe der früheren Meisterwerke ableiten läßt; mag man sich diese Summe auch vollkommen zu eigen gemacht haben, man wird das Neue nur außerhalb dieser Gesamtheit finden. Entdeckt aber der Belesene und eben noch Blasierte dies neue Werk, so regt sich sein Interesse für die Wirklichkeit, die es beschreibt. So gab das schöne Mädchen, das mit den Schönheitsmustern meiner Phantasie nichts gemein hatte, mir alsbald Vorgeschmack eines bestimmten Glücks (und nur in dieser einmaligen Form können wir Glück genießen), eines Glücks, das sich in einem Leben mit ihr verwirklichen würde. Dabei spielt wieder das momentane Aussetzen der Gewohnheit eine bedeutsame Rolle. Der Milchhändlerin kam zugute, daß mein Wesen vollständig zugegen und reif war für die Genüsse, die sich ihm boten. Gewöhnlich leben wir nur mit einem auf das Minimum reduzierten Wesen, unsere meisten Fähigkeiten schlummern, da sie sich auf die Gewohnheit verlassen, die weiß, was zu tun ist und sie nicht nötig hat. Doch dieser Reisemorgen unterbrach das Einerlei meines Daseins, die ungewohnte Stunde, der ungewohnte Ort verlangten Gegenwart meines ganzen Wesens. Ich lebte sonst seßhaft häuslich und war kein Frühaufsteher, jetzt aber fielen meine Gewohnheiten weg, und gleich waren all meine Fähigkeiten zur Stelle, wetteifernd sie zu ersetzen, alle erhoben sich wie Wellen zu demselben ungewohnten Niveau, von der niedrigsten bis zur edelsten, von Atmung, Appetit und Blutumlauf bis zu Gefühl und Phantasie. Ob der wilde Zauber der Landschaft das seine dazu beitrug, daß dies Wesen mir anders erschien als die andern Frauen, weiß ich nicht, aber das Mädchen gab der Landschaft von seinem Zauber ab. Köstlich schien mir, das Leben ganz mit ihr zusammen zu verbringen, Stunde um Stunde an ihrer Seite auf dem Weg zum Bach, zur Kuh, zum Zuge, ihr wohlbekannt zu sein und meinen Platz in ihren Gedanken zu haben. Sie hätte mich in den Genuß des Landlebens und der frühen Tagstunden eingeweiht. Ich winkte ihr, mir Milchkaffee zu reichen. Ich hatte das Bedürfnis, von ihr bemerkt zu werden. Sie sah mich nicht. Ich rief sie. Über der hohen Gestalt erschien das Gesicht vergoldet und rosig, als sähe man es durch ein beleuchtetes Kirchenfenster. Sie kam zurück, ich konnte meine Augen nicht von ihrem Gesicht wenden, es wurde größer, breiter wie eine Sonne, in die man sehen kann, während sie immer mehr sich nähert, ganz aus der Nähe sich anschauen läßt und mit Gold und Rot blendet. Sie richtete ihren scharfen Blick auf mich, da schlossen die Schaffner die Wagentüren, und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich sah, wie das Mädchen den Bahnhof verließ und wieder ihren Pfad entlang ging, es war jetzt heller Tag, ich entfernte mich von der Morgenröte. Ob ich nun außer mir war, weil ich dies Mädchen sah, oder ob ich die Nähe des Mädchens so sehr genoß, weil ich schon außer mir war, jedenfalls bildete es einen Teil meiner Begeisterung, und mein Wunsch, es wiederzusehen, war vor allem ein Verlangen der Seele, diesen Zustand der Erregung nicht ganz vergehen zu lassen, mich nicht auf immer von einem Wesen zu trennen, das, wenn auch unbewußt, daran teilgenommen hatte. Dieser Zustand war mehr als angenehm, er gab – wie stärkere Spannung einer Saite, heftigeres Schwingen einer Fiber neuen Klang und neue Farbe – dem, was ich sah, einen neuen Ton, führte mich als Mitspielenden in ein unbekanntes, unendlich interessanteres Universum; das schöne Mädchen, das ich noch immer sah, als der Zug schon schneller fuhr, war Teil eines anderen, von dem mir bekannten durch eine schmale Borte getrennten Lebens; dort riefen die Gegenstände andere Empfindungen hervor; und es jetzt ganz zu verlassen, wäre ein Sterben gewesen. Um den Genuß zu haben, mit diesem Leben mich wenigstens verbunden zu fühlen, hätte es genügt, daß ich unweit der kleinen Station wohnte und jeden Morgen hinkäme, von dieser Bäuerin mir Milchkaffee geben zu lassen. Aber leider würde sie dem andern Leben, dem ich mich schneller und schneller jetzt näherte, immer fern sein, und um mich darein fügen zu können, schmiedete ich Pläne, wie ich eines Tages wieder diesen Zug nehmen und an dieser Station haltmachen könnte. Dies Projekt hatte noch den besondern Vorteil, der interessierten, aktiven, praktischen, mechanischen, trägen, zentrifugalen Veranlagung, die unserm Geiste eigen ist, Nahrung zu geben. Er vermeidet ja gern die Mühe, – allgemein und ohne Zweck – einen angenehmen Eindruck in sich selbst tiefer zu ergründen. Da wir aber weiter an diesen Eindruck denken wollen, verlegt er ihn lieber in die Zukunft und bereitet geschickt Umstände vor, die ihn wieder herbeiführen können; so erfahren wir nichts über sein Wesen, vermeiden die Mühe, ihn in uns selbst zu erschaffen, und dürfen hoffen, neuerlich von außen ihn zu bekommen.

Gewisse Städtenamen wie Vezelay, Chartres, Bourges, Beauvais bezeichnen zugleich abkürzend die Hauptkirche dieser Städte. Diese besondere Bedeutung des Namens wenden wir so häufig an, daß sie schließlich – wenn es sich um Städte handelt, die wir noch nicht kennen – dem Namen eine bestimmte Gesamtgestalt gibt; und wenn wir uns dann die Stadt darunter vorstellen wollen – die Stadt, die wir nie gesehen haben, – bekommt sie – wie ein Abguß – Stil und Maßwerk der Kirche und wird selbst eine Art Riesenkathedrale. So war es denn seltsam für mich, auf einer Eisenbahnstation über einem Büfett in weißen Lettern auf blauer Tafel den – fast persischen – Namen Balbec zu lesen. Rasch überschritt ich den Bahnhof und den angrenzenden Boulevard; ich fragte nach dem Strande, um nichts zu sehen als Kirche und Meer; man schien nicht zu verstehen, was ich meinte. Balbec-le-vieux, Balbec-en-terre, wo ich mich befand, war weder Badeort noch Hafen. Wohl hatten nach der Legende Fischer das wundertätige Christusbild im Meer gefunden (ein Fenster der Kirche, von der ich nur noch ein paar Schritte entfernt war, erzählte, wie das Bild entdeckt wurde). Wohl war der Stein, aus dem Schiff und Türme erbaut worden, von Klippen gebrochen, an die die Wellen schlugen. Aber das Meer, das in meiner Phantasie unter dem Kirchenfenster verschäumte, war mehr als drei Meilen entfernt bei Bad Balbec; und der Glockenturm neben der Kuppel des Fensters – ich hatte gelesen, er sei selbst eine strenge normannische Klippe, eine Stätte der Stürme, von Seevögeln umkreist, und mir vorgestellt, wie an seinen Fuß der Schaum der letzten Welle aufspritze – erhob sich auf einem Platz, wo zwei Trambahnlinien sich kreuzten, einem Café gegenüber, auf dem mit Goldlettern das Wort ›Billard‹ stand; unter die Dächer, die er überragte, mischte sich kein Mast. Die Kirche trat mit dem Café, dem Passanten, den ich nach dem Weg fragen, dem Bahnhof, zu dem ich zurückkehren mußte, zugleich in mein Blickfeld, bildete ein Ganzes mit dem übrigen, schien nur eine Unterbrechung, ein Produkt des Spätnachmittags, und ihre weichschwellende Rundung war wie eine Frucht, deren rosige, goldene, schmelzende Haut in demselben Lichte reifte, darin die Schornsteine der Häuser schwammen. Aber ich wollte nur noch an die ewige Bedeutung der Skulpturen denken, als ich die Apostel erkannte, deren Abgüsse ich im Trocaderomuseum gesehen hatte. Zu beiden Seiten der heiligen Jungfrau erwarteten sie mich vor der tiefen Bucht des Portals, als wollten sie mich begrüßen. Mit wohlwollenden, sanft stumpfnasigen Gesichtern und mit gekrümmten Rücken kamen sie mir entgegen und schienen als Willkommen das Halleluja eines schönen Tages zu singen. Aber da merkte ich, daß ihr Ausdruck starr war wie der von Toten und sich nur, wenn man um sie herumging, veränderte. Ich sagte mir: Hier ist es, das ist die Kirche von Balbec. Dieser Platz, der so aussieht, als wüßte er um seinen Ruhm, ist die einzige Stätte der Welt, die die Kirche von Balbec besitzt. Was ich bisher gesehen, waren nur Photographien dieser Kirche, nur Abgüsse dieser berühmten Apostel- und Jungfrauen-Statuen des Portals. Jetzt ist vor mir die Kirche selbst, die Statue selbst, sie sind es, die einzigen; das ist mehr!

Vielleicht war es auch weniger. Wie ein junger Mensch nach einem Examen oder einem Duell die Fragen, die ihm gestellt worden, die Kugel, die er abgeschossen hat, geringfügig findet, wenn er an die Reserven von Wissen und Mut denkt, von denen er gern Zeugnis abgelegt hätte, so hatte mein Geist die Jungfrau des Portals jenseits aller Reproduktionen, die ich vor Augen gehabt, errichtet, enthoben dem Bereich der Zufälle, die diese bedrohen konnten, und unberührt, wenn sie vernichtet worden wären, als ideale, allgemein geltende, und nun sah er verwundert die Statue, die er sich tausendmal gemeißelt hatte, beschränkt auf diese ihre einmalige Steingestalt. Den Raum, welchen sie im Bereiche meines Armes einnahm, mußte sie mit einem Wahlanschlag und mit der Spitze meines Stockes teilen, sie war gefesselt an diesen Marktplatz, unzertrennlich verbunden mit der Ecke der Hauptstraße, den Blicken des Cafés und der Posthalterei ausgesetzt; ihr Gesicht bekam die Hälfte des abendlichen Sonnenstrahls – und bald, in einigen Stunden – des Laternenlichts ab, dessen andre Hälfte auf das Bureau der Diskontobank fiel, und ebenso wie diese Filiale eines Bankhauses war sie dem Dunst aus der Küche eines Pastetenbäckers preisgegeben; der Tyrannei des Besondern war sie unterworfen, und hätte ich meinen Namenszug auf diesen Stein kritzeln wollen, die berühmte Jungfrau, der ich bis dahin eine allgemeine Existenz, eine unantastbare Schönheit verliehen, die Jungfrau von Balbec, die einzige (und das besagt ja doch schon die einmalige) würde die Spuren meiner Kreide und die Lettern meines Namens nicht abtun können, müßte sie allen Bewunderern, die sie zu betrachten kommen, auf ihrem Leibe, den derselbe Ruß beschmutzt wie die Häuser umher, vorweisen. Das unsterbliche, langersehnte Kunstwerk fand ich wie die ganze Kirche verwandelt in eine kleine Alte aus Stein, deren Höhe ich messen, deren Runzeln ich zählen konnte. Die Zeit verging, ich mußte zum Bahnhof zurück, um dort meine Großmutter und Françoise zu erwarten und zusammen mit ihnen nach Bad Balbec zu fahren. Ich rief mir ins Gedächtnis, was ich über Balbec gelesen, auch die Worte Swanns fielen mir ein: ›Es ist entzückend, so schön wie Siena.‹ Und so schrieb ich meine Enttäuschung zufälligen Umständen zu, meiner schlechten Verfassung, meiner Müdigkeit, meiner Unfähigkeit, richtig zu betrachten, und versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß andre noch unangetastete Städte mir blieben, daß ich demnächst wie in einen Perlenregen in das frische tröpfelnde Gezwitscher von Quimperlé eindringen und durch die rosigen Reflexe und den Grünspanschimmer von Pont-Aven gehen könne; Balbec aber – mit dem Augenblick, da ich die Stadt betreten, war es, als habe ich einen Namen aufgemacht, den ich hermetisch hätte verschlossen halten müssen; da hatten eine Trambahn, ein Café, einige Passanten auf dem Platz, die Filiale der Diskontobank den Spalt benutzt, welchen ich ihnen unvorsichtig bot, alle Bilder, die bisher darin lebten, verdrängt, und von unwiderstehlichem äußerem Druck, von pneumatischer Kraft getrieben, ins Innere der Silben sich gestürzt. Die hatten sich hinter ihnen geschlossen, ließen sie nun das Portal der persischen Kirche umrahmen, und für immer sollten sie mit in dem Namen Balbec enthalten sein.

In der kleinen Lokalbahn, die uns nach Balbec bringen sollte, fand ich meine Großmutter, aber ohne Françoise. Die hatte sie voranreisen lassen, um alles vorzubereiten, hatte ihr aber nicht richtig Bescheid gesagt, und so war Françoise in falscher Richtung abgereist, sauste jetzt ahnungslos mit Eilzugsgeschwindigkeit nach Nantes zu und würde vielleicht in Bordeaux aufwachen. Kaum saß ich im Coupé, das spärliches Abendlicht und andauernde Nachmittagshitze erfüllten (ach, als das Licht auf die Züge meiner Großmutter fiel, konnte ich sehen, wie sehr die Hitze sie mitgenommen hatte), fragte sie mich: »Nun, wie war's in Balbec?« und lächelte strahlend, weil sie hoffte, ich habe eine große Freude gehabt; da wagte ich nicht, gleich meine Enttäuschung ihr einzugestehen. Auch verlor sich mein Interesse an dem, was ich in Balbec gesucht und gefunden hatte, mehr und mehr, je näher ich dem Orte kam, an den mein Körper sich nun gewöhnen sollte. Am Endziel dieser Fahrt, die noch über eine Stunde dauerte, versuchte ich mir den Direktor des Hotels von Bad Balbec vorzustellen, für den ich in diesem Augenblick noch nicht existierte. Ich hätte mich ihm gern in blendenderer Begleitung präsentiert als mit meiner Großmutter, die ihn bestimmt um Preisermäßigungen bitten würde. Und in undeutlichen Umrissen sah ich eine ziemlich hochmütige Miene vor mir. Alle Augenblicke hielt unser kleiner Zug an einer der Stationen vor Bad Balbec, ihre Namen (Incarville, Marcouville, Deauville, Pont-à-Couleuvre, Arambouville, Saint-Mars-le-Vieux, Hermonville, Maineville) kamen mir fremdartig vor; in einem Buch gelesen, hätten sie mit gewissen Ortsnamen in der Nachbarschaft von Combray Zusammenhang für mich bekommen. Aber für das Ohr eines Musikers haben zwei Motive, die zum großen Teil dieselben Noten enthalten, keine Ähnlichkeit, wenn Harmonie und Orchestrierung verschieden sind. Und so erinnerten mich diese traurigen Namen aus Sand, leerem Luftraum und Salz, von denen das Wort Ville sich ablöste wie vole von Pigeon-vole, durchaus nicht an Roussainville oder Martainville, deren Namen ich so oft bei meiner Großtante im ›Saal‹ gehört hatte. In den düstern Zauber, den diese für mich hatten, mischte sich vielleicht Geschmack vom Eingemachten, Geruch vom Holzfeuer und vom Papier eines Buches von Bergotte, Farbe des Sandsteins am Hause gegenüber, und noch jetzt, wenn sie wie Luftblasen aus meinem Gedächtnis emporsteigen, die übergelagerten Schichten verschiedenartiger Lebenssphären durchdringen und die Oberfläche erreichen, bewahren sie ihre spezifischen Eigenheiten.

Kleine Stationen, die von Dünenhöhe das ferne Meer überblickten oder am Fuße scharf grüner Hügel – deren Formen ungefällig waren wie die eines Kanapees in einem Hotelzimmer, das man zum erstenmal betritt –, zur Nachtruhe sich lagerten, erschienen mit einigen Villen, Tennisterrains und hier und da einem Kasino, an dem, vom frischen Wind geknüllt, ängstlich eine Fahne klatschte, und zeigten mir zum erstenmal ihre gewohnten Gäste. Von außen her gesehen zeigten sie sie mir, Tennisspieler in weißen Mützen, den Bahnhofsvorsteher bei seinen Tamarisken und Rosen, eine Dame im Strohhut – nie sollte ich die Linie kennen, die alltäglich ihr Leben beschrieb –, die ihr zurückgebliebenes Windspiel rief und dann in ihre Villa ging, wo schon die Lampe brannte. Alltäglich und befremdlich, vertraulich und unzugänglich zugleich, verletzten diese Bilder meine Blicke, die nicht Bescheid wußten, mein Herz, das hier nicht zu Hause war. Noch schwerer hatte es zu leiden, als wir in dem hall des großen Hotels von Balbec landeten, vor einer monumentalen Treppe aus imitiertem Marmor standen und meine Großmutter, ohne sich's kümmern zu lassen, daß sie dadurch die Fremden, unter denen wir leben sollten, in feindlicher und verächtlicher Haltung uns gegenüber bestärkte, mit dem Direktor die ›Bedingungen‹ absprach. Das war eine Art Ölgötze, Gesicht und Stimme voller Spuren und Narben der Vergangenheit (im Gesicht waren es abgekratzte Pickel, in der Stimme diverse Akzente, die er seiner fernen Herkunft und kosmopolitischen Kindheit zu verdanken hatte); er trug einen modischen Smoking, und sein Psychologenblick sah bei Ankunft des ›Omnibus‹ in den großen Herren verdächtige Subjekte und in den Hotelratten große Herren. Er mochte wohl vergessen haben, daß er selbst nur fünfhundert Franken Monatsgehalt bezog, denn tief verachtete er Personen, für die fünfhundert Franken oder vielmehr, wie er es nannte, ›fünfundzwanzig Louisdor‹ eine ›Summe‹ waren, solche Leute gehörten für ihn zur Kaste der Paria, die nicht in das Grand-Hôtel paßten. Allerdings gab es in diesem Palace manche, die nicht viel bezahlten und dennoch von dem Direktor geschätzt wurden; deren Sparsamkeit führte er nämlich nicht auf Armut, sondern auf Geiz zurück. Geiz beeinträchtigt das Prestige nicht, er ist ein Laster und in allen sozialen Schichten anzutreffen. Die soziale Schicht, das war das einzige, was der Direktor beachtete, die soziale Schicht oder vielmehr die Anzeichen, aus denen er schloß, daß sie hoch sei, zum Beispiel, nicht den Hut abzunehmen, wenn man in die Hotelhalle tritt, Knickerbocker, einen auf Taille gearbeiteten Paletot zu tragen oder eine Zigarre mit purpurner und goldener Bauchbinde aus einem Etui von gepreßtem Maroquin zu ziehen (alles Vorzüge, die ich leider nicht hatte!). Er durchwirkte seine geschäftlichen Äußerungen mit sehr gewählten, aber sinnwidrigen Wendungen.

Auf einer Bank wartend, mußte ich mitansehen, wie meine Großmutter, ohne sich daran zu stoßen, daß er ihr, den Hut auf dem Kopf und pfeifend, zuhörte, in erkünsteltem Tonfall fragte: »Und welches sind... Ihre Preise?... Oh! Viel zu hoch für mein kleines Budget.« Da suchte ich mich in mein tiefstes Inneres zu flüchten, gab mir Mühe, in erhabene Gedankengänge auszuwandern, nichts von mir, wenigstens nichts Lebendiges auf der Oberfläche meines Körpers zu lassen – ich wollte sie unempfindlich machen, wie Tiere sich totstellen, wenn man sie verwundet –, um nicht allzusehr an diesem mir gänzlich unbekannten Ort leiden zu müssen, wo ich mich noch unsicherer fühlte, als ich sah, mit welcher Sicherheit die elegante Dame dort auftrat, der der Direktor Respekt bezeugte, indem er mit ihrem Hündchen schäkerte, oder der junge Stutzer mit der Feder am Hut, der fragte, ob Post für ihn da sei; alle diese Leute kehrten einfach in ihr »home« zurück, wenn sie die Stufen aus falschem Marmor beschritten. Zugleich traf mich der strenge Totenrichterblick von Minos, Aiakos und Rhadamantys – und in diesen Blick versank meine arme nackte Seele wie in eine unbekannte Welt, wo sie ganz schutzlos war – aus Augen von drei Herren, die, vielleicht gar nicht sehr erfahren in der Kunst zu empfangen, doch den Titel »Empfangschef« führten; weiter entfernt saßen hinter einer Glaswand Leute in einem Lesesalon; wollte ich den beschreiben, so müßte ich in Dante die Farben, mit denen er Himmel und Hölle malt, abwechselnd wählen, je nachdem ich an das Glück der Seligen dächte, die dort in aller Ruhe lesen durften, und an mein Entsetzen, falls die Großmutter in ihrer Ahnungslosigkeit mich geheißen hätte, in diesen Salon einzudringen.

Mein Gefühl der Verlassenheit sollte gleich noch stärker werden. Als ich der Großmutter gestanden hatte, ich fühle mich nicht wohl und glaube, wir werden wieder nach Paris zurückkehren müssen, hatte sie nicht protestiert, nur gesagt, sie müsse noch einige Besorgungen machen, die nützlich wären, ob wir nun abreisten oder hierblieben (später erfuhr ich, daß es lauter Besorgungen für mich waren, weil Françoise alle Sachen mithatte, die mir fehlten). Inzwischen ging ich in den Straßen auf und ab, die überfüllt von der Menge und zimmerwarm waren. Ein Friseurladen war noch auf und die Konditorei, in der Stammgäste Eis aßen; davor war das Denkmal von Duguay-Trouin. Der Anblick dieses Standbildes machte mir ungefähr so viel Vergnügen wie seine Abbildung in einem illustrierten Blatt einem Kranken bereitet hätte, der im Wartezimmer eines Chirurgen in den Zeitschriften blättert. Es mußte wohl Leute geben, die ganz anders empfanden als ich, denn der Direktor hatte mir diesen Spaziergang durch die Stadt zur Zerstreuung empfohlen. Manchem mußte auch eine neue Unterkunft – für mich eine Stätte der Qualen – ein »köstlicher Aufenthalt« sein, das behauptete wenigstens der Prospekt des Hotels, der zwar übertreiben konnte, sich aber doch an eine Kundschaft wandte, deren Geschmack er schmeichelte. Allerdings beschwor er, um diese in das Grand-Hôtel Balbec zu locken, nicht nur die »ausgezeichnete Küche« und den »feenhaften Anblick der Kasinogärten«, sondern auch die »Gebote Ihrer Majestät der Mode, die man nicht ungestraft verletzt, wenn man nicht für einen Böotier gelten will, ein Tadel, dem sich kein Wohlerzogener aussetzen mag.« Ich konnte es kaum erwarten, daß meine Großmutter wiederkam, zumal ich fürchtete, sie enttäuscht zu haben. Es mußte sie entmutigen, daß ich dies bißchen Anstrengung nicht aushielt, dann war ja keine Hoffnung, daß mir je eine Reise guttäte. Ich beschloß, sie lieber im Hotel zu erwarten. Als ich eintrat, drückte der Direktor auf einen Knopf: da kam eine mir noch unbekannte Persönlichkeit, ›Lift‹ genannt (dieser Lift hauste im höchsten Giebel des Hotels, da, wo bei normannischen Kirchen die Turmhaube ist, wie ein Photograph hinterm Atelierfenster oder ein Organist im Gestühl), mit der Behendigkeit eines zahmen Eichhörnchens, das sich munter in seinem Gefängnis bewegt, zu mir heruntergefahren. Und wieder an einem Pfeiler emporgleitend, fuhr er mich mit sich hinauf in die Kuppel der weltlichen Kirche. In jedem Stockwerk entfalteten sich zu beiden Seiten kleiner Verbindungstreppen fächerförmig düstere Gänge. Durch einen kam ein Zimmermädchen mit einem Kopfkissen im Arm. Ihrem Gesicht, das im Dämmer unbestimmt blieb, setzte ich die Maske meiner leidenschaftlichsten Träume auf, aber als sie mir ihren Blick zuwandte, las ich darin nur das Erschrecken über den im Vorüberfahren Unsichtbaren. Um die tödliche Beklemmung bei diesem endlosen stummen Aufstieg durch das geheimnisvolle Helldunkel ohne Schönheit, das nur eine senkrechte Reihe Glasscheiben – je ein Waterklosett in jeder Etage –, beleuchtete, loszuwerden, richtete ich das Wort an den jungen Organisten, Reisemarschall und Gefährten meiner Gefangenschaft, der weiter die Register seines Instruments zog. Ich bat um Entschuldigung, daß ich ihm Mühe mache und soviel Platz nehme. Und um dem Virtuosen zu schmeicheln, erklärte ich, ich fände die Kunst, bei deren Ausübung ich ihn vielleicht störe, nicht nur interessant, nein, geradezu reizvoll. Aber er antwortete mir nicht, ob er nun über meine Worte sich zu sehr wunderte, auf seine Arbeit achtgeben mußte, die Etikette wahren wollte, schwerhörig oder denkfaul war, Gefahr fürchtete oder entsprechende Weisung vom Direktor erhalten hatte.

Nichts macht die Realität einer äußeren Umgebung stärker uns fühlbar als die wechselnde Rolle, welche selbst unwichtige Personen, bevor und nachdem wir sie kennen gelernt, darin spielen. Ich war noch derselbe Mensch, der am Spätnachmittag in Alt-Balbec die Kleinbahn genommen hatte, ich trug in mir dieselbe Seele. Aber wo in dieser Seele um sechs Uhr statt der unfaßbaren Bilder des Direktors, des Palace, des Personals nur ein unbestimmtes, banges Warten auf den Augenblick der Ankunft war, befanden sich jetzt die abgekratzten Pickel auf dem Gesicht des kosmopolitischen Direktors – in Wirklichkeit war er in Monaco naturalisiert, obwohl, um seine ebenso distinguierte wie fehlerhafte Ausdrucksweise zu gebrauchen, von »rumänischer Herkömmlichkeit« –, ferner seine Geste, nach dem Lift zu klingeln, der Lift selber, ein ganzer Fries von Marionetten aus der Pandorabüchse des Grand-Hôtels, Bilder, die nicht mehr abzuleugnen, wegzuwischen waren und, wie alles, was sich verwirklicht hat, die Phantasie sterilisierten. Aber wenigstens bewies mir dieser Wechsel, bei dem ich selbst nicht mitgespielt hatte, daß etwas außerhalb von mir geschehen war – mochte es auch an sich noch so belanglos sein –, und ich war wie der Reisende, der die Sonne erst vor sich gehabt und nun, da er sie hinter sich sieht, feststellen kann, daß Stunden vergangen sind. Ich war todmüde, hatte Fieber, gern hätte ich mich schlafen gelegt, aber dazu fehlte mir alles. Ich dachte daran, mich wenigstens einen Augenblick auf dem Bett auszustrecken. Allein das hätte nichts geholfen: ich konnte dann doch die Summe von Erregungen, die für jeden von uns, wenn nicht unser materieller, so doch unser bewußter Körper ist, nicht zur Ruhe bringen. Die unbekannten rings andrängenden Gegenstände hätten meinen Körper zu dauernd wachem Verteidigungszustand der Wahrnehmungskräfte gezwungen, Gesicht, Gehör, alle Sinne (selbst wenn ich meine Beine ausstreckte) in so gezwungener und unbequemer Lage erhalten wie die des Kardinals La Balue in dem Käfig, wo er weder stehen noch sitzen konnte. Unsere Aufmerksamkeit stellt Gegenstände in ein Zimmer, und die Gewohnheit nimmt sie wieder fort und macht uns Platz. Platz gab es für mich nicht in meinem (nur dem Namen nach meinem) Zimmer in Balbec, es war von Dingen voll, die mich nicht kannten, jeden Blick, den ich auf sie warf, mißtrauisch machten und, ohne auf meine Existenz die geringste Rücksicht zu nehmen, mich fühlen ließen, daß ich den Schlendrian ihrer Existenz störe. Während ich die Uhr zu Hause in meinem Zimmer in der ganzen Woche nur einige Sekunden hörte, wenn ich gerade aus tiefer Versunkenheit auftauchte, schwatzte hier die Wanduhr ununterbrochen in einer unbekannten Sprache Dinge, die recht unfreundlich gegen mich sein mochten, denn die hohen violetten Vorhänge hörten ihr zu, ohne zu antworten, aber bei ihrem Anblick mußte man an Leute denken, die die Schultern zucken, um zu zeigen, daß die Anwesenheit eines Dritten ihnen lästig ist. Sie gaben dem hohen Zimmer einen gleichsam historischen Charakter: es war wie geschaffen für die Ermordung des Herzogs von Guise und dann später für den Besuch von Touristen in Begleitung eines Fremdenführers von Cook, aber nicht für mein Schlafen. Mich beunruhigten kleine Bibliotheken hinter Glas längs der Wände, vor allem aber ein großer Standspiegel, der mitten im Zimmer schräg stehen geblieben war (eh der nicht fort war, fühlte ich, würde es für mich keine Entspannung geben). Immer wieder hob ich meine Blicke – welchen die Gegenstände in meinem Pariser Zimmer nicht mehr im Wege standen als meine eigenen Augäpfel, sie waren ja nur Zubehör meiner Organe, Erweiterungen meines eigenen Wesens – zu dem überhöhten Plafond dieses Aussichtsturmes im Dachstuhl, den die Großmutter für mich gewählt hatte. Und bis in eine Gegend, die tiefer liegt, als Hören und Sehen reicht, die Gegend, in der wir die Eigenart der Gerüche erleben, ja fast ins Innerste meines Ich drang der Duft des Vetiver und griff meine letzten Verschanzungen an: mühsam und, ohne auszusetzen, stellte ich ihm als nutzlosen Schutz, ein geängstetes Schnüffeln entgegen. Was ich an Weltall, Zimmer, Körper besaß, war rings von Feinden bedroht, bis in die Knochen drang mir das Fieber, ich war allein, ich hatte Lust zu sterben. Da trat meine Großmutter ein, und dem bedrängten Herzen öffneten alsbald sich weite Räume, in die es sich dehnen konnte.

Sie trug einen Schlafrock aus Perkal, den sie zu Hause jedesmal anzog, wenn einer von uns krank war (sie fühle sich darin behaglicher, sagte sie; allem, was sie tat, schrieb sie ja immer selbstsüchtige Beweggründe zu), das war, um uns zu pflegen, ihr Dienerinnen- und Wärterinnenkittel, ihre Nonnenkutte. Aber während bei andern Pflegerinnen Sorgfalt, Güte, Tüchtigkeit, die man anerkennt, und Dankbarkeit, die man ihnen schuldet, den Eindruck verstärken, für sie ein anderer, allein zu sein und selbst die Last seiner Gedanken und seines Lebenswillens tragen zu müssen, wußte ich, wenn ich bei meiner Großmutter war und schwerster Kummer bedrückte mich, daß Mitleid, welches weiter reichte als er, ihn aufnahm; alles, was mein war, Sorgen und Begehren konnten sich bei der Großmutter einem Willen, mein Leben zu erhalten und zu steigern, anschmiegen, der stärker war als mein eigener Wille; meine Gedanken dehnten sich in ihr aus, ohne von ihrer Richtung abgelenkt zu werden; von meinem Geist drangen sie in ihren, ohne Umwelt und Person zu wechseln. Und – wie einer vor dem Spiegel seine Krawatte binden will und nicht begreift, daß der Zipfel, den er im Spiegel sieht, nicht auf der Seite ist, nach der er faßt, oder wie ein Hund auf dem Boden den tanzenden Schatten eines Insekts verfolgt – so ließ ich mich durch den körperlichen Schein dieser Welt, in der wir die Seelen nicht direkt wahrnehmen, täuschen, warf mich meiner Großmutter in die Arme und drückte meine Lippen auf ihr Gesicht, als käme ich so an das große Herz, das sie mir auftat. Den Mund an ihre Wangen, ihre Stirn gepreßt, schöpfte ich aus ihr etwas so Wohltuendes und Nahrhaftes, daß ich unbeweglich, ernst und stillgierig blieb wie ein saugendes Kind.

Ich wurde nicht müde, ihr großes Gesicht anzusehen, das sich abhob wie eine schöne sanftglühende Wolke: man fühlte strahlende Zärtlichkeit dahinter. Und alles, was auch nur im schwächsten Maße etwas von ihrem Empfinden abbekam, alles, was man ihr dann noch sagen konnte, wurde alsbald vergeistigt, geheiligt: meine Hände glätteten ihre kaum ergrauten Haare so ehrfürchtig, vorsichtig, sanft, als streichelte ich ihre Güte selbst. Für sie war jede Mühe, die mir Mühe sparte, Lust, und jeder Augenblick, in dem meine ermatteten Glieder unbewegt ruhen durften, köstlich: als ich jetzt sah, sie wolle mir beim Zubettgehen und Stiefelausziehen helfen, eine abwehrende Geste machte und anfangen wollte, mich selbst auszuziehen, hemmte ihr bittender Blick meine Hände, die schon nach den Knöpfen an Rock und Schuhen langten.

»Bitte laß mich«, sagte sie. »Es macht deiner Großmutter solche Freude. Und denk daran, an die Wand zu klopfen, wenn du nachts etwas brauchst, mein Bett steht dicht an deinem, die Zwischenwand ist ganz dünn. Tu es nachher, wenn du liegst, wir wollen sehen, ob wir uns gut verständigen können.«

So klopfte ich denn dreimal an diesem Abend – und eine Woche später, als ich leidend war, klopfte ich ein paar Tage jeden Morgen, weil meine Großmutter mir in der Frühe Milch bringen wollte. Wenn ich zu hören glaubte, daß sie wach sei, riskierte ich – damit sie nicht warte und nachher wieder einschlafen könne – drei kleine Schläge, schüchtern, schwach und doch deutlich. Mußte ich fürchten, ihren Schlaf zu unterbrechen, falls ich mich getäuscht hätte und sie noch schliefe, so sollte sie doch auch nicht unausgesetzt auf ein Klopfen lauschen, sie konnte es überhören, wenn es zu leise ausfiel, und nachher würde ich nicht wieder zu klopfen wagen. Kaum hatte ich meine drei Mal geklopft, so hörte ich von drüben dreimal klopfen, in anderem Tonfall, ruhig und überlegen, dreimal drei Schläge, die deutlich sagten: ›Reg dich nicht auf. Ich hab gehört. Gleich bin ich da.‹ Und bald danach kam meine Großmutter. Ich sagte ihr, ich habe Angst gehabt, sie würde mich nicht hören oder meinen, ein anderer Nachbar habe geklopft, da lachte sie:

»Ich soll nicht unterscheiden, ob mein armes Bübchen klopft oder sonst wer? Unter tausend würde deine Großmutter dich herauserkennen! Glaubst du denn, daß irgendjemand auf der Welt so dummlich, so verfiebert klopft, so zwischen zwei Ängsten: mich aufzuwecken oder nicht gehört zu werden. Ach, wenn es auch nur ein bißchen kratzt, erkennt man doch gleich sein Mäuschen, besonders wenn' s ein so einziges ist, wie meins, das soviel Kummer hat. Schon eine ganze Weile hab ich gehört, wie es gezaudert, sich im Bett herumgedreht und was es alles getrieben hat.«

Sie zog die Jalousien etwas in die Höhe: auf dem Dach des vorspringenden Hotelanbaus hatte die Sonne sich schon niedergelassen wie ein Dachdecker, der früh seine Arbeit beginnt und in aller Stille vollendet, um die Stadt, die noch schläft, nicht aufzuwecken, und ihre Regungslosigkeit läßt ihn noch reger erscheinen. Sie sagte mir, wie spät und was für Wetter es sei, – ich solle gar nicht erst ans Fenster kommen, auf dem Meer liege Nebel –, ob der Bäcker schon aufgemacht habe, was für ein Wagen das sei, den man höre: das ganze unwichtige Vorspiel, die belanglose Introduktion des Tages, der niemand beiwohnt, ein Stückchen Leben, das nur uns beiden gehörte – im Lauf des Tages kam ich dann allerdings vor Françoise und andern darauf zurück und sprach vom Nebel heut früh um sechs, der zum Zerschneiden war, aber nicht, um mit Wissen zu prahlen, nur um an ein Liebeszeichen zu denken, das mir allein zugekommen war. Süße Morgenstunde, die wie eine Sinfonie anhob mit einem rhythmischen Dialog: erst meine drei Schläge und dann durch die von zärtlicher Freude schwingende, körperlos und klingend gewordene, wie Engel singende Zwischenwand die Antwort, drei Schläge, glühend erwartet, zweimal wiederholt, welche heiter verkündend und treu und harmonisch die ganze Seele meiner Großmutter herübertrugen mit dem Versprechen: sie kommt.

Als mich aber in der ersten Nacht nach meiner Ankunft die Großmutter verlassen hatte, fing ich wieder zu leiden an, wie ich schon in Paris beim Fortgehen aus dem Hause gelitten hatte. Das Entsetzen, in einem unbekannten Zimmer zu schlafen – ich teile es mit vielen – ist vielleicht nur die einfachste, undeutlichste, organischste, fast unbewußte Form des verzweifelten Widerstandes, mit dem sich die Dinge, die den besten Teil unseres gegenwärtigen Lebens bilden, dagegen sträuben, daß wir das Formular einer Zukunft, in der sie nicht vorkommen, im Geiste mit unserm Akzept versehen. Solch ein Widerstand lag zugrunde, wenn ich erschrak bei dem Gedanken, meine Eltern würden einmal sterben, ich könnte gezwungen werden, fern von Gilberte zu leben oder auch nur, mich endgültig in einem Lande niederzulassen, wo ich nie meine Freunde wiedersehen würde; derselbe Widerstand lag zugrunde, wenn es mir schwer wurde, an meinen eigenen Tod zu denken oder an ein Leben nach dem Tode, wie es Bergotte den Menschen in seinen Büchern versprach; denn dahin würde ich meine Erinnerungen, meine Fehler, meinen Charakter, die auf ihr Dasein nicht verzichten konnten und mir weder das Nichts noch die Ewigkeit ohne sich gönnten, nicht mitnehmen können.

In Paris hatte Swann mir einmal, als ich besonders leidend war, gesagt: »Sie müßten nach den herrlichen polynesischen Inseln reisen; dann würden Sie überhaupt nicht wiederkommen.« Gern hätte ich geantwortet: »Aber dann sehe ich doch Ihre Tochter nicht wieder, lebe unter Dingen und Menschen, die sie nie gesehen hat.« Allein meine Vernunft sagte mir: ›Was macht das aus, da du nicht traurig darüber sein wirst? Wenn Herr Swann dir sagt, du wirst nicht wiederkommen, so meint er damit, du wirst nicht wiederkommen wollen, und daß du nicht willst, bedeutet, du wirst glücklich da unten sein.‹ Was Gewohnheit vermag, wußte meine Vernunft: sie – die jetzt die Aufgabe übernehmen sollte, mich die unbekannte Behausung lieben zu lehren, mich darauf zu bringen, den Spiegel umzustellen, die Vorhänge zu ändern, die Uhr anzuhalten –, befaßt sich auch damit, Leute unserer Umgebung, die wir nicht leiden konnten, uns lieb zu machen, Gesichtern ein anderes Aussehen, Stimmen einen sympathischen Klang zu geben und Neigungen der Herzen zu modifizieren. Sicher ist neue Freundschaft für Orte und Menschen verknüpft mit dem Vergessen der alten; aber meine Vernunft meinte, ich könne ohne Furcht ein neues Leben ins Auge fassen, in dem ich von Wesen, die ich aus dem Gedächtnis verlieren würde, getrennt sein sollte, und geradezu als Trost gab sie dem Herzen das Versprechen, ich werde vergessen; dieser Trost aber war zum Verzweifeln. Gewiß wird auch das Herz, wenn die Trennung vollzogen ist, durch Gewohnheit unempfindlich, aber bis dahin hat es weiter zu leiden. Und die Furcht vor einer Zukunft, in der wir unsere Lieben nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihnen sprechen werden, was doch heute unsere größte Freude ist, diese Furcht nimmt nicht ab, wenn wir denken, wir werden die Entbehrung nicht als Schmerz empfinden, werden gleichgültig sein. Nein, wenn sich solch ein Gedanke unserem Schmerz zugesellt, wird unsere Furcht noch größer. Dann wird, so fürchten wir, unser eigenes Ich sich geändert haben, dann wird uns nicht nur die beglückende Gegenwart unserer Eltern, der Geliebten, der Freunde fehlen, sondern auch unser Gefühl für sie. Das wird völlig aus unserm Herzen gerissen sein, von dem es doch heut einen beträchtlichen Teil ausmacht, wir werden uns an einem Leben ohne die Lieben erfreuen können, einem Leben, dessen bloße Vorstellung uns heute entsetzlich ist; das wird ein richtiges Sterben des Ich sein, ein Sterben, dem Auferstehung allerdings folgt, aber in einem andern Ich, das die Teile des alten Ich nicht liebgewinnen können, die zu sterben verurteilt sind. Diese Teile – selbst die geringfügigsten, wie die undeutliche Anhänglichkeit an Raummaße und Atmosphäre eines Zimmers – erschrecken und sträuben sich, und in ihrem Widerstand zeigt sich deutlich fühlbar ein heimlicher, partieller Modus des allgemeinen Widerstandes gegen den Tod, des langen, verzweifelten, tagtäglichen Widerstandes gegen das bruchstückweise unablässige Sterben, wie es sich in die ganze Dauer unseres Lebens einfügt, in jedem Augenblick Stücke von uns loslöst, deren Abtötung neuen Zellen Raum, sich zu mehren, gibt. Bei einer nervösen Natur, wie der meinen, das heißt einer Natur, bei der die Vermittler, die Nerven, ihre Funktionen schlecht ausüben – sie halten die Klage der geringsten Elemente, die aus dem Ich verschwinden, auf ihrem Wege zum Bewußtsein nicht auf, lassen sie vielmehr deutlich, erschöpfend und schmerzhaft immer von neuem vor – bei meiner Natur war der Schauder vor dem zu hohen unbekannten Plafond nur der Protest der in mir noch weiterlebenden Freundschaft zu einem vertrauten niederen Plafond. Sicherlich würde diese Freundschaft verschwinden, wenn eine andere an ihren Platz träte, (dann haben Tod und neues Leben, unter dem Namen Gewohnheit, ihr doppeltes Werk vollendet), aber bis zu dieser Vernichtung litte sie jeden Abend und besonders an diesem ersten, denn nun stand sie einer schon verwirklichten Zukunft gegenüber, in der es keinen Platz für sie gab, nun empörte sie sich und marterte mich mit ihrem Jammergeschrei, so oft meine Blicke, die sich von dem, was sie verletzte, nicht abwenden konnten, auf dem unzugänglichen Plafond zu ruhen versuchten.

Aber am nächsten Morgen! – man hatte mich geweckt und mir Wasser gebracht – während ich nun Toilette machte und in meinem Koffer, aus dem ich nur einen Haufen unnützer Dinge kramte, vergebens suchte, was ich brauchte, welch eine Freude, mit der Lust auf Frühstück und Spaziergang, im Fenster und in allen Vitrinen der Bibliothek wie in den Luken von Schiffskabinen das nackte Meer zu sehen, unbeschattet und doch mit der einen Hälfte seines Umfangs, den eine dünne, bewegliche Linie begrenzte, im Schatten, und mit den Augen den Wellen zu folgen, die eine hinter der andern sprangen wie Akrobaten auf dem Sprungbrett. Alle Augenblicke ging ich, in der Hand die harte, gestärkte Serviette, auf der der Name des Hotels stand – unnütz waren meine Versuche, mich damit abzutrocknen – wieder ans Fenster und warf einen Blick auf den weiten, blendenden, bergig ansteigenden Zirkus, auf die Schneegipfel seiner Wogen aus glanzgeflecktem, durchsichtigem Smaragdgestein, die mit friedlicher Gewalt und gerunzelten Löwenstirnen ihre Abhänge im Sonnenlicht, das ohne Antlitz lächelte, zusammenstürzen und zu Tal fahren ließen. An dieses Fenster sollte ich in der Folgezeit jeden Morgen treten wie an die Scheibe einer Postkutsche, in der man geschlafen hat, und nun schaut man hinaus, ob während der Nacht die ersehnte Gebirgskette sich genähert oder entfernt hat – hier waren es die Hügel des Meeres, die, eh sie tanzend wieder zu uns kommen, weit zurückweichen können: oft sah ich erst hinter einer langgestreckten Sandebene ihre ersten Kräuselwellen in durchsichtiger, bläulich dunstender Ferne wie Gletscher auf dem Hintergrund von Bildern primitiver Toskaner. Ein andermal lachte die Sonne ganz nahe bei mir auf Fluten, die zart grün waren wie Alpenmatten, deren Farbe (auf Bergen, wo hier und da Sonne gleich einem Riesen lagert, der lustig in großen und kleinen Sätzen die Halden hinunterspringt) feuchter Boden und mehr noch flüssig bewegtes Licht frisch erhalten. Das Licht spielt, nebenbei bemerkt, in dieser Bresche, die Strand und Flut schlägt, um es durchzulassen und anzuhäufen, im Anordnen und Umgruppieren der Wellenfläche die Hauptrolle. Die Beleuchtung schafft ebensoviel Abwechslung in einer Landschaft, setzt uns ebenso begehrenswerte Ziele wie eine lange Reiseroute, die wir wirklich zurücklegen. Wenn morgens hinter dem Hotel die Sonne hervorkam und vor mir den beglänzten Strand bis zu den ersten Ausläufern des Meeres auftat, war es, als zeige sie mir einen andern Abhang dieser Berge und lade mich ein, auf der drehenden Bahn ihrer Strahlen, ohne mich zu bewegen, weit durch die schönen Stätten zu reisen im immer neuen Lande der Stunden. Vom ersten Morgen an wies die Sonne mit strahlendem Finger auf die blauen Gipfel der See in der Ferne, die auf keiner Landkarte einen Namen haben, und dann barg sie sich taumelig von der hohen Wanderung über die dröhnende, chaotische Oberfläche von Wellenkämmen und Wellenstürzen in meinem windgeschützten Zimmer, machte sich breit auf dem zerwühlten Bett, streute ihre Schätze über den nassen Waschtisch, den offenen Koffer, und in diesem Glanz, dieser Lichtverschwendung, die hier nicht am Platze war, sah alles noch unordentlicher aus. Der Wind vom Meer fehlte leider eine Stunde später meiner Großmutter, als wir im Speisesaal beim Frühstück saßen und aus der Lederflasche der Zitrone Goldtropfen auf unsere Seezungen spritzten, von denen bald nur noch ein Grätengewölbe übrigblieb, kräuselnd wie eine Feder und gebogen wie eine tönende Zither; es quälte sie, nicht die belebende Brise zu fühlen: die geschlossenen Fenster trennten uns wie eine Vitrine vom Strande, den wir doch ganz übersehen konnten; so völlig drang der Himmel in die Fenster ein, daß sein Azur ihre Farbe und seine weißen Wolken ein Fehler im Glase zu sein schienen. Ich aber bildete mir ein, ›auf einer Mole zu sitzen‹ oder tief in dem ›Boudoir‹, von dem Baudelaire spricht, und fragte mich, ob seine ›Sonne strahlend über die See‹ – zum Unterschied von dem einfachen, schmal zitternden Goldstreif der Abendsonne – nicht die war, die jetzt das Meer brannte, wie einen Topas, es gären machte, blond und milchig wie Bier und schäumend wie Milch, indes bisweilen hier und dort große, blaue Schatten darüber glitten, die ein Gott, der im Himmel einen Spiegel drehte, zum Spaß zu verschieben schien. Leider war das Aussehen nicht der einzige Unterschied zwischen dem ›Saal‹ in Combray, der auf die Häuser gegenüber ging, und dem Speisesaal von Balbec, diesem nackten, wie ein Schwimmbecken grünlich durchsonnten Raum, vor dem in einem Abstand von ein paar Metern die hohe Flut und der helle Tag einen unzerstörbaren, beweglichen Damm aus Smaragd und Gold aufführten wie vor der Himmlischen Stadt. In Combray kannten uns alle, da brauchte ich mich um niemand zu kümmern. In einem Badeort kennt man nur seine Nachbarn. Ich war noch nicht alt genug und zu empfindlich, um dem Verlangen zu widerstehen, den Leuten zu gefallen und sie für mich zu gewinnen. Ich hatte nicht die vornehmere Gleichgültigkeit eines Mannes von Welt gegenüber den Leuten, die im Speisesaal frühstückten, und den jungen Männern und Mädchen, die am Strande vorüberkamen. Ich litt darunter, daß ich nicht mit ihnen Ausflüge machen konnte. Da hätte meine Großmutter, welche die gesellschaftliche Etikette verachtete und nur um meine Gesundheit sich kümmerte, sie erst bitten müssen, mich auf ihre Spaziergänge mitzunehmen, und das wäre demütigend für mich gewesen. Wenn sie in eine fremde Villa gingen oder aus ihr kamen, um sich mit dem Rakett in der Hand auf einen Tennisplatz zu begeben, oder auf Pferden vorüberritten, deren Hufe mein Herz zertraten, sah ich ihnen im blendenden Lichte des Strandes, auf dem die gesellschaftlichen Beziehungen andere sind, mit leidenschaftlicher Neugier nach und verfolgte in der durchsichtigen Glasbucht, die so viel Licht durchließ, jede Bewegung bei ihnen. Aber dies Glas fing den Wind ab, und das war in den Augen meiner Großmutter ein Fehler, sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ich auch nur eine Stunde die wohltätige Luft entbehren sollte, verstohlen öffnete sie eine Scheibe, und gleich flogen Menüs, Zeitungen, Schleier und Mützen aller frühstückenden Personen davon, sie selbst saß, getragen vom himmlischen Hauch, still lächelnd, eine heilige Blandina, mitten zwischen mißtrauischen, zerzausten, wütenden Gästen, deren Schimpfen meine Isolierung noch trauriger machte.

Diese Gäste waren zum Teil – und das gab der Sommerbevölkerung, die in Luxushotels gewöhnlich schlechthin reich und kosmopolitisch ist, in Balbec einen ausgesprochen provinziellen Charakter – hervorragende Persönlichkeiten der Hauptdepartements dieses Teiles von Frankreich. Da gab es einen Gerichtspräsidenten aus Caen, einen Vorstand der Anwaltskammer aus Cherbourg, einen bekannten Notar aus Le Mans, die von den verschiedenen Punkten, über die sie das ganze Jahr wie Plänkler oder Damesteine verstreut waren, zur Ferienzeit hier im Hotel zusammentrafen. Sie behielten immer die gleichen Zimmer und bildeten mit ihren Frauen, welche aristokratische Prätentionen hatten, eine kleine Gruppe, der sich ein Notar und ein Arzt aus Paris anschlossen. Die pflegten am Tage der Abreise zu ihnen zu sagen:

›Ach so, Sie nehmen ja nicht unsern Zug, Sie haben es besser, sind zum Frühstück schon zu Hause.‹

›Besser? Sie wohnen in der Metropole, im großen Paris, und ich in einer armen Bezirkshauptstadt von hunderttausend Seelen, seit der letzten Zählung immerhin hundertzweitausend; aber was ist das neben Ihnen mit Ihren zwei Millionen fünfmalhunderttausend? Nun werden Sie wieder Asphalt unter den Füßen haben und um sich den Glanz der Pariser Gesellschaft.‹

Dabei rollten sie das R wie die Bauern; es lag nichts Bitteres in ihren Worten, sie waren Leuchten ihrer Provinz, hätten so gut wie irgend einer nach Paris kommen können – wiederholt war dem Gerichtspräsidenten von Caen ein Sitz am Kassationshof angeboten worden –, aber sie zogen es vor, zu Hause zu bleiben, sei es aus Liebe zu ihrer Stadt oder zur Stille oder zum Ruhm oder, weil sie konservativ waren und die Beziehungen zu den Edelsitzen in der Nachbarschaft pflegten. Mehrere von ihnen kehrten übrigens von Balbec nicht gleich in ihre Bezirkshauptstadt zurück. Denn – da die Bucht von Balbec ein kleines Spezial-Universum mitten im großen, ein Füllhorn der Jahreszeiten war, wo vielerlei Tage und sonst einander folgende Monate nebeneinander wohnten (an Tagen, an denen man drüben Rivebelle sah – und das bedeutete Sturm –, lagen dort die Häuser in der Sonne, und in Balbec war es dunkel, und wenn in Balbec schon die Kälte einsetzte, konnte man noch auf zwei, drei warme Supplementmonate an der andern Küste rechnen) –, so ließen die Stammgäste des Grand-Hôtels, deren Ferien erst spät begannen oder lange dauerten, wenn mit dem nahenden Herbst Regen und Nebel kam, ihre Koffer auf ein Boot laden und setzten nach dem noch sommerlichen Rivebelle oder Costedor über. Diese kleine Gruppe im Hotel zu Balbec sah jeden Neuangekommenen mißtrauisch an und tat, als ob er sie nicht interessiere, doch erkundigten sich bei ihrem Freunde, dem Oberkellner, alle nach ihm. Das war immer derselbe – Aimé –; er kam jedes Jahr zur Saison her und reservierte ihnen ihre Tische; und als die Frau Gemahlinnen erfuhren, daß seine Frau ein Kind erwartete, arbeiteten sie nach Tisch jede an einem Stück Babywäsche, und dabei sahen sie uns, meine Großmutter und mich, von Zeit zu Zeit durch ihre Lorgnetten an; wir aßen nämlich harte Eier zum Salat, das galt für unfein, und in der guten Gesellschaft von Alençon tat man es nicht. Einem Franzosen gegenüber, den man Majestät nannte und der sich tatsächlich auf einer kleinen polynesischen Insel, die nur wenige Wilde bewohnten, selbst zum Könige proklamiert hatte, nahmen sie eine verächtlich ironische Haltung ein. Er wohnte im Hotel zusammen mit seiner hübschen Mätresse, der die kleinen Jungen, wenn sie baden ging, zuriefen: »Es lebe die Königin!«, weil sie dann Fünfzigcentimesstücke über sie regnen ließ. Der Gerichtspräsident und der Vorsteher der Anwaltskammer taten, als ob sie sie garnicht sähen, und wenn einer ihrer Freunde ihr nachsah, hielten sie es für angemessen, ihm mitzuteilen, daß sie ein kleines Ladenmädchen gewesen sei.

»Aber man hat mir versichert, sie haben in Ostende die königliche Kabine benutzt.«

»Natürlich! Die wird für zwanzig Franken vermietet. Sie können sie nehmen, wenn Sie Lust haben. Ich weiß positiv, daß er den König um eine Audienz gebeten hat und zur Antwort bekam, Seine Majestät lege keinen Wert darauf, Puppentheaterfürsten kennen zu lernen.«

»Das ist interessant! Nein, was es doch für Leute gibt!«

Das mochte alles wahr sein, aber hinzukam der Ärger, daß für viele Leute aus der Menge sie nur brave Bürger waren, die dieses Geld ausstreuende Königspaar nicht kannten, und verstimmt sahen der Notar, der Präsident und der Vorsteher der Anwaltskammer dies Fastnachtstreiben, wie sie es nannten, mit an und bekundeten laut ihre Entrüstung. Um die wußte ihr Freund, der Oberkellner. Er war verpflichtet, den mehr freigebigen als authentischen Souveränen ein liebenswürdiges Gesicht zu zeigen, aber während er ihre Bestellungen entgegennahm, zwinkerte er von weitem seinen alten Klienten in bezeichnender Weise zu.

Ein wenig von dem Ärger, für weniger ›chik‹ gehalten zu werden und nicht beweisen zu können, daß sie es mehr waren, lag auch in der Art, wie sie von einem jungen Stutzer, dem schwindsüchtigen, verbummelten Sohn eines Großindustriellen, sprachen. Dieser ›Joli Monsieur‹, wie sie ihn nannten, erschien täglich in einem neuen Anzug, eine Orchidee im Knopfloch, und trank Champagner zum Frühstück, dann ging er blaß und teilnahmslos, ein blasiertes Lächeln auf den Lippen, ins Kasino und warf dort hohe Summen auf den Bakkarattisch; »er verliert mehr, als er sich leisten kann«, sagte der Notar mit der Miene eines, der Bescheid weiß, zum Gerichtspräsidenten, dessen Frau »aus sicherer Quelle wußte«, die Eltern grämten sich über diesen jungen ›Dekadenten‹ zu Tode.

Unerschöpflich ergoß sich der Spott des Anwalts und seiner Freunde über eine reiche, vornehme alte Dame, da sie immer nur mit ihrem ganzen Gefolge erschien. So oft die Frau des Notars und die Frau des Gerichtspräsidenten sie im Speisesaal sahen, musterten sie sie unverschämt, argwöhnisch, umständlich durch ihre Lorgnetten, als wäre sie ein Gericht mit pompösem Namen, aber verdächtigem Aussehen, das man methodisch untersucht und, wenn die Prüfung ein ungünstiges Resultat ergibt, mit abwehrender Handbewegung angewidert entfernen läßt.

Sicherlich wollten sie damit nur zeigen, wenn sie keine Beziehungen zu der alten Dame hätten und ihnen gewisse Vorrechte, die diese besaß, fehlten, so geschähe das nicht, weil sie dergleichen nicht haben könnten, sondern, weil sie es gar nicht haben wollten. Das glaubten sie schließlich selbst, sie unterdrückten jeden Wunsch, jede Neugier, in unbekannte Lebensformen einzudringen, jede Hoffnung, fremden Menschen zu gefallen, und das gab diesen Frauen einen falschen Hochmut, künstliche Munterkeit; ihre ostentative Zufriedenheit machte sie mißvergnügt, und sie mußten beständig sich selbst belügen: sie waren unglücklich. Aber so benahmen sich im Hotel alle, wenn auch unter andern Formen, man brachte der Eigenliebe oder wenigstens gewissen Erziehungsprinzipien und geistigen Gewohnheiten die köstliche Erregung zum Opfer, sich einem unbekannten Leben zu vermischen. Der Mikrokosmos, in den die alte Dame sich einschloß, war gewiß nicht von Ärger vergiftet wie die Gruppe, in der die Frauen des Notars und Gerichtspräsidenten höhnten und wüteten. Er war durchzogen von feinem altertümlichem Duft, aber auch der war künstlich. Denn für die alte Dame wäre es im Grunde reizvoll gewesen, die geheimnisvolle Sympathie neuer unbekannter Personen sich zu erobern, sie an sich zu fesseln und dabei sich selbst zu erneuern. Dieses Reizes ermangelte das Vergnügen, nur mit Leuten der eigenen Gesellschaftsschicht zu verkehren und immer sich gegenwärtig zu halten, das sei die allerbeste Gesellschaft, auf die verächtliche Haltung schlecht unterrichteter Fremder sei nichts zu geben. Sie fühlte vielleicht: wäre sie als Unbekannte in das Grand-Hôtel Balbec gekommen, die Bummler in ihren »Rockings« hätten über ihr schwarzes Wollkleid und ihren unmodernen Hut gelächelt und getuschelt: »wie pover!«, ja selbst ein würdiger Herr, wie der Gerichtspräsident, der zwischen seinen Pfeffer-und-Salz-Koteletten ein frisches Gesicht und kluge Augen bewahrt hatte, wie sie sie liebte, hätte sogleich der hergewandten Lorgnettenlinse seiner Ehehälfte das ungewöhnliche Phänomen gezeigt; unbewußt fürchtete sie sich vielleicht vor dieser ersten Minute – man weiß, sie ist kurz, ängstigt sich darum aber nicht weniger vor ihr, es ist wie ein Kopfsprung – und schickte deshalb immer einen Bedienten voraus, das Hotel über ihre Person und ihre Gewohnheiten aufzuklären, erwiderte kurz den Gruß des Direktors und begab sich rasch – all das mehr aus Schüchternheit als aus Stolz – auf ihr Zimmer, wo an den Fenstern ihre eigenen mitgebrachten Vorhänge die des Hotels ersetzten und Wandschirme und Photographien zwischen ihr und der Außenwelt, der sie sich sonst hätte anpassen, müssen, eine Scheidewand errichteten, hinter der sie mit ihren Gewohnheiten im eigenen Heim blieb. Dies Heim ging anstatt ihrer auf Reisen.

Vom ersten Tage an hielten ihr ihre Bedienten das Personal des Hotels und die Lieferanten fern, standen statt ihrer in Kontakt mit den fremden Menschen, umgaben ihre Herrin mit vertrauter Luft; ihre Vorurteile trennten sie von den Badegästen, es kümmerte sie nicht, ob sie Leuten, die ihre Freundinnen nicht empfangen hätten, mißfiel, und sie fuhr fort, in ihrer Welt zu leben, mit ihren Freundinnen zu korrespondieren, ihre Erinnerungen, das heimliche Bewußtsein ihrer Stellung, ihrer guten Manieren, ihrer vorbildlichen Höflichkeit zu pflegen. Täglich, wenn sie zur Ausfahrt in ihrer Kalesche die Treppe herunterkam, waren die Kammerfrau hinter ihr mit den Sachen und der vorangehende Lakai wie Schildwachen, die an den Türen einer Gesandtschaft unter der Flagge des vertretenen Landes das Privileg der Exterritorialität verbürgen. Am Tage unserer Ankunft verließ sie ihr Zimmer erst nachmittags, und wir sahen sie nicht im Speisesaal, wo zur Frühstückszeit uns Neuangekommene der Direktor mit Beschützermiene an unsere Plätze führte (wie ein Vorgesetzter Rekruten zum Kammerunteroffizier, der sie einkleiden soll). Statt ihrer bekamen wir bald einen Landedelmann und seine Tochter aus wenig bekannter, aber sehr alter bretonischer Familie zu sehen, Herrn und Fräulein von Stermaria. Man hatte uns ihren Tisch gegeben in der Meinung, sie würden erst abends zurückkommen. Sie hielten sich in Balbec nur auf, um auf Schlössern in der Nachbarschaft ihre Bekannten aufzusuchen, und verbrachten zwischen Einladungen, die sie annahmen, und Besuchen, die sie abstatteten, im Speisesaal nur die absolut unumgängliche Zeit. Ihr Dünkel bewahrte sie vor aller menschlichen Sympathie, jedem Interesse für die Unbekannten um sie her. Herr von Stermaria behielt immer eine eisige, ungeduldige, abweisende, unhöfliche, spitzige, böswillige Miene, als stände er an einem Bahnbüfett mitten unter Reisenden, die man nie gesehen hat und nie wieder sehen wird und zu denen man nur die eine Beziehung hat, sein kaltes Huhn und seinen Platz im Coupé gegen sie zu verteidigen. Kaum hatten wir zu frühstücken angefangen, so mußten wir auf Befehl des Herrn von Stermaria wieder aufstehen. Er war nun doch gekommen. Ohne an uns eine Entschuldigung zu richten, forderte er den Oberkellner auf, dafür zu sorgen, daß ein derartiger Irrtum nicht wieder vorkomme, es sei ihm unangenehm, wenn »Leute, die er nicht kenne«, an seinem Tische säßen.

Keinerlei Böswilligkeit, nur Anforderungen des Geschmacks an eine bestimmte Art von Unterhaltung und bestimmte Raffinements der Küche veranlaßten eine Schauspielerin (sie war nebenbei mehr bekannt durch ihre Eleganz, ihren Geist und ihre schöne Sammlung von deutschem Porzellan als durch die Rollen, die sie im Odéon spielte), ihren Liebhaber, einen sehr reichen jungen Mann, dem zuliebe sie ihre Bildung soigniert hatte, und zwei sehr bekannte Aristokraten, im Leben eine Sondergruppe zu bilden, nur zusammen zu reisen, in Balbec spät, wenn die andern von Tisch aufstanden, zu frühstücken und den Tag in ihrem Salon mit Kartenspiel zu verbringen; es wäre ihnen unmöglich gewesen, in Gemeinschaft mit Leuten zu leben, die nicht »eingeweiht« waren. Selbst vor einer gedeckten Tafel oder einem Spieltisch hatte jeder von ihnen das Bedürfnis, zu wissen, daß sein Gegenüber bestimmte Kenntnisse unausgesprochen in sich trug, daß er den Stoff, der so viele Pariser Behausungen mit authentischem »Mittelalter« und echter »Renaissance« ausstattete, als Schund erkannte und in allen Dingen über Kriterien verfügte, nach denen sie unter sich Gut und Schlecht unterschieden. Zu jener Zeit äußerte die Sonderexistenz, aus der diese Gruppe von Freunden nie und nirgends herauswollte, sich wohl nur noch in einigen komischen Ausrufen, die ihre schweigsamen Mahlzeiten und Kartenpartien unterbrachen, oder in dem reizenden neuen Kleid, das die junge Schauspielerin zum Frühstück oder zum Poker angezogen hatte. Aber schon das umgab sie mit altvertrauter Gewohnheit und genügte, sie gegen das Mysterium der Umwelt zu schützen. Lange Nachmittage hing das Meer ihnen gegenüber wie ein Bild von sympathischem Kolorit, das im Boudoir eines reichen Junggesellen aufgehängt ist, und nur in Spielpausen hob bisweilen einer die Augen auf, um aus dem Anblick der See auf gutes Wetter oder die Tageszeit zu schließen und die andern zu erinnern, daß der Tee sie erwarte. Und abends aßen sie nicht im Hotel, wo die Elektrizität im Speisesaal Lichtfluten aufsteigen ließ. Der wurde dann ein wunderbares Riesenaquarium, und vor seiner Glaswand versammelte sich, im Schatten unsichtbar, die Arbeiterbevölkerung von Balbec, Fischer und Kleinbürgerfamilien, und sah, an die Scheiben gedrückt, das luxuriöse Leben derer da drinnen auf sanft kräuselnden Wellen von Gold gewiegt; das war für die Armen ein so ungewöhnlicher Anblick wie seltsame Fische und Mollusken (eine große soziale Frage: ob die Glaswand immer das Festmahl der wunderlichen Tiere schützen wird oder ob eines Tages die dunklen Gestalten der gierigen Zuschauer draußen in der Nacht kommen werden, sie aus ihrem Aquarium zu fischen und zu verspeisen). Unter der wirren wartenden Menge draußen gab es vielleicht einen oder den andern Schriftsteller oder Liebhaber menschlicher Ichthyologie, der beim Anblick der Kinnbacken alter weiblicher Ungetüme, die ein Stück verschlungene Nahrung zermalmten, sich damit unterhielt, diese Geschöpfe nach Rasse und nach angeborenen Eigenschaften zu klassifizieren, auch nach erworbenen Eigenschaften, die etwa bei einer alten Serbin mit dem Kauwerkzeug eines großen Seefisches (sie hat immer in den Süßwassern des Faubourg Saint-Germain gelebt) bewirken, daß sie Salat ißt wie eine Rochefoucauld.

Um diese Zeit sah man die drei Männer im Smoking auf die Frau, die noch nicht fertig war, warten, und bald kam sie dann – nachdem sie von ihrer Etage dem Lift geläutet – fast jedesmal in einem neuen Kleide und mit Schärpen im besondern Geschmack ihres Liebhabers, aus dem Fahrstuhl wie aus einer Spielzeugschachtel. Und da sie alle vier fanden, daß das nach Balbec verpflanzte internationale Phänomen des Palace daselbst mehr Luxus als gute Küche entfaltete, warfen sie sich in einen Wagen und fuhren eine halbe Meile weiter zum Diner in einem kleinen Restaurant von gutem Ruf, wo sie dann mit dem Küchenchef über die Zusammenstellung des Menüs und die Zubereitung der Gerichte endlose Konferenzen abhielten. Während der Fahrt war die Landstraße mit den Apfelbäumen, die von Balbec abzweigt, nur eine zurückzulegende Entfernung für sie – im nächtlichen Dunkel nicht sehr verschieden von der zwischen ihren Pariser Wohnungen und dem Café Anglais oder der Tour d'Argent, und wenn sie in das elegante kleine Restaurant traten, wehten die Schärpen der Dame – die Freunde des reichen jungen Mannes beneideten ihn um eine so schön angezogene Mätresse – vor der Gesellschaft her wie ein schmiegender, duftender Schleier und trennte sie von der Welt.

Für meine Ruhe traf es sich unglücklich, daß ich durchaus nicht war wie diese Leute. Für viele von ihnen interessierte ich mich; ich wäre sehr gern mit einem Manne bekannt geworden, der eine zurückweichende Stirn und einen – zwischen den Scheuklappen seiner Vorurteile und seiner Erziehung – fliehenden Blick hatte; er war der erste Edelmann der Gegend, niemand anders als Legrandins Schwager, und kam bisweilen zu Besuch nach Balbec. Am Sonntag gaben seine Frau und er ihre wöchentliche Garden-party und entleerten das Hotel eines Teils seiner Bewohner: zwei oder drei wurden nämlich zu diesen Festen geladen, die andern wollten nicht merken lassen, daß sie nicht geladen waren, und machten an diesem Tag einen größeren Ausflug. Bei seinem ersten Erscheinen war er übrigens im Hotel sehr schlecht empfangen worden, das frisch von der Côte d'Azur eingetroffene Personal wußte noch nicht, wer er war. Erstens trug er keinen weißen Flanellanzug, und dann nahm er nach altfranzösischer Art und, weil er vom Benehmen in den Palaces noch nichts wußte, beim Eintritt in die hall, in der er Damen sah, schon in der Tür den Hut ab. Daraufhin legte der Direktor, als der Unbekannte ihn anredete, nicht einmal die Hand an seinen Hut in der Meinung, das müsse jemand von sehr bescheidener Herkunft oder, wie er es ausdrückte, »von gewöhnlichem Herkommen« sein. Nur die Frau des Notars fühlte sich gleich zu dem Neuangelangten hingezogen, sie spürte an seiner steifen und biderben Art den Vornehmen; als Autorität, für die die gute Gesellschaft von Le Mans keine Geheimnisse hatte, konnte sie treffsicher und unwidersprochen erklären, man fühle in seiner Gegenwart, daß man einen Mann von höchster Distinktion und feinster Erziehung vor sich habe, der sich von allem abhebe, was man so in Balbec antreffe (mit wem sie nämlich nicht verkehrte, den fand sie unmöglich). Ihr günstiges Urteil über Legrandins Schwager beruhte vielleicht darauf, daß diese glanzlos nüchterne Erscheinung sie gar nicht einschüchterte, vielleicht erkannte sie auch an dem Landedelmann mit den Allüren eines Küsters Freimaurerzeichen ihres eigenen Klerikalismus.

Zwar hatte ich erfahren, die jungen Leute, die täglich vorm Hotel vorüberritten, seien Söhne des zweifelhaften Besitzers eines Modewarengeschäfts, mit dem mein Vater nie verkehrt hätte, aber das »Badeleben« machte in meinen Augen Reiterstatuen von Halbgöttern aus ihnen. Daß sie doch ja keinen Blick auf mich armen Burschen fallen ließen, der den Speisesaal des Hotels nur verließ, um sich am Strand in den Sand zu setzen! Selbst dem Abenteurer, der auf einer verlassenen Insel Polynesiens König gewesen, hätte ich gern Sympathie eingeflößt, selbst dem jungen Schwindsüchtigen, der vielleicht, nahm ich an, hinter seinem unverschämten Äußeren eine zarte, ängstliche Seele mit einer Fülle von Innigkeit barg, welche mir bestimmt war. Nebenbei bemerkt kann es (im Gegensatz zu dem üblichen Vorurteil gegen Reisebekanntschaften) viel zu unserem Ansehen in der Gesellschaft beitragen, wenn wir in einem Badeort, den wir wiederholt besuchen, mit gewissen Persönlichkeiten gesehen werden; derartige Freundschaften hält man sich in Paris durchaus nicht vom Leibe, sondern kultiviert sie sorgfältig. Mir lag sehr viel daran, daß diese durchreisenden oder ansässigen Größen eine gute Meinung von mir bekämen; ich neigte dazu, in andere mich zu versetzen, aus mir ihr geistiges Wesen neu zu schaffen; dabei gab ich ihnen aber nicht ihren wirklichen Rang, einen ziemlich untergeordneten, wie sie ihn zum Beispiel in Paris eingenommen hätten, sondern den, welchen sie sich anmaßten und hier in Balbec tatsächlich einnahmen, denn der gewöhnliche Maßstab fehlte und sie blieben relativ überlegen und interessant. Daß sie mich nicht beachteten, war mir bei keinem von ihnen so schmerzlich wie bei Herrn von Stermaria.

Denn gleich bei ihrem Eintritt war seine Tochter mir aufgefallen, ihr hübsches blasses, fast ins Bläuliche spielende Gesicht, die besondere Art, wie sich ihre hohe Gestalt hielt und bewegte, daran erkannte ich mit Recht ererbtes Wesen und aristokratische Erziehung, um so bestimmter, als ich ihren Namen wußte, – so leiten die ausdrucksvollen Themen genialer Musiker, die den Schimmer der Flamme, das Rauschen des Flusses, den Frieden der Landschaft malen, die Phantasie des Hörers leichter auf den richtigen Weg, wenn er vorher das Textbuch studiert hat. Die ›Rasse‹ gab den Reizen des Fräulein von Stermaria noch eine besondere Begründung, machte sie begreiflicher und vollständiger. Dadurch wurde sie noch unerreichlicher und meinem Wunsch umso teurer: der hohe Preis steigert den Wert dessen, was uns gefällt. Der Stammbaum gab ihrem aus erlesenen Säften geschaffenen Teint die Schmackhaftigkeit einer exotischen Frucht oder einer berühmten Weinsorte.

Da gab plötzlich ein Zufall meiner Großmutter und mir das Mittel in die Hand, in den Augen aller Hotelbewohner mit einmal hohes Ansehen zu bekommen. Als nämlich zum erstenmal die alte Dame aus ihrem Appartement herunterkam und mit dem Lakaien, der voranging, und der Kammerfrau, die mit einem Buch und einer vergessenen Decke hinterherlief, Eindruck auf die Seelen machte und allen Neugier und Ehrfurcht erregte, besonders Herrn von Stermaria, wie deutlich zu sehen war, neigte sich der Direktor zu meiner Großmutter, und wohlwollend (wie man den Schah von Persien oder die Königin Ranavalo einem obskuren Zuschauer zeigt, der offenbar keine Beziehungen zu dem hohen Potentaten, aber Freude daran hat, ihn aus nächster Nähe zu sehen) flüsterte er ihr ins Ohr: »Die Marquise von Villeparisis«, und im selben Augenblick bemerkte die alte Dame meine Großmutter und konnte einen Blick freudiger Überraschung nicht zurückhalten. Man kann sich denken: wenn mir plötzlich unter den Zügen einer kleinen Alten die mächtigste der Feen erschienen wäre, es hätte mir nicht mehr Freude gemacht. Bisher hatte ich ja keinerlei Aussicht, hier, wo ich niemanden kannte, mich Fräulein von Stermaria zu nähern. ›Niemanden‹ nur vom praktischen Gesichtspunkt. Vom ästhetischen ist die Anzahl der Menschentypen sehr beschränkt, und man hat recht oft, wohin man auch kommt, das Vergnügen, Bekannte wiederzusehen, ohne sie in Gemälden von alten Meistern suchen zu müssen wie Swann. So hatte ich bereits in den ersten Tagen unseres Aufenthaltes in Balbec Legrandin, Swanns Portier und Frau Swann selbst angetroffen, der erste war Kellner geworden, der zweite ein durchreisender Fremder, den ich nicht wiedersah, und Bademeister die dritte. Es besteht eine Art wechselseitiger Anziehungskraft für gewisse Charakteristika des Ausdrucks und der Geistesart: wenn die Natur eine Person in einen neuen Körper einführt, verstümmelt sie sie gar nicht so sehr. Legrandin behielt als Kellner genau seine Statur, die Nasenlinie und einen Teil seines Kinnes, Frau Swann bewahrte, männlichen Geschlechts, in dem Beruf des Bademeisters nicht nur ihre gewohnte Physiognomie, sondern sogar eine bestimmte Art zu sprechen. Nur konnte sie in ihrem roten Gürtel und, wie sie schnell bei höherem Wellengang die Flagge hochzog, die das Baden verbot (Bademeister sind vorsichtig, sie können meist nicht schwimmen), mir nicht mehr nützen als in dem Fresko des Lebens Mosis, wo Swann sie einst unter den Zügen der Tochter Jethros erkannt hatte. Frau von Villeparisis hingegen war die wirkliche Marquise dieses Namens, nicht Opfer eines Zaubers, der sie ihrer Macht beraubte, vielmehr konnte sie mir einen Zauber zur Verfügung stellen, der meine Macht verhundertfachte und mich, wie auf Flügeln eines Fabelvogels in wenigen Augenblicken die – wenigstens in Balbec – unendliche soziale Distanz durcheilen ließ, welche mich von Fräulein von Stermaria trennte.

Leider lebte meine Großmutter mehr als sonst irgend jemand in ihr besonderes Universum eingeschlossen. Verachtet hätte sie mich nicht einmal, aber gar nicht verstanden, hätte sie gewußt, wie wichtig mir die Persönlichkeiten und die Achtung von Leuten waren, deren Dasein sie gar nicht bemerkte; sie hätte ja Balbec verlassen, ohne auch nur die Namen dieser Leute zu behalten. Und so wagte ich nicht, ihr einzugestehen, es wäre mir eine große Freude, wenn diese Leute sie mit Frau von Villeparisis sprechen sähen, weil die Marquise im Hotel hochangesehen war und wir durch unsere Freundschaft mit ihr in den Augen des Herrn von Stermaria gewinnen würden. Dabei war übrigens die Freundin meiner Großmutter für mich nicht etwa eine Vertreterin des hohen Adels: ich war viel zu sehr an ihren Namen gewöhnt, er war schon meinem Ohr vertraut gewesen, als ich im Geist noch nicht bei ihm verweilte, als kleines Kind hatte ich ihn zu Hause aussprechen hören; der Adelstitel fügte nur eine bizarre Eigentümlichkeit hinzu wie etwa ein ungewöhnlicher Vorname (ähnlich geht es einem mit Straßennamen, die rue Lord Byron, die ziemlich volkstümliche und gewöhnliche rue Rochechouart oder die rue de Grammont haben keinen vornehmeren Klang als die rue Léonce Reynaud oder die rue Hippolyte Lebas). Frau von Villeparisis war für mich ebensowenig Geschöpf aus einer besonderen Klasse wie ihr Vetter Mac Mahon, und dieser war mir nichts wesentlich anderes als Herr Carnot, der ja ebenfalls Präsident der Republik gewesen, oder Raspail, dessen Photographie Françoise zusammen mit der von Pius IX. gekauft hatte. Meine Großmutter fand, man müsse auf Reisen prinzipiell keine Beziehungen haben, man gehe nicht an die See, um Leute zu sehen, wozu in Paris Zeit genug sei, damit verlöre man nur über Höflichkeiten und Banalitäten die kostbare Zeit, die man ganz in freier Luft vor den Wellen zubringen solle; es paßte ihr, anzunehmen, diese Auffassung werde von allen geteilt und spreche alten Freunden, die der Zufall in demselben Hotel zusammenführe, das Recht zu, gegenseitiges Inkognito zu fingieren: daher wandte sie auch nur die Augen ab, als der Direktor ihr die Marquise nannte, und tat, als sähe sie Frau von Villeparisis nicht; diese begriff, daß meine Großmutter eine Begrüßung vermeiden wollte, und blickte nun auch ins Leere. Sie entfernte sich, und ich blieb in meiner Abgeschiedenheit wie ein Schiffbrüchiger, dem sich ein Segler zu nähern schien, um sodann ohne Aufenthalt zu verschwinden.

Sie nahm ihre Mahlzeiten ebenfalls im Speisesaal, saß aber am andern Ende. Sie kannte niemanden von den Bewohnern des Hotels und denen, die zu Besuch kamen, nicht einmal Herrn von Cambremer; ich sah, daß er sie nicht grüßte, als er eines Tages mit seiner Frau erschien und die Einladung des Vorstehers der Anwaltskammer zum Frühstück annahm. Der war außer sich vor Freude über die Ehre, den Edelmann an seinem Tische zu haben, vermied seine alltäglichen Freunde und begnügte sich damit, ihnen von weitem zuzuzwinkern, um sie auf das historische Ereignis in diskreter Weise aufmerksam zu machen, was nicht als Aufforderung zum Nähertreten gelten konnte.

»Nun, ich hoffe, Sie staffieren sich jetzt aus und werden chik auftreten«, sagte am Abend die Frau des Gerichtspräsidenten zu ihm.

»Chik? Wieso denn?« – er tat sehr verwundert, um seine Freude zu verbergen – »etwa wegen meiner Gäste?« – länger konnte er sich doch nicht verstellen – »was ist denn so Chikes dabei, Freunde zum Frühstück zu haben? Irgendwo müssen sie doch frühstücken.«

»Allerdings ist es chik. Es sind die Cambremer. Ich habe sie erkannt. Eine Marquise. Und noch dazu eine authentische. Nicht nur mütterlicherseits.«

»Oh, sie ist eine sehr einfache Frau. Reizend ist sie, macht keine Umstände. Ich dachte, Sie würden auch kommen, ich habe Ihnen Zeichen gemacht... Ich hätte Sie vorgestellt!« korrigierte er leicht ironisch das Ungeheuerliche seines Vorschlags, wie Ahasverus, wenn er zu Esther sagt: »Muß ich die Hälfte dir von meinen Staaten geben?«

»Nein, nein, nein, wir bleiben im Verborgenen wie das bescheidene Veilchen.«

»Sehr unrecht von Ihnen, das versichere ich Sie«, antwortete der Vorsteher der Anwaltskammer. Jetzt, da die Gefahr vorüber war, wurde er kühn. »Die würden Sie nicht aufgefressen haben. Machen wir unsere Partie Bezigue?«

»Aber gern. Wir wagten es Ihnen nicht vorzuschlagen, jetzt, wo Sie Marquisen traktieren!«

»Aber ich bitte Sie, was ist denn daran Ungewöhnliches? Morgen soll ich dort dinieren. Wollen Sie an meiner Stelle hingehen? Sie würden mir ein Vergnügen machen. Ich bleibe, offengestanden, ebenso gern hier.«

»Nein, nein!.. Man würde mich – als Reaktionär – absetzen!« rief der Präsident und lachte Tränen über seine witzige Bemerkung. Dann wandte er sich an den Notar: »Sie werden doch auch in Féterne empfangen.« »Nun ja. Ich gehe Sonntags hin. Durch die eine Tür hinein, durch die andere hinaus. Aber die Herrschaften frühstücken nicht bei mir wie bei unsern Freunden.«

Gerade an diesem Tage war Herr von Stermaria nicht in Balbec zum großen Bedauern des Vorsitzenden der Anwaltskammer. Der sagte listig zum Oberkellner:

»Aimé, Sie können Herrn von Stermaria sagen, daß er nicht der einzige Adlige hier im Saal ist. Sie haben doch den Herrn gesehen, der heute mit mir frühstückte? Nicht wahr? Der mit dem kleinen Schnurrbart und militärischem Aussehen? Das ist der Marquis von Gambremer.«

»Ah, wahrhaftig? Nun, das wundert mich nicht!«

»Da kann er mal sehen, daß er nicht der einzige Mann von Stande ist. Schadet ihm nichts! Diese Adligen sollen nicht zu hohe Töne reden. Na wissen Sie, Aimé, sagen Sie ihm nichts, wenn es Ihnen lieber ist, mir persönlich liegt ja nichts daran; übrigens kennt er ihn.«

Und am nächsten Tag stellte Herr von Stermaria, der wußte, daß der Vorsteher der Anwaltskammer für einen seiner Freunde plädiert hatte, sich selbst vor. »Unsere gemeinsamen Freunde, die Cambremer, wollten uns gerade zusammenbringen, aber es ließ sich mit den Tagen nicht machen, ich weiß nicht mehr genau«, sagte der Vorsitzende der Anwaltskammer. Wie viele Lügner bildete er sich ein, man würde einer so unwichtigen Einzelheit nicht nachgehen, doch sie genügt (wenn der Zufall dem andern die widersprechende Wahrheit vermittelt), einen Charakter bloßzustellen und dauerndes Mißtrauen gegen ihn einzuflößen. Ich sah, wie immer, Fräulein von Stermaria an, und diesmal wurde mir das erleichtert, da ihr Vater den Tisch verlassen hatte, um mit dem Vorsitzenden der Anwaltskammer zu plaudern. Die Haltung war, wie immer bei ihr, schön und gewagt, sie legte die Ellbogen auf den Tisch und hob ihr Glas über die beiden Unterarme: ihr Blick war schnell erschöpft und trocken, in ihrer Stimme war, unter dem persönlichen Tonfall kaum verborgen, die ererbte charakteristische Härte zu hören, die meine Großmutter abstieß, eine Art atavistische Sperrfeder griff ein, sobald sie in Betonung oder Blick ihre eigenen Gedanken geäußert hatte; man mußte immer wieder bei ihr an den Stammbaum denken, der ihr diesen Mangel an menschlicher Sympathie, die Lücken im Gefühl, die Kargheit des Materials, das ihr alle Augenblicke ausging, vererbt hatte. Manchmal aber ging über die Tiefe ihrer gleich wieder leeren Augen rasch ein Blick, in dem die fast demütige Sanftmut zu fühlen war, wie vorherrschende Neigung zu den sinnlichen Genüssen sie selbst der Stolzesten gibt (es wird dann bald nur noch derjenige Macht über sie gewinnen, der ihr solche Genüsse verschaffen kann, sei es ein Komödiant, ein Seiltänzer, sie wird um seinetwillen eines Tages vielleicht ihren Gatten verlassen), und manchmal stieg in ihre blassen Wangen lebhaftes sinnliches Rosarot, dem ähnlich, das das Innere der weißen Seerosen in der Vivonne färbte; an diesem Blick und dieser Farbe glaubte ich zu erraten, sie würde mir gern erlauben, bei ihr dem träumerischen Leben nachzuspüren, das sie in der Bretagne führte. Gewiß: sie selber schien aus angeborener Distinktion oder aus Widerwillen gegen Armut und Geiz bei den Ihren dies allzu gewohnte Leben nicht sehr hoch zu schätzen, aber es war doch ganz in ihr, in ihren Körper eingetan. Die kümmerliche Zurückhaltung, die ihr überliefert war und ihrem Gesichtsausdruck etwas Feiges gab, hätte ihr kaum geholfen, Widerstand zu leisten. Und der graue Filzhut mit seiner etwas altmodischen prätentiösen Feder, den sie zu jeder Mahlzeit trug, machte sie mir noch holder, nicht weil er zu ihrem Silber- oder Rosenteint paßte, sondern weil ich von ihm auf ihre Armut schloß, und das brachte sie mir näher. Zwar war sie in Gegenwart ihres Vaters zu einer konventionellen Haltung gezwungen, doch brachte sie den Wesen, die sie vor sich sah, eine grundsätzlich andere Auffassung und andern Maßstab entgegen und mochte so in mir nicht den geringen gesellschaftlichen Rang, sondern Geschlecht und Alter erblicken. Sollte eines Tages Herr von Stermaria ohne sie ausgehen, sollte gar Frau von Villeparisis sich an unsern Tisch setzen und ihr dadurch von uns eine Meinung geben, die mir Mut machen würde, mich ihr zu nähern, dann würden wir vielleicht einige Worte wechseln, ein Rendezvous verabreden, uns näher befreunden. Und blieb sie einmal einen Monat lang ohne die Eltern in ihrem romantischen Schlosse allein, würden vielleicht abends in der Dämmerung, die sanfter über verdüstertem Wasser die roten Blüten des Heidekrauts leuchten läßt, unter Eichen, an deren Fuß Wellen schlagen, wir beide allein spazieren gehen, würden zusammen die Insel durchstreifen, die soviel Zauber für mich hatte, weil sie das gewohnte Leben des Fräulein von Stermaria umschloß und im Gedächtnis ihrer Augen aufbewahrt lag. Wirklich besessen hätte ich, so schien es mir, sie nur dort, nur wenn ich die Orte durcheilt hätte, die sie in so viel Erinnerung einhüllten. Diesen Schleier wollte mein Verlangen ihr abreißen – den Schleier, den Natur zwischen das Weib und bestimmte Wesen hält (sie tut das in derselben Absicht, mit der sie zwischen alle Wesen und ihren lebhaftesten Genuß den Akt der Fortpflanzung und zwischen die Insekten und den Honig Blütenstaub, den sie forttragen sollen, tut),damit sie getäuscht vom Wahne, das Weib so vollkommener zu besitzen, gezwungen seien, sich erst der Landschaft zu bemächtigen, in der es lebt. Die ist für ihre Phantasie nützlicher als sinnliche Genüsse, und hätte doch ohne die nicht genügt, um sie anzulocken.

Aber ich mußte wieder wegsehen von Fräulein von Stermaria, denn ihr Vater, für den, eine wichtige Bekanntschaft zu schließen, wohl nur ein kurzer, merkwürdiger Vorgang war, bei dem man weiter nichts Wesentliches zu tun hat als einen Händedruck auszutauschen und sich fest in die Augen zu sehen, ohne gleich eine längere Unterhaltung und später Beziehungen anzuknüpfen – hatte sich inzwischen von dem Vorsitzenden der Anwaltskammer verabschiedet und nahm wieder ihr gegenüber Platz. Er rieb sich die Hände wie einer, der etwas Wertvolles erworben hat. Den Vorsitzenden der Anwaltskammer aber sah man, nachdem seine erste Erregung über dies Erlebnis vergangen war, sich wieder wie sonst von Zeit zu Zeit an den Oberkellner wenden:

»Ich bin kein König, Aimé; gehen Sie doch zum König hin; was meinen Sie, Präsident, die kleinen Forellen da drüben sehen recht gut aus, Aimé; soll uns welche bringen. Aimé, der kleine Fisch, den Sie da haben, scheint mir durchaus empfehlenswert; Sie können uns auch was davon bringen, Aimé, und nicht zu wenig.«

Immerzu wiederholte er den Namen Aimé. Wenn er einen Gast am Tische hatte, sagte der: »Ich sehe, Sie sind hier wie zu Hause«, und hielt aus Schüchternheit, Gewöhnlichkeit und Dummheit, wie sie sich in manchen Leuten vereinen, es für sehr angebracht, den Oberkellner auch beständig bei seinem Vornamen zu rufen. Solche Menschen halten es für geistvoll und fein, die, mit denen sie zusammen sind, buchstäblich nachzuahmen. Der Vorsitzende der Anwaltskammer rief dann auch immer »Aimé«, lächelte aber dabei, um sowohl seine guten Beziehungen zu dem Oberkellner als auch die eigene Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Und auch der Oberkellner lächelte jedesmal, wenn sein Name laut wurde; gerührt und stolz gab er zu erkennen, er wisse die Ehre zu schätzen und verstehe den Scherz.

Noch mehr als gewöhnlich schüchterten die Mahlzeiten in dem meist überfüllten Restaurant des Grand-Hôtels mich ein, als für einige Tage der Besitzer (oder, ich weiß es nicht ganz genau, der von einer Kommanditgesellschaft gewählte Generaldirektor) eintraf. Ihm unterstanden außer diesem Palace noch sieben oder acht andere an allen Ecken und Enden von Frankreich, zwischen denen er hin- und herfuhr, um in jedem von Zeit zu Zeit eine Woche zu verbringen. Nun erschien jeden Abend, wenn das Diner begann, im Eingang des Speisesaals dieser kleine, weißhaarige, rotnasige Mann. Seine Haltung war außerordentlich kühl und korrekt, er war offenbar in London wie in Monte Carlo als einer der ersten Hoteliers von Europa bekannt. Als ich einmal zu Beginn des Diners hinausging und auf dem Rückwege an ihm vorbeikam, grüßte er mich, aber sehr kalt: ich konnte nicht unterscheiden, ob er damit die Zurückhaltung eines Mannes wahrte, der seine Würde nie vergißt, oder für einen unwichtigen Klienten Verachtung bekundete. Vor wichtigeren Gästen verneigte er sich ebenso kalt, aber tiefer; dabei senkte er die Lider so schamhaft ehrfürchtig, als habe er bei einem Begräbnis den Vater der Verstorbenen oder die Monstranz vor sich. Außer bei diesen eisigen seltenen Grüßen machte er keine Bewegung, wie um zu zeigen, daß seine funkelnden Augen, die ihm aus dem Kopf zu springen schienen, alles sahen, alles regelten und beim »Grand-Hôtel-Diner« ebenso die Vollendung der Einzelheiten wie die Harmonie des Ganzen sicherten. Er war offenbar mehr als Regisseur oder Kapellmeister, er war kommandierender General. In dem Bewußtsein, eine aufs Intensivste gesteigerte Kontemplation sei ihm genug, sich zu versichern, daß alles bereit sei und kein einzelner Fehler eine allgemeine Niederlage nach sich ziehen könne, und aus Verantwortungsgefühl enthielt er sich jeder Gebärde, nicht einmal seine vom Aufpassen versteinerten Augen, welche die Operationen in ihrer Gesamtheit umfaßten und leiteten, bewegte er. Ich spürte, daß ihm sogar die Bewegungen meines Löffels nicht entgingen, und verschwand er dann nach der Suppe, hatte mir die Parade, die er abnahm, den Appetit auf den Rest verdorben. Seiner war recht gut, das konnte man beim Frühstück sehen, welches er wie ein einfacher Privatmann mit allen zusammen im Speisesaal einnahm. Auffallend war nur, daß, während er aß, der andere Direktor, der gewöhnliche, die ganze Zeit neben ihm am Tisch stand und Konversation machte. Als Untergebener des Generaldirektors suchte er diesem zu schmeicheln und hatte große Furcht vor ihm. Meine war bei diesen Déjeuners nicht so stark, denn da verschwand er zwischen den Klienten mit der Diskretion eines Generals, der in einem Restaurant sitzt, wo viele Soldaten sind, und so tut, als kümmere er sich nicht um sie. Als mir aber der Portier, umgeben von seinen »Chasseurs«, ankündigte: »Morgen reist er nach Dinard. Von da geht er nach Biarritz und nachher nach Cannes«; atmete ich doch freier.

War mein Leben im Hotel schon traurig, weil ich keine Beziehungen hatte, so wurde es obendrein noch unbequem, weil Françoise zahlreiche anknüpfte. Man sollte meinen, das hätte uns vieles erleichtert. Gerade das Gegenteil war der Fall. Hatten Proletarier einige Mühe, von Françoise als Bekannte behandelt zu werden, und mußten sie bestimmte sehr höfliche Formen beobachten, um dies Ziel zu erreichen, so waren sie dafür, wenn es erreicht war, die einzigen Personen, die für sie in Betracht kamen. Ihr alter Sittenkodex lehrte, sie habe keine Verpflichtungen gegen die Freunde ihrer Herrschaft, könne, wenn sie in Eile sei, eine Dame, die zu Besuch zu meiner Großmutter kam, wegschicken. Aber in ihren persönlichen Beziehungen, das heißt, mit den wenigen Leuten aus dem Volke, die sich ihrer schwer zu erringenden Freundschaft erfreuten, regelte das komplizierteste und strengste Protokoll ihr Verhalten. Seit Françoise den Cafétier und eine kleine Zofe kennengelernt hatte, die für eine belgische Dame Kleider nähte, kam sie nicht mehr gleich nach dem Frühstück herauf, die Sachen meiner Großmutter fertigzumachen, sondern erst eine Stunde später; denn der Cafétier wollte ihr Kaffee oder Tisane machen, oder die Zofe bat sie, beim Nähen ihr zuzusehen, und ihnen das abzuschlagen, war unmöglich, war etwas, das man nicht tut. Überdies gebührte der kleinen Zofe besondere Rücksicht, sie war Waise und bei Ausländern aufgewachsen, zu denen sie bisweilen auf einige Tage reiste. Diese Lebenslage erregte Françoises Mitleid und wohlwollende Geringschätzung. Sie, die Familie besaß und von ihren Eltern ein kleines Haus geerbt hatte, bei dem ihr Bruder einige Kühe aufzog, konnte eine Entwurzelte nicht als ihresgleichen betrachten. Und da die Kleine um den 15. August ihre Wohltäter zu besuchen hoffte, konnte Françoise sich nicht enthalten, wiederholt zu betonen: »Sie macht mich lachen. Sie sagt: »Ich hoffe, zum 15. August komm ich nach Hause«. Nach Hause, sagt sie! Und es ist nicht einmal ihre Heimat, es sind Leute, die sie aufgenommen haben, und so eins sagt: Nach Hause, als ob das wirklich ihr Zu-Hause wäre. Arme Kleine! Schlimm muß es mit ihr bestellt sein, wenn sie nicht einmal weiß, was es heißt, ein Zu-Hause zu haben.« Aber hätte Françoise sich nur mit Zofen von Gästen befreundet, die mit ihr in der Leuteküche aßen und sie in ihrer schönen Spitzenhaube und mit ihrem feinen Profil vielleicht für eine Dame von Adel hielten, die Umstände halber oder aus Anhänglichkeit meiner Großmutter als Gesellschaftsdame diente, hätte Françoise mit einem Wort nur Leute kennen gelernt, die nicht zum Hotel gehörten, so wäre das Unglück nicht so groß gewesen, die hätte sie nicht hindern können, uns dienlich zu sein, aus dem einfachen Grund, weil sie, selbst wenn Françoise sie nicht gekannt hätte, uns nicht gedient haben würden. Aber sie hatte sich auch mit einem Weinkellner, einem Koch und einer Wirtschafterin befreundet. Und daraus ergaben sich bedenkliche Folgen für unser tägliches Leben. Françoise, die am Tage ihrer Ankunft, als sie noch niemanden kannte, wegen jeder Kleinigkeit zu Zeiten, in denen wir es nicht gewagt hätten, an allen Klingeln läutete, und wenn wir uns darüber eine sanfte Bemerkung erlaubten, antwortete: »Man zahlt doch teuer genug dafür« (als zahle sie selber), – jetzt, seit sie mit einer Persönlichkeit aus der Küche befreundet war (davon erhofften wir uns erst Bequemlichkeiten), wenn jetzt die Großmutter oder ich kalte Füße hatten, wagte Françoise nicht einmal zu ganz normaler Zeit zu klingeln; sie versicherte, das würde anstößig wirken, da müsse erst Feuer gemacht werden, das könnte die Dienerschaft beim Essen stören. Und sie schloß immer mit einer Redensart, die sie zwar etwas unsicher vorbrachte, aber sie war nichtsdestoweniger klar und gab uns deutlich Unrecht: »Es ist Tatsache«. Wir bestanden dann nicht weiter auf unsern Wünschen, um nur nicht ihre andere schärfere Redensart abzubekommen: »Das ist zuviel verlangt!« So konnten wir kein warmes Wasser mehr haben, weil Françoise mit dem, der es wärmte, befreundet war.

Schließlich hatten auch wir eine Beziehung wider Willen der Großmutter und doch durch ihre eigene Schuld. Eines Morgens nämlich liefen sie und Frau von Villeparisis in einer Tür aufeinander zu und mußten sich anreden; beide stellten sich zunächst äußerst überrascht, zauderten, wichen wie im Zweifel zurück und versicherten dann sich gegenseitig ihrer großen Freude, wie in manchen Stücken Molières zwei Schauspieler erst lange, jeder auf seiner Seite, ein paar Schritte voneinander unter der Voraussetzung, daß sie einander noch nicht gesehen haben, Monologe halten, bis sie sich dann plötzlich bemerken, ihren Augen nicht trauen, mitten im Satz stecken bleiben, schließlich beide zugleich reden, den Chorus auf den Dialog folgen lassen und sich einer dem andern in die Arme werfen. Aus Diskretion wollte Frau von Villeparisis meine Großmutter gleich wieder verlassen; die aber hielt sie zurück bis zum Frühstück, um zu erfahren, wie sie es anstelle, ihre Briefe früher als wir zu bekommen und gute Rostspeisen (Frau von Villeparisis aß gern gut und fand die Küche des Hotels nicht nach ihrem Geschmack; dort wurden uns allerdings Mahlzeiten vorgesetzt, die, wie die Großmutter mit ihrem üblichen Zitat aus Frau von Sévigné behauptete, »von einer Fracht waren, an der man verhungern könne«). Nun nahm die Marquise die Gewohnheit an, täglich, bevor aufgetragen wurde, sich im Speisesaal eine Weile zu uns zu setzen, wobei sie nicht erlaubte, daß wir uns erhoben oder irgend welche Umstände machten. Manchmal verplauderten wir uns mit ihr bis zu dem häßlichen Augenblick am Ende des Frühstücks, wo die Messer neben den offenen Servietten auf dem Tischtuch herumliegen. Ich wollte, um Balbec lieben zu können, immer in der Vorstellung bleiben, daß ich am äußersten Punkt des Festlandes sei, und bemühte mich, in die Ferne zu schauen, nichts zu sehen als das Meer, in ihm die Stimmungen au suchen, welche Baudelaire beschrieben hat, und meine Blicke nur auf unserm Tisch verweilen zu lassen, wenn etwa ein gewaltiger Fisch aufgetragen wurde, ein Seeungeheuer, das im Gegensatz zu Messern und Gabeln aus Urzeiten stammte, als hier das erste Leben sich regte, aus der Zeit der Kimmerier; seinen Körper mit den unzähligen Wirbeln, mit blauen und rosa Sehnen hatte die Natur wie nach einem architektonischen Plan als vielfarbige Meereskathedrale konstruiert.

Wie ein Friseur, der einen Offizier, den er mit besonderer Hochachtung bedient, mit einem andern Kunden, der gerade eintritt, eine Unterhaltung anknüpfen sieht, sich freut, daß beide zur selben hohen Gesellschaft gehören, und, während er seine Seifenschale holt, ein beglücktes Lächeln nicht unterdrücken kann (er weiß, in seinem Salon verbinden sich den einfachen Toilettebedürfnissen gesellschaftliche, ja aristokratische Genüsse), so sah Aimé, daß Frau von Villeparisis in uns alte Bekannte getroffen hatte und mit dem stolz bescheidenen, klug diskreten Lächeln einer Hausfrau, die sich im richtigen Moment zurückzuziehen versteht, holte er unsere Bols. Auch einem glücklichen, gerührten Vater sah er ähnlich, der, ohne zu stören, Verlobungen überwacht, die an seinem Tische begonnen haben. Nebenbei bemerkt brauchte man nur den Namen einer Person von Rang auszusprechen, um Aimé glücklich zu machen; darin war er das Gegenteil von Françoise, die gleich finster dreinsah und kurz und trocken wurde, wenn man vor ihr »Graf Soundso« sagte, und das nicht etwa, weil sie den Adel weniger, sondern weil sie ihn mehr liebte als Aimé. Françoise besaß die Eigenschaft, die sie bei andern am meisten tadelte, sie war stolz. Sie war nicht von dem gutmütigen und bequemen Menschenschlage, zu dem Aimé gehörte. Leute seiner Art empfinden und bekunden lebhaftes Vergnügen, wenn man ihnen eine mehr oder weniger pikante, aber ganz neue Geschichte erzählt, die nicht in der Zeitung steht. Françoise dagegen ließ sich nicht gern eine Überraschung anmerken. Hätte man in ihrem Beisein erzählt, der Erzherzog Rudolph, von dessen Existenz sie gar nichts ahnte, sei nicht, wie allgemein angenommen wurde, tot, sondern lebe, sie hätte geantwortet: »Ja«, als wüßte sie das schon lange. Nicht einmal aus unserm Munde, die sie doch so demütig ihre Herrschaft nannte (und wir hatten sie auch fast ganz gezähmt), konnte sie einen adligen Namen hören, ohne eine zornige Erregung verdrängen zu müssen; ihre Familie mochte wohl in der Heimat sehr wohlhabend und unabhängig leben und im Genuß allgemeiner Achtung nur gerade von den Adligen gestört werden, bei denen ein Mensch wie Aimé von Kindheit an gedient hatte oder gar aus Barmherzigkeit aufgezogen war. Um Françoise zu gefallen, mußte also Frau von Villeparisis verstehen, sich ihren Adel zugute halten zu lassen. Aber das ist ja, wenigstens in Frankreich, gerade das Talent und die einzige Beschäftigung vornehmer Herren und Damen. Françoise hatte die Neigung so mancher Dienstboten, über die Beziehungen ihrer Herrschaft zu andern fragmentarische Beobachtungen zu sammeln und daraus bisweilen irrtümliche Folgerungen zu ziehen, wie es die Menschen mit dem Lebern der Tiere tun; alle Augenblicke fand sie, man habe uns nicht behandelt wie es sich gehört, und darauf kam sie nicht nur, weil sie uns übertrieben liebte, sondern auch, weil es ihr ein besonderes Vergnügen machte, uns Verdruß zu bereiten. Frau von Villeparisis aber – das stellte Françoise fest, und jeder Irrtum war ausgeschlossen – erwies uns und ihr selbst tausendfach Liebenswürdigkeiten, und so vergab ihr Françoise, daß sie Marquise war, und da sie ja niemals aufgehört hatte, gleichzeitig ihr auch Dank zu wissen, daß sie es war, zog sie sie unsern sämtlichen andern Bekanntschaften vor. Es gab sich aber auch niemand soviel Mühe, uns immer wieder gefällig zu sein. War meine Großmutter auf ein Buch aufmerksam geworden, das Frau von Villeparisis las oder hatte sie Früchte schön gefunden, die die Marquise von einer Freundin empfing, so kam eine Stunde später ein Lakai mit Buch oder Früchten zu uns herauf. Und wollten wir uns beim nächsten Wiedersehen bedanken, so suchte sie ihr Geschenk noch damit zu entschuldigen, daß es im speziellen Fall nützlich sein könne. »Das Buch ist kein Meisterwerk,« sagte sie, »aber die Zeitungen treffen so spät ein, man muß doch etwas zu lesen haben« oder »Man tut immer gut daran, sich an der See mit Obstsendungen zu versorgen auf die man rechnen kann.« »Aber ich sehe Sie nie Austern essen«, sagte sie einmal (und damit verstärkte sie noch den Abscheu, den ich damals vor dem lebendigen Fleisch der Auster wie vor der klebrigen Substanz von Quallen am Strande hatte), »sie sind ausgezeichnet an dieser Küste. Ach! Ich werde meiner Zofe sagen, sie soll Ihre Briefe mit meinen zusammen abholen. Wie? Ihre Tochter schreibt Ihnen tagtäglich? Was können Sie sich nur soviel zu sagen haben?« Meine Großmutter schwieg, etwas verächtlich, wie sich bei ihr denken läßt, die auf Mama die Worte der Frau von Sévigné anzuwenden pflegte: »Habe ich einen Brief von dir bekommen, so möchte ich gleich einen zweiten, ich kann nicht atmen ohne deine Briefe. Wenig Menschen sind würdig zu verstehen, was ich fühle.« Und ich fürchtete, sie könne auf Frau von Villeparisis die Schlußfolgerung anwenden: »Ich suche mir die aus, die zu der kleinen Zahl gehören, die andern meide ich.« Die Großmutter überging das Thema und lobte die Früchte, die Frau von Villeparisis uns gestern hatte bringen lassen. Und sie waren in der Tat so schön, daß der Direktor den Ärger über seine verschmähten Kompottschüsseln vergaß und mir versicherte: »Ich bin wie Sie, auf Früchte bin ich schärfer als auf jeden andern Dessert.« Meine Großmutter sagte zu ihrer Freundin, sie habe die Früchte um so mehr gewürdigt als die, welche man uns im Hotel vorsetze, im allgemeinen recht schlecht seien. »Ich kann hier nicht mit Frau von Sévigné sagen« fügte sie hinzu, »wenn uns die Lust nach schlechten Früchten ankäme, müßten wir sie aus Paris kommen lassen.« »Ach ja, Sie lesen Frau von Sévigné. Seit dem ersten Tag sehe ich Sie mit ihren Briefen« (sie vergaß, daß sie meine Großmutter vor der Begegnung in der Tür doch nie im Hotel bemerkt hatte). »Finden Sie diese beständige Sorge um ihre Tochter nicht etwas übertrieben? Sie spricht zuviel davon, als das es ganz aufrichtig sein könnte. Sie ist nicht natürlich.« Die Großmutter wollte sich auf keine Diskussion einlassen, und um nicht von Dingen, die sie liebte, mit jemandem sprechen zu müssen, der kein Verständnis dafür hatte, verbarg sie rasch die Memoiren der Frau von Beausergent unter ihrer Tasche.

Traf Frau von Villeparisis Françoise Mittags, wenn sie in ihrer schönen Haube, umgeben von allgemeiner Hochachtung, hinunterging, »um mit den Leuten zu essen«, so sprach sie sie an und fragte nach unserm Ergehen. Und Françoise überbrachte uns die Empfehlungen der Marquise und sagte, die Stimme der Frau von Villeparisis nachahmend: »›Wünschen Sie ihnen recht schönen guten Tag‹, hat sie mir aufgetragen.« Sie glaubte, die Worte der Marquise genau zu wiederholen, entstellte sie aber nicht weniger als Platon die des Sokrates oder Johannes die Worte Jesu. Solche Aufmerksamkeiten taten Françoise natürlich wohl. Wenn aber die Großmutter behauptete, Frau von Villeparisis sei früher einmal sehr schön gewesen, glaubte sie ihr nicht und dachte, sie lüge aus Klassengeist, die reichen Leute hielten immer zueinander. Allerdings waren von der Schönheit der Marquise nur noch schwache Spuren übrig, und man mußte schon ein größerer Künstler als Françoise sein, um das Verlorene zu rekonstruieren. Um zu verstehen, wie eine alte Frau früher hübsch sein konnte, muß man jeden Zug an ihr nicht nur betrachten, sondern übersetzen.

»Ich muß daran denken, sie einmal zu fragen, ob sie nicht irgendwie mit den Guermantes verwandt ist«, sagte mir die Großmutter, und das erregte meine Entrüstung. Wie sollte ich auch an den gemeinsamen Ursprung zweier Namen glauben, von denen der eine durch die niedere, erbärmliche Tür der Erfahrung, der andere durch das goldene Tor der Phantasie in mich getreten war?

Seit einigen Tagen sah man öfters in prächtiger Equipage, groß und rothaarig, eine etwas kräftige Nase im schönen Gesicht, die Prinzessin von Luxembourg vorüberkommen, die für einige Sommerwochen hier auf dem Lande war. Ihre Kalesche hielt vor dem Hotel, ein Lakai begab sich zum Direktor, kam wieder an den Wagen und brachte von dort die wunderbarsten Früchte (verschiedene Jahreszeiten wohnten in diesem Korb wie in der Bucht von Balbec beieinander) mit einer Karte: »Prinzessin von Luxembourg«, auf die ein paar Worte mit Bleistift geschrieben waren. Welchem fürstlichen Gast, der hier incognito weilte, mochten die seegrün leuchtenden Pflaumen, die sich rundeten, wie das Meer sich rundet, die Weintrauben, die durchsichtig wie ein klarer Herbsttag vom ausgedörrten Holz niederhingen, die Birnen mit ihrem herrlichem Ultramarin bestimmt sein? Denn die Freundin meiner Großmutter hatte die Prinzessin doch wohl nicht besuchen wollen. Allein am nächsten Tag schickte uns Frau von Villeparisis eine frische goldig glänzende Weintraube und Pflaumen und Birnen, die wir wiedererkannten, obgleich die Pflaumen (wie das Meer in der Stunde, die wir bei Tische saßen, es tat) lila geworden waren und im Ultramarin der Birnen rosawolkige Formen schwammen. Ein paar Tage später trafen wir Frau von Villeparisis nach dem Sinfoniekonzert, das morgens am Strande gegeben wurde. Ich war davon durchdrungen, daß die Stücke, die ich dort hörte (das Lohengrinvorspiel, die Tannhäuserouvertüre usw.), die höchsten Wahrheiten ausdrückten, versuchte mich, so gut ich konnte, bis zu ihnen zu erheben, und gab alles, was ich Großes und Tiefes in meinem Innern verborgen fühlte, an sie hin, um sie zu verstehen. Als nun nach dem Konzert meine Großmutter und ich auf dem Heimweg zum Hotel einen Augenblick auf der Mole stehen blieben, um noch ein wenig mit Frau von Villeparisis zu plaudern, die uns ankündigte, sie habe uns im Hotel »Croque-Monsieur«-gebäck und »OEufs à la crème« bestellt, sah ich von weitem in unserer Richtung die Prinzessin von Luxembourg kommen. Halb stützte sie sich auf einen Sonnenschirm, um ihrem hohen wunderbaren Leibe die leichte Neigung zu geben, ihn die Arabeske bilden zu lassen, wie sie die Frauen, die unter dem zweiten Kaiserreich schön waren, liebten (sie wußte, mit fallenden Schultern, hohlem Kreuz, geschweifter Hüfte und straffem Bein wallte ihr Leib weich wie ein Seidentuch um einen unsichtbaren, starren, schrägen Schaft). Jeden Vormittag machte sie ihren Strandspaziergang beinah erst um die Zeit, wenn alle Leute vom Bade zum Frühstück fortgingen, und da sie selbst erst um halb zwei Uhr frühstückte, kehrte sie lange, nachdem die Badegäste die glühende Mole verlassen hatten, in ihre Villa zurück. Frau von Villeparisis stellte ihr meine Großmutter vor, wollte dann mich vorstellen, mußte aber erst nach meinem Namen fragen, dessen sie sich nicht entsann. Vielleicht hatte sie ihn nie gewußt oder jedenfalls seit vielen Jahren vergessen, an wen meine Großmutter ihre Tochter verheiratet hatte. Dieser Name schien Frau von Villeparisis einen lebhaften Eindruck zu machen. Inzwischen hatte uns die Prinzessin von Luxembourg ihre Hand gereicht und wandte sich von Zeit zu Zeit, während sie mit der Marquise plauderte, her, um süße Blicke auf meine Großmutter und mich zu richten mit dem Kußembryo auf den Lippen, den man bildet, wenn man einem Baby mit seiner Amme zulächelt. In ihrem Bestreben, nicht merken zu lassen, daß sie in höherer Sphäre zu Hause war als wir, hatte sie wohl die Distanz falsch berechnet: sie regulierte ihre Blicke fehlerhaft und gab ihnen eine solche Fülle von Güte, daß ich den Augenblick kommen sah, in dem sie uns streicheln werde wie zwei sympathische Tiere, die im Jardin d'Acclimatation ihr den Kopf durchs Gitter zugestreckt haben. Die Vorstellung von Tieren und vom Bois de Boulogne sollte mir gleich noch festere Form annehmen. Um diese Zeit liefen fliegende Händler über die Mole und riefen ihre Kuchen, Bonbons und Brötchen aus. Die Prinzessin, die uns durchaus ihr Wohlwollen bezeugen wollte und nicht recht wußte wie, winkte den ersten, der vorbeikam, heran; er hatte nur noch ein Stück Schwarzbrot, wie man es Enten vorwirft. Das nahm die Prinzessin und sagte zu mir: »Für Ihre Großmutter.« Aber dabei reichte sie es mir und fügte mit feinem Lächeln hinzu: »Sie werden es ihr selbst geben.« Sie meinte wohl, ich würde mehr Vergnügen daran haben, wenn kein Vermittler zwischen mir und den Tieren blieb. Andere Händler kamen heran; sie stopfte mir die Taschen voll mit allem, was es gab, verschnürte Pakete, Törtchen, Kuchen und Zuckerstangen. Dazu sagte sie: »Das werden Sie essen und Ihrer Großmutter auch davon zu essen geben«, und ließ dann den kleinen in rote Seide gekleideten Neger, der ihr zum großen Erstaunen des ganzen Seebades überall folgte, die Händler bezahlen. Dann sagte sie Frau von Villeparisis Adieu und reichte uns die Hand mit der Absicht, uns ebenso intim wie ihre Freundin zu behandeln, uns erreichbar zu werden. Und diesmal rückten wir auf der Stufenleiter der Wesen etwas höher hinauf. Denn zum Zeichen, daß sie sich uns gleichstellte, sah die Prinzessin meine Großmutter mütterlich liebevoll an wie etwa einen kleinen Jungen, dem man Auf Wiedersehen sagt wie einem Erwachsenen. So bewirkte ein seltsamer Fortschritt in der Evolution, daß meine Großmutter nicht mehr Ente oder Antilope war, sondern bereits das, was Frau Swann ein »Baby« genannt hätte. Schließlich verließ die Prinzessin uns drei und nahm ihre Promenade auf der durchsonnten Mole wieder auf; ihre schlanke Gestalt bog und wand sich an dem weißen, blaugemusterten Sonnenschirm, den die Prinzessin geschlossen in der Hand hielt, wie eine Schlange an einem Stab. Das war die erste Hoheit, die ich erlebte, ich sage die erste, denn Prinzessin Mathilde war in ihrem Benehmen durchaus keine Hoheit. Die zweite sollte, wie man später sehen wird, durch Güte nicht minder mich in Erstaunen setzen. Wie liebenswürdig der hohe Adel in seiner Rolle als Vermittler zwischen Fürstlichkeiten und Bürgern sein kann, erfuhren wir am nächsten Tage: Frau von Villeparisis sagte zu uns: »Sie war entzückt von Ihnen. Diese Frau hat ein sicheres Urteil und viel Herzensgüte. Sie ist nicht wie so viele Fürsten und Hoheiten. Sie hat wahren Wert.« Und im Tone der Überzeugung fügte Frau von Villeparisis, ganz glücklich, uns das sagen zu können, hinzu: »Ich glaube, es wird ihr große Freude machen, Sie wiederzusehen.«

Am selben Morgen aber sagte Frau von Villeparisis, nachdem uns die Prinzessin von Luxembourg verlassen hatte, mir etwas, das mich tiefer traf und nicht in das Gebiet der bloßen Liebenswürdigkeiten gehörte.

»Sind Sie nicht der Sohn des Ministerialdirektors?« fragte sie mich. »Ihr Vater muß ein reizender Mensch sein. Er macht jetzt eine recht schöne Reise.« Ein paar Tage zuvor hatte Mama uns geschrieben, mein Vater und sein Reisegefährte, Herr von Norpois, hätten ihr Gepäck verloren.

»Sie haben es wiederbekommen oder vielmehr, sie haben es gar nicht verloren, das hat sich anders zugetragen«, sagte uns Frau von Villeparisis. Wir wußten nicht, wie es kam, daß sie über die Einzelheiten dieser Reise viel genauer unterrichtet war als wir. »Ich glaube, Ihr Vater wird seine Rückreise schon auf nächste Woche festsetzen. Auf die Fahrt nach Algesiras wird er vermutlich verzichten. Aber er hat Lust, dem Besuch von Toledo einen Tag mehr zu widmen, er bewundert sehr einen Schüler Tizians, den man nur dort gut sehen kann; ich kann mich seines Namens nicht entsinnen.«

Wie kam es nur, daß in dem Fernglas, durch welches Frau von Villeparisis von weitem ohne großen Anteil die winzigen, undeutlichen Bewegungen einer Menge von Bekannten summarisch überblickte, an der Stelle, wo ihr mein Vater erschien, ein ganz außergewöhnlich vergrößerndes Stück Linse eingeschoben war? Sie sah ja deutlich und in allen Einzelheiten, was ihm auf dieser Reise angenehm war, was ihn veranlaßte, seine Rückkehr zu beschleunigen, seinen Arger mit Zollbeamten, seine Vorliebe für Greco; dieser eine Mann erschien ihr unter so viel kleinen übergroß, wie es Jupiter auf dem Bilde von Gustave Moreau neben einer schwachen Sterblichen ist.

Meine Großmutter verabschiedete sich von Frau von Villeparisis, damit wir noch einen Augenblick länger in freier Luft vor dem Hotel bleiben könnten, bis man uns durchs Fenster ein Zeichen gebe, daß unser Frühstück serviert sei. Da hörte man Lärm. Die junge Mätresse des Königs der Wilden kam vom Bade und begab sich zum Frühstück.

»Das ist eine wahre Pest! Das könnte einen aus Frankreich vertreiben«, tobte der Vorsitzende der Anwaltskammer, der in diesem Augenblick vorbeikam.

Die Frau des Notars starrte der falschen Fürstin mit aufgerissenen Augen nach.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Frau von Blandais mir auf die Nerven fällt, wenn sie diesen Leuten so nachsieht«, sagte der Vorsitzende der Anwaltskammer zum Polizeipräsidenten. »Wenn ich ihr doch eine Ohrfeige geben könnte! Auf diese Art bekommt das Gesindel eine Wichtigkeit ... und weiter will es ja nichts, man soll sich nur mit ihm beschäftigen. Sagen Sie doch ihrem Mann, er soll ihr klar machen, wie lächerlich ihr Benehmen ist. Ich gehe nicht mehr mit den Leuten aus, wenn sie sich um diese Fastnachtsgestalten kümmern.«

Die Ankunft der Prinzessin von Luxembourg, deren Equipage an dem Tage, als sie Früchte brachte, vor dem Hotel gehalten hatte, war der Gruppe der Gattinnen des Notars, des Vorsitzenden der Anwaltskammer und des Gerichtspräsidenten nicht entgangen. Die Damen hätten gar zu gern gewußt, ob diese Frau von Villeparisis eine authentische Marquise oder eine Abenteurerin sei, sie brannten darauf, herauszubekommen, daß sie die Auszeichnung, mit der man sie behandelte, nicht verdiene. Wenn sie durch die hall ging, hob die Frau des Gerichtspräsidenten, die überall Frauen von verdächtigen Sitten witterte, die Nase von der Handarbeit; und über die Art, wie sie der Frau von Villeparisis nachsah, wollten ihre Freundinnen sich totlachen.

»O wissen Sie, ich für mein Teil glaube zunächst immer das Schlimme«, sagte sie stolz. »Für mich ist eine Frau erst richtig verheiratet, wenn man mir Geburtsurkunden und Notariatsakte vorgelegt, hat. Übrigens, keine Angst, ich werde meine kleine Untersuchung schon einleiten.«

Und täglich kamen die Damen lachend an.

»Wir möchten wieder etwas Neues hören.«

Am Abend nach dem Besuch der Prinzessin von Luxembourg legte die Frau des Gerichtspräsidenten den Finger an den Mund.

»Eine große Neuigkeit.«

»Oh, Frau Poncin, die versteht's! So etwas habe ich noch nie gesehen ... also, was gibt es denn?«

»Eine Rothaarige ist angekommen, dick geschminkt, und einen Wagen hat sie, der meilenweit nach Kokotte riecht, einen Wagen, wie ihn nur diese Fräulein haben, die hat die angebliche Marquise besuchen wollen.«

»Hi hi! Ho ho! Sehn Sie wohl! Die haben wir ja gesehen, Sie erinnern sich, Anwalt, sie ist uns gleich unangenehm aufgefallen, aber wir wußten nicht, daß sie zu der Marquise kam. Eine Frau mit einem Neger, nicht wahr?«

»Stimmt genau.«

»Jetzt versteh ich ... Wissen Sie, wie sie heißt?«

»Ich habe so aus Versehen ihre Karte genommen. Ihr Pseudonym ist Prinzessin von Luxembourg? Hatte ich da nicht recht, mißtrauisch zu sein? Angenehm, mit so einer hier zusammen zu hausen.« Der Vorsitzende der Anwaltskammer zitierte dem Gerichtspräsidenten Mathurin Régnier und Macette.

Nebenbei bemerkt blieb es nicht bei einem momentanen Mißverständnis, wie solche im zweiten Akt eines Vaudevilles entstehen, um im letzten geklärt zu werden. So oft Madame de Luxembourg, Nichte des Königs von England und des österreichischen Kaisers, Frau von Villeparisis besuchen kam und sie zusammen ausfuhren, wurden sie für zwei liederliche Frauenzimmer gehalten von dem Schlage, vor dem man in Badeorten nicht sicher ist. Dreiviertel der Männer vom Faubourg Saint-Germain gelten in den Augen eines großen Teils der Bourgeoisie für Lumpen und Windhunde (im einzelnen Fall sind sie es ja bisweilen), mit denen niemand verkehrt. Darin nimmt es die Bourgeoisie zu genau; denn wo kein Bürgerlicher empfangen wird, sind sie trotz ihres schlechten Rufes sehr willkommen. Und sie bilden sich ein, die Bourgeoisie wisse das, geben sich ihr gegenüber ganz einfach und ungeniert und scheuen sich nicht, ihre entgleisten Freunde herunterzumachen, so daß das Mißverständnis immer größer wird. Kommt zufällig ein Mann vom hohen Adel mit Kleinbürgern in Berührung, weil er sehr reich ist und einer wichtigen Handelsgesellschaft vorsteht, so wird die Bourgeoisie schwören, ein so würdiger Mann, der es verdiene, großer Bürger zu sein, würde nie mit einem dieser ruinierten Marquis vom Spieltisch verkehren; die seien ja nur so liebenswürdig, weil sie keine Beziehungen haben. Und sie kann es gar nicht begreifen, wenn dieser Herzog und Präsident des Aufsichtsrates eines kolossalen Unternehmens seinem Sohn die Tochter eines Marquis zur Frau gibt, der ein notorischer Spieler ist, aber einen der ältesten Namen Frankreichs trägt. (So wird auch ein regierender Fürst seinen Sohn lieber die Tochter eines entthronten Königs als die eines amtierenden Präsidenten der Republik heiraten lassen.) Die beiden Gesellschaftsklassen haben eben von einander eine so chimärische Vorstellung, wie die Anwohner eines Strandes an einem Ende der Bucht von Balbec von dem am andern Ende gelegnen Strande: von Rivebelle kann man ein wenig Marcouville l'Orgueilleuse sehen, aber das führt zu Irrtümern, man glaubt nämlich, man würde gleichfalls von Marcouville aus gesehen, und von dort ist die Herrlichkeit von Rivebelle doch zum größten Teil unsichtbar.

   

Man hatte den Arzt von Balbec eines Fieberanfalls wegen, den ich gehabt hatte, holen lassen; der war der Ansicht, ich dürfe während der großen Hitze nicht den ganzen Tag über in voller Sonne am Strande mich aufhalten und er hatte einige Arzneiverordnungen für mich aufgesetzt; meine Großmutter nahm mit ostentativem Respekt diese Rezepte entgegen; ich aber las darin sofort ihren festen Entschluß, nicht eines davon ausführen zu lassen; den hygienischen Ratschlägen trug sie dagegen Rechnung und nahm das Anerbieten der Frau von Villeparisis an, einige Ausfahrten uns machen zu lassen. Bis zum Mittagessen ging ich zwischen meinem Zimmer und dem meiner Großmutter hin und wieder. Dieses ging nicht wie das meine direkt aufs Meer hinaus, sondern empfing von drei verschiedenen Seiten sein Licht: von einer Ecke der Mole, von einem Hof und vom freien Feld her, es war auch anders möbliert mit seinen Fauteuils, auf die Filigranmuster wie aus Metallfäden und Rosen gestickt waren, von welchen der angenehme frische Geruch beim Hereintreten einem auszugehen schien. Und um diese Stunde kamen die Strahlen aus verschiedenen Richtungen wie von verschiedenen Tageszeiten zugleich und brachen die Mauerecken, und neben einen Widerschein der Küste setzten sie einen Ruhaltar auf die Kommode nieder (die Farben spielten darin ineinander wie die von Feldblumen, an den Wänden brachten sie rings die eingefalteten, zitternden, lauen Flügel einer Helle an, die jederzeit bereit war, wieder ihren Flug zu beginnen, sie heizten wie ein Bad ein rechteckiges Stück des kleinstädtischen Teppichs, der vorm Hoffenster lag, das die Sonne mit Ranken wie Weinlaub umkränzte, und allen Charme und alle Mannigfaltigkeit der Innenausstattung mehrten sie noch, indem sie scheinbar die geblümte Seide des Fauteuils entblätterten und die Posamenterien an ihnen ablösten; wenn ich dann einen Augenblick, bevor ich zum Ausfahren mich fertigmachte, dieses Zimmer durchschritt, sah es immer aus wie ein Prisma, in dem die Farben des Lichtes von draußen zerlegt werden, wie ein Bienenkorb, in dem alle Süßigkeiten des Tages, von denen ich kosten wollte, dissoziiert, zerstreut, berauschend, offen sichtbar zu finden waren, wie ein Garten der Hoffnung, der in ein Oszillieren von Silberstrahlen und Rosenblättern sich löste. Vor allem aber hatte ich aus Ungeduld, zu wissen wie das Meer aussah, das diesen Morgen am Ufer gleich einer Wasserjungfrau sein Spiel trieb, die Vorhänge in meinem Zimmer aufgezogen. Denn jedes dieser Meere blieb nie mehr als einen Tag. Am nächsten Tage gab es dann ein anderes, das manchmal ihm ähnelte. Aber nie sah ich zweimal dasselbe.

Es gab darunter solche von so seltener Schönheit, daß meine Lust bei ihrem Anblick durch Überraschung wuchs. Wessen Gunst ließ es einmal, dann wieder lange nicht, geschehen, daß mein Fenster morgens, wenn es aufging, meinen bezauberten Augen die Nymphe Glaukomene entdeckte, die träge Schöne, die sanft Atem holte und durchsichtig wie wolkiger Smaragd war, so daß im Innern ich die Teilchen wogen sah, die ihr die Farbe gaben. Sie ließ mit hingegebenem Lächeln Sonne durch einen unsichtbaren Nebel spielen, und der war nur das Leere um ihre weithin leuchtenden Flächen, die damit bündiger und packender wie jene Göttinnen erschienen, die der Bildhauer aus einem Stück, welches übrig bleibt, haut (und er hält sich nicht damit auf, es zu glätten). So lud sie denn, in ihrer nie wiederkehrenden Färbung uns ein, auf plumpen, irdischen Straßen uns zu ergehen. Und von denen aus sahen wir dann, aus der Rutsche der Frau von Villeparisis, den ganzen Tag, doch ohne je sie zu erreichen, auf sie, wie frisch und bebend sie dalag.

Frau von Villeparisis pflegte frühzeitig anschirren zu lassen, um uns auf diese Weise Zeit zu geben bis Saint-Mars-le-Vêtu oder bis zu den Felsen von Quetteholme oder auch bis zu irgend einem andern Ausflugsziel zu fahren, das für ein ziemlich langsames Gefährt recht weit ablag und einen ganzen Tag erforderte. Vor Freude auf die lange Fahrt, die mir bevorstand, summte ich eine Melodie, die ich vor kurzem vernommen, vor mich hin, ging auf und ab und wartete auf Frau von Villeparisis, die sich fertig machte. War es gerade ein Sonntag, so war ihr Wagen nicht der einzige vor dem Hotel; mehrere Mietwagen warteten nicht nur auf Leute, welche zu Frau von Cambremer nach Féterne geladen waren, vielmehr auf andere ebenfalls, die lieber, als gleich Kindern, die man strafen will, zu Hause zu bleiben, erklärten, Sonntags sei es in Balbec tödlich, und gleich nach dem Essen in einen benachbarten Badeort fuhren, wo sie sich versteckt hielten, oder auch irgend einen Aussichtspunkt aufsuchten; und fragte man etwa Frau Blandais, ob sie bei den Cambremer gewesen sei, so konnte man oft die peremptorische Antwort zu hören bekommen; »Nein, wir waren bei den Kaskaden von Bec«, als sei dies der einzige Grund, dessentwegen sie nicht den Tag in Féterne verbracht hätten. Und der Vorsitzende der Anwaltskammer erklärte aus Nächstenliebe:

»Ich beneide Sie drum; ich hätte sehr gern mit Ihnen getauscht; das ist weiß Gott interessanter.« Neben dem Wagen war vor der Torfahrt, bei welcher ich wartete, wie ein Bäumchen irgend einer seltenen Spezies ein junger Chasseur aufgepflanzt. Und er frappierte auf den ersten Blick nicht weniger durch die außerordentlich harmonische Haarfarbe wie durch seine pflanzenhafte Epidermis. Im Innern, das heißt in der hall, welche dem Narthex, der Kirche der Katechumenen in romanischen Kirchen entsprach (dort durften Personen, die nicht Hotelgäste waren, durchgehen), arbeiteten die Kameraden des Groom, der den »äußeren« Dienst machte, nicht viel mehr als dieser; aber sie vollzogen zum mindesten einige Bewegungen. Morgens halfen sie aller Wahrscheinlichkeit nach beim Reinmachen. Aber nachmittags blieben sie dort nur als Choristen, die selbst, wo sie zu gar nichts nutze sind, auf der Szene verharren, um die Statisterie zu bereichern. Der Generaldirektor, vor dem ich so große Angst hatte, rechnete damit, im nächsten Jahre ihre Anzahl ganz erheblich zu vermehren, denn er hatte große Rosinen im Kopf. Und sein Entschluß betrübte den Hoteldirektor sehr; er fand, all diese Kinder seien nichts als »Umstandskommissare«, er wollte damit sagen, daß sie nur überall herumständen und zu nichts gut seien. Aber wenigstens füllten sie zwischen Déjeuner und Diner, zwischen Fortgang und Rückkunft der Gäste die Lücken der Handlung aus, wie jene Schüler der Frau von Maintenon, die in der Kleidung von junger Israeliten immer, wenn Esther oder Joad die Szene verlassen, ein Zwischenspiel aufführen. Dieser Chasseur jedoch mit seinen zart abgestimmten Nuancen, seinem hochaufgeschossen, eleganten Wuchs, welcher den »äußern« Dienst nicht weit von der Stelle machte, an der ich das Kommen der Marquise erwartete, blieb regungslos und sah melancholisch dazu aus, denn seine älteren Brüder hatten das Hotel um glänzenderer Bestimmungen willen verlassen, und er fühlte auf dieser fremden Erde sich vereinsamt. Endlich kam Frau von Villeparisis. Um ihren Wagen sich zu kümmern und ihr beim Aufsteigen behilflich zu sein, hätte vielleicht zu den Obliegenheiten des Chasseurs gehört. Doch auf der einen Seite wußte er, daß jemand, der mit eigenem Personal reist, sich von diesem bedienen läßt und gewöhnlich im Hotel wenig Trinkgelder gibt, und anderseits, daß der alte Adel des Faubourg Saint-Germain es ebenso hält. Frau von Villeparisis gehörte beiden Kategorien zugleich an, der vegetabilische Chasseur folgerte daraus, er habe von der Marquise nichts zu erwarten, und überließ es ihrer Kammerzofe und ihrem Butler, ihrer und ihrer Sachen sich anzunehmen; er aber träumte weiter betrübt dem beneideten Los seiner Brüder nach und behielt seine pflanzliche Starre bei. Wir fuhren ab. Einige Zeit nachdem wir den Bahnhof im Bogen umfahren hatten, gerieten wir auf einen ländlichen Fahrweg, der mir von der Biegung ab, wo er zwischen reizenden Hecken begann, bis zu der Kehre, wo wir ihn verließen, bald ebenso vertraut wurde wie die um Combray. Bebaute Felder lagen rechts und links. Mitten auf ihnen sah man hier und da einen Apfelbaum, der hatte nun zwar keine Blüten mehr – nur noch einen Büschel von Stempeln, doch mir war das genug, mich in Entzücken zu versetzen, denn ich erkannte die unnachahmlichen Blätter wieder, die in ihrer ganzen Breite gleich einem Laufteppich bei einem Hochzeitsfest, das nun zu Ende war, vor kurzem erst von der weißen Satinschleppe der errötenden Blüten war gestreift worden.

Wie oft habe ich mir dann im Mai nächsten Jahres in Paris beim Blumenhändler einen Zweig von einem Apfelbaum gekauft und die Nacht über vor seinen Blüten gesessen. Darinnen war die gleiche sahnige Substanz, von der noch Staub auf den Blattknospen lag, und zwischen seinen weißen Blütenblättern saß – als habe der Verkäufer mir gegenüber besonders generös sich erweisen wollen und in einem glücklichen Einfall um des Kontrastes willen sie eingefügt – auf jeder Seite je eine rosige Knospe daran. Ich sah sie an, ich rückte sie unter das Licht meiner Lampe – so lange, daß ich oft noch vor ihnen saß, wenn Morgenrot dieselbe rosige Tönung über sie legte, wie sie jetzt, um dieselbe Zeit in Balbec tun mußte – und dann versuchte ich in Gedanken, an jenen Fahrweg sie zu versetzen, sie zu vervielfältigen und in dem vorgezeichneten Rahmen, auf der wohlpräparierten Leinwand jener Einfriedigungen sie auszubreiten, deren Gestaltung ich auswendig wußte, deren Anblick ich eines Tages so gern wieder vor mir gehabt hätte – und wirklich in dem Augenblick dann haben sollte, da Frühling mit der hinreißenden Geste des Genius mit seinen Farben ihre Kanevas bedeckt.

Bevor ich in den Wagen stieg, hatte ich mir das Bild des Meeres geformt, das ich nun suchte, wie ich in strahlender Sonne es zu erblicken hoffte und in Balbec nur allzu stückweis zwischen banalen Enklaven von Badenden, Kabinen und Lustjachten, wie mein Traum sie nicht zuließ, gewahr wurde. Wenn aber der Wagen von Frau von Villeparisis die Höhe eines Hügels erreicht hatte, sah ich zwischen dem Blattwerk der Bäume das Meer; dann verschwanden, in dieser großen Entfernung, natürlich die modernen Details, die es aus Natur und Geschichte gewissermaßen herausgehoben hatten, und wenn ich seine Fluten ansah, so konnte ich nicht umhin, daran zu denken, daß es die gleichen seien, die uns Leconte de Lisle in der »Orestie« malt, wenn »wie ein mörderischer Schwärm von Vögeln tut« die Kriegerschar des heroischen Hellas im Schmuck des dichten Haares »mit hundert Rudern tönend schlägt die Flut«. Aber anderseits war ich wieder dem Meer nicht mehr nahe genug: es schien mir nicht mehr zu leben, und ich fühlte nicht mehr die Wucht unter der Decke von Farbe, da es wie auf einem Bilde zwischen den Blättern sich hinbreitete und ebensowenig bestandhaft erschien wie der Himmel – nur dunkler als er. Frau von Villeparisis merkte, daß ich Kirchen gern hatte. Sie versprach mir darum, wir würden eine nach der andern der Reihe nach besuchen, die von Carqueville vor allem, »die unter ihrem alten Efeu ganz versteckt liegt«, sagte sie, und dabei machte sie mit der Hand eine Bewegung, die sinnig die Fassade, die nicht da war, in unsichtbares, hartes Blattwerk einzuhüllen schien. Häufig fand Frau von Villeparisis mit dieser kleinen malenden Geste das zutreffende Wort, um den Charme und das Besondere an einem Monument zu kennzeichnen; technische Ausdrücke vermied sie stets, ohne verhehlen zu können, daß sie sehr gut sich auf die Dinge verstehe, von denen sie sprach. Sie schien sich damit entschuldigen zu wollen, daß eines der Schlösser ihres Vaters, auf welchem sie groß geworden war, in einer Gegend lag, in der es Kirchen gleicher Stilart wie um Balbec gab, so daß es eine Schande gewesen wäre, wenn sie nicht Geschmack an der Baukunst gewonnen hätte, zumal dieses das schönste Beispiel eines Schlosses aus der Renaissance gewesen sei. Doch da es außerdem ein wahres Museum war, ferner auch Chopin und Liszt dort gespielt, Lamartine dort Verse gesagt und die bekannten Künstler eines ganzen Jahrhunderts Gedanken, Melodien und Skizzen dort in ein Hausbuch eingetragen hatten, so schrieb Frau von Villeparisis aus Eleganz, guter Erziehung, echter Bescheidenheit oder Mangel an philosophischer Denkart ihre Bekanntschaft mit allen Künsten nur diesem einen, gänzlich materiellen Ursprung zu, und am Ende gewann es den Anschein, als betrachte sie Malerei, Musik, Literatur und Philosophie schlechthin als die Mitgift eines jungen Mädchens, welches in denkbar aristokratischem Sinn in einem klassischen, berühmten Gebäude auferzogen worden sei. Es war als gebe es für sie nur Bilder, die man ererbt hat. Sie freute sich, daß meine Großmutter ein Kollier liebte, welches sie über dem Kleide trug. Es kam auf dem Porträt von einer Urgroßmutter von ihr vor, das Tizian gemalt hatte; das war nie aus der Familie gekommen. Dergestalt war gesichert, daß es echt war. Sie wollte nichts von Bildern hören, die – wer weiß auf welchem Wege – von irgendeinem Krösus waren erworben worden; sie war im voraus überzeugt davon, daß sie gefälscht waren, und hatte gar keine Lust, sie zu sehen. Sie selber malte, wie wir wußten, Blumenstücke in Aquarell, und meine Großmutter, die Lobendes von ihnen gehört hatte, brachte einmal die Rede darauf. Frau von Villeparisis wechselte aus Bescheidenheit das Thema, aber sie legte nicht größeres Erstaunen und nicht größere Freude an den Tag, als es ein recht bekannter Künstler tut, dem Komplimente nichts mehr zu sagen haben. Sie begnügte sich mit der Bemerkung, es sei ein reizender Zeitvertreib; denn wenn auch wohl die Blumen, die der Pinsel werden lasse, nicht berühmt seien, so lasse wenigstens die Arbeit daran einen in der Umgebung wirklicher Blumen leben, deren Schönheit könne man aber nicht müde werden, zumal wenn man, um sie zu imitieren, sie genau sich ansehen müsse. Aber in Balbec gönnte Frau von Villeparisis sich Ferien, um ihre Augen zu schonen. Wir, meine Großmutter sowohl wie ich, waren erstaunt, zu sehen, in welchem Grade sie »liberaler« selbst als der größte Teil der Bourgoisie war. Daß man an der Vertreibung der Jesuiten Anstoß nahm, ärgerte sie; sie sagte, dergleichen habe es immer gegeben, selbst unter der Monarchie und selbst in Spanien. Sie nahm die Republik in Schutz und warf ihr Antiklerikalismus nur in folgendem Sinne vor; »Ich würde es ebenso untragbar empfinden, wenn jemand mich zur Messe zu gehen hindert, im Falle ich Lust dazu habe, als dazu gezwungen zu sein, wenn ich es nicht will.« Ja sie wagte selbst Worte wie: »Gott, unser Adel von heute – was ist schon an dem!« »Für mich ist ein Mann, der nicht arbeitet, gar nichts.« Vielleicht tat sie das nur, weil ihr bewußt war, wie anziehend, glücklich und denkwürdig in ihrem Munde sich dergleichen anhörte. Wenn wir auf diese Weise häufig sehr weitgehende Anschauungen – die freilich niemals bis zum Sozialismus gingen: der blieb für Frau von Villeparisis das Böse schlechtweg – mit allem Freimut von jemandem hörten, dessen geistiger Persönlichkeit gegenüber uns übermäßig gewissenhafte, schüchterne Objektivität verbot, konservative Gedankengänge zu verwerfen, dann glaubten meine Großmutter und ich nicht selten, in unserer sympathischen Freundin sei die Gabe, das rechte Maß in allen Dingen, das Urbild des Wahren zu finden. Wir glaubten ihr aufs Wort, wenn sie ihre Tizians, die Kolonnaden ihres Schlosses oder den Geist der Konversation unter Louis-Philippe gesprächsweise beleuchtete. Aber es ging wie mit jenen Gelehrten, die einen in Erstaunen setzen, wenn man auf ägyptische Malerei und etruskische Inschriften sie zu sprechen bringt, über moderne Werke aber solche Banalitäten vorbringen, daß man sich fragt, ob man nicht die Bedeutung der Wissenschaft, in welcher sie zu Hause sind, doch überschätzt habe, weil darin nicht die gleiche Mittelmäßigkeit zum Vorschein kommt, mit der sie doch nicht anders als an ihre albernen Essays über Baudelaire müssen herangegangen sein – fragte ich Frau von Villeparisis nach Chateaubriand, Balzac oder Victor Hugo, die sämtlich seinerzeit bei ihren Eltern verkehrt hatten und von ihr selber flüchtig waren gesehen worden, so lachte sie über meine Bewunderung und erzählte von ihnen zweifelhafte Geschichten, wie sie bei Grandseigneurs und Politikern es zu tun pflegte, und sie urteilte streng über diese Autoren, weil sie an jener Bescheidenheit, jener diskreten Anonymität, jener Kunst der Enthaltung es hatten fehlen lassen, die sich mit einem richtigen Zug bescheidet und nicht insistiert, Ruhmredigkeit mehr furchtet als alles andere, kurz, jene Schlagfertigkeit, jene Mäßigung im Urteilen, jene Schlichtheit vermissen ließen, die, wie man sie gelehrt, dem wahrhaft Wertvollen eignet; man sah, daß sie in diesem Punkt nicht schwankte und Männer lieber hatte, die durch solche Gaben in einem Salon, einer Akademie oder einem Ministerrat vor einem Balzac, einem Hugo, einem Vigny den Vorzug hatten, als da sind Molé, Fontanes, Vitroles, Bersot, Pasquier, Lebrun, Salvandy oder Daru.

»Es ist wie mit den Romanen von Stendhal, die, wenn ich mich nicht täuschte, von Ihnen bewundert werden. Sie hätten ihn sehr überrascht, wenn Sie mit ihm in dieser Tonart gesprochen hätten. Mein Vater sah ihn bei Mérimée – und das war jedenfalls noch ein Schriftsteller – und häufig sagte er mir, daß Beyle (dies war sein Name) beim Diner unerträglich vulgär, wenn auch auf geistreiche Manier, gewesen sei und daß man ihm seine Bücher nie zugetraut hätte. Sie konnten, nebenbei gesagt, selber sehen, mit was für einem Achselzucken er die übertriebenen Lobreden von Herrn von Balzac erwiderte. Und darin war er noch guter Gesellschafter.« Von allen großen Männern hatte sie Autographen, und in ihrem Stolz auf die besonderen Beziehungen, die ihre Familie zu ihnen unterhalten hatte, schien sie zu glauben, daß ihr Urteil über sie zutreffender sei als das von jungen Leuten, die wie ich mit ihnen nicht hatten umgehen können. »Ich glaube, ich kann ein Wort dabei mitreden, denn sie verkehrten bei meinem Vater; und wie Sainte-Beuve zu sagen pflegte – er besaß viel Geist – man muß an die sich halten, welche aus der Nähe sie gesehen haben und genauer beurteilen konnten, was an ihnen war.«

Wenn der Wagen auf steigender Straße zwischen bebauten Feldern hinanfuhr, dann folgten manchmal (und die Felder wurden dann wirklicher) einige zögernde Kornblumen ihm, die so waren wie die in Combray; den Ländereien geben sie gewissermaßen Authentizität, wie die kostbare kleine Blume, mit der gewisse alte Meister ihre Bilder signierten. Bald ließen dann die Pferde sie hinter uns, aber nach einigen Schritten bemerkten wir eine neue, die ihren blauen Stern vor uns im Grase aufgepflanzt hatte und auf uns wartete; einige wagten sich bis an den Straßenrand, und so bildete sich mir aus Erinnerungen an längst Vergangenes und den gezähmten Blumen eine ganze Milchstraße.

Wir fuhren den Hügel wieder bergab; dann stießen wir auf die Blumen eines schönen Tages (die sind aber nicht wie die Feldblumen, denn jede hält etwas in sich verschlossen, was in keiner anderen ist und was uns hindert, einen Wunsch, den sie uns eingegeben, mit ihresgleichen zu befriedigen) – wie sie zu Fuß, zu Rad, im Karren, oder zu Wagen den Berg hinaufstiegen, auf eine jener Kreaturen, ein Bauernmädchen, das seine Kuh vor sich hintrieb, oder auf einen Leiterwagen halb gelagert war, die Tochter eines Kleinkaufmanns, die spazieren ging, oder ein elegantes Fräulein, das ihren Eltern vis-à-vis auf einem Klappsitz im Landauer saß. Nun hatte Bloch ganz zweifellos mir eine neue Epoche eröffnet und den Wert des Lebens für mich gewandelt, als er eines Tages mir mitgeteilt hatte, die Träume, die ich einsam in der Gegend von Méséglise promenierend mit mir geführt, wenn ich mir wünschte, eine Bäuerin, die ich in meine Arme nehmen wollte, möge kommen, sie seien nicht eine Chimäre, der gar nichts außerhalb von mir entspreche, sondern es seien alle Mädchen, die man träfe, Dorfmädchen oder Fräulein, sehr bereit, solchen Gehör zu schenken. Und sollte ich auch jetzt, da ich leidend war und nicht allein ausging, mit ihnen nie die Liebe machen können, war ich doch glücklich wie ein Kind, das im Gefängnis oder Hospital geboren ist und lange glaubte, der Mensch könne nur trockenes Brot und Medikamente verdauen, bis es dann plötzlich hört, daß Pfirsiche, Aprikosen und Trauben nicht bloßer Schmuck der Landschaft, sondern süße, bekömmliche Nährmittel sind. Selbst wenn sein Kerkermeister oder sein Krankenwärter ihm nicht erlaubt, diese schönen Früchte zu pflücken, scheint die Welt ihm doch besser und das Dasein linder zu sein. Denn ein Wunsch scheint uns schöner und wir geben mit größerem Vertrauen uns ihm hin, wenn wir wissen, die äußere Wirklichkeit paßt ihm, auch wenn wir selbst ihn nicht erfüllen können, sich an. Und der Gedanke an ein Leben stimmt uns froher, das uns erlaubt, im Geist uns vorzustellen, daß er sich befriedigt, wenn wir nur einen Augenblick das kleine, zufällige, gerade gegebene Hindernis uns wegdenken, das uns persönlich die Befriedigung verbietet. Von dem Tag an, da ich von diesen jungen Mädchen wußte, ihre Backen könne man küssen, hatte ich mich für ihre Seele zu interessieren begonnen. Und die Welt war mir interessanter erschienen.

Der Wagen von Frau von Villeparisis fuhr schnell. Kaum daß mir Zeit blieb, das junge Mädchen zu sehen, das mir entgegenkam; doch da die Schönheit der Geschöpfe der von Dingen nicht gleich, vielmehr von uns als die eines einmaligen, eines bewußten, vollendeten Wesens empfunden wird, so hatte nicht sobald seine Individualität, die unbestimmte Seele und der unbekannte Wille als Bildchen in der ungeheuersten Verkleinerung, doch intakt, sich auf den Grund seiner zerstreuten Blicke gemalt, so fühlte ich in mir (geheimnisvoll: genau wie Blütenstaub ganz für den Stempel in Bereitschaft liegt) den ebenso mikroskopischen, ebenso winzigen Embryo des Dranges, dies Mädchen nicht vorübergehen zu lassen, ohne daß ihr Gedanke bewußt Notiz von mir nähme, ohne daß ich ihre Triebe hindere, auf einen andern sich zu wenden, und ohne daß ich in ihrer Träumerei mich festsetze und ihr ins Herz dringe. Indessen entfernte sich unser Wagen, das schöne Mädchen war schon hinter uns, und da sie keines der Elemente von mir kannte, die eine Person bilden, so hatten ihre Augen, welche mich kaum gesehen hatten, mich schon wieder vergessen. War es, weil ich nur flüchtig sie bemerkt hatte, daß sie für mich so schön erschienen war? Vielleicht. Zuvörderst: daß es unmöglich ist, bei einer Frau sich aufzuhalten, daß die Gefahr besteht, an einem andern Tage sie nicht wieder zu treffen, teilt ihr mit einem Male das Verlockende mit, das einem Lande Krankheit oder Armut verleihen, die uns hindern, es zu besuchen, oder den glanzlosen Jahren, welche uns noch zu leben bleiben, der Kampf, in dem wir ohne Zweifel unterliegen. Und wäre die Gewohnheit nicht, so müßte dergestalt das Leben jenen Wesen, die jede Stunde vom Tode bedroht sind, – will sagen allen Menschen –hinreißend erscheinen. Wenn fernerhin die Phantasie vom Drang nach dem, was wir nicht besitzen können, beschwingt ist, bricht ihr Elan sich nicht an einer Wirklichkeit, wie sie vollständig, unverstellt in einer jener Begegnungen uns erscheinen würde; ist doch der Charme einer Vorübergehenden gewöhnlich direkt der Schnelligkeit ihres Vorüberkommens proportional. Wenn nur die Nacht hereinbricht und der Wagen schnell fährt, so gibt es auf dem Land wie in der Stadt keinen, – von Schnelligkeit, die uns dahinführt in der Dämmerung, die ihn verschluckt, gleich einem marmornen, antiken – verstümmelten Frauentorso, der nicht auf unser Herz an jeder Straßenbiegung und aus dem Hintergrunde eines jeden Ladens die Pfeile der Schönheit zielte – der Schönheit, von welcher wir manchmal versucht sind zu fragen, ob sie in dieser Welt noch anderes ist als das ergänzende Stück, das einer fragmentarischen Vorüberkommenden, die flieht, die Phantasie leiht, wenn Betrübnis sie in uns aufpeitscht.

Wenn ich hätte absteigen und mit dem Mädchen, das wir gekreuzt hatten, hätte sprechen können, so wäre ich vielleicht durch einen Fehler ihres Teints, den ich vom Wagen aus nicht bemerkt hatte, aus meiner Illusion gerissen worden. (Und dann wäre jede Bemühung, in ihr Leben einzudringen, mir plötzlich unmöglich erschienen. Schönheit ist eine Abflucht von Hypothesen, und Häßlichkeit tut ihr Abbruch, weil sie die Straße versperrt, die wir schon in das Unbekannte sich auftun sahen.) Vielleicht hätte ein einziges Wort von ihr oder ein Lächeln mir einen Schlüssel, eine unerwartete Chiffre gegeben, so daß ich ihren Ausdruck in Gesicht und Schritt hätte lesen können, und der wäre dann augenblicks banal geworden. Es ist möglich, denn nie habe ich so begehrenswerte Mädchen je im Leben gefunden wie an den Tagen, an welchen ich mit irgendeiner gewichtigen Persönlichkeit zusammen war, die ich trotz Vorwänden, welche ich ersann, nicht verlassen konnte; einige Jahre nachdem ich zum ersten Male in Balbec gewesen war, fuhr ich mit einem Freunde meines Vaters in Paris im Wagen aus, und da bemerkte ich eine Frau, die schnell in der Nacht ausschritt. Ich dachte, es sei Wahnsinn, aus Schicklichkeitsgründen meinen Anteil am Glück in dem – unbedingt einzigen – Leben, das ist, zu verlieren, sprang aus dem Wagen, ohne um Entschuldigung zu bitten, machte mich ans Verfolgen jener Unbekannten, verlor sie an der Kreuzung zweier Straßen aus den Augen und fand in einer dritten endlich mich ganz außer Atem im Licht einer Gaslaterne der alten Frau Verdurin gegenüber, die von mir gemieden wurde, wo ich nur konnte, und nun in glücklicher Überraschung ausrief: »O wie reizend von Ihnen, daß Sie gerannt sind, um mir guten Tag zu sagen.«

Dieses Jahr in Balbec versicherte ich nun im Augenblick derartiger Begegnungen meiner Großmutter und Frau von Villeparisis, daß infolge heftiger Kopfschmerzen es besser für mich sei, allein, zu Fuß nach Hause zurückzukehren. Sie ließen mich aber nicht absteigen. Und so fügte ich denn das schöne Mädchen (das schwerer wiederzufinden war als ein Denkmal, denn es war namenlos und war beweglich) der Kollektion all derer hinzu, die ich aus der Nähe zu betrachten mir vorsetzte. Eine jedoch kam mir öfter vor Augen, und zwar unter Bedingungen, die mich glauben ließen, ich könne sie kennen lernen, wie ich es wollte. Es war ein Milchmädchen, das von einem Bauernhof kam und eine Lieferung Sahne ins Hotel brachte. Ich dachte, auch sie habe mich wiedererkannt, und wirklich sah sie mich aufmerksam an – vielleicht nur eine Folge des Erstaunens, in das meine Aufmerksamkeit sie versetzte. Am nächsten Tage nun hatte ich den ganzen Morgen mich ausgeruht, da kam Françoise gegen Mittag, zog die Vorhänge zurück und gab mir einen Brief, der im Hotel für mich abgegeben worden war. Ich kannte in Balbec niemanden. Mir war nicht zweifelhaft, daß der Brief von dem Milchmädchen sei. Leider war er aber nur von Bergotte, der auf der Durchreise anwesend war und versucht hatte, mich zu sehen; da er erfahren hatte, ich schliefe, hatte er ein paar reizende Zeilen an mich hinterlassen, und der Liftboy hatte sie in ein Kuvert getan, das ich von dem Milchmädchen adressiert glaubte. Ich war unsäglich enttäuscht, und der Gedanke, es sei schwerer und schmeichelhafter, einen Brief von Bergotte zu bekommen, tröstete mich in keiner Weise darüber, daß er nicht von dem Milchmädchen war. Und auch dieses Mädchen fand ich nicht wieder, ganz wie die andern, die ich nur vom Wagen der Frau von Villeparisis aus sah. Der Anblick und Verlust von diesen allen erhöhte die innere Erregung, in der ich meine Tage verlebte, und mir kamen die Philosophen nicht unweise vor, welche uns anraten, unsere Wünsche einzuschränken (wenn sie damit, wohlverstanden, den Wunsch nach Geschöpfen meinen, denn er allein hinterläßt Angstgefühle. Anzunehmen, daß die Philosophie von dem Wunsche nach Reichtümern sprechen will, wäre allzu absurd). Und dennoch nannte etwas in mir diese Weisheit lückenhaft, denn ich sagte mir, solche Begegnungen ließen mir manchmal eine Welt noch schöner erscheinen, die so auf allen Straßen im Lande sonderbare und doch ganz gewöhnliche Blumen erwachsen läßt, unbeständige Glücksgüter eines Tages, günstige Gaben eines Spazierwegs, aus denen Gewinn zu ziehen zufällig wechselnde Umstände, wie sie vielleicht nicht immer sich einfinden würden, allein mich abgehalten hatten – Gaben, welche dem Dasein neuen Geschmack verleihen.

Doch wenn ich so mit der Hoffnung spielte, ich werde eines Tages freier sein und könne dann auf anderen Wegen ähnlichen Mädchen begegnen, verfälschte ich vielleicht schon in etwas das ganz ausschließend Individuelle, das jedem Wunsch, bei einer Frau zu leben, die man hübsch gefunden hat, eigen ist. Und mit der einzigen Annahme, er lasse sich künstlich hervorrufen, hatte ich seine fiktive Natur bereits anerkannt.

Den Tag, da Frau von Villeparisis uns nach Carqueville mitnahm, wo die efeuumsponnene Kirche stand, von der sie uns gesprochen hatte (sie ist auf einem Hügelchen errichtet und von da beherrscht sie das Dorf und den Fluß, der da fließt und noch die kleine Brücke aus dem Mittelalter hat), schlug meine Großmutter im Gedanken, es werde mir lieb sein, die Kirche allein zu betrachten, ihrer Freundin vor, den Tee bei dem Konditor auf dem Platz zu nehmen. Man sah ihn deutlich daliegen, und unter seiner goldigen Patina sah er aus wie ein Teil von etwas, das antik in seinem ganzen Bestande war. Es wurde ausgemacht, ich solle sie da treffen. Der Laubmasse gegenüber, vor der man mich ließ, bedurfte es, um die Kirche zu erkennen, einer Anstrengung, die mich aus größerer Nähe die Idee »Kirche« mir anzusehn zwang; denn wie es Schülern geht, die vollständiger den Sinn eines Satzes erfassen, falls man sie nötigt, durch Übersetzung oder durch Umschreibung ihn der gewohnten Formen zu entkleiden, so mußte ich die Idee »Kirche«, deren ich in der Regel Kirchtürmen gegenüber, die von selbst sich kenntlich machen, nicht bedurfte, hier jeden Augenblick mir gegenwärtig halten, um nicht zu übersehen: an dieser Stelle ist jene Efeuwölbung die eines Spitzbogens am Kirchenfenster, und dann an einer andern: das Hervorspringen des Laubes rührt von dem Relief am Kapitäl her. Dann aber wehte ein leichter Wind, er machte das bewegliche Portal erbeben, Wellen liefen darüber hin, die zitternd wie eine Helle sich fortpflanzten, die Blätter rieselten eins gegen das andere, und die ganze florahafte Fassade zog in ihr Schauern die gewellten Pfeiler hinein, die, umspielt, sich verflüchtigten.

Als ich die Kirche verließ, sah ich vor der alten Brücke die Mädchen des Dorfes, die – gewiß weil gerad Sonntag war – ausgeputzt da herumstanden und an die Burschen, die vorbei kamen, Zurufe richteten. Eine Große saß da, die weniger gut als die andern gekleidet war, aber über sie sämtlich Autorität zu besitzen schien – denn sie antwortete kaum auf das, was diese ihr sagten; ernster und entschlossener saß sie halb auf der Brüstung der Brücke, ließ die Beine herunterhängen und hatte vor sich einen kleinen Topf mit Fischen stehen, die sie jetzt wahrscheinlich gefangen hatte. Sie war braungebrannt, hatte sanfte Augen, die aber verächtlich auf alles um sie her blickten, eine kleine Nase, welche zart und sehr reizend gebildet war. Meine Blicke ließen auf ihrer Haut sich nieder, und meine Lippen konnten zur Not glauben, sie seien meinen Blicken gefolgt. Aber nicht allein ihren Körper hätte ich anrühren mögen, sondern auch die Person, die da in ihm lebte und die nur auf eine Art berührbar ist: durch Erregen ihrer Aufmerksamkeit, und nur auf eine Art durchdrungen werden kann: durch das Erwecken eines Gedankens in ihr.

Und dieses innere Wesen schien mir bei der schönen Fischerin noch verschlossen; ich war im Zweifel, ob ich eingetreten sei, sogar nachdem ich mein eigenes Bild flüchtig im Spiegel ihres Blicks hatte erscheinen sehen, und zwar in einem Brechungswinkel, der mir ebenso unbekannt war, als hätte ich im Blickfeld einer Hirschkuh gestanden. Wie es mir ab er nicht genug gewesen wäre, daß meine Lippen Lust an den ihrigen fänden, sondern solche auch ihr hätten geben müssen, so hätte ich gewollt, daß der Gedanke, den von mir dies Wesen in sich bilde, der in ihm sich festsetze, nicht nur seine Aufmerksamkeit, sondern seine Bewunderung und seine Wünsche mir zuführe und es auf diese Weise nötige, mich bis zum Tage, an dem ich sie wieder zu treffen vermöchte, in Erinnerung zu behalten. Indessen bemerkte ich einige Schritte entfernt den Platz, auf welchem der Wagen von Frau von Villeparisis auf mich warten mußte. Mir blieb nur noch ein Augenblick; und ich merkte schon, wie die Mädchen zu lachen anfingen, als sie mich so da stehen sahen. Ich hatte fünf Franken in der Tasche. Ich holte sie hervor und hielt dem schönen Mädchen einen Augenblick die Münze vor Augen, noch ehe ich ihr einen Auftrag für sie auseinandersetzte, um mehr Chance zu haben, daß sie mich anhöre: »Würden Sie, da Sie ja wohl von hier sind«, sagte ich zu der Fischerin, »die Güte haben, einen kleinen Weg für mich zu machen? Sie müßten zu einem Konditor gehen, der hier auf einem Platze, wie man mir gesagt hat, sein soll und wo ein Wagen auf mich wartet. Ich weiß aber nicht, wo das ist. Warten Sie! ... damit keine Verwechslung entsteht, fragen Sie, ob es der Wagen der Marquise von Villeparisis ist. Übrigens werden Sie es schon sehen, er hat zwei Pferde.«

Und das war es gerade, was sie meiner Absicht nach erfahren sollte, um einen großen Begriff von mir zu bekommen. Als ich aber das Wort »Marquise« und »zwei Pferde« gesprochen hatte, fühlte ich mich plötzlich um vieles leichter. Ich fühlte, die Fischerin werde sich meiner erinnern, und zugleich, wie mit meiner Angst, nicht mehr sie wiederfinden zu können, ein Teil des Wunsches, sie wiederzufinden, in mir zerging. Mir schien, daß ich mit unsichtbaren Lippen soeben sie selber berührt und ihr gefallen habe. Und diese Überwältigung im Geist, dieses immaterielle Inbesitznehmen hatte ihr ganz so das Geheimnis genommen, wie das physische Inbesitznehmen es tut.

Wir fuhren über Hudimesnil zurück; mit einemmal füllte mich ganz und gar jenes tiefe Glück, wie ich seit Combray es nicht oft gefühlt hatte, ein Glück, das dem analog war, das, unter anderm, die Kirchtürme von Martinville mir gegeben hatten. Diesmal jedoch blieb es unvollkommen. Soeben hatte ich zum erstenmal am unteren Ende der Landstraße, die sich hügelan hob und dann wieder senkte, drei Bäume gesehen, die den Eingang einer bedeckten Allee bilden mußten; sie bildeten eine Figur, die ich nicht zum erstenmal sah, ich konnte es nicht dahin bringen, den Ort wiederzuerkennen, von welchem sie gewissermaßen losgelöst waren, aber ich wußte, er sei mir früher einmal vertraut gewesen; und wie ich innerlich zwischen einem sehr weit zurückliegenden Jahre und diesem gegenwärtigen Augenblick haltlos hin und her strauchelte, begann die Umgebung von Balbec vor mir zu schwanken, und ich fragte mich, ob diese ganze Spazierfahrt nicht Einbildung sei, Balbec ein Ort, an dem ich stets in der Phantasie nur geweilt habe, Frau von Villeparisis eine Romanperson und die drei alten Bäume die Wirklichkeit, wie man sie wiederfindet, wenn man die Augen von einem Buch erhebt, in dem eine Gegend beschrieben steht, wo man am Ende wirklich sich aufzuhalten geglaubt hat.

Ich betrachtete die drei Bäume, ich sah sie genau; im Geiste aber fühlte ich, wie sie etwas überdeckten, worüber ich keine Macht hatte; es ging mir wie mit Gegenständen, die zu weit von uns entfernt sind, so daß die Finger auch bei ausgestrecktem Arm nur auf einen Augenblick ihre Hülle zu streifen, aber nichts zu ergreifen vermögen. Dann ruht man sich ein wenig aus, um den Arm stärker ausholend vorwärtszustoßen und weiter zu reichen. Um aber innerlich mich so sammeln, so ausholen zu können, hätte ich allein sein müssen. Was hätte ich nicht darum gegeben, mich abseits wenden zu können, wie ich auf den Spaziergängen in der Gegend um Guermantes von meinen Eltern mich trennte. Mir schien sogar, ich hätte das tun sollen. Recht gut erkannte ich den Genuß wieder; ich wußte um ihn, der allerdings eine nicht mühelose Rückwendung des Gedankens auf sich selbst zur Voraussetzung hatte, mit der verglichen die Annehmlichkeit eines Sichgehenlassens, das uns auf ihn verzichten ließe, recht nichtig erscheint. Diesen Genuß mit seinem Gegenstand, den ich nur ahnte und selbst zu erschaffen hatte, fand ich nur bei seltenen Gelegenheiten; dann aber kam es mir jedesmal vor, als wäre, was inzwischen vorgefallen sei, kaum von Bedeutung und ich könne, wenn ich an ihn als einzig Wirkliches mich halte, endlich ein wahres Leben beginnen. Ich legte einen Augenblick die Hand vor die Augen, um sie schließen zu können, ohne daß Frau von Villeparisis es bemerkte. So blieb ich und dachte an nichts; denn als mein Denken sich stärker in der Gewalt und größere Kraft in sich versammelt hatte, sprang ich in Richtung auf die Bäume weiter vor, oder in jener inneren Richtung vielmehr, an deren Ende ich in mir selber sie liegen sah. Wieder fühlte ich hinter ihnen denselben wohlbekannten, aber unbestimmten Gegenstand und vermochte nicht, ihn an mich zu ziehen. Indessen sah ich alle drei näherrücken, je weiter der Wagen fuhr. Wo hatte ich sie schon betrachtet? Um Combray gab es keine Stelle, an der eine Allee so sich öffnete. Die Landschaft, an die sie mich erinnerten, kam ebensowenig in jener Gegend Deutschlands vor, in die ich einmal mit meiner Großmutter zur Brunnenkur gereist war. Mußte ich annehmen, daß sie aus soweit zurückliegenden Lebensjahren stammten, daß die Landschaft, die sie umgab, in meiner Erinnerung völlig zunichte geworden sei, daß die Bäume – gleich Seiten, die man gerührt auf einmal wieder in einem Buch sieht, das man glaubte niemals gelesen zu haben – einzig aus dem vergessenen Buche meiner frühesten Jugend sich übrig erhalten hatten? Gehörten sie vielmehr nicht jenen Traumlandschaften nur an, die immer die gleichen, bei mir zum wenigsten, sind, der ich ihr seltsames Bild nur als die Objektivation durch mich (den Schläfer) ansah von einer Anstrengung, die ich im Wachzustand unternommen hatte, um ans Geheimnis einer Gegend zu rühren, hinter deren Augenschein ich etwas erahnte, oder um jenes Geahnte wieder einem Ort einzukörpern, den ich kennen zu lernen gewünscht hatte, und der dann, am Tag, da ich ihn kennen gelernt hatte, mir ganz belanglos wie Balbec erschienen war? Waren sie nur ein Bild, das eben erst aus einem Traum der vorigen Nacht sich abgelöst hatte und von soviel weiter her nur zu kommen schien, weil dieser Traum schon so sehr verblaßt war? Oder hatte ich sie niemals gesehen und verbarg sich hinter ihnen wie hinter gewissen Bäumen, gewissen Grasbüscheln, die ich in der Gegend um Guermantes gesehen hatte, ein so dunkler Sinn, der schwer faßlich wie weit entrückte Vergangenheit war, so daß sie mich, den sie veranlassen wollten, einen Gedanken in mir zu vertiefen, statt dessen glauben machten, daß es gelte, eine Erinnerung wieder zu fassen? Oder verbargen sie in Wahrheit nicht einmal Gedanken und war es nur Ermüdung meines Blickes, der in der Zeit mich doppelt sehen ließ, wie man im Raum manchmal doppelt sieht? Ich wußte es nicht. Jedenfalls kamen sie mir entgegen, eine mythische Erscheinung vielleicht, der Reigen der Hexen oder der Nornen, der seine Orakel mir kundtat. Ich war geneigter anzunehmen, sie seien Phantome aus der Vergangenheit, teure Gespielen meiner Kindheit, entschwundene Freunde, die gemeinsame Erinnerungen aufriefen. Wie Schatten schienen sie von mir zu fordern, ich solle sie mitnehmen und ihnen Leben schenken. An den naiven leidenschaftlichen Gebärden erkannte ich den ohnmächtigen Kummer des geliebten Wesens, das den Gebrauch der Sprache verloren hat und fühlt, es wird uns, was es meint, nicht sagen können, und wir verstehen nicht es zu erraten. Bald verließ sie der Wagen an einem Kreuzweg. Er führte mich weit von dem fort, was ich für das allein Wirkliche hielt, was allein mich glücklich gemacht hätte: er glich meinem Leben.

Ich sah, wie sich die Bäume entfernten, und ihre Arme, die sich verzweifelt bewegten, schienen zu mir zu sagen: was du von uns nicht heute erfährst, das wirst du nie wissen. Wenn du uns dort ans Ende des Weges zurückfallen läßt, von wo wir zu dir uns heraufheben wollten, so wird ein ganzes Stück von deinem Wesen, das wir dir bringen wollten, auf immer ins Nichts sinken. Und wirklich: wenn ich in der Folge den besonderen Genuß, die besondere Unruhe wiederfand, die ich soeben noch einmal gefühlt hatte, wenn ich – eines zu späten Abends, aber auf immer – an sie mich hielt – von diesen Bäumen selbst habe ich doch niemals erfahren sollen, was sie mir bringen wollten oder wo ich sie gesehen habe. Und als der Wagen abbog, ich ihnen den Rücken zuwandte und aufhörte, sie zu sehen, Frau von Villeparisis mich dann fragte, warum ich so verträumt aussähe, da war ich so traurig, als hätte ich einen Freund verloren oder sei selber gestorben, als hätte ich einen Toten verleugnet oder einen Gott nicht erkannt.

Man mußte ans Heimkehren denken. Frau von Villeparisis hatte bis zu einem gewissen Grade Naturgefühl, wenn auch ein weniger leidenschaftliches als meine Großmutter. Aber sie wußte dank ihm doch eben auch außerhalb der Museen und aristokratischen Wohnsitze die einfache, erhabene Schönheit von gewissen alten Dingen zu würdigen. So befahl sie denn dem Kutscher, die alte Straße nach Balbec einzuschlagen, die wenig befahren wurde, aber von alten Rüstern bepflanzt war, die uns herrlich vorkamen. Als wir dann einmal diese alte Straße kannten, kamen wir der Abwechslung halber auf einer anderen zurück – es sei denn, daß wir auf dem Hinweg sie benutzt hatten – die führte durch die Wälder von Chantereine und Canteloup. Unzählige Vögel gaben einander dicht neben uns in den Bäumen Antwort; daß sie unsichtbar waren, gab ein Ruhegefühl, wie man es hat, wenn man die Augen schließt. An meinen Klappsitz wie Prometheus an den Felsen geschmiedet, lauschte ich meinen Okeaniden. Und wenn ich zufällig einen der Vögel sah, wie er von einem Blatte unter ein anderes schlüpfte, gab es so wenig sichtbare Verbindungen zwischen ihm und solchem Gesang, daß ich nicht glauben mochte, deren Urheber in diesem hüpfenden, erstaunten Körperchen ohne Blick von mir zu haben.

Diese Straße ähnelte vielen anderen der Art, wie man in Frankreich sie findet; sie stieg einen Hang ziemlich steil aufwärts und fiel dann lange ganz allmählich ab. Im Augenblick gewann ich ihr nicht sehr viel Reiz ab, ich war nur froh, heimzukehren. In der Folge aber ward sie mir Ursache vieler Freuden, denn sie blieb als Lockung mir im Gedächtnis, so daß alle ähnlichen Straßen, auf denen ich später im Laufe eines Spazierganges oder einer Reise entlang kommen sollte, unmittelbar und ohne Unterbrechung der Kontinuität in sie mündeten und dank ihrer unmittelbar mit meinem Herzen in Verbindung treten konnten. Denn kaum sollten Wagen oder Automobil eine der Straßen einschlagen, die wie die Fortsetzung von der aussahen, die ich mit Frau von Villeparisis entlang gefahren war, so war in meinem Bewußtsein alsbald die Verbindung mit meinem damaligen Gefühl gleich wie mit meiner jüngsten Vergangenheit hergestellt und (da die Jahre, die dazwischen lagen, verschwunden waren) beherrschte mich, was ich an jenem Spätnachmittag empfunden hatte, als ich nahe bei Balbec spazieren fuhr, die Blätter angenehm dufteten, der Nebel aufstieg und jenseits des nächsten Dorfes zwischen den Bäumen der Sonnenuntergang sichtbar ward, als sei er irgendeine fernere, in Wäldern abgelegene Ortschaft, die man an diesem Abend nicht mehr erreichen könne. Diese Eindrücke mußten sich verstärken, wenn sie mit denen sich verbanden, die jetzt in einer andern Gegend, auf einer ähnlichen Straße mir kamen; und dazu traten dann die weiteren Gefühle des freien Atemholens, der Neugier, der Indolenz, des Appetits, der guten Laune, die ihnen gemeinsam waren und alle anderen ausschlossen; so bildete ein eigener greifbarer Typus von Lust sich heraus, ja beinah wurde das ein Rahmen meiner Existenz. Nur hatte ich selten genug Gelegenheit ihn wiederzufinden. War das jedoch der Fall, so trat durch das Erwachen der Erinnerung zu der materiell erfaßten Realität ein hinreichend großer Teil beschworener, erträumter, ungreifbarer Realität, um mir, inmitten jener Gegenden, durch die ich kam, mehr noch als ein ästhetisches Gefühl, den flüchtigen, doch hemmungslosen Wunsch, auf immer hier zu wohnen, einzugeben. Wie oft genügte es mir, Laubgeruch zu verspüren, auf einem Klappsitz Frau von Villeparisis gegenüber zu sein, die Prinzessin von Luxembourg zu kreuzen, die ihr von ihrem Wagen aus Grüße zuwinkte, ins Grand-Hôtel zum Abendessen heimzufahren, um ein Gefühl von einem dieser unaussprechlichen Glücksmomente zu haben, wie sie uns weder Gegenwart noch Zukunft wiedergeben können, weil man nur einmal im Leben sie kostet.

Oft war die Dämmerung hereingebrochen, bevor wir zurück waren. Ich wies dann manchmal Frau von Villeparisis auf den Mond am Himmel und zitierte schüchtern dabei irgendeine schöne Wendung von Chateaubriand, Vigny oder Hugo: »Luna verbreitete das alte Geheimnis: die Traurigkeit« oder »sie weinte der Diana gleich am Rande ihrer Fontänen« oder »Bräutlich erhaben, feierlich ihr Schatten«. »Und Sie finden das schön?« fragte sie mich, »genial, wie Sie sagen? Ich will Ihnen offen sagen: ich bin immer erstaunt, zu sehen, wie jetzt Dinge ernst genommen werden, über die die Freunde dieser Herren die ersten waren, sich zu mokieren, ohne darum ihrer Begabung weniger Gerechtigkeit zu erweisen. Man warf mit dem Worte »Genie« nicht um sich wie heutzutage, wo ein Schriftsteller, dem Sie erzählen, er hat nur Talent, das als Beleidigung auffaßt. Sie zitieren mir da einen großen Satz über den Mond von Herrn von Chateaubriand. Sie werden sehen, daß ich meine Gründe habe, mich dabei etwas spröde zu verhalten. Herr von Chateaubriand kam oft zu meinem Vater. Er war übrigens recht angenehm, wenn man allein war, denn dann war er einfach und amüsant, aber sowie Leute da waren, begann er zu posieren und wurde lächerlich; vor meinem Vater wollte er behaupten, dem König seine Demission ins Gesicht geworfen und das Konklave geleitet zu haben; dabei vergaß er nur, daß mein Vater von ihm beauftragt worden war, den König flehentlich zu bitten, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen; und über die Papstwahl hatte er ihn die unsinnigsten Prognosen stellen hören. Man mußte über dieses berühmte Konklave Herrn von Blacas hören. Das war ein anderer Mann als Herr von Chateaubriand. Und was dessen Deklamationen über den Mond angeht, so wußten wir schon immer, wann sie kamen. Jedesmal wenn um das Schloß herum Mondlicht lag, und es fand sich gerade irgendein neuer Gast, riet man ihm. nach dem Essen Herrn von Chateaubriand zu einem kleinen Rundgang aufzufordern. Wenn sie zurückkamen, verfehlte mein Vater nie, den Gast beiseite zu nehmen: »Ist Herr von Chateaubriand sehr beredt gewesen?« – »O, gewiß« – »Er hat mit Ihnen vom Mondschein gesprochen.« – »Ja, woher wissen Sie das?« – »Warten Sie, hat er Ihnen nicht gesagt:« und dann zitierte er ihm den Satz. – »Ja, aber durch was für eine geheime Veranstaltung –« »Und er hat sogar vom Mondschein in der Campagna gesprochen.« – »Aber Sie sind ja ein wahrer Hexenmeister.« Mein Vater war kein Hexenmeister, aber Herr von Chateaubriand begnügte sich stets, ein und dieselbe fertige Platte zu servieren.

Wenn man Vigny nannte, begann sie zu lachen.

»Der, welcher immer sagte: »Ich bin Graf Alfred de Vigny.« Man ist Graf oder man ist nicht Graf, das hat nicht die geringste Bedeutung.«

Und vielleicht fand sie, einige habe es doch, denn sie setzte hinzu:

»Erstens bin ich nicht sicher, daß er es war, und wenn, so kam er bestimmt aus ganz geringer Linie, dieser Herr, der in seinen Versen vom »Zimier des Edelmannes« gesprochen hat. Wie geschmackvoll das ist und wie interessant für den Leser! Das kommt mir vor wie Musset, wenn er als einfacher Pariser Bürger pathetisch ausruft: »Der goldne Sperber, welcher meinen Helm bewehrt.« Niemals wird ein wirklicher Grandseigneur dergleichen sagen. Musset hatte wenigstens als Dichter Talent. Aber vom Cinq-Mars abgesehen habe ich nie das geringste von Herrn von Vigny lesen können; es hat mich so gelangweilt, daß mir das Buch aus der Hand fiel. Herr Molé, der ebensoviel Geist und Takt als Herr von Vigny wenig besaß, hat es ihm ordentlich gegeben als er ihn in der Akademie empfing. Wie, seine Rede kennen Sie nicht? Sie ist eine Meisterleistung in Bosheit und Impertinenz.« Sie machte Balzac, den ihre Neffen zu ihrem großen Erstaunen bewunderten, zum Vorwurf, eine Gesellschaft haben schildern zu wollen, in welcher er nicht zugelassen war, von der er dann auch tausend ungereimte Dinge erzählt habe. Und wenn sie auf Victor Hugo kam, erzählte sie, wie Herr von Bouillon, ihr Vater, dank einiger Freunde aus seiner romantischen Frühzeit, zur Premiere von Hernani gewesen sei, aber nicht bis zu Ende habe bleiben können, derart lächerlich habe er die Verse dieses begabten, aber überschätzten Schriftstellers gefunden. Und man habe als großen Dichter ihn nur auf Grund eines Handels qualifiziert: zum Lohn für die durchaus nicht unbestochene Nachsicht, die er den gefährlichen Schwärmereien der Sozialisten gegenüber ganz öffentlich walten ließ.

Wir sahen schon das Hotel mit seinen Lichtern, die so feindlich bei der Ankunft am ersten Abend geblickt hatten, nun aber hilfreich und sanft, das Heim ankündigend uns herüberschienen. Und als der Wagen vor der Tür ankam, da zählten der Concierge, die Grooms, der Liftboy, die da naiv und dienstbeflissen, leise beunruhigt über unsere Verspätung, auf den Stufen sich drängten, um uns zu erwarten, vertraut wie sie uns waren, zu jenen Geschöpfen, die im Laufe unseres Lebens ebensooft andere als wir selber ein anderer werden, und in denen wir doch, die Zeit über, da sie ein Spiegel unserer Gewohnheiten sind, nicht ohne ein Gefühl der Freude unser treues, freundwillig reflektiertes Spiegelbild finden. Sie sind uns lieber als Freunde, die wir lange nicht gesehen haben, denn sie enthalten mehr von dem, was wir zur Stunde sind. Nur der »Chasseur«, den man tagsüber in die Sonne gestellt hatte, war hereingenommen worden, um nicht der Abendkühle ausgesetzt zu bleiben; und wie man ihn so in dem verglasten hall stehen sah, mußte man bei dem Zusammenspiel seiner Wickeltücher mit dem kläglichen Orange seiner Haarbüschel und dem drolligen Rosa der Wangen an eine Treibhauspflanze denken, die man vor Kälte schützt. Wir stiegen aus dem Wagen, und es halfen uns sehr viel mehr Diener dabei, als vonnöten gewesen wäre; aber sie fühlten die Bedeutung des Vorgangs und hielten sich für verpflichtet, eine Rolle zu spielen. Ich war ausgehungert. So ging ich denn, um den Beginn des Diners nicht zu verzögern, oft gar nicht erst auf mein Zimmer – es war zuletzt mir so sehr zum meinigen geworden, daß ich beim Anblick der großen violetten Gardinen und der niedrigen Bücherschränke mich ganz allein mit dem Selbst befand, dessen Bild die Dinge wie die Menschen mir widerspiegelten. Wir warteten alle zusammen in der hall, bis uns der Oberkellner ansagen würde, daß serviert sei. Das gab denn wieder Gelegenheit, Frau von Villeparisis zuzuhören.

»Wir mißbrauchen Ihre Liebenswürdigkeit«, sagte meine Großmutter.

»Was Sie nicht sagen! ich bin höchst erfreut, es entzückt mich«, gab ihre Freundin zur Antwort. Und dabei lächelte sie schmeichelhaft und dehnte die Worte mit melodischer Stimme, im Gegensatze zu ihrer sonstigen Schlichtheit.

In solchen Fällen war sie wirklich nicht natürlich; sie entsann sich vielmehr ihrer Erziehung, der aristokratischen Wendungen, mit denen eine große Dame Bürgerlichen beweisen soll, daß sie glücklich ist, in ihrer Gesellschaft sich zu befinden, daß sie öde Feierlichkeit nicht kennt. Und wenn sie Höflichkeit bisweilen vermissen ließ, so nur in jenen übertriebenen Höflichkeiten; an ihnen nämlich erkannte man, was sich an einer Dame aus dem Faubourg Saint-Germain Professionelles findet: beständig sieht sie in gewissen Leuten bürgerlichen Standes die Unzufriedenen, zu welchen sie sie eines Tags wird machen müssen; und so nimmt sie mit Gier jede Gelegenheit wahr, die ihr erlaubt, ins Kontobuch der Liebenswürdigkeiten gegen sie mit einer Zahlung auf die Kredit-Seite sich einzuschreiben, um dann später das Diner oder den Rout, zu denen sie sie nicht lädt, aufs Debet übertragen zu können. In diesem Sinne hatte ein für allemal der Geist ihrer Kaste auf Frau von Villeparisis eingewirkt; er wußte nicht, daß nun die Verhältnisse nicht die gleichen und die Personen andere waren, daß in Paris sie häufig den Wunsch haben sollte, uns bei sich zu sehen, und darum trieb er fieberhaft Frau von Villeparisis – als sei die Zeit, die ihr noch blieb, um höflich gegen uns zu sein, sehr kurz – solange wir in Balbec waren, mit Sendungen von Rosen und Melonen, Ausleihen von Büchern, Wagenfahrten und Freundschaftsergießungen uns zu überschütten. Und wie der blendende Glanz des Strandes, das vielfarbige Feuer der Zimmer mit ihren unterseeischen Lichtern, ja wie die Reitstunden, in denen die Kaufmannssöhne wie Alexander von Mazedonien vergöttlicht wurden, sind so die täglichen Gefälligkeiten von Frau von Villeparisis, dazu die flüchtige, sommerliche Leichtigkeit, mit der meine Großmutter sie entgegennahm, als das Bezeichnende des Badelebens mir in Erinnerung geblieben.

»Geben Sie doch Ihre Mäntel ab, damit man sie heraufträgt.«

Meine Großmutter gab sie dem Direktor; und wegen der Freundlichkeit, die er mir gegenüber stets an den Tag legte, betrübte diese Rücksichtslosigkeit mich, unter der er zu leiden schien.

»Ich glaube, der Herr ist verletzt«, sagte die Marquise. »Er hält sich wahrscheinlich für zu vornehm, um Ihre Schals zu nehmen: Da muß ich an den Herzog von Nemours denken, wie er – ich war damals noch ganz klein – zu meinem Vater, der in der obersten Etage des Hotel Bouillon wohnte, mit einem dicken Paket Briefe und Zeitungen unterm Arm hereintrat. Ich glaube den Fürsten noch vor mir zu sehen, wie er in seinem blauen Anzug da im Türrahmen steht; es waren hübsche Holzschnitzereien daran, ich glaube, Bagard machte das damals. Sie wissen, diese feinen Stäbchen, die so elastisch waren. Sie waren wie Bändchen, die einen Strauß zusammenhalten, und ließen sich zu Muscheln und Blumen zusammensetzen. »Hier, Cyrus,« sagte er zu meinem Vater, »das hat mir der Portier für Sie gegeben. Er sagte: ›Da Sie zu dem Herrn Grafen heraufgehn, verlohnt es nicht der Mühe, daß ich die Treppen steige; aber sehen Sie sich vor, daß der Bindfaden nicht reißt.‹ Jetzt, da Sie Ihre Sachen losgeworden sind, setzen Sie sich; warten Sie, setzen Sie sich dahin«, sagte er zu meiner Großmutter und faßte sie bei der Hand.

»Oh, wenn es Ihnen gleich ist, nicht in diesen Fauteuil! Er ist für zwei zu klein, aber für mich allein zu groß; ich würde schlecht darin sitzen.« »Sie erinnern mich an einen Fauteuil – er war nämlich ganz genau ebenso – den ich lange besessen habe, schließlich aber nicht mehr behalten konnte, weil meine Mutter ihn von der unglücklichen Herzogin von Praslin erhalten hatte. Meine Mutter, die doch der einfachste Mensch war, den man sich vorstellen kann, aber Begriffe hatte, welche aus einer früheren Zeit stammen, so daß schon ich sie nicht mehr völlig verstand, hatte zuerst Frau von Praslin sich nicht wollen vorstellen lassen; denn die war nur eine geborene Sebastiani; aber die fand ihrerseits wieder, als Herzogin komme es ihr nicht zu, sich vorstellen zu lassen. »Und in der Tat«, so fügte Frau von Villeparisis hinzu (und vergaß dabei, daß sie nichts von diesen Nuancen verstehe), »wäre sie sogar nur eine Frau von Choiseul gewesen, so hätte ihr Anspruch sich doch sehr wohl verfechten lassen. Die Choiseul zählen zu den allerersten Familien, sie stammen von einer Schwester König Louis' des Dicken und waren in Basigny souverän. Ich gebe gern zu, daß wir durch Verbindungen und Auszeichnungen ihnen überlegen sind, aber das Alter ist beinah dasselbe. Dieser Rangstreit hat komische Zwischenfalle zur Folge gehabt; so wurde einmal ein Frühstück eine gute Stunde zu spät serviert, weil bei einer dieser Damen die Einwilligung, sich vorstellen zu lassen, so lange auf sich warten ließ. Trotz alledem haben sie enge Freundschaft geschlossen, und sie hatte meiner Mutter einen Fauteuil in der Art von dem hier geschenkt, in dem Platz zu nehmen jeder, wie Sie auch eben es taten, sich weigerte. Eines Tages hört meine Mutter einen Wagen im Hof ihres Hauses. Sie fragt einen kleinen Bedienten, wer da ist. »Die Frau Herzogin von La Rochefoucauld, Frau Gräfin.« – »Ah! gut, ich empfange sie.« Nach einer Viertelstunde: keine Seele. »Nun – die Frau Herzogin von La Rochefoucauld? wo bleibt sie denn?« – »Sie ist auf der Treppe, ganz verpustet, Frau Gräfin«, antwortete der kleine Bediente, der vor kurzem vom Lande gekommen war. Meine Mutter hatte nämlich die gute Gewohnheit, sie von dort sich zu holen. Sie hatte sie oft zur Welt kommen sehen. So bekommt man tüchtiges Personal ins Haus. Und das ist der oberste Luxus. Die Herzogin von La Rochefoucauld kam wirklich mühselig nach oben; sie war nämlich enorm, so enorm, daß, als sie eintrat, meine Mutter einen Augenblick besorgt sich fragte, wo sie sie placieren könne. In diesem Augenblick fiel ihr das Möbel in die Augen, das Frau von Praslin ihr geschenkt hatte. »Haben Sie doch die Freundlichkeit, sich zu setzen«, sagte meine Mutter und schob es ihr hin. Und die Herzogin füllte es bis zum Rand aus. Sie war, dieser gewichtigen Natur zum Trotz, recht angenehm geblieben. »Sie macht immer noch einen gewissen Effekt, wenn sie eintritt«, sagte einer von unseren Freunden. »Vor allem tut sie es, wenn sie herausgeht«, erwiderte meine Mutter. Ihr saß die Zunge etwas loser, als es heute der Fall zu sein pflegt. Man genierte sich sogar bei Frau von La Rochefoucauld selber nicht, in ihrer Gegenwart Witze über ihren bedeutenden Umfang zu machen, und sie war die erste, die darüber lachte. »Aber sind Sie denn allein?« fragte Herrn von La Rochefoucauld eines Tages meine Mutter, die gekommen war, um bei der Herzogin Besuch zu machen, und an der Tür von deren Manne empfangen wurde. Sie hatte seine Frau nicht bemerkt, die sich im Hintergrund in einer Nische aufhielt. »Ist Frau von La Rochefoucauld nicht da? Ich sehe sie nicht.« – »Wie reizend Sie sind!« erwiderte der Herzog – ein Mann, der so schief über alles urteilte, wie mir das nie wieder begegnet ist, aber durchaus nicht ohne Esprit war.

Als ich mit meiner Großmutter nach dem Essen aufs Zimmer gegangen war, sagte ich ihr, die Eigenschaften, die bei Frau von Villeparisis uns bezauberten: Takt, Diskretion, Finesse, ein Zurücktreten der eigenen Person seien vielleicht so außerordentlich wertvoll denn doch nicht, da die, die sie im höchsten Grad besaßen, nur Leute vom Schlage der Molé und Loménie waren; und wenn ihr Ausfall die alltäglichen Beziehungen unangenehm gestalten könne, so habe er doch Chateaubriand, Vigny, Hugo, Balzac nicht gehindert, zu werden, was sie geworden sind, diese eitlen Persönlichkeiten ohne Urteilskraft, über die leicht sich spotten ließ, wie Bloch ... Aber als Blochs Name fiel, wollte meine Großmutter nichts mehr hören. Sie rühmte mir Frau von Villeparisis. Wie man sagt, daß in Liebessachen einen jeden das Wohl der Gattung leite und im Interesse einer normaleren Konstitution des Kindes dicken Männern magere Frauen und dicke Frauen mageren Männern begehrenswert erscheinen lasse, so waren es Erfordernisse meines Lebensglücks, das von der Nervenschwäche, von meinem krankhaften Hang zur Traurigkeit und zum Einsamsein bedroht wurde, die meine Großmutter aus dunklem Gefühl heraus an erste Stelle gleichmäßig ruhige Verständigkeit setzen ließen. Die war nicht Frau von Villeparisis allein eigen, sondern Merkmal einer Gesellschaft, in welcher ich Zerstreuung und Beruhigung finden konnte, einer Gesellschaft wie die, welche den Geist eines Doudan, eines Rémusat, um nicht von einer Beausergent, einem Joubert und einer Sévigné zu reden, blühen sah: eine Gesinnung, die dem Leben mehr Glück und mehr Würde mitteilt als das entgegengesetzte Raffinement, das einen Baudelaire, einen Poë, einen Verlaine, einen Rimbaud in Qualen und Erniedrigungen gestürzt hat, wie meine Großmutter ihren Enkel sie nicht erleben lassen wollte. Ich unterbrach sie mit einem Kuß und fragte sie, ob ihr ein Satz von Frau Villeparisis aufgefallen sei, in dem die Frau zum Vorschein komme, die mehr auf ihre Geburt halte, als sie wahrhaben wolle. So unterbreitete ich meiner Großmutter die Eindrücke, die ich hatte, denn ich wußte niemals, wieviel Achtung ich jemandem schulde, ehe sie es mir angegeben. Jeden Abend brachte ich ihr die Skizzen, die ich im Laufe des Tages von all den unwirklichen Geschöpfen gefertigt hatte, welche nicht sie waren. Einmal sagte ich ihr: »Ohne dich würde ich nicht leben können.« – »Aber das darf nicht sein«, erwiderte sie mit bewegter Stimme. »Wir dürfen nicht so weich sein. Was sollte sonst aus dir werden, wenn ich verreise. Ich hoffe im Gegenteil, du wirst sehr vernünftig und glücklich sein.«

»Ich würde schon zusehn, mich verständig zu betragen, wenn du auf ein paar Tage fortfahren solltest, aber ich würde die Stunden zählen.«

»Aber wenn ich auf Monate fortfahre ... (der Gedanke allein schnürte mir die Brust zusammen), auf Jahre ... auf ...«

Wir schwiegen beide. Wir wagten nicht, uns anzusehen. Ich aber litt unter ihrer Beklemmung noch schwerer als unter der meinen. So ging ich denn ans Fenster, und mit abgewandten Augen sagte ich laut und vernehmlich zu ihr:

»Du weißt, wie ich von Gewohnheiten abhänge. Wenn ich von denen getrennt bin, die mir die liebsten sind, bin ich die ersten Tage lang unglücklich. Aber ohne daß meine Liebe zu ihnen darum geringer wird, gewöhne ich mich daran, mein Leben wird wieder ruhig und friedlich; ich könnte die Trennung von ihnen auf Monate ertragen, auf Jahre ...«

Ich mußte abbrechen und mich ganz dem Fenster zukehren. Meine Großmutter ging einen Augenblick aus dem Zimmer. Den nächsten Tag jedoch begann ich im allerindifferentesten Ton über Philosophie zu sprechen, wobei ich Sorge trug, daß meine Großmutter auf das achtete, was ich sagte. Ich erklärte, wie merkwürdig das sei: nach den letzten Entdeckungen der Wissenschaft scheine der Materialismus erledigt zu sein, und das Wahrscheinlichste bleibe noch immer die Unsterblichkeit aller Seelen und ihre künftige Wiedervereinigung.

Frau von Villeparisis teilte uns mit, bald werde sie uns nicht mehr so oft sehen können. Ein junger Neffe von ihr, der sich auf das Examen an der Kavallerieschule in Saumur vorbereite und in der Nähe, in Doncières, in Garnison liege, hatte vor, einen Urlaub von mehreren Wochen bei ihr zu verleben, und sie wollte ein gut Teil ihrer Zeit zu seiner Verfügung stellen. Gelegentlich unserer Spazierfahrten hatte sie uns seine große Intelligenz und vor allem sein gutes Herz gerühmt; ich stellte mir schon vor, wie er bald Sympathie für mich gewinnen und ich sein bevorzugter Freund werden würde; und alsdann gab vor seiner Ankunft seine Tante meiner Großmutter zu verstehen, unglücklicherweise sei er einem schlechten Frauenzimmer in die Schlingen gefallen, in das er vernarrt, so vernarrt sei, daß er nicht von ihr lassen wolle, ich aber war andrerseits damals fest überzeugt, derartige Liebesgeschichten müßten unweigerlich mit Irrsinn, Verbrechen und Selbstmord enden, und dachte, wie kurz die Frist bemessen sei, die unserer Freundschaft vorbehalten blieb, die doch, noch ehe ich ihn zu Gesicht bekommen, in meinem Herzen schon so groß war; und da weinte ich über sie und das Unglück, das ihrer harrte, wie über ein teures Wesen, von dem man uns berichtet, es sei schwer krank und seine Tage seien gezählt.

Eines Nachmittags hielt ich mich, als es sehr heiß war, im Speisesaal des Hotels auf. Man hatte ihn halb im Dunkeln gelassen und, um ihn vor Sonne zu schützen, die Vorhänge vorgezogen, die sie gelb tönte. An freien Stellen ließen sie das Blau des Meeres hereinblinken. Da sah ich plötzlich durch den Mittelgang, der vom Strande zur Landstraße führte, einen schlanken, hochgewachsenen jungen Mann kommen, der den Hals frei und den Kopf stolz erhoben trug. Er hatte einen durchdringenden Blick, und seine Haut war so blond, sein Haar so golden, als hätten sie sämtliche Sonnenstrahlen absorbiert. Er war in geschmeidigen weißlichen Stoff gekleidet, wie nie ein Mann nach meiner früheren Überzeugung sich erlaubt hätte, ihn zu tragen; und leicht wie er war machte dieser Stoff nicht weniger an die Hitze und das schöne Wetter draußen denken als die Kühle des Speisesaals. Der junge Mann ging schnell. Seine Augen, aus deren einem jeden Augenblick das Monokel fiel, hatten die Farbe der See. Jedermann sah ihm neugierig nach, wo er vorbeikam; man wußte, dieser junge Marquis von Saint-Loup-en-Bray sei berühmt für seine Eleganz. Alle Zeitungen hatten Beschreibungen von dem Anzug gebracht, in dem er kürzlich dem jungen Herzog von Uzès bei einem Duell zum Zeugen gedient hatte. Es war, als müsse die eigentümliche Natur seiner Haare, seiner Augen, seiner Haut, seiner Figur, die mitten in einer Menge als etwas Besonderes wie eine kostbare azurblaue leuchtende Ader inmitten gemeiner Gesteinsart ihn erscheinen ließen, einem Leben entsprechen, das anders sei als das der übrigen. Wenn daher vor der Liaison, über die Frau von Villeparisis sich beklagte, die reizendsten Frauen der großen Welt ihn sich streitig gemacht hatten, so hob, auf einer Strandpromenade beispielsweise, seine Gegenwart an der Seite einer berühmten Schönheit, der er den Hof machte, diese nicht nur aus allen andern heraus, sondern zog aller Blicke nicht minder auf ihn als auf sie. Wegen seines »Chiks«, seiner Impertinenz als junger »Salonlöwe«, seiner außerordentlichen Schönheit vor allem, wollten manche ihn sogar effeminiert finden; aber sie warfen ihm das nicht vor, denn man wußte, wie männlich er war und wie leidenschaftlich er liebte. Das war der Neffe von Frau von Villeparisis, von dem sie uns gesprochen hatte. Ich war entzückt von dem Gedanken, daß ich mehrere Wochen mit ihm umgehen sollte, und sicher, daß er seine ganze Neigung mir schenken werde. Er durchquerte schnell das Hotel seiner ganzen Breite nach und schien dabei sein Monokel zu verfolgen, das vor ihm her flatterte wie ein Schmetterling. Er kam vom Strande, und das Meer, das bis zur halben Höhe die Verglasung der hall ausfüllte, gab einen Fond für ihn ab, auf dem er gewissermaßen von seinem Wirkungskreise sich abhob, wie auf manchen Porträts das der Fall ist, wo die Maler, ohne im geringsten von der exaktesten Beobachtung des heutigen Lebens abweichen zu wollen, im Bestreben, ihrem Modell den geeigneten Rahmen zu geben, Golfspielplatz, Polowiese, Rennbahn, Schiffsbrücke, ein modernes Gegenstück zu solchen Gemälden malen, in denen die Primitiven die Gestalt im Vordergrunde einer Landschaft erscheinen ließen. Ein Wagen mit zwei Pferden wartete vor der Tür; und während das Monokel weiter auf der besonnten Straße seine Spiele trieb, nahm der Neffe der Frau von Villeparisis neben dem Kutscher Platz, und mit der Eleganz und Meisterschaft, die große Pianisten noch in der simpelsten Passage zeigen, wo man es nicht für möglich halten sollte, daß sie sich einem Spieler zweiten Ranges überlegen zeigen, nahm er die Zügel, die der Kutscher ihm reichte; und während er einen Brief erbrach, den der Hoteldirektor ihm übergab, ließ er die Pferde anziehen.

Wie enttäuschten mich nicht die folgenden Tage, als jedesmal, wenn ich draußen oder im Hotel ihm begegnete – er trug den Kopf erhoben, und immer war es, als balancierten alle Gliedmaßen um sein unstetes Monokel sich aus, welches ihr Gravitationszentrum schien –, ich mir klar machen mußte, ihm liege nicht daran, sich uns zu nähern, und wenn ich sah, er grüßte uns nicht, wiewohl er wissen mußte, daß wir Freunde seiner Tante waren. Entsann ich mich dann der Liebenswürdigkeit, die Frau von Villeparisis und vorher Herr von Norpois mir bekundet hatten, so kam mir vielleicht der Gedanke, das sei nur lachhafter Adel, und unter den Gesetzen, die die Aristokratie regieren, finde sich ein geheimer Artikel, welcher vielleicht den Frauen und gewissen Diplomaten erlaubt, aus einer Ursache, die mir entging, Bürgerlichen gegenüber von der hochmütigen Zurückhaltung Abstand zu nehmen, die dahingegen ein junger Marquis unnachsichtlich beobachten müsse. Mein Verstand hätte mir das Gegenteil sagen können. Aber es ist ja für das lächerliche Lebensalter, in dem ich stand – ein undankbares ist es keineswegs, vielmehr höchst fruchtbar – bezeichnend, daß man den Verstand gar nicht befragt und daß die geringfügigsten Attribute der Menschen unverbrüchlich an ihre Person gebunden erscheinen. Von Ungeheuern und von Göttern rings umstellt, kennt man so gut wie gar keinen Frieden. Es gibt unter den Gesten, die man damals gemacht hat, kaum eine, die man später nicht wünschte ungeschehen machen zu können. Bedauern sollte man im Gegenteil vielmehr, nicht mehr die Spontanität zu besitzen, die sie uns machen ließ. Später sieht man die Dinge zweckentsprechender, im besten Einvernehmen mit der ganzen menschlichen Gesellschaft, die Jugend bleibt aber die einzige Epoche, in der man etwas gelernt hat.

Die Unverschämtheit, die ich in Saint-Loup erriet, samt der angeborenen Hartherzigkeit, die sie einschloß, bestätigte sich mir in seiner Haltung jedesmal, wenn er an uns vorbeikam: unbeugsam und hoch aufgerichtet, mit erhobenem Haupt, mit blicklosen Augen (unversöhnlichem Blick wäre zu wenig gesagt), in denen nichts von jener unbestimmten Achtung lebte, die man den Rechten anderer Kreaturen gegenüber hat und die bewirkt, daß ich vor einer alten Dame nicht ganz genau derselbe wie vor einer Gaslaterne war. Diese eisigen Formen waren von den entzückenden Briefen, die er noch vor wenigen Tagen in meiner Einbildung an mich geschrieben hatte, um mir seine Sympathie zu bekunden, ebenso weit entfernt wie vom Enthusiasmus der Kammer und eines Volkes, das er in seiner Einbildung durch eine unvergeßliche Rede in Aufruhr versetzt sah, die mittelmäßige verborgene Existenz des Phantasten entfernt ist, der ganz allein auf eigene Rechnung mit lauter Stimme vor sich hingeträumt hat und nun, wenn der imaginäre Beifall verflogen ist, sich wieder als armen Schlucker wie vordem sieht. Als Frau von Villeparisis den schlechten Eindruck offenbar verwischen wollte, den diese verräterischen Äußerungsformen einer hochmütigen, bösartigen Natur auf uns gemacht hatten, und wieder von der unendlichen Güte ihres Großneffen sprach (er war der Sohn von einer ihrer Nichten und ein wenig älter als ich), da bewunderte ich, wie man in der Gesellschaft, unter Nichtachtung der einfachsten Wahrheit, Tugend des Herzens denen beilegt, die keines besitzen, sollten sie mit glänzenden Persönlichkeiten aus ihrem eigenen Milieu noch so liebenswürdig sich zeigen. Eine weitere Bekräftigung der wesentlichen, mir schon feststehenden Züge in der Natur ihres Neffen brachte eines Tages, wiewohl mittelbar, Frau von Villeparisis bei, als ich ihnen beiden auf einem so engen Wege begegnete, daß sie nicht umhin konnte, mich ihm vorzustellen. Er schien nicht zu hören, daß man ihm jemanden mit Namen nannte, kein Muskel rührte sich in seinem Gesicht; seine Augen zeigten auch nicht den leisesten Schimmer menschlicher Sympathie, nur lag in ihrer Anteillosigkeit, in der Leerheit des Blicks etwas Übertriebenes; sonst hätte nichts sie von leblosen Spiegeln unterschieden. Dann heftete er die harten Blicke auf mich, als wolle er, bevor er meinen Gruß erwidere, sich über mich informieren, und plötzlich streckte sich unvermittelt, mechanisch, als bewege ihn nicht der Wille, sondern ein Muskelreflex, der Arm seiner ganzen Länge nach vor, und so, aus denkbar größtem Abstand, reichte er mir die Hand. Als er am folgenden Tage seine Karte mir bringen ließ, glaubte ich, es müsse sich mindestens um ein Duell handeln. Aber er sprach nur von Literatur, und am Ende einer ausgedehnten Unterhaltung erklärte er mir, es sei ihm außerordentlich daran gelegen, mich mehrere Stunden täglich zu sehen. Bei diesem Besuche hatte er nicht nur eine leidenschaftliche Neigung zu geistigen Dingen erkennen lassen, sondern eine Sympathie für mich an den Tag gelegt, die sehr schlecht mit seinem Gruß vom Vortage sich vertrug. Als ich dann mehrfach, wenn jemand ihm vorgestellt wurde, die gleiche Art bei ihm beobachtet hatte, begriff ich, das sei nichts als nur die angewöhnte Umgangsform eines Teils seiner Familie, der seine Mutter, die ihn wundervoll erzogen wissen wollte, seinen Körper unterworfen hatte; er grüßte so, ohne mehr daran zu denken als an seine schönen Kleider oder sein schönes Haar; die Sache hatte nichts von der moralischen Bedeutung, die ich ihr anfänglich gegeben hatte, sie war schlechthin erlernt wie jene andere Angewohnheit: umgehend den Verwandten eines Menschen, den er kennen gelernt hatte, sich vorstellen zu lassen. Dies war ihm so sehr zum Instinkt geworden, daß er am nächsten Tage bei meinem Anblick auf mich zustürzte und, ohne mir guten Tag zu sagen, mich aufforderte, meiner Großmutter ihn vorzustellen, die sich bei mir befand. Die fieberhafte Schnelligkeit, mit der dies geschah, ließ einen beinah Abwehrinstinkte dahinter suchen; sie glich der Geste, welche einen Schlag pariert, oder dem Schließen der Augen vor einem Guß kochenden Wassers; es schien sich um ein Schutzmittel zu handeln, ohne welches man ungestraft keine Sekunde länger verharren dürfe.

War nur erst einmal die Entzauberung begonnen, so war's, als lege eine verdrossene Fee ihre anfängliche Erscheinung ab, um mit berauschender Anmut sie zu vertauschen: aus diesem hochmütigen Geschöpf sah ich den liebenswürdigsten, den entgegenkommendsten jungen Mann werden, dem ich nur jemals begegnet war. »Gut,« sagte ich mir, »ich habe mich schon einmal in ihm getäuscht und bin das Opfer eines bloßen Anscheins geworden; aber ich bin des ersten nur Herr geworden, um einem zweiten zu unterliegen: er ist ein Grandseigneur, der ganz von Adelsstolz durchdrungen und ihn zu verbergen bemüht ist.« Nun aber sollte sehr bald die erstaunlich gute Erziehung, die blendende Liebenswürdigkeit von Saint-Loup in der Tat ein anderes Wesen mich sehen lassen; doch eines, das von dem sehr verschieden war, das ich mutmaßte.

Dieser junge Mann, der aussah wie ein Aristokrat und ein verächtlicher Sportsmann, hatte Hochschätzung und Interesse nur für geistige Dinge; zumal für jene modernsten Strömungen in Literatur und Kunst, die seiner Tante so lächerlich vorkamen; im übrigen war er gänzlich »durchseucht« von dem, was sie »sozialistische Deklamationen« nannte, seiner Kaste gegenüber hegte er tiefe Verachtung und verbrachte ganze Stunden beim Studium von Nietzsche und Proudhon. Er gehörte zu jenen »Intellektuellen«, die schnell bewundern, in einem Buch aufgehen können und einzig nach dem hohen Schwung des Denkens trachten. Bei Saint-Loup war mir diese Neigung zum Abstrakten zwar sehr rührend, jedoch bisweilen etwas lästig, weil sie ihn von den Gegenständen meines eigentlichen Interesses so weit abführte. Als ich erst einmal wußte, wer sein Vater gewesen war, und dann an Tagen, da ich in Memoiren gelesen hatte, die voller Anekdoten von diesem berühmten Grafen Marsantes waren, in dem die so ganz eigene Eleganz einer weit zurückliegenden Zeit sich verkörperte, – an solchen Tagen vor mich hinträumte und mich sehnte, Genaueres über das Leben zu erfahren, das Herr von Marsantes geführt habe, geriet ich außer mir, daß Robert de Saint-Loup bis zu der Leidenschaft für Nietzsche und Proudhon sich aufgeschwungen habe, anstatt sich zu begnügen, Sohn seines Vaters zu sein und in dem altmodischen Lebensroman von dessen Dasein mich recht leiten zu können. Sein Vater hätte mein Bedauern nicht geteilt. Er war selber ein intelligenter Mann gewesen, der die Grenzen eines weltläufigen Daseins überschritten hatte. Zeit, seinen Sohn kennen zu lernen, hatte er kaum gehabt, doch gewünscht hatte er ihm, etwas Besseres als er selber zu werden. Und ich möchte glauben, daß, im Gegensatz zur übrigen Familie, er ihn bewundert haben würde und seine Freude daran gehabt hätte, was seine kleinen Zerstreuungen ausgemacht hatte, von seinem Sohn mit strenger Meditation vertauscht zu sehen, ja daß er, ohne ihm ein Wort davon zu sagen, heimlich, mit der Bescheidenheit des geistvollen Grandseigneurs, die Lieblingsschriftsteller seines Sohnes würde gelesen haben, um würdigen zu können, um wieviel Robert ihm überlegen sei.

Es war daran – dies nebenbei zu sagen – nur das eine bedauerlich: während Herr von Marsantes in seinem aufgeschlossenen Sinn einen Sohn, der so verschieden von ihm war, geschätzt haben würde, so gehörte Robert de Saint-Loup zu jenen, die da vermeinen, das wahrhaft Verdienstliche sei an gewisse Formen von Kunst und Leben gebunden, und er hatte daher seinen Vater als einen, der sein ganzes Leben über Rennen und Jagden verbracht, bei Wagner gegähnt und für Offenbach geschwärmt habe, in liebevollem aber etwas abschätzigem Gedächtnis. Saint-Loup war nicht intelligent genug, um zu verstehen, daß der intellektuelle Rang eines Menschen nicht davon abhängt, zu welcher ästhetischen Formel er sich bekennt, und er weihte die Intellektualität des Herrn von Marsantes einer Verachtung, wie etwa Boieldieu oder Labiche gegenüber ein Sohn von Boieldieu oder Labiche, der Anhänger einer ultrasymbolistischen Literatur oder der denkbar kompliziertesten Musik gewesen wäre, sie hätte hegen können. »Ich habe meinen Vater sehr wenig gekannt«, sagte Robert. »Er muß ein außerordentlicher Mann gewesen sein. Sein Unglück war die jammervolle Zeit, in der er lebte. Im Faubourg Saint-Germain geboren worden zu sein und zur Zeit der »Schönen Helena« gelebt zu haben, ist eben eine Katastrophe für das ganze Leben. Als Kleinbürger, der sich fanatisch für den »Ring« begeisterte, wäre vielleicht ganz etwas anderes aus ihm geworden. Man sagt mir sogar, er liebte die Literatur. Aber wer weiß – was er unter Literatur verstand, besteht aus veralteten Werken.« Und wenn mir meinerseits Saint-Loup ein wenig zu seriös war, so begriff wiederum er nicht, daß ich es nicht mehr war. Denn er wertete eine jede Sache nur danach, wieviel ihr Ideengehalt wog, und die Bezauberung der Phantasie, die mir aus manchem kam, was er frivol nannte, entging ihm; er wunderte sich, daß ich – ich, dem er sich so sehr unterlegen glaubte, – mich dafür interessieren könne. Bereits in den allerersten Tagen gewann Saint-Loup meine Großmutter; und das nicht nur durch Freundlichkeit gegen uns beide, welche nie nachließ, sondern durch sein Naturell, das hier wie auch in allen andern Dingen waltete. Naturell aber war für meine Großmutter – sicherlich weil es hinter dem, was künstlich am Menschen ist, die Natur herausfühlen läßt – das Wichtigste, ging allem andern vor: sowohl bei Gärten, wo sie nicht gern die allzu regelmäßigen Beete sah, wie man in Combray sie hatte, wie auch in Sachen der Kochkunst, wo sie die »Paradestücke« verwarf, in denen man kaum die Rohstoffe wiedererkennt, woraus sie gemacht worden sind, wie auch beim Klavierspielen, wo sie das Allzuglatte, Allzuziselierte nicht gern hatte, vielmehr sogar für die nachschleppenden Takte, die falschen Noten von Rubinstein eine ganz eigentümliche Nachsicht an Tag legte. Mit Vergnügen fand sie dies Naturell selbst in den Kleidern von Saint-Loup noch wieder; bei aller Eleganz saßen sie durchaus leger; es war nichts Stutzerhaftes oder Abgezirkeltes an ihnen, nichts Steifes oder Gestärktes. Und noch mehr schätzte sie an diesem reichen jungen Mann die nachlässige, freimütige Art, luxuriös zu leben, ohne daß man das Geld merkte und ohne sich ein Ansehn dabei zu geben; sie entdeckte den Charme dieses Naturells sogar in einer Unfähigkeit, Gemütsbewegungen im Mienenspiel zu verbergen, wie sie Saint-Loup geblieben war, gewöhnlich indessen mit der Kindheit, und gleichzeitig mit physiologischen Besonderheiten dieses Lebensalters, verloren geht. Erhielt er beispielsweise irgend etwas, was er wünschte, worauf er aber nicht gezählt hatte, und sei es nur ein Kompliment, so kam die Freude derart plötzlich, brennend, expansiv, verfliegend über ihn, daß ihm unmöglich war, sie in sich zu verschließen und zu verbergen; sein Gesicht verzog sich in einer Grimasse der Freude; die allzu zarte Haut seiner Backen ließ lebhafte Röte durchscheinen, in seinen Augen standen Lust und Verwirrung; und meine Großmutter besaß unendlich viel Sinn für dieses reizende Spiel von Freimut und Unschuld, das, nebenbei gesagt, bei Saint-Loup, zumindest in der Zeit, da ich mit ihm in Verbindung trat, nicht trog. Aber ich habe jemand andern gekannt (und es gibt deren viele), bei dem die physiologische Aufrichtigkeit dieses flüchtigen Rotwerdens moralische Unzuverlässigkeit keineswegs ausschloß; häufig bezeugt es nur, wie lebhaft Menschen, die der gemeinsten Betrügereien fähig sind, Freude verspüren, so daß sie vor ihr entwaffnet sind und andern sie eingestehn müssen. Am grenzenlosesten aber verehrte meine Großmutter Saint-Loups Naturell in der Art, mit der er ohne alle Umschweife seine Sympathie für mich eingestand; in deren Ausdruck fand er Worte, wie sie ihr selber nie gekommen wären, sagte sie; zutreffende und wahrhaft liebreiche, die die Sévigné und die Beausergent hätten gegenzeichnen können; er nahm nicht Anstand, über meine Fehler zu scherzen – wie schlau er sie herausgefunden hatte, machte ihr Spaß –, aber mit Zärtlichkeit, wie sie es getan hätte, tat er's; und dafür erhob er auf der andern Seite glühend und rückhaltlos, was Gutes an mir war, und hatte dabei nichts von Kälte und Reserve, mit denen junge Leute seines Alters gewöhnlich sich ein Ansehn zu geben meinen. Um dem geringsten Unbehagen bei mir zuvorzukommen, legte er, wenn es kühler wurde, ohne daß ich's merkte, mir Decken über die Knie, und später, wenn er fühlte, daß ich traurig oder unwohl war, traf er, ohne davon zu reden, Anstalten, den Abend über bei mir zu bleiben. In all dem hatte er eine Rücksicht, die meine Großmutter im Interesse meiner Gesundheit, der etwas härtere Behandlung vielleicht zuträglicher gewesen wäre, fast übertrieben fand, die aber als Beweis seiner Liebe zu mir ihr sehr rührend war.

Zwischen ihm und mir galt bald ausgemacht, daß wir enge Freundschaft auf immer geschlossen hatten, und er sprach von »unserer Freundschaft«, als spräche er von etwas Köstlichem, Bedeutendem, was unabhängig von uns beiden sein Leben führe und – abgesehen von seiner Liebe zu seiner Mätresse – sein größtes Glück ausmache. Diese Worte stimmten mich in gewissem Sinne traurig. Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte, denn ich empfand an seiner Seite, im Gespräch mit ihm – und bei jedem andern wäre es sicher dasselbe gewesen – nichts von dem Glück, das ich bisweilen wohl fühlen konnte, wenn ich ohne Begleiter war. War ich allein, so fühlte ich manchmal tief aus dem Grunde meiner selbst eine Empfindung herauffluten, die mir inniges Wohlgefühl gab. Aber sobald ich mit jemand anderem zusammen war, sobald ich mit einem Freund sprach, vollzog sich in mir eine innerliche Wendung: im Denken richteten meine Gedanken sich nicht auf mich, sondern auf diesen meinen Unterredner, und wenn sie in diesem umgekehrten Sinne verliefen, hatte ich keine Freude an ihnen. Sobald ich Saint-Loup dann verlassen hatte, suchte ich mit Hilfe von Worten eine gewisse Ordnung in die Minuten zu bringen, die ich mit ihm gewesen war; ich sagte mir, ich habe einen guten Freund; ein guter Freund sei etwas Seltenes; und genoß, wie ich mich so von Gütern, die man schwer erwirbt, umgeben fühlte, was ganz das Gegenteil von dem Genusse war, der von Natur mir entsprach: das Gegenteil von dem Genuß, aus mir selber etwas gewonnen und ans Licht gehoben zu haben, was im Halbdunkel verborgen gelegen hatte. Wenn ich zwei oder drei Stunden im Gespräche mit Robert de Saint-Loup zugebracht und er alles bewundert hatte, was ich gesagt, dann kam es wie Gewissensbisse, Leid und Müdigkeit über mich: nicht allein und endlich zur Arbeit bereit geblieben zu sein. Aber ich sagte mir, klug sei man nicht nur um seiner selbst willen, die größten Geister hätten den Wunsch nach Schätzung durch andere gekannt, und ich könne die Stunden nicht für verloren ansehn, in denen ich im Geist meines Freundes einen hohen Begriff von mir aufgebaut habe; leicht beredete ich mich, darüber müsse ich glücklich sein, und daß dies Glück mir nicht genommen werde, ersehnte ich um so lebhafter, als ich es nie verspürt hatte. Mehr als von allen andern fürchtet man Verlust von jenen Gaben, die uns immer fremd geblieben sind, weil unser Herz sich ihrer nicht bemächtigt hat. Die Tugenden der Freundschaft tätig zu üben, fühlte ich mehr als viele andere mich fähig (weil ich stets das Wohl meiner Freunde persönlichen Interessen voranstellen würde, an denen andere haften, die für mich aber nicht zählten), nicht aber fühlte ich mich fähig, Freude an einem Gefühl zu haben, das Unterschiede zwischen meiner Seele und den Seelen von anderen – wie sie zwischen uns allen sich finden – nicht steigerte, sondern sie verwischen wollte. Dafür erkannte ich dann in Saint-Loup auf Augenblicke ein generelleres Geschöpf als ihn selber: den Adligen, der wie ein Dämon von innen her seine Glieder in Bewegung setzte, seine Gesten und seine Handlungen vorschrieb; in solchen Augenblicken war ich, wiewohl neben ihm, allein, gleichwie vor einer Landschaft, deren Harmonie sich mir erschloß. Er war nur noch ein Gegenstand, in den meine Träumerei sich zu vertiefen trachtete. Und immer wieder in ihm dies ältere, säkulare Wesen zu entdecken, diesen Aristokraten, der ja Saint-Loup gerade nicht sein wollte, das gab mir lebhafte Freude: des Verstandes, nicht aber der Freundschaft. In der Gewandtheit seiner geistigen und physischen Reaktionen, die seine Liebenswürdigkeit so anmutig machten, in der Selbstverständlichkeit, mit der er meiner Großmutter seinen Wagen anbot und ihr beim Aufsteigen behilflich war, in der Geschicklichkeit, mit der er vom Bock sprang, wenn er Angst hatte, ich könne frieren, und seinen Mantel um meine Schultern warf, spürte ich nicht nur ererbte Geschmeidigkeit von großen Jägern, wie es seit Generationen die Vorfahren dieses jungen Mannes gewesen waren, der selber nur sich um das Geistige bemühte, nicht nur ihre Verachtung für Reichtum (bei ihm vertrug sie sich sehr wohl mit dem Geschmack, den er an ihm einzig darum fand, weil er so seine Freunde besser ehren konnte) eine Verachtung, die ihn unbekümmert seinen Luxus den Freunden zu Füßen legen ließ; vor allem spürte ich darin die Gewißheit oder die Einbildung dieser Grandseigneurs »mehr als die andern« zu sein – und eben darum hatten sie Saint-Loup nicht jenen Trieb vermachen können, zu zeigen, daß man »ebensoviel wert ist wie andere«, diese Angst, übertrieben zuvorkommend zu erscheinen, die in der Tat ihm durchaus unbekannt war, während sie die aufrichtigste plebejische Freundschaft so häßlich und linkisch macht. Ich warf es mir manchmal vor, mir so aus der Betrachtung meines Freundes gewissermaßen als eines Kunstwerkes ein Vergnügen zu machen, will sagen jenes Ineinanderspielen aller Teile seines Wesens als harmonisch durch eine allgemeine Gesetzlichkeit geordnet anzusehen, von welcher sie abhingen, die ihm aber unbekannt war und daher seine privaten Tugenden, den Wert der moralischen und intelligenten Person, auf die es ihm allein ankam, nicht vergrößern konnte.

Und dennoch war sie in gewissem Sinne deren Vorbedingung. Eben weil er ein Adliger war, hatte bei ihm die geistige Regsamkeit, hatten die sozialistischen Aspirationen, aus denen heraus er sich um den Umgang mit jungen anmaßenden und schlecht gekleideten Studenten bewarb, etwas Reines, Uneigennütziges, das sie bei denen nicht hatten. Weil er sich für den Erben einer ungebildeten, egoistischen Kaste hielt, suchte er ganz aufrichtig bei ihnen Vergebung dieser aristokratischen Herkunft, die ihnen vielmehr verführerisch und Ursache ihrer Bemühung um ihn war – was sie nicht hinderte, Kälte und sogar Insolenz ihm gegenüber vorzutäuschen. So kam er dazu, Leuten gegenüber sich entgegenkommend zu erweisen, von denen meine Eltern, die der Soziologie von Combray die Treue hielten, gar nicht begriffen hätten, daß er ihnen, nicht den Rücken kehrte. Eines Tages saßen wir, Saint-Loup und ich, im Sande. Da hörten wir aus einem Zelt neben dem unseren Verwünschungen gegen die Unmasse von Juden, von denen Balbec überlaufen war. »Man kann hier keine zwei Schritt tun, ohne auf einen zu stoßen«, sagte die Stimme. »Ich stehe dem jüdischen Volkstum nicht grundsätzlich und unversöhnlich feindlich gegenüber, aber hier ist denn doch zuviel Vollblut. Man hört nichts als: »Denken Sie, Abraham, ich habe Jakob gesehen«. Man möchte glauben, man sei rue d'Aboukir«. Der Mann, der so gegen Israel wetterte, trat endlich aus dem Zelt; wir blickten nach diesem Antisemiten. Es war mein Kamerad Bloch. Saint-Loup bat mich sofort, ihn daran zu erinnern, daß sie einander beim Concours Général begegnet waren, wo Bloch den Ehrenpreis bekommen hatte – dann in einer Volkshochschule.

Höchstens lächelte ich manchmal, wenn ich bei Robert die Schulung durch Jesuiten in der Befangenheit erkannte, welche die Furcht, irgendwo anzustoßen, in ihm entstehen ließ. Dies war immer der Fall, wenn irgendeiner seiner Freunde aus der Intelligenz einen gesellschaftlichen Fehlgriff beging, sich etwas Lächerliches zuschulden kommen ließ, dem er selber, Saint-Loup, nicht die geringste Wichtigkeit beimaß; aber der andere – das fühlte er – wäre darüber errötet, wenn er sich dessen bewußt geworden wäre. Und dann errötete eben Robert, als wäre er der eigentlich Schuldige; so war es beispielsweise an dem Tag, da Bloch ihm versprochen hatte, in seinem Hotel ihn aufzusuchen, und dann hinzufügte: »Da mir das Warten mitten in dem Talmi-Chik dieser großen Karawansereien unerträglich ist und mir vor den Zigeunern übel werden würde, so sagen Sie dem »Laïftboy«, er soll ihnen befehlen aufzuhören und Sie sofort benachrichtigen.«

Mir persönlich war nicht sehr daran gelegen, daß Bloch ins Hotel komme. Er war in Balbec zu meinem Leidwesen nicht allein, sondern mit seinen Schwestern, die hier selber sehr viele Verwandte und Freunde hatten. Nun war diese jüdische Kolonie weniger angenehm als malerisch. Es ging mit Balbec, wie mit gewissen Ländern, von denen wir in der Geographiestunde erfahren, daß der jüdische Volksteil dort nicht dieselbe Freiheit genießt und nicht denselben Grad von Assimilation erreicht hat wie beispielsweise in Paris. Wie man sie immer beieinander sah, kein anderes Element ihnen sich beimischte, bildeten die Kusinen und Onkel von Bloch oder ihre männlichen und weiblichen Glaubensgenossen auf ihrem Wege zum Kasino, wo die einen zum »Ball« sich begaben, die andern zum Baccarat abbogen, ein in sich vollkommen homogenes Gefolge, das durch und durch verschieden von den Leuten war, die sie vorbeiziehen sahen und alljährlich am gleichen Orte sie wiederfanden, ohne je einen Gruß mit ihnen zu wechseln: mochte das nun die Gesellschaft der Cambremer sein, der Clan des ersten Präsidenten, oder bloße Groß- und Kleinbürger, ja auch nur einfache Getreidehändler aus Paris, deren schöne, stolze, mokante Töchter, die so französisch wie die Statuen von Reims waren, sich unter das schlecht erzogene Weibervolk nicht hätten mischen mögen, bei welchem die Bemühung um die »Strandtoiletten« so weit ging, daß es immer aussah, als käme es gerade vom Krabbenfang oder sei im Begriff, Tango zu tanzen. Und die Männer wieder machten, dem Staat der Smokings und der Lackschuhe zum Trotz, mit ihrem prononcierten Typ an das Vorgehen der Maler denken, die beauftragt sind, die Evangelien oder Tausendundeine Nacht zu illustrieren, dabei sich dann das Land vor Augen halten, wo die Dinge sich abspielen, und dem heiligen Petrus oder dem Ali Baba genau das Gesicht geben, das der größte »Bonze« von Balbec hatte. Bloch stellte mir seine Schwestern vor, denen er äußerst grob über den Mund zu fahren pflegte, während sie über die dürftigsten Spaße ihres Bruders schallend lachten. Sie bewunderten ihn, er war ihr Idol. So daß es wahrscheinlich ist, daß dieses Milieu, wie jedes andere, vielleicht mehr als jedes andere, sehr viel Angenehmes, sehr viele schätzenswerte Eigenschaften und Tugenden einschloß. Aber um sie kennen zu lernen, hätte man sich hineinbegeben müssen. Nun aber gefiel es nicht, es fühlte das, und sah darin den Beweis eines Antisemitismus, gegen welchen es in geschlossener Phalanx Front machte, ohne daß übrigens irgendjemand daran gedacht hätte, sich seinen Weg da hindurch zu bahnen.

Was den »Laïftboy« angeht, so konnte das mich um so weniger überraschen, als einige Tage vorher ich auf Blochs Frage, warum ich nach Balbec gekommen sei (daß er dort sei, schien er dagegen ganz natürlich zu finden), ob es »in der Hoffnung schöne Bekanntschaften anzuknüpfen« geschehen sei, zur Antwort gegeben hatte, es entspreche diese Reise einer alten Sehnsucht bei mir, keiner so tiefen freilich, wie die nach Venedig zu kommen; und da hatte er denn gesagt: »Ja natürlich, um Sorbets mit den schönen Damen zu trinken und dabei so zu tun, als lese man die »Stones of Venaïce«, von Lord John Ruskin, einem öden Kaffer, einem der langweiligsten Onkels, die mir je vorgekommen sind.« Bloch schien also vom England nicht nur zu glauben, daß dort alle Personen männlichen Geschlechts Lords sind, sondern zudem, daß i immer aï gesprochen werde. Saint-Loup fand diesen Aussprachefehler um so belangloser, als er in ihm kaum mehr als einen Mangel beinah mondäner Kenntnis und Erfahrung sah, die mein neuer Freund gleichermaßen verachtete wie beherrschte. Aber die Furcht, Bloch werde eines Tages erfahren, daß man Venice sage und Ruskin nicht Lord sei, und dann rückblickend annehmen, Robert habe ihn lächerlich gefunden, machte, daß er sich schuldig fühlte, als habe er an der Nachsicht es fehlen lassen, die er im Übermaße besaß, und die Röte, die eines Tages unvermeidlich Blochs Gesicht bei der Entdeckung seines Irrtums färben mußte, fühlte er durch Antizipation und Rückfälligkeit in dem seinen aufsteigen. Denn er dachte sich schon, Bloch werde diesem Fehler größere Wichtigkeit beimessen als er. Und das bewies Bloch einige Zeit später: da er mich »Liftboy« sagen hörte, unterbrach er mich:

»Ah! man sagt liftboy!« Und trocken und hochmütig: – »Das ist übrigens absolut ohne jeden Belang.« Dieser Satz ist wie ein Reflex, er kehrt bei allen Menschen wieder, die Eigenliebe haben. Und das unter den gewichtigsten Umständen ebensowohl wie unter den geringfügigsten; er zeigt dann immer, wie bei dieser Gelegenheit, wie wichtig die fragliche Sache dem vorkommt, welcher erklärt, sie habe keine Wichtigkeit; ein tragischer Satz bisweilen, der als erster – wie trostlos – von den Lippen jedes Mannes kommt, der einigermaßen stolz ist, wenn man die letzte Hoffnung, an die er sich klammerte, ihm genommen hat, indem man einen Schritt zu seinen Gunsten ihm abschlägt. »Ach schön, das ist absolut ohne jeden Belang; ich werde mich anders arrangieren«; und das andere Arrangement, auf welches angewiesen zu sein absolut ohne jeden Belang ist, ist manchmal der Selbstmord.

Dann sagte mir Bloch sehr verbindliche Dinge. Er hatte gewiß Lust, sehr liebenswürdig mit mir zu sein. Trotzdem fragte er mich: »Gehst du deshalb mit diesem Saint-Loup-en-Bray um, weil dir der Kopf danach steht, dich in die Höhen des Adels hinaufzuschwingen? – eines sehr zweitrangigen Adels übrigens, aber du bist ja naiv geblieben. Du mußt ja gerade mitten in einer niedlichen Krise von Snobismus sein. Sag mir mal, bist Du Snob? Ja, nicht wahr?« Nicht daß sein Wunsch, sich liebenswürdig zu erweisen, jäh umgeschlagen wäre. Sein Fehler vielmehr war, was – sprachlich ziemlich inkorrekt –, schlechte Erziehung« genannt wird; den bemerkte er daher nicht an sich selber, geschweige denn, daß er vermeint hätte, es könnten andere sich daran stoßen. Unter den Menschen ist die Häufigkeit der bei allen gleichartigen Tugenden nicht erstaunlicher als die Vielfalt der Unarten, die bei jedem andere sind. Zweifellos ist nicht der gesunde Menschenverstand »das, was am allgemeinsten auf der Welt verbreitet ist«, sondern die Güte. In den entferntesten, verlorensten Winkeln sieht man zu seiner Verwunderung von selber sie blühen wie eine Mohnblume in einem abgelegenen Tal: sie ist wie die, die auf der Welt sich sonst noch finden, und hat sie nie gesehen und nichts kennen gelernt als den Wind, der manchmal ihr einsames rotes Käppchen erzittern läßt. Selbst wenn diese Güte nicht wirksam wird, weil Eigennutz ihr entgegensteht, existiert sie doch, und jedesmal, wenn keine egoistische Triebfeder dem sich widersetzt, wie beispielsweise bei Lektüre eines Romans oder einer Zeitung, erblüht sie, wendet sich sogar im Herzen dessen, der im Leben ein Mörder ist, als Liebhaber des Feuilletons aber zartfühlend bleibt, dem Gerechten, dem Schwachen, dem Verfolgten zu. Aber die Vielfalt der Fehler ist nicht weniger bewundernswert als die Ähnlichkeit der Tugenden. Deren hat jeder seine eigentümlichen so unverbrüchlich, daß, wenn wir weiter ihn liebbehalten sollen, wir genötigt sind, keine Rücksicht auf sie zu nehmen und zugunsten des übrigen sie zu vernachlässigen. Der Vollkommenste hat einen gewissen Fehler, der anstößig ist oder zur Raserei bringen kann. Einer ist nennenswert klug, sieht alles aus einem überlegenen Gesichtspunkt, sagt niemals von jemandem Schlechtes, aber in seinen Taschen vergißt er die wichtigsten Briefe, die man ihm auf seine eigene Bitte anvertraut hat, und dann läßt er einen ein hochwichtiges Rendezvous versäumen, weil er seine Ehre dareinsetzt, niemals zu wissen, wie spät es ist. Ein anderer ist so zartfühlend, so sanft, so rücksichtsvoll in seinem Verhalten, daß er über uns selber nur immer Dinge sagt, die uns glücklich machen können, aber man fühlt, daß er ganz andersartige verschweigt und in seinem Herzen vergräbt, wo sie in Gärung übergehen; und er hängt so sehr an dem Genuß, mit einem zusammen zu sein, daß er einen eher vor Müdigkeit umkommen ließe, als fortzugehen. Ein dritter ist aufrichtiger, aber er treibt es soweit, daß er Wert darauf legt, jemanden, welcher sich mit Unwohlsein dafür entschuldigt hat, ihn nicht besucht zu haben, wissen zu lassen, er sei auf dem Weg ins Theater gesehen worden und habe dabei recht wohl ausgesehn; oder er habe von dem Schritte, den man für ihn getan, nicht restlos Gebrauch machen können, im übrigen hätten sich bereits drei andere erbötig gemacht, ihm den Dienst zu erweisen, so ist er einem dafür denn nicht allzu tief verpflichtet. In diesen beiden Fällen hätte der Freund, von dem vorher die Rede war, so getan, als wüßte er nicht, daß man im Theater gewesen sei und daß andere Leute ihm hätten den gleichen Gefallen erweisen können. Was aber den letzterwähnten Freund angeht, so fühlt er das Bedürfnis, einem das Unwillkommenste zu wiederholen oder zu enthüllen, und dann freut er sich über seine Offenheit und sagt aus tiefster Überzeugung: »So bin ich nun eben einmal.« Andere wieder reizen uns mit ihrer übertriebenen Neugier oder durch einen so gänzlichen Mangel daran, daß man von sensationellsten Ereignissen sprechen kann, ohne daß sie wüßten, worum es sich handelt; dann gibt es solche, die einen monatelang ohne Antwort lassen, wenn der Brief auf etwas Bezug hat, was einen selber, nicht aber sie angeht; oder sie sagen, sie wollen zu einem kommen, um etwas zu fragen; man wagt nicht auszugehen, aus Furcht, sie zu verfehlen; sie kommen aber nicht und lassen einen durch Wochen warten, weil sie ja keine Antwort erhalten und geglaubt hätten, man sei verstimmt gegen sie; aber ihr Brief verlangte gar keine Antwort. Und andere kümmern sich einzig und allein um das, was ihnen lieb ist, nicht aber dem Partner; sie sprechen weiter, ohne einem die Möglichkeit zu geben, ein Wort anzubringen; wenn sie gut aufgelegt sind und Lust haben, einen zu sehen, dann fragen sie gar nicht danach, ob man eine dringende Arbeit vorhat; wenn sie aber ein anderes Mal müde sind oder schlechter Stimmung, kann man kein Wort aus ihnen herausziehen, allen Bemühungen setzen sie stumpfes Sichgehenlassen entgegen, und selbst die einsilbigste Antwort halten sie der Mühe nicht wert; es ist, als hörten sie einen nicht. Ein jeder Freund hat derart unvermeidlich seine Fehler, daß man versuchen muß, – in dem Gedanken an sein Talent, an seine Güte, seine Zärtlichkeit – sich damit abzufinden oder vielmehr darüber hinwegzusehen, wenn man ihn überhaupt noch weiter liebhaben will. Und dazu bedarf man all seines guten Willens. Nur leider wird unser entgegenkommendes Beharren in der Blindheit gegen den Fehler unseres Freundes durch die Hartnäckigkeit noch überboten, mit der er ihm frönt, weil er selber verblendet ist oder die anderen dafür hält. Denn er sieht ihn nicht oder glaubt, man sehe ihn nicht; weil die Gefahr, einen schlechten Eindruck zu machen, vor allem daher rührt, daß es so schwer ist, zu mutmaßen, was unbemerkt passieren wird, was nicht, so sollte man mindestens aus Gründen der Klugheit niemals von sich selber reden; denn das ist ein Gegenstand, bei dem man davon überzeugt sein kann, daß die Anschauungsweise der anderen mit unserer eigenen niemals übereinkommt. Erfährt man bei der Aufdeckung des wahren Lebens der anderen Menschen, des wirklichen Universums unter dem scheinbaren, die gleiche Überraschung, als trete man in ein Haus, an dem äußerlich nichts Besonderes ist, und finde es erfüllt von Schätzen, Diebesgerät und Leichen, so geht es einem nicht anders, wenn man durch die Sprache, die in unserer Abwesenheit über uns geführt wird, erfährt, welches Bild – an Stelle dessen; das man selber sich auf Grund der Dinge, die ein jeder uns gesagt hat, macht – von uns und unserm Leben diese andern in sich tragen. So können wir denn jedesmal, wenn wir von uns selber gesprochen haben, uns überzeugt halten, unsere harmlosen, wohlabgewogenen Worte, die man scheinbar höflich, heuchlerisch zustimmend anhörte, haben Anlaß zu den bittersten oder den ausgelassensten – in jedem Falle den denkbar abschätzigsten Kommentaren gegeben. Im besten Falle laufen wir Gefahr, durch die unverhältnismäßige Kluft zwischen unserer Vorstellung von uns selber und unseren Worten verstimmend zu wirken; diese Disproportion macht gemeinhin, was Leute über sich selbst sagen, ebenso lächerlich wie den Singsang der vorgeblichen Musikfreunde, wenn ihnen das Bedürfnis kommt, eine Melodie zu summen, die sie gern haben, und sie dem unartikulierten Gebrumm durch energische Mimik und Bewunderung im Ausdruck nachhelfen, die durch das, was sie einen hören lassen, nicht gerechtfertigt sind. Und der schlechten Angewohnheit, von sich und seinen Fehlern zu sprechen; ist aufs engste verbunden – so daß die beiden eine Einheit bilden – die zweite: bei den anderen solche Fehler zu betonen, die man selber auch hat. Gerade von diesen Fehlern spricht man immer, es ist, als wäre das nur eine verstecktere Art, von sich selber zu reden, die mit der Annehmlichkeit des Sichfreisprechens die des Gestehens verbindet. Wir sind auf das, was uns kennzeichnet, immer aufmerksam und bemerken es, wie es scheint, dann auch bei andern mehr als alles übrige. Ein Kurzsichtiger sagt von einem andern: »Aber der kann ja die Augen kaum aufmachen«; ein Lungenkranker hat Zweifel über die Gesundheit der Atmungsorgane beim Allerkräftigsten; einer, der unsauber ist, spricht nur von den Bädern, die die anderen nicht nehmen, einer, der schlecht riecht, behauptet, man rieche schlecht; ein betrogener Gatte sieht überall betrogene Gatten, eine leichtsinnige Frau leichtsinnige Frauen, ein Snob Snobs. Und fernerhin erfordert und entwickelt ein jedes Laster wie ein jeder Beruf ein Spezialwissen, das man nicht ungern an den Mann bringt. Der Invertierte macht Invertierte ausfindig, der Schneider, der in Gesellschaft eingeladen ist, hat noch nicht mit einem gesprochen, da hat er schon den Stoff des Anzugs, den man trägt, taxiert, und es brennt ihm in den Fingerspitzen, ihn genauer zu befühlen; und wenn man nach einer Unterhaltung von wenigen Minuten einen Zahnarzt nach seiner wahren Meinung über einen fragte, würde er einem sagen, wieviel schlechte Zähne man hat. Nichts scheint ihm wichtiger und nichts dem anderen, der die seinen bemerkt hat, lächerlicher. Und nicht nur, wenn wir von uns sprechen, halten wir die andern für blind; wir handeln auch, als wären sie es. Jeder von uns hat seinen besonderen Gott, der seine Fehler ihm verbirgt oder sie unsichtbar zu machen verspricht, wie er ja auch die Augen und Nasenlöcher der Leute, die sich nicht waschen, für den Schmutzstreifen, den sie am Ohr haben, und den Schweißgeruch in der Achselhöhle schließt und sie überredet, sie könnten so, wie sie sind, herumspazieren, ohne daß irgendwer etwas merkt. Und Leute, welche falsche Perlen tragen oder anderen zum Geschenk machen, bilden sich ein, man wird sie für echt halten. Bloch war schlecht erzogen, neuropathisch, ein Snob und aus wenig angesehener Familie. So hatte er (wie auf dem Meeresgrunde) nicht nur die ungeheure Drucksäule der Christen auf der Oberfläche, sondern der ihm vorgelagerten jüdischen Schichten auszuhalten. Und von diesen Schichten erdrückte jede mit ihrer Verachtung die ihr nächstfolgende. An die freie Luft emporzustoßen, über eine Judenfamilie nach der andern aufzusteigen, hätte für Bloch mehrere tausend Jahre erfordert. Besser war es, einen Ausweg in anderer Richtung zu suchen.

Als Bloch von einer Krise des Snobismus zu mir sprach, die ich durchmache, und mich aufforderte, ihm einzugestehen, ich sei Snob, hätte ich ihm antworten können: »Wenn ich es wäre, würde ich mit Dir nicht verkehren.« Ich sagte ihm nur, er sei nicht sehr liebenswürdig. Da wollte er sich entschuldigen. Wie das aber bei schlecht erzogenen Leuten die Art ist, – sie sind ganz glücklich, beim Zurücknehmen ihrer Worte Gelegenheit zu finden, sie zu unterstreichen – sagte er mir jetzt jedesmal, wenn er mich traf: »Verzeih mir, ich habe dir Kummer gemacht, dich gequält; ich bin mutwillig herzlos gewesen. Und doch – der Mensch im allgemeinen und dein Freund im besonderen ist ein so seltsames Tier – du kannst dir nicht vorstellen, welche Zuneigung ich, der ich so grausam dich quäle, für dich fühle. Sie geht bei dem Gedanken an dich manchmal bis zu Tränen.« Und er ließ ein Schluchzen vernehmen.

Was mich bei Bloch mehr in Erstaunen setzte als seine schlechten Manieren, war, wie ungleich das Niveau seiner Unterhaltung war. Dieser Junge, der mit allem es so genau nahm und von jeweilig gerade angesehensten Schriftstellern sagte: »Ein trauriger Idiot ist er – ein völliger Blödkopf«, erzählte manchmal ganz ausgelassen Anekdoten, die gar nichts Komisches hatten, und zitierte als »wirklich bemerkenswerten Mann« irgend einen ganz mittelmäßigen. Dieses zwiefache Gewichtssystem im Abwägen von Geist, Wort und Belang der Leute bildete meine Verwunderung bis zu dem Tage, an dem ich den alten Herrn Bloch kennen lernte.

Ich hatte nicht geglaubt, daß wir je seine Bekanntschaft machen würden, denn Bloch hatte schlecht über mich zu Saint-Loup gesprochen, über Saint-Loup zu mir. Zumal hatte er Robert gesagt, ich sei – immer noch – entsetzlich versnobt. »Ja, ja, er ist ganz außer sich vor Freude, Herrn Lillegrandin zu kennen«, sagte er. Wenn Bloch ein Wort so herausstellte, so sollte das Ironie und literarische Bildung zugleich andeuten. Saint-Loup hatte den Namen Legrandin niemals nennen hören und war sehr erstaunt. »Aber wer ist denn das?« »Oh! jemand sehr Vornehmes«, erwiderte Bloch und lachte dazu, steckte die Hände in die Westentasche, als sei ihm kalt, und war in diesem Augenblick davon durchdrungen, den pittoresken Anblick eines unmöglichen Landedelmanns zu genießen, gegen den die bei Barbey d'Aurevilly nichts waren. Darüber, daß er Herrn Legrandin nicht zu schildern wußte, tröstete er sich, indem er ihm mehrere L gab und den Namen auskostete wie edlen Wein. Aber diese subjektiven Genüsse blieben den anderen unbekannt. Wenn er zu Saint-Loup schlecht von mir sprach, so sprach er mir auf der andern Seite nicht weniger schlecht von Saint-Loup. Wir erfuhren von diesem Klatsch im einzelnen schon am Tage danach. Nicht daß wir einander ihn wiederholt hätten, das wäre uns höchst unerlaubt erschienen. Bloch aber kam das so natürlich und beinah so unvermeidlich vor, daß er in seiner Besorgnis überzeugt war, er berichte uns beiden nur, was wir ohnehin bald zu wissen bekommen würden, und es für besser hielt, dem zuvorzukommen. So nahm er denn Saint-Loup auf die Seite und gestand ihm, er habe Schlechtes von ihm absichtlich gesagt, damit es ihm wiedererzählt werde. Dabei schwor er ihm. »bei Zeus Kronion, dem Hüter der Eide«, daß er ihn lieb habe, daß er sein Leben für ihn geben würde, und trocknete eine Träne. Am gleichen Tage richtete er es so ein, daß er mit mir allein war, und beichtete mir. Er erklärte, er habe in meinem Interesse, aus der Überzeugung heraus gehandelt, gewisse gesellschaftliche Konnexionen seien mein Unglück: ich sei »etwas Besseres wert«. Dann nahm er, rührselig wie ein Betrunkener, mich bei der Hand (aber der Ursprung seiner Trunkenheit war nur nervös) und sagte: »Glaube mir –und möge die schwarze Kere augenblicklich mich fassen und durch die Tore des Hades, des menschenverhaßten, mich senden, wenn ich nicht gestern an dich und an Combray, an meine grenzenlose Neigung zu dir, an manche Nachmittage in der Schule, deren du dich nicht einmal mehr entsinnst, gedacht habe, nicht die ganze Nacht hindurch geschluchzt habe. Ja, die ganze Nacht, das schwöre ich dir. Du aber – ach! ich weiß es, ich kenne die Seelen der Menschen – wirst mir nicht glauben.« Ich glaubte ihm wirklich nicht, und seinen Worten, von denen ich fühlte, wie er erst unterm Sprechen sie erfand, gab der Schwur »bei der Kere« kaum größeres Gewicht. Der Kultus des Griechentums war bei Bloch literarische Floskel. Nebenbei gesagt kam bei ihm dieses »Ich schwöre es dir« so wie er begann rührselig zu werden und wünschte, daß man mit ihm über etwas Erfundenes in Tränen sich auflöse. Und das geschah noch mehr, als um den Anschein zu erwecken, er sage die Wahrheit, aus dem Lustgefühl des Hysterikers an der Lüge. Was er mir sagte, glaubte ich ihm nicht, aber ich trug es ihm nicht nach, denn von meiner Mutter und Großmutter her war ich unfähig, Groll zu hegen, selbst wenn es um weit Schuldbeladenere sich handelte, unfähig, irgend jemanden zu verurteilen.

Übrigens war dieser Bloch durchaus nicht ohne weiteres ein schlechter Kerl; es gab sehr angenehme Seiten an ihm. Und seit die Rasse von Gombray, aus der so gänzlich integre Geschöpfe wie meine Großmutter und meine Mutter hervorgegangen sind, beinahe erloschen scheint, habe ich eigentlich nur noch die Wahl zwischen honetten, aber brutalen Geschöpfen, die ebenso loyal als fühllos sind und die im bloßen Stimmfall schon zu erkennen geben, daß ihnen nichts an unserer Existenz liegt, und einer anderen Sorte Menschen, die einen versteht, solange sie bei einem ist, einen lieb hat und bis zu Tränen sich erweicht, um dann einige Stunden später mit einem grausamen Witz über uns sich schadlos zu halten, doch aber wiederkehrt, immer gleich verständnisvoll, gleich charmant bleibt, gleich mühelos mit uns harmonisiert; ich glaube, diese letzte Art ziehe ich, wenn nicht moralisch, so doch im Umgang vor.

»Du kannst dir meinen Schmerz nicht vorstellen, wenn ich an dich denke«, sagte Bloch. »Im Grunde ist das eigentlich etwas Jüdisches an mir«, setzte er ironisch hinzu und kniff die Augen, als handle es sich darum, mikroskopisch eine unendlich kleine Quantität »jüdischen Blutes« zu dosieren – ein französischer Grandseigneur hätte sich so ausdrücken können (würde es aber nicht getan haben), wenn in der Reihe seiner christlichen Vorfahren er doch einen Samuel Bernard oder, noch weiter heraufsteigend, die heilige Jungfrau gehabt hätte, von der, wie man sagt, die Levy abstammen. »Ich stelle ganz gern«, setzte er hinzu, »in meinen Gefühlen so den, übrigens geringen, Bruchteil fest, der mit meiner jüdischen Herkunft zusammenhängen kann.« So sprach er, weil es ihm geistreich und tapfer vorkam, über seine Rasse die Wahrheit zu sagen, die er denn doch bei der Gelegenheit hinreichend abschwächte; wie ein Geizhals, der sich entschließt, seine Schulden zu begleichen, doch nur den Mut aufbringt, die Hälfte zu zahlen. Der Betrug, die Wahrheit kühn einzugestehen, aber ein gut Teil Lüge ihr beizumengen, das sie verfälscht, ist verbreiteter als man glaubt; und selbst Leute, die ihn gemeinhin nicht kennen, greifen in gewissen kritischen Lebenslagen, besonders solchen, in denen Liebessachen eine Rolle spielen, auf ihn zurück.

All dies geheime Schmähen von Bloch, Saint-Loup gegenüber auf meine Kosten, mir gegenüber auf Saint-Loups Kosten, endete mit einer Einladung zum Diner. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht zuerst versuchte, Saint-Loup allein zu bekommen. Der Wahrscheinlichkeit nach ist dieser Versuch zu vermuten, Erfolg wurde ihm nicht zuteil, denn zu uns beiden, mir und Saint-Loup, sagte Bloch eines Tages: »Teurer Meister und du, Ritter, vom Ares geliebter, Saint-Loup-en-Bray, Rossebezähmer, da ich an Amphitritens Gestade, der schaumerdröhnenden, beide Euch antraf, nahe den Zelten der Menier mit den hurtigen Schiffen – wollet Ihr nicht an einem Tage der Woche speisen bei meinem weithin berühmten Vater mit dem untadligen Herzen?« Er lud uns ein, weil er in nähere Beziehungen zu Saint-Loup treten wollte; er hoffte, durch ihn in aristokratische Kreise eingeführt zu werden. Von mir und in meinem Interesse verlautbart, wäre eine derartige Absicht Bloch als Ausdruck des abscheuerregendsten Snobismus erschienen und damit freilich ganz der Meinung entsprechend, die er von einer Seite meines Wesens hatte, die allerdings bisher ihm nicht als wichtigste erschienen war. Die gleiche Absicht aber schien ihm, wenn sie von ihm selbst kam, Beweis eines löblichen Dranges nach weiterer Bildung und Vertauschung seines Milieus zu sein, wie das für seine literarische Tätigkeit vielleicht wichtig sein konnte. Tieferschüttert vernahm der ältere Herr Bloch von seinem Sohn, er werde einen Freund – dessen Titel und Namen er mit sarkastischer Genugtuung ihm ansagte – nämlich, »den Marquis Saint-Loup-en-Bray« zum Essen mitbringen. »Den Marquis Saint-Loup-en-Bray! Ach, Donnerwetter!« hatte er gerufen: dieser Fluch war bei ihm konzentriertester Ausdruck gesellschaftlicher Hochachtung und Unterwürfigkeit. Und auf seinen Sohn, der fähig war, sich derartige Beziehungen zu schaffen, warf er einen bewundernden Blick, der besagen sollte: »Er ist wirklich erstaunlich! Ist dieses Wunderkind tatsächlich mein Sohn?« – Einen Blick, der meinem Kameraden soviel Freude machte, als hätte er monatlich fünfzig Franken Zulage erhalten. Denn Bloch fühlte sich bei sich zu Hause nicht wohl; er merkte, daß sein Vater ihn als mißraten ansah, weil er Leconte de Lisle, Heredia und andere »Bohémiens« offen bewunderte. Beziehungen zu Saint-Loup-en-Bray aber, dessen Vater Präsident des Suez-Kanals gewesen war (ah! Donnerwetter!), das war ein »unanfechtbarer« Erfolg. Nun erst bedauerte man, das Stereoskop aus Furcht vor Beschädigung in Paris gelassen zu haben. Nur der alte Herr Bloch besaß die Kunst oder zum mindesten das Recht, es zu benutzen. Das tat er übrigens nur selten und nach reiflicher Überlegung an Galatagen, wenn männliche Domestiken zur Aushilfe herangezogen wurden. So kam es, daß an diese Versammlungen ums Stereoskop für alle, die an ihnen teilnahmen, etwas Besonderes, eine Auszeichnung Begünstigter sich zu heften schien, für den Herrn des Hauses jedoch ein Ansehen, wie ausgesprochenes Talent es gibt. Es hätte nicht größer sein können, wenn die Aufnahmen von Herrn Bloch selber gemacht worden wären und er den Apparat erfunden hätte »Du warst gestern nicht bei Salomon eingeladen?« sagte man in der Familie. »Nein, ich war nicht unter den Erwählten! Was gab es denn?« »Ach! großes Tralala, das Stereoskop und Hochbetrieb.« »Wenn es das Stereoskop gab, tut es mir doch leid. Salomon soll ja fabelhaft sein, wenn er es zeigt.« »Was willst du,« sagte Herr Bloch zu seinem Sohn, »man muß ihm nicht alles auf einmal vorsetzen. So behält er noch etwas, was er sich wünschen kann.« Er hatte in seinem väterlichen Herzen den Gedanken erwogen, den Apparat kommen zu lassen, um seinem Sohn eine Freude zu machen. Aber die »materielle Möglichkeit« fehlte: es war nicht Zeit, oder vielmehr man glaubte, es sei keine. Aber wir mußten das Diner aufschieben, weil Saint-Loup nicht vom Fleck durfte. Er erwartete einen Onkel, der Frau von Villeparisis auf achtundvierzig Stunden besuchen sollte. Da dieser Onkel sehr auf körperliche Exerzitien hielt, vor allem lange Märsche liebte, so hieß es, machte er den Weg von dem Schlosse, wo er auf Sommeraufenthalt war, zum großen Teil zu Fuß und schlief nachts auf den Bauernhöfen. Wann er in Balbec ankommen würde, war also ziemlich unbestimmt. Und Saint-Loup wagte sich nicht fort; ja ich erhielt sogar den Auftrag, die tägliche Depesche, die mein Freund an seine Geliebte sandte, nach Incarville zu bringen, wo das Telegraphenbüro war. Der Onkel, den man erwartete, hieß mit einem Vornamen, den er von den Fürsten von Sizilien, seinen Vorfahren, ererbt hatte, Palamedes. Und wenn ich später bei meinen historischen Studien diesen gleichen Vornamen, eine schöne Renaissance-Medaille – manche behaupten auch eine echte Antike – wiederfand, hatte ich an ihr, die stets in der Familie geblieben und von Sproß auf Sproß aus dem vatikanischen Kabinett bis auf den Onkel meines Freundes gekommen war, eine Freude, wie die sie kennen, die kein Geld haben, um eine Medaillensammlung, eine Pinakothek sich anzulegen und nun die alten Namen liebgewinnen und ihnen nachspüren (Ortsnamen, welche malerisch und dokumentarisch zugleich wie alte Stadtpläne sind, wie Helmgitter, ein Schild oder eine Sammlung von Weistümern – Taufnamen, wo in den schönen französischen Endsilben die sprachliche Inkorrektheit, die vulgär-provinzielle Betonung, der Aussprachefehler erklingt und vernehmbar wird, denen zufolge unsere Vorfahren lateinischen und angelsächsischen Worten launenhafte Verstümmelungen beibrachten, die später die erhabenen Gesetzgeberinnen der Grammatik geworden sind); dank solcher Sammlung von sonoren, altertümlichen Lauten geben sie sich selber Konzerte wie Leute, die eine viola di gamba oder eine viola d'amour kaufen, um alte Musik auf alten Instrumenten zu spielen. Saint-Loup sagte mir, selbst in der exklusivsten aristokratischen Gesellschaft steche sein Onkel Palamedes noch durch Unzugänglichkeit, Hochmut und frenetischen Adelsstolz hervor; mit der Frau seines Bruders und einigen anderen auserlesenen Personen bilde er den sogenannten Cercle der Phönixe. Und selbst in dem sei er für seine Unverschämtheiten so sehr gefürchtet, daß es in früheren Jahren Leuten aus der Gesellschaft, die ihn kennen lernen wollten und sich zu diesem Zweck an seinen eigenen Bruder gewandt hatten, passiert sei, einen Refus zu bekommen. »Nein, bitten Sie mich nicht, Sie meinem Bruder Palamedes vorzustellen. Wenn meine Frau, wenn wir alle uns auf den Kopf stellen würden, wir würden es nicht fertig bringen. Oder Sie müßten Gefahr laufen, daß er nicht freundlich gegen Sie ist, und das möchte ich nicht.« Im Jockeyklub hatte er in Gemeinschaft mit einigen Freunden zweihundert Mitglieder bezeichnet, deren Vorstellung sie niemals zuzulassen übereinkamen. Und bei dem Grafen von Paris war er unter dem Spitznamen »der Prinz« bekannt seiner Eleganz und seines Stolzes wegen.

Saint-Loup sprach mir von der schon weit zurückliegenden Jugend seines Onkels. Er brachte alle Tage Frauen in eine Junggesellenwohnung mit, die er zusammen mit zwei Freunden bewohnte. Die waren so schön wie er selbst, und daher nannte man sie »die drei Grazien«.

»Eines Tages bat einer der Männer, die heute, wie Balzac gesagt haben würde, zu denen gehören, die eine erste Rolle im Faubourg Saint-Germain spielen, damals aber, in seiner ziemlich unrühmlichen ersten Epoche bizarre Neigungen bekundete, meinen Onkel um die Erlaubnis, in diese Junggesellenwohnung zu kommen. Aber kaum war er dort angekommen, so machte er nicht den Frauen, sondern meinem Onkel Palamedes eine Erklärung. Mein Onkel tat, als verstände er ihn nicht, und führte unter einem Vorwand seine beiden Freunde heraus; dann kamen sie zurück, nahmen den Schuldigen, zogen ihn aus, schlugen ihn bis aufs Blut und warfen ihn bei einer Temperatur von zehn Grad unter Null unter Fußtritten hinaus, wo er dann halbtot aufgefunden wurde, so daß es zu einer polizeilichen Untersuchung kam und der Unglückliche alle erdenkliche Mühe hatte, sie einstellen zu lassen. Heute würde mein Onkel zu einer so grausamen Exekution nicht mehr schreiten, und du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Leute aus dem Volke er, der so hochfahrend mit den Vornehmen ist, in sein Herz schließt und protegiert, wobei dann noch häufig genug Undank ihn lohnt. Ob das nun ein Hotelangestellter ist, der ihn irgendwo bedient hat und dem er in Paris eine Stelle verschafft, oder ein Bauer, den er ein Handwerk erlernen läßt. Und das ist sogar die liebenswürdigste Seite an ihm, die zu der gesellschaftlichen Seite im Gegensatz steht. Es soll tatsächlich unvorstellbar gewesen sein, in welchem Grade er tonangebend war und wie er in seiner Jugend der ganzen Gesellschaft Gesetze gab. Er tat in jeder Lage, was ihm am angenehmsten und bequemsten war, aber umgehend wurde ihm von den Snobs nachgeahmt. Wenn er im Theater Durst hatte und sich etwas zu trinken hinten in die Loge hatte kommen lassen, so füllten die kleinen Salons, welche es hinter einer jeden gab, in der folgenden Woche sich mit Erfrischungen. Im Laufe eines regnerischen Sommers litt er ein wenig an Rheumatismus und hatte sich einen Überzieher aus weicher, warmer Vigognewolle bestellt, aus der man sonst nur Reisedecken macht: die blauen und orangefarbenen Streifen hatte er bestehen lassen. Alsbald wurden den großen Schneidern von ihren Kunden blaue Überzieher mit langen Fäden und Fransen in Auftrag gegeben. Wenn er aus irgendeinem Grunde einem Diner auf einem Schlosse, wo er einen Tag zubrachte, alles Feierliche nehmen wollte und, um dieser Nuance willen, keine Anzüge mitgebracht, sondern im Nachmittagsjackett sich zu Tische gesetzt hatte, so wurde Mode, auf dem Lande im Jackettanzug zu dinieren. Und wenn er beim Kuchenessen statt seines Löffels eine Gabel oder ein Besteck eigener Erfindung, das er bei einem Goldschmied hatte machen lassen, oder seine Finger zu Hilfe nahm, so war es anders nicht mehr erlaubt. Er hatte Lust gehabt, bestimmte Beethovensche Quartette wieder einmal zu hören. (Denn bei all seinen ausgefallenen Ideen ist er weit entfernt, dumm zu sein, und sehr begabt.) Aus diesem Grunde hatte er Künstler kommen lassen, die sie jede Woche für ihn und einige Freunde spielen mußten. Im gleichen Jahre wurde höchster Schick, kleine Gesellschaften zu geben, auf denen man Kammermusik zu hören bekam. Ich glaube übrigens, er muß sich nicht gelangweilt haben. Schön wie er war, muß er eine nette Menge Frauen gehabt haben! Ich könnte Ihnen übrigens nicht genau sagen, welche es waren, denn er ist sehr diskret. Aber ich weiß, daß er meine arme Tante viel betrogen hat. Was ihn weder gehindert hat, entzückend mit ihr zu sein, noch sie, ihn anzubeten. Jahrelang hat er sie beweint. Und wenn er in Paris ist, geht er noch jetzt fast täglich auf den Kirchhof.«

Am Tage, nachdem Robert in der vergeblichen Erwartung seines Onkels mir so von ihm gesprochen hatte, ging ich auf dem Rückweg ins Hotel allein vor dem Kasino vorbei. Da hatte ich das Gefühl, es sehe mich jemand an, der nicht weit von mir sei. Ich wandte den Kopf und sah einen Mann in den Vierzigern, der sehr groß war und ziemlich beleibt; er hatte einen sehr schwarzen Schnurrbart und schlug nervös mit einer Reitgerte seine Hosen, wobei er mich mit Augen fixierte, die eine angestrengte Aufmerksamkeit weit öffnete. Aus diesen Augen ergingen in allen Richtungen auffallend zielsichere Blicke, wie sie vor einer Person, die man nicht kennt, nur bei Leuten vorkommen, welche aus irgendeinem Grunde Gedanken mit ihr verbinden, die keinem andern kommen würden – so bei Irren oder Spionen. Dann sah er mich ein letztes Mal mit einem Blick an, der gewagt und wohlüberlegt, schnell und tiefgründig zugleich war (wie jemand, der im Augenblick, da er die Flucht ergreifen will, noch schießt), blickte sich sodann in der Runde um, nahm wie mit einem Schlage ein zerstreutes, hochmütiges Wesen an und wandte mit einer jähen Schwenkung sich einem Plakat zu, in dessen Lektüre er sich vertiefte; dabei summte er vor sich hin und zog die Moosrose zurecht, die er im Knopfloch trug. Aus der Tasche holte er ein Notizbuch, in das er den Titel des angekündigten Theaterstücks einzutragen schien, zog zwei-, dreimal die Uhr, setzte sich einen schwarzen Strohhut tiefer ins Gesicht und verlängerte mit der visierenden Hand seine Krempe, als wollte er sehen, ob nicht jemand käme, machte die mißvergnügte Bewegung, mit der man meint, jemanden glauben zu machen, man warte (wartet man aber wirklich, so macht man sie nie), dann warf er seinen Hut nach hinten, ließ dabei kurzgeschnittenes Haar zum Vorschein kommen, das an den Seiten aber ziemlich lange, gewellte Taubenflügel bildete, und stieß geräuschvoll den Atem von sich wie Leute, denen zwar nicht zu heiß ist, die aber zeigen wollen, ihnen sei zu heiß. Mir kam der Gedanke, das sei ein Hoteldieb, der uns, die Großmutter und mich, vielleicht schon an den Vortagen beobachtet hatte und einen Plan im Schilde führe, nun aber bemerkt hatte, daß ich ihn überrascht habe, während er mir auflauerte; vielleicht wollte er durch das neue Verhalten, das er nun beobachtete, Zerstreuung und Indifferenz nur zur Schau stellen, um mich zu täuschen, aber das geschah so übertrieben, ja aggressiv, als wolle er nicht sowohl einen Verdacht, der sich bei mir gebildet, zerstreuen, denn eine Demütigung rächen, die ich unwissentlich ihm zugefügt habe; als wolle er mir nicht so sehr die Vorstellung geben, er habe mich nicht gesehen, als die, ich sei allzu geringfügig, um als Gegenstand seiner Aufmerksamkeit in Betracht zu kommen. Herausfordernd reckte er sich kerzengerade auf, preßte die Lippen aufeinander, strich den Schnurrbart hoch, und legte etwas Teilnahmloses, Unerbittliches, beinahe Beleidigendes in seinen Blick. Dergestalt ließ sein befremdliches Verhalten mich ihn bald für einen Dieb, bald wieder für einen Irren ansehn. Demungeachtet war seine höchst soignierte äußere Erscheinung weit gesetzter und einfacher als die aller übrigen Badegäste, die ich in Balbec sah; und das war mir tröstlich, der ich so oft in meinem Jackettanzug durch das banale, blendende Weiß der Strandkostüme beschämt worden war. Aber nun kam meine Großmutter mir entgegen, wir begannen unsern gemeinsamen Spaziergang, und als ich eine Stunde später vor dem Hotel wartete, in das sie auf einen Augenblick gegangen war, sah ich Frau von Villeparisis mit Robert de Saint-Loup und dem Unbekannten herauskommen, der mich, vor dem Kasino so ausdauernd fixiert hatte. Wie in dem Augenblicke, da ich ihn bemerkt hatte, so durchfuhr mich auch jetzt sein Blick wie der Blitz und kehrte dann stumpf, als habe er mich nicht dicht vor sich, nur ein wenig unterhalb, stehen sehn, zurück wie der neutrale Blick, der draußen nichts gesehen haben will und nicht imstande ist, Innerliches auszudrücken, der Blick, der nichts als Befriedigung darüber ausdrückt, um sich herum die Lider zu fühlen, unter denen er scheinheilig rund heraustritt: der devote, zerflossene mancher Heuchler, der geckenhafte Blick mancher Dummköpfe. Ich sah, daß er einen anderen Anzug trug. Der neue war noch dunkler; und gewiß: die wahre Eleganz stellt der Einfachheit weniger fern als die falsche; aber hier gab es ein anderes: aus einiger Nähe gewahrte man, daß Farbe all diesen Kleidungsstücken fast völlig fehlte, und dies nicht, weil, der, der sie aus ihnen verbannt hatte, gleichgültig dagegen gewesen wäre, sondern eher, weil er aus irgendeinem Grunde sie sich versagte. Das Maßvolle, das in ihnen zum Vorschein kam, schien eher von der Art, wie die strenge Beobachtung eines Regimes, nicht mangelnde Farbenfreudigkeit es gibt. Ein dunkelgrüner Faden im Stoff der Hose stimmte aufs feinste zu den gestreiften Socken und verriet, wie sensibel der Geschmack war, welcher sonst überall gebändigt, an dieser einen Stelle aber geduldet worden war, während ein roter Flecken auf der Krawatte unmerklich wie eine Freiheit, die man sich nicht zu nehmen wagt, wirkte.

»Wie geht es Ihnen? Ich stelle Ihnen meinen Neffen, den Baron von Guermantes vor«, sagte Frau von Villeparisis zu mir, während der Unbekannte, ohne mich anzublicken, ein undeutliches »Sehr erfreut« murmelte, dem er sofort ein »Höhöhö« folgen ließ, um seiner Liebenswürdigkeit etwas Gezwungenes zu geben; er schlug den kleinen Finger, Daumen und Zeigefinger zurück, reichte mir Mittel- und Ringfinger (aber sie hatten keine Ringe), und die drückte ich in seinem schwedischen Handschuh; dann wandte er, ohne die Augen nach mir gehoben zu haben, sich Frau von Villeparisis zu.

»Mein Gott, verliere ich denn den Verstand?« sagte diese, »jetzt nenne ich Dich Baron von Guermantes. Ich stelle Ihnen den Baron von Charlus vor. Schließlich ist der Irrtum ja nicht so groß,« fügte sie hinzu, »du bleibst ja doch ein Guermantes.«

Inzwischen war meine Großmutter herausgekommen, wir gingen zusammen. Saint-Loups Onkel beehrte mich nicht einmal mit einem Blick, geschweige denn mit einem Wort. Während er Unbekannte ins Auge faßte (und bei diesem kurzen Spaziergang sandte er zwei- oder dreimal seinen schrecklichen, durchdringenden, sondierenden Blick gleichgültigen Leuten bescheidenster sozialer Abkunft zu, die vorüberkamen), sah er, wenn ich nach mir gehen durfte, keinen Augenblick die Leute an, die er kannte – wie ein Geheimpolizist in spezieller Mission, der seine Freunde von der Überwachung ausnimmt, die er gewerbsmäßig ausübt. Ihn, meine Großmutter und Frau von Villeparisis ließ ich zusammen sich unterhalten und blieb mit Saint-Loup etwas zurück. »Sagen Sie mir doch, habe ich recht verstanden, Frau von Villeparisis hat zu Ihrem Onkel gesagt, er sei ein Guermantes.«

»Aber gewiß, natürlich: Palamedes von Guermantes.«

»Aber von denselben Guermantes, die bei Combray ein Schloß haben und behaupten, von Genoveva von Brabant abzustammen?«

»Aber allerdings: mein Onkel, den Heraldik unbeschreiblich interessiert, würde Ihnen antworten, unser cri, unser Kriegsruf war ursprünglich Combraysis und ist erst später Passavant geworden«, sagte er und lachte dabei, damit es nicht so aussehe, er tue sich auf das Vorrecht des Kriegsrufs etwas zugute, weil nur die quasi-souveränen Häuser, die großen Heerführer es hatten. »Der gegenwärtige Besitzer des Schlosses ist sein Bruder.«

So erwies sich – und dazu sehr nah – mit den Guermantes verwandt jene Frau von Villeparisis, die für mich so lange die Dame geblieben war, die, als ich klein war, mir einmal einen Kasten mit Schokolade geschenkt hatte, den eine Ente im Schnabel hielt; damals war sie von der Gegend um Guermantes so fern, als wäre sie in der Gegend um Méséglise gefangen gehalten worden, und schien mir weniger glänzend, wurde weniger hoch von mir gestellt als der Optiker von Combray, – nun war sie Gegenstand einer phantastischen Hausse, wie solche bisweilen den nicht minder unvorhergesehenen Kursverlusten anderer Dinge, welche wir besitzen, parallel gehn – und beide, die einen wie die anderen, lassen in unserer Jugend und in den Teilen unseres Lebens, in denen noch ein wenig von der Jugend überdauert, zu so zahlreichen Verwandlungen es kommen, wie die Metamorphosen des Ovid sie kennen.

»Stehen in diesem Schloß nicht alle Büsten der alten Edlen von Guermantes?«

»Ja, ein herrlicher Anblick«, sagte Saint-Loup ironisch. »Ich finde, unter uns gesagt, all solche Dinge ein wenig albern. Aber auf Guermantes ist auch – und das ist schon ein wenig interessanter – ein recht einnehmendes Bild meiner Tante von Carrière. Das ist schön wie ein Whistler oder ein Velasquez«, fügte Saint-Loup hinzu: als eifriger Neophyt hielt er nicht immer allzu genau sich an die Hierarchie der Größen. »Es sind auch sehr faszinierende Bilder von Gustave Moreau da. Meine Tante ist die Nichte von Ihrer Freundin Frau von Villeparisis, sie ist von ihr erzogen worden und hat ihren Cousin, der auch ein Neffe meiner Tante Villeparisis war, den gegenwärtigen Herzog von Guermantes, geheiratet.«

»Und wer ist also Ihr Onkel?«

»Er trägt den Titel eines Barons von Charlus. Der Regel nach hätte beim Tode meines Großonkels mein Onkel Palamedes den Titel eines Fürsten des Laumes annehmen müssen; das war der seines Bruders, bevor er Herzog von Guermantes wurde – denn in dieser Familie wechseln sie die Namen wie Hemden. Aber mein Onkel hat über all diese Sachen seine besonderen Gedanken. Und da er findet, daß mit den italienischen Herzogtümern und der spanischen Grandenwürde etc. ein wenig Mißbrauch getrieben wird, so hat er als Protest und in scheinbarer Schlichtheit, hinter der sehr viel Hochmut steckt, den Titel eines Barons von Charlus behalten, wiewohl ihm zwischen vier oder fünf Fürstentiteln die Wahl freigestanden hätte. ›Heute ist jeder Fürst,‹ sagt er, ›irgendetwas Unterscheidendes muß man doch haben; einen Fürstentitel werde ich annehmen, wenn ich inkognito reisen will.‹ Wenn man ihm glauben will, so gibt es keinen älteren Titel als den des Barons von Charlus; um Ihnen zu beweisen, daß er älter als der der Montmorency ist, die sich fälschlich die ersten Barone von Frankreich nennen, während sie nur in der Ile-de-France es waren, wo sich ihr Lehen befand, kann mein Onkel Ihnen stundenlang Auseinandersetzungen halten; und das macht ihm noch Spaß, denn trotzdem er sehr schlau und sehr begabt ist, findet er, das sei ein äußerst dankbarer, lebendiger Gesprächsstoff. Aber da ich nicht wie er bin, so werden Sie mich nicht nötigen, über Genealogie mit Ihnen zu reden. Ich kenne nichts Tödlicheres, nichts Altmodischeres – dazu ist das Leben wirklich zu kurz.«

Ich erkannte jetzt in dem unerbittlichen Blick, der vor kurzem beim Kasino mich zum Umsehn veranlaßt hatte, den wieder, den ich in Tansonville im Augenblick, da Frau Swann nach Gilberte rief, auf mir hatte ruhen fühlen.

»Ist nicht unter den zahlreichen Mätressen, die Herr von Charlus, Ihr Onkel, wie Sie sagen, gehabt hat, vielleicht Frau Swann gewesen?«

»O nein! keineswegs! Er ist allerdings mit Swann befreundet und hat immer sehr zu ihm gehalten. Aber man hat nie sagen hören, daß er der Geliebte seiner Frau gewesen sei. Sie würden großes Aufsehen in der Gesellschaft erregen, wenn es den Anschein hätte, daß Sie das glauben.«

Ich wagte nicht, ihm zu antworten, daß ich weit größeres in Combray erregt hätte, wenn es den Anschein gehabt hätte, daß ich es nicht glaube.

Meine Großmutter war von Herrn von Charlus entzückt. Daß er der Herkunft und gesellschaftlichen Stellung übertriebene Wichtigkeit beimaß, war freilich nicht zu leugnen; meine Großmutter hatte es auch bemerkt, doch spielte bei ihr keine Strenge hinein, der für gewöhnlich geheimer Neid und Unwille sich beimischt, andere etwas genießen zu sehen, das man gern selber hätte und sich nicht beschaffen kann. Meine Großmutter war mit ihrem Schicksal zufrieden; Bedauern, nicht in einer vornehmeren Gesellschaft zu leben, war ihr fremd, und so kam für die Einsicht in die Schrullen von Herrn von Charlus bei ihr nichts als der bloße Verstand in Frage. Sie sprach denn auch vom Onkel von Saint-Loup so ganz ohne Passion, freundlich, mit beinah lächelnder Sympathie, wie sie den Gegenstand unserer interesselosen Beobachtung für das Vergnügen belohnt, das wir ihm danken. Und das um so mehr als es für diesmal eine Person war, die mit ihren, wenn schon nicht legitimen, so doch pittoresken Prätensionen nicht wenig gegen die abstach, mit denen sie es gewöhnlich zu tun hatte. Vor allem aber um seiner Intelligenz willen und der Subtilität in Gefühlssachen, die man bei Herrn von Charlus im Gegensatz zu vielen andern Weltleuten, über welche Saint-Loup sich lustig machte, hoch entwickelt glaubte, verzieh ihm meine Großmutter unschwer seine aristokratischen Vorurteile. Die waren bei dem Onkel, anders als beim Neffen, nicht höher zu wertenden Eigenschaften zum Opfer gebracht worden. Eher konnte man sagen, Herr von Charlus habe sie mit ihnen zu vereinigen gewußt. Er, der als Abkömmling der Herzöge von Nemours und der Fürsten von Lamballe Archive, Möbel, Porträts besaß, wie sie von Rafael, Velasquez, Boucher für seine Ahnen waren angefertigt worden, der mit Recht erklären konnte, er besichtige ein Museum und eine unvergleichliche Bibliothek, wenn er nur seine Familienerinnerungen mustere, gab seiner gesamten aristokratischen Erbmasse die Stelle, von der sein Neffe sie hatte herabstürzen lassen. Zudem war er weniger Ideologe als Saint-Loup, machte sich weniger mit Worten bezahlt, beobachtete Menschen schärfer und wollte darum vielleicht nichts vernachlässigen, was dem Prestige in ihren Augen von Nutzen war; daß er in seiner Phantasie einen interesselosen Genuß daran hatte, hinderte nicht, daß es gelegentlich im Handeln ihn sehr glücklich unterstützen konnte. Im Kampf von Männern dieses Schlages mit denen, die, der inneren Stimme folgend, auf deren Geheiß alle Vorrechte von sich tun, um ihre Gebote einzig und allein zu verwirklichen, bleibt der Ausgang offen. Die letzten gleichen hierin Malern oder Schriftstellern, die auf ihr virtuoses Können verzichten, künstlerisch begabten Nationen, die sich modernisieren, Kriegervölkern, die mit der Abrüstung der Allgemeinheit wegweisend vorangehen, absolutistischen Regierungen, die demokratisch werden und ihre harten Gesetze abschaffen. Ihnen allen lohnt oft die Wirklichkeit nicht die edle Bemühung; denn die einen verlieren dabei ihr Talent, die andern büßen ihre jahrhundertelange Vorherrschaft ein; der Pazifismus vervielfacht bisweilen die Kriege und Nachsicht oft die Kriminalität. Wenn Saint-Loup in seinem aufrichtigen Bemühen um Emanzipation, nach dem äußeren Erfolg zu schließen, nicht anders als höchst vornehm erscheinen konnte, so konnte man andererseits sich glücklich schätzen, daß es bei Herrn von Charlus nichts dergleichen gab; der hatte einen großen Teil der wundervollen Holzverkleidungen aus dem ehemaligen Hause der Guermantes zu sich überführen lassen, anstatt wie sein Neffe gegen Mobiliar in modernem Geschmack, Stücke von Lebourg und Guillaumin, es in Tausch zugeben. Dem ungeachtet blieb das Ideal des Herrn von Charlus ein sehr künstliches und – wenn man dies Epitheton dem Worte »Ideal« beigeben darf – nicht weniger mondän als künstlerisch. An einigen hervorragend schönen und selten kultivierten Frauen, deren Vorfahren vor zweihundert Jahren an aller Glorie und Eleganz des ancien régime teilgehabt hatten, bewunderte er eine Noblesse, die ihm erlaubte, an ihrer ausschließlichen Gesellschaft ein Genüge zu finden; und sicherlich war die Verehrung, die er ihnen zollte, aufrichtig, aber viele Erinnerungen historischer und künstlerischer Art, wie ihre Namen sie wachriefen, gingen in diese Verehrung ein; wie ja Erinnerungen an die Antike bei dem Genuß mitspielen können, den ein Gelehrter an einer horazischen Ode findet, welche vielleicht weniger als heutige Gedichte wert ist, die ihn gleichgültig lassen würden. Neben einer hübschen Frau bürgerlicher Abkunft war jede dieser Adligen, was neben einem zeitgenössischen Gemälde, das eine Straße oder ein Fest darstellt, jene alten Bilder bedeuten, deren Geschichte seit dem Papst oder König, der sie in Auftrag gab, feststeht und über Persönlichkeiten führt, die durch Schenkung, Kauf, Eroberung oder Erbschaft ihre Besitzer wurden und durch den bloßen Namen irgend ein Ereignis, zumindest eine Eheschließung von historischer Bedeutung in uns erinnert, so daß die Kenntnisse, die wir besitzen, den Nutzen solcher Stücke in neuem Lichte erscheinen lassen und uns zu einem volleren Gefühl vom Reichtum unseres Gedächtnisses oder unserer Bildung verhelfen. Herr von Charlus aber schätzte sich glücklich, daß ein Vorurteil, das dem seinem entsprach, diesen wenigen großen Damen verbot, mit Frauen von weniger reinem Blut umzugehn, und daher seinem Kult unberührt im ungetrübten Glanze ihres Adels sie überlieferte, einer Fassade aus dem XVIII. Jahrhundert gleich, die flache Säulen von rosigem Marmor stützen und an der neuere Zeiten nichts geändert haben.

Herr von Charlus feierte den wahren »Adel« – den Geistes- und Herzensadel – dieser Frauen. Er selber war das Opfer dieses zweideutigen Wortspiels: hier lag das Unwahre dieser hybriden Vorstellung, dieses schillernden Ineinanders von Aristokratie und Edelsinn und Kunst, hier aber auch das Verführerische, wie es Menschen in der Art meiner Großmutter gefährlich werden konnte. Das handfestere, doch harmlosere Vorurteil eines Adels, der nur auf Wappen sieht und alles übrige beiseite läßt, wäre ihr zu lächerlich vorgekommen, aber sowie man irgend etwas als geistigen Vorrang ihr darstellte, war sie wehrlos, und das ging so weit, daß sie Prinzen vor allen andern beneidenswert fand, weil sie zu Lehrern einen Labruyère und Fénelon hatten.

Vor dem Grand-Hôtel trennten sich die drei Guermantes von uns. Sie begaben sich zur Prinzessin von Luxembourg zum Déjeuner. Während meine Großmutter gerade Frau von Villeparisis und Saint Loup meiner Großmutter Adieu sagte, ging Herr von Charlus, der bisher niemals das Wort an mich gerichtet hatte, ein paar Schritte zurück und sagte, als er neben mir stand: »Ich werde heute abend nach dem Diner den Tee im Appartement meiner Tante Villeparisis nehmen. Ich hoffe, Sie machen mir das Vergnügen, mit Ihrer Frau Großmutter zu kommen.« Und damit trat er wieder zur Marquise.

Trotzdem gerade Sonntag war, standen nicht mehr Kutschen vor dem Hotel als zu Beginn der Saison. Insbesondere fand die Frau des Notars, es hieße doch recht sich in Unkosten stürzen, jedesmal einen Wagen zu mieten, nur um nicht zu den Cambremer zu gehen, und sie begnügte sich, auf ihrem Zimmer zu bleiben.

»Ist Frau Blandais leidend,« fragte man den Notar, »man hat sie heut nicht gesehen?« »Sie hat ein wenig Kopfschmerzen: die Hitze, das Gewitter. Bei ihr genügt ja ein Nichts; aber ich glaube, heute abend werden Sie sie sehen. Ich habe ihr geraten, herunterzukommen. Das kann ihr nur guttun.«

Ich hatte angenommen, mit der Einladung zu seiner Tante, von der ich natürlich meinte, sie sei im Bilde, habe Herr von Charlus die Unhöflichkeit gutmachen wollen, die er des Morgens auf dem Spaziergange mir gegenüber an den Tag gelegt hatte. Als ich aber in den Salon von Frau von Villeparisis getreten war und ihren Neffen begrüßen wollte, mochte ich ihn umkreisen, soviel ich wollte: mit schriller Stimme erzählte er etwas, was für einen seiner Verwandten recht wenig verbindlich klang, und es gelang mir nicht, seinen Blick aufzufangen; so entschloß ich mich, ihm – und dies ziemlich laut – guten Tag zu sagen, um ihm meine Anwesenheit bemerklich zu machen; aber ich begriff, sie sei ihm bekannt, denn ehe meine Lippen noch ein Wort hervorgebracht hatten, sah ich, im Augenblick, da ich meine Verbeugung machte, die beiden gestreckten Finger, welche ich drücken sollte. Doch wandte er darum weder die Augen mir zu noch unterbrach er die Konversation. Offenbar hatte er mich gesehen, ohne es merken zu lassen. Und jetzt fiel mir auch auf, daß seine Blicke niemals auf dem ruhten, mit dem er sprach, sondern unablässig in allen Richtungen sich ergingen, wie es bei Tieren ist, die erschrecken, oder bei Straßenverkäufern, die ihre Anpreisung heruntersagen und die verbotenen Artikel vorweisen und, ohne den Kopf dabei zu wenden, mit den Augen die verschiedenen Stellen am Horizont absuchen, an denen Polizei auftauchen könnte. Nun aber war ich etwas erstaunt zu bemerken, daß Frau von Villeparisis gewiß zwar erfreut war, uns zu sehen, aber nicht erwartet zu haben schien, und noch mehr ward ich es, als ich Herrn von Charlus zu meiner Großmutter sagen hörte: »Das ist aber eine ausgezeichnete Idee, daß Sie gekommen sind; das ist reizend, nicht wahr, Tante?« Offenbar hatte er deren Überraschung bei unserem Eintritt bemerkt und meinte, als Mann, der gewohnt ist, den Ton anzugeben, um diese Überraschung in Freude zu verwandeln, sei es genug, wenn er andeute, daß er selbst so empfinde; dies sei eben das Gefühl, das unser Kommen hervorzurufen habe. Und diese Rechnung betrog ihn nicht, denn Frau von Villeparisis hielt große Stücke auf ihren Neffen und wußte, wie schwer es war, seinen Beifall zu finden; mit einem Male schien sie neue Tugenden an meiner Großmutter entdeckt zu haben und hörte nicht auf, ihr den Hof zu machen. Ich aber konnte nicht begreifen, daß Herr von Charlus in wenigen Stunden die zwar kurze, aber allem Anschein nach so zweckbewußte, wohlüberlegte Einladung vergessen habe, die er am gleichen Morgen an mich gerichtet hatte, und daß er nun eine »ausgezeichnete Idee« meiner Großmutter nannte, was durchaus seine eigene gewesen war. Mit skrupulösem Bemühen um Genauigkeit, wie es bis in das Alter mir treu blieb, da ich begriff, daß man die Wahrheit über das, was einer wollte, nicht erfährt, indem man ihn danach fragt, und die Gefahr eines Mißverständnisses, das wahrscheinlich unbemerkt bleibt, geringer ist als die naiven Insistierens, fragte ich ihn: »Aber, nicht wahr, Sie erinnern sich doch, daß Sie uns aufgefordert haben, heute abend zu kommen?« Kein Wort, keine Geste verriet, daß Herr von Charlus meine Frage gehört habe. Als ich das sah, wiederholte ich sie wie Diplomaten oder junge Leute, die eine Kontroverse haben und ebenso unbeirrbar wie fruchtlos ihren guten Willen daran wenden, einen Aufschluß zu erhalten, den der Gegner nie zu geben entschlossen ist. Herr von Charlus erwiderte mir ebensowenig. Ich glaubte auf seinen Lippen das Lächeln der Leute zu sehen, die von hoch oben über Charaktere und Erziehung urteilen.

Da er jede Erklärung verweigerte, versuchte ich eine zu finden, schwankte aber unschlüssig zwischen mehreren, von denen keine die wahre sein konnte. Vielleicht erinnerte er sich nicht, oder vielleicht lag es an mir, hatte ich falsch verstanden, was er am Morgen gesagt hatte ... Wahrscheinlicher war, daß er aus Hochmut nicht den Eindruck erwecken wollte, er habe Leute, die er verachtete, zu sich bitten wollen, und nun lieber ihnen die Verantwortung für ihr Kommen zuschob. Aber wiederum: verachtete er uns, warum hatte er dann auf unser Kommen oder vielmehr auf das Kommen meiner Großmutter Wert gelegt, denn nur an sie richtete er den Abend über das Wort, an mich nicht ein einziges Mal. Mit ihr wie mit Frau von Villeparisis unterhielt er sich auf das lebhafteste. Wie im Hintergrunde einer Loge, so lag er in gewissem Sinne hinter ihnen versteckt und begnügte sich, zeitweilig den forschenden Blick seiner durchdringenden Augen meinem Gesicht zuzuwenden. So ernst, so absorbiert war er dabei, als habe er ein schwer zu entzifferndes Manuskript vor sich.

Sah man von diesen Augen ab, so ähnelte das Gesicht von Herrn von Charlus dem sehr vieler anderer Männer, die schön sind. Und wenn Saint-Loup später einmal bei Gelegenheit eines Gesprächs über andere Guermantes mir sagte: »Teufel! Das Rassige, bis in die Fingerspitzen Chevalereske meines Onkels Palamedes haben sie doch nicht«, so erklärte er damit nicht nur, daß Rasse, vornehme Besonderheit nichts Neues und Geheimnisvolles hat, vielmehr aus Elementen gebildet war, die ich ohne sonderliche Bewegung unschwer erkannte, sondern er brachte vor, was eine meiner Illusionen vernichten mußte. Diesem Gesicht, dem eine dünne Puderschicht etwas vom Gesicht eines Schauspielers gab, mochte Herr von Charlus den undurchdringlichsten Ausdruck verleihen – seine Augen blieben doch wie ein Spalt in der Mauer, wie eine Schießscharte, die als einzige Öffnung er nicht zu verstopfen vermocht hatte, und je nach der Stelle, an der man stand, nahm man blitzartig darin das Spiegelbild einer Falle im Innern wahr; es konnte einem nicht wohl dabei werden: nicht einmal dem, der so etwas, ohne vollständig Herr darüber zu sein, in sich beherbergte, immer nur ein labiles Gleichgewicht kannte und stets auf dem Punkte schien loszuschlagen; der umsichtige, ewig sondierende Blick dieser Augen, die Abspannung, die von den tiefliegenden Ringen darunter über das ganze Gesicht sich verbreitete (wie gut das auch arrangiert und studiert sein mochte), riefen in andern die Vorstellung eines Inkognitos, eines verkleideten Großen, der in Gefahr schwebte, wach, vielleicht auch nur die eines Mannes, dessen Geschick tragisch war und vor dem man sich hüten mußte. Was dieses Geheimnis war, das andere Männer nicht um sich hatten und das mir den Blick des Herrn von Charlus schon morgens vor dem Kasino so rätselhaft hatte erscheinen lassen, das hätte ich wohl erraten mögen. Nach dem, was ich jetzt von seiner Verwandtschaft wußte, konnte ich nicht mehr annehmen, es sei das eines Diebes, nach seiner Unterhaltung nicht, es sei das eines Irren. Wenn sein Verhalten gegen mich frostig war, während er meiner Großmutter gegenüber sich so freundlich erwies, so lag das vielleicht nicht an einer persönlichen Antipathie, denn so wohlwollend er mit Frauen war, über deren Fehler er selten ohne große Nachsicht sprach, so ausgesprochen war Männern und zumal jungen gegenüber eine Gehässigkeit, die in ihrem ungehemmten Ausbruch manchmal an die von Misogynen Frauen gegenüber gemahnte. Von zwei oder drei ›Bengelchen‹, die zur Familie oder zum näheren Umgang von Saint-Loup gehörten – und zufällig erwähnte der ihre Namen – sagte Herr von Charlus mit beinah verzerrter Miene, welche von seiner durchschnittlichen Kälte sehr abstach: ›Kleine Kanaillen!‹ Soviel ich begriff, war sein Hauptvorwurf gegen die jungen Männer von heute, sie seien zu effeminiert. ›Richtige Weiber‹, sagte er mit Verachtung. Aber welch eine Lebensführung hätte auch nicht weibisch neben der ausgesehn, die seiner Ansicht nach ein Mann vorzuweisen hatte – eine Lebensführung, die ihm nie energisch und mannhaft genug sein konnte? (Er selber, auf seinen Fußwanderungen, warf, nach stundenlangem Marsche, erhitzt, sich in eiskalte Flüsse.) Er wollte nicht einmal gestatten, daß ein Mann einen einzigen Ring trage. Aber dies männische Teil in ihm hinderte ihn nicht, in Gefühlsdingen höchste Kultur zu beweisen. Einmal bat Frau von Villeparisis ihn, meiner Großmutter ein Schloß zu beschreiben, in dem Frau von Sévigné sich aufgehalten habe; und sie setzte hinzu, ihr schiene der verzweifelte Schmerz wegen der Trennung von der langweiligen Frau von Grignan etwas Literarisches zu haben.

Da gab er zur Antwort: »Ganz im Gegenteil; nichts scheint mir wahrer. Damals verstand man übrigens solche Gefühle sehr gut. Ihnen, liebe Tante, erscheinen vielleicht der Mann aus Monomopata bei Lafontaine, wenn er zu seinem Freund eilt, weil der ihm während des Schlafes betrübt erschienen ist, und die Taube, die für das größte Unglück die Abwesenheit der anderen Taube erklärt, für ebenso übertrieben wie Frau von Sévigné, wenn sie den Augenblick nicht erwarten kann, mit ihrer Tochter allein zu sein. So schön sagt sie beim Abschied: Diese Trennung schmerzt mich so in der Seele, daß ich wie körperliches Kranksein es fühle. In der Abwesenheit ist man freigebig mit den Stunden. Man eilt einer Zeit entgegen, nach der man sich sehnt.« Meine Großmutter war selig, von diesen Briefen genau in der Art sprechen zu hören, in der sie selbst es getan hätte. Sie wunderte sich, daß ein Mann sie so gut verstehen könne. Sie entdeckte an Herrn von Charlus ganz weiblichen Feinsinn, weibliche Zartheit im Fühlen. Wir beide meinten später, als wir allein waren und von ihm sprachen, er müsse tief durch eine Frau, durch seine Mutter oder später seine Tochter (im Falle er Kinder habe) beeinflußt worden sein. Ich aber sagte mir: »Eine Geliebte« und dachte dabei an den Einfluß, den die von Saint-Loup mir auf ihn schien gehabt zu haben. Sie gab mir die Möglichkeit zu erkennen, wieviel Kultur Frauen den Männern, mit denen sie leben, mitteilen können.

»Wenn sie dann einmal bei ihrer Tochter angelangt ist, weiß sie wahrscheinlich nicht, was sie ihr sagen soll«, antwortete Frau von Villeparisis.

»Unbedingt weiß sie das; und wären das auch nur die Dinge, die sie ›ganz unscheinbare‹ nennt, ›wie einzig und allein wir beiden sie bemerken‹. Auf alle Fälle war sie ihr nah. Und Labruyère sagt, daß das alles ist ›Wenn man den Menschen, die man liebt, nur nah ist – man mag zu ihnen sprechen oder nicht sprechen–alles ist gleich.‹ Er hat recht; es ist das einzige Glück«, sagte Herr von Charlus melancholisch, »und so schlecht ist das Leben eingerichtet, daß man sehr selten es hat; alles in allem ist Frau von Sévigné noch weniger zu beklagen als mancher andere. Sie hat einen großen Teil ihres Lebens bei der gelebt, die sie liebte.«

»Du vergißt, daß nicht von Liebe die Rede ist, es handelt sich um ihre Tochter.«

»Aber das Wichtige im Leben ist nicht, wen man liebt,« erwiderte er mit Autorität, peremptorisch und beinah verletzend, »sondern daß man es tut. Was Frau von Sévigné für ihre Tochter fühlte, kann mit sehr viel mehr Recht beanspruchen, der Leidenschaft zu gleichen, die Racine in Andromaque oder Phèdre malt, als die banalen Beziehungen des jungen Sévigné zu seiner Geliebten. Und mit der Liebe manches Mystikers zu seinem Gott steht es nicht anders. Die allzu engen Grenzlinien, in die wir die Liebe einschränken, kommen nur von unserer großen Unwissenheit in den Dingen des Lebens her.« »Hast du Andromaque und Phèdre sehr gern?« fragte Saint-Loup mit einem leisen Unterton der Verachtung seinen Onkel. »In einer einzigen Tragödie von Racine steckt mehr Wahrheit als in allen Dramen des Herrn Victor Hugo zusammengenommen«, erwiderte Herr von Charlus. »Immerhin, die Welt ist doch zum Erschrecken«, sagte Saint-Loup mir ins Ohr. »Racine vor Victor Hugo den Vorzug zu geben – das ist denn doch unbeschreiblich!« Die Worte seines Onkels machten ihn aufrichtig traurig, aber das Vergnügen, »denn doch« und zumal »unbeschreiblich« zu sagen, tröstete ihn.

In dem, was er über den Schmerz sagte, den es mit sich bringt, getrennt von dem zu leben, was man liebt, (Worte, die meine Großmutter veranlassen sollten, mir zu erklären, der Neffe von Frau von Villeparisis verstehe gewisse Werke unvergleichlich viel besser als seine Tante und habe überhaupt etwas an sich, das ihn hoch über die Mehrzahl der Klubleute stelle), kam bei Herrn von Charlus ein Feingefühl zum Vorschein, wie es wirklich bei Männern nicht häufig ist; aber nicht allein das: wenn er so Feinsinniges zum Ausdruck brachte, war es mit seiner Stimme wie mit gewissen tiefen Alt-Stimmen, bei denen die Mittellage nicht hinreichend ausgebildet ist, so daß ihr Gesang wie das Duett eines jungen Mannes und einer Frau klingt; er geriet in die hohen Tonlagen, seine Stimme wurde ganz unversehens innig und schien Chöre von Bräuten, Schwestern in sich zu herbergen, die alle ihre Zärtlichkeit ausströmten. Aber der kleine Haufe von jungen Mädchen beschränkte sich nicht auf den Vortrag und die Modulation der gefühlvollen Stücke. (Herr von Charlus mit seinem Abscheu vor allem Weibischen wäre trostlos bei dem Gedanken gewesen, daß seine Stimme sie zu enthalten schien.) Manchmal hörte man, wenn Herr von Charlus sprach, ihr schrilles unverbrauchtes Lachen, wie das von Pensionsmädchen oder Koketten, die über den Nebenmenschen in neckischen und spitzigen Bosheiten sich ergehen.

Er erzählte, eine Wohnung, die seiner Familie gehört habe – Marie Antoinette hatte darinnen geschlafen und ihr Park war von Lenôtre – gehöre jetzt den reichen Finanziers Israel, die sie gekauft hätten. »So heißen die Leute jedenfalls: Israel, – mir macht das mehr den Eindruck einer allgemeinen Bezeichnung des Stamms als eines Eigennamens. Aber man kann ja nicht wissen – solche Leute haben vielleicht keinen Namen und werden nur durch das Kollektivum bezeichnet, welchem sie angehören. Das tut nichts! Eine Wohnung der Guermantes gewesen und gehört jetzt den Israel!!!« schrie er. »Da muß ich an das Zimmer im Schloß von Blois denken, wo der Aufseher, der mich führte, erklärte: ›An der Stelle hat Maria Stuart gebetet. Ich tue jetzt immer meine Besen dahin.‹ Natürlich will ich von dieser Wohnung, die sich entehrt hat, nichts wissen – sowenig wie von meiner Kusine Clara de Chimay, die ihren Mann verlassen hat. Aber ich bewahre immer noch unversehrt die Photographie des ersteren wie die der Fürstin aus der Zeit, da ihre großen Augen für niemanden Blicke hatten als für meinen Vetter. Die Photographie erhält ein wenig Würde, die ihr sonst fehlt, wenn sie nicht mehr eine Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern Dinge uns zeigt, die es nicht mehr gibt. Ich könnte Ihnen eine geben, da derartige Gebäude Sie interessieren«, sagte er zu meiner Großmutter. In diesem Augenblick wurde er inne, daß das gestickte Taschentuch mit dem farbigen Rand aus der Tasche hervorsah, schnell schob er es zurück und dabei hatte er den fassungslosen Ausdruck einer Frau, die schamhaft, nicht aber unschuldig ist und aus übertriebener Gewissenhaftigkeit Reize verbirgt, die sie für indezent hält. »Stellen Sie sich vor,« begann er nun von neuem, »daß die Leute damit begonnen haben, den Park von Lenôtre zu zerstören, was ebenso verworfen ist, wie ein Bild von Poussin zu zerschneiden. Die Israel gehören dafür ins Gefängnis. Allerdings«, fügte er lächelnd nach einer Pause hinzu, »gibt es sicher noch soundsoviel andere Dinge, für die sie hineingehörten! Jedenfalls können Sie sich vorstellen, wie ein englischer Park vor solchen Gebäuden sich ausnimmt!«

»Aber das Haus hat denselben Stil wie das Petit-Trianon,« sagte Frau von Villeparisis, »und Marie-Antoinette hat doch einen englischen Garten da anlegen lassen.«

»Und damit denn auch die Fassade von Gabriel sehr beeinträchtigt«, antwortete Herr von Charlus. »Natürlich wäre es Barbarei, jetzt den ›Hameau‹ zu vernichten. Aber wie man darüber heute auch denken mag, so bezweifle ich doch, daß in dieser Beziehung eine Laune von Frau Israel und das Gedächtnis der Königin den gleichen Respekt verdienen.«

Inzwischen hatte meine Großmutter mir einen Wink gegeben, der hieß, ich solle hinaufgehen, mich schlafen legen; es half nichts, daß Saint-Loup mich halten wollte und zu meiner großen Beschämung vor Herrn von Charlus auf die Traurigkeit angespielt hatte, die mich am Abend vor dem Einschlafen oft überkam. Sein Onkel mußte das recht unmännlich finden. Einige Minuten säumte ich noch, dann ging ich und war sehr erstaunt, als kurz danach ich an meiner Zimmertür klopfen hörte und auf meine Frage, wer da sei, die Stimme des Herrn von Charlus vernahm, der in sprödem Tonfall sagte: »Charlus. Kann ich herein? Mein Herr,« begann er dann im gleichen Tonfall, sobald er die Türe geschlossen hatte, »mein Neffe erzählt mir soeben, Sie grämten sich ein wenig vor dem Einschlafen und andererseits, daß Sie die Bücher von Bergotte bewundern. Da ich in meinem Koffer eins habe, das Sie wahrscheinlich nicht kennen, so bringe ich es Ihnen, damit Sie besser über die Minuten hinweg kommen, in denen Sie sich nicht glücklich fühlen.« Gerührt dankte ich Herrn von Charlus und sagte ihm, wie im Gegenteil ich befürchtet hätte, was Saint-Loup von meinen Depressionen zu Einbruch der Nacht gesagt habe, möchte in seinen Augen mich noch viel läppischer haben erscheinen lassen als ich sei.

»Aber durchaus nicht«, antwortete er mit etwas sanfterer Stimme. »Persönlich haben Sie vielleicht keine Verdienste – so wenig Leute besitzen sie ja. Aber auf einige Zeit zumindest haben Sie Jugend, und die ist immer verführerisch. Im übrigen ist es die allergrößte Dummheit, Gefühle, die man nicht kennt, für lächerlich oder sträflich zu halten. Ich liebe die Nacht, und Sie sagen mir, daß Sie Furcht vor ihr haben; ich liebe den Geruch von Rosen und habe einen Freund, der Fieber davon bekommt. Glauben Sie, ich meine deswegen, daß er weniger wert ist als ich? Ich bemühe mich, alles zu verstehen, und hüte mich, irgend etwas zu verurteilen. Alles in allem aber sollten Sie nicht zuviel klagen. Ich will nicht sagen, daß diese Anfälle von Traurigkeit nicht quälend sind; ich weiß, wie einer unter Dingen leiden kann, die von den andern nicht verstanden werden. Aber wenigstens haben Sie einen würdigen Gegenstand Ihrer Neigung in Ihrer Großmutter. Sie sehen sie sehr viel. Und dann ist das erlaubte Zärtlichkeit – ich meine eine, die erwidert wird. Es gibt sehr viele, von denen man nicht dasselbe behaupten kann.«

Er durchmaß das Zimmer im Hin- und Herschreiten, sah einen Gegenstand an, hob einen andern in die Höhe. Mir machte es den Eindruck, als habe er mir etwas mitzuteilen und könne die Form dafür nicht finden.

»Ich habe noch einen andern Band Bergotte hier, ich werde ihn für Sie holen lassen«, sagte er schließlich und klingelte. Im Augenblick erschien ein Groom. »Holen Sie mir den Ober her. Er ist der einzige hier im Haus, der eine Sache verständig besorgen kann«, sagte Herr von Charlus hochmütig. »Herr Aimé, gnädiger Herr?« fragte der Groom. »Ich weiß seinen Namen nicht – doch, ja, ich erinnere mich, ich habe ihn Aimé nennen hören. Machen Sie schnell, ich habe Eile.« »Im Augenblick wird er hier sein, gnädiger Herr, ich habe ihn gerad eben unten gesehn«, sagte der Groom – es sollte so aussehen, als sei er auf dem Laufenden. Es verstrich einige Zeit. Der Groom kam zurück. »Herr Aimé ist schlafen gegangen, gnädiger Herr. Aber ich kann die Besorgung machen.« »Nein, Sie haben ihn nur aufstehen zu heißen.« »Das kann ich nicht, er schläft nicht hier.« »Also, dann lassen Sie uns in Frieden.« »Aber, Herr von Charlus«, sagte ich, als der Groom sich entfernt hatte, »Sie sind allzu freundlich. Ich habe an einem Bande Bergotte genug.« »Ja, schließlich sage ich mir das auch.« Herr von Charlus wanderte hin und her. So gingen einige Minuten dahin, dann kam ein kurzes Zögern, mehrere Male begann er von neuem, drehte sich dann um sich selbst, warf mir mit nun wieder schneidender Stimme »Guten Abend, mein Herr« zu und ging. Ich hatte an diesem Abend Herrn von Charlus soviel edle Gefühle zum Ausdruck bringen hören, daß es am folgenden Tage, dem seiner Abreise, mich recht in Erstaunen setzte, am Morgen, als ich, um ein Bad zu nehmen, am Strande mich aufhielt, ihn auf mich zukommen zu sehen und, kaum daß er mir mitgeteilt hatte, es erwarte mich meine Großmutter, sowie ich aus dem Wasser heraus sei, ihn allzu vertraulich unter vulgärem Lachen mich in den Hals kneifen zu sehen und dazu mir sagen zu hören: »Aber man lacht sich eins über seine alte Großmutter, was? kleiner Lump?«

»Wie denn, mein Herr, ich bete sie an!«

»Mein Herr!« erklärte er, und dabei trat er einen Schritt zurück und setzte eine eisige Miene auf, »Sie sind noch jung. Sie sollten zwei Dinge bei dieser Gelegenheit lernen; das erste: nicht Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die zu natürlich sind, um sich nicht von selbst zu verstehen; das zweite: nicht ausfallend auf Dinge zu antworten, ehe Sie sie verstanden haben. Wenn Sie diese Vorsichtsmaßregeln soeben beobachtet hätten, hätten Sie sich erspart, den Eindruck zu machen, als redeten Sie wie ein Tauber, was nicht Hand noch Fuß hat, und dadurch eine weitere Lächerlichkeit zu der ersten in Gestalt gestickter Anker auf Ihrem Badeanzug sich beizulegen. Ich habe Ihnen ein Buch von Bergotte geliehen, welches ich brauche. Lassen Sie es in einer Stunde mir von dem Oberkellner mit dem lächerlichen, schlecht angebrachten Vornamen bringen, der ja vermutlich um diese Zeit sich nicht niedergelegt haben wird. Sie weisen mich darauf hin, daß ich gestern abend zu früh Ihnen von den Verführungen der Jugend gesprochen habe; einen besseren Dienst hätte ich Ihnen erwiesen, wenn ich von ihrem Leichtsinn, ihren Inkonsequenzen und ihrem Nichtverstehen Sie unterhalten hätte. Ich hoffe, mein Herr, diese kleine Dusche wird Ihnen nicht minder zuträglich sein als Ihr Bad. Aber stehen Sie nicht so starr. Sie könnten sich erkälten. Guten Abend, mein Herr.«

Ohne Zweifel taten ihm dann diese Worte leid, denn einige Zeit danach erhielt ich – in Maroquineinband, in dessen Deckel eine Lederplakette eingelegt war, die im Halbrelief einen Vergißmeinnicht-Zweig darstellte – das Buch, das er mir geliehen und von mir zwar nicht durch Aimé, der gerade, »Ausgang« hatte, aber durch den Liftboy zurückerhalten hatte.

Als Herr von Charlus nun fort war, konnten Robert und ich zu Bloch zum Diner gehen. Während dieser kleinen Feier ging mir auf, daß die Geschichten, die allzu leicht von unserem Kameraden komisch gefunden wurden, Geschichten vom alten Herrn Bloch waren und daß der »höchst bemerkenswerte« Mann immer einer von seinen Freunden war, den er so einschätzte. Es gibt eine Anzahl von Leuten, die man als Kind bewundert: ein Vater, der mehr Geist hat als die andern Familienmitglieder, ein Professor, der in unseren Augen durch die Metaphysik gewinnt, die er uns erschließt, ein Kamerad, der weiter ist als wir (das war mit Bloch bei mir der Fall gewesen).

Nun hebt man von jemandem, den man vertrauensvoll bewundert, Dinge heraus und zitiert sie bewundernd, die sehr viel weniger wert sind als andere, die man streng zurückweisen würde, wenn sie: dem Geist als eigenes Produkt zum Urteil unterständen; man verfährt darin wie ein Romancier, der in seinem Werk als ›wahr‹ Worte von Leuten anführt, die im lebendigen Ensemble toter Ballast, mittelmäßiger Durchschnitt sind. Die Porträts von Saint-Simon, die er gewiß geschrieben hat, ohne sich darin zu bewundern, sind der Bewunderung wert, die einzelnen Aussprüche, die er von geistreichen Leuten seiner Bekanntschaft als charmant anführt, sind mittelmäßig geblieben oder unverständlich geworden. Er hätte verschmäht zu erfinden, was er als höchst elegant oder temperamentvoll von Frau Cornuel oder von Louis XIV. berichtet – und dem kann man ebenso bei einer Anzahl anderer Autoren begegnen. Es handelt sich um einen Tatbestand, der mehrere Auslegungen verstattet, von denen für jetzt diese hervorzuheben genügt: in der geistigen Einstellung des »Beobachters« bewegt man sich tief unterhalb des Niveaus, das man als Schaffender einhält.

So lebte denn in meinem Kameraden Bloch als Enklave ein Bloch-Vater, der vierzig Jahre hinter seinem Sohn zurück war, ungereimte Anekdoten zum besten gab und da im Innern meines Freundes lauter lachte, als es der wahre alte Bloch in der Außenwelt tat, weil zu dem Lachen des letzteren, unter welchem zwei oder dreimal sich das Schlußwort wiederholte, damit das Publikum auch die Geschichte recht genieße, noch das lärmende Gelächter hinzutrat, mit dem der Sohn bei Tische die Geschichten seines Vaters zu ehren nicht vergaß. Und so geschah es, daß der jüngere Bloch, nachdem er die intelligentesten Sachen gesagt hatte, bekundete, was ihm von der Familie überkommen war, und zum dreißigsten Male uns einige Witze erzählte, die der alte Bloch nur (gleichzeitig mit seinem Gehrock) an den feierlichen Tagen hervorholte, an denen der Sohn jemanden einführte, den zu blenden der Mühe wert war: einen von seinen Professoren, einen »Kollegen«, der alle Preise bekommen hatte oder, an diesem Abend, Saint-Loup und mich. Beispielsweise: »Ein sehr bedeutender Theoretiker der Strategie, der streng wissenschaftlich abgeleitet und bewiesen hatte, aus welchen unfehlbaren Gründen im russisch-japanischen Kriege die Japaner würden geschlagen werden und die Russen siegen« oder: »Eine hervorragende Persönlichkeit, die in politischen Kreisen für einen großen Finanzier und in Finanzkreisen für einen großen Politiker gehalten wird.« Diese Geschichten ließen sich mit einer vom Baron Rothschild und einer von Sir Rufus Israel auswechseln, die dann auf so zweideutige Weise eingeführt wurden, daß man zu der Auffassung kommen konnte, Herr Bloch habe sie persönlich gekannt.

Auch ich ging in die Falle und vermutete nach der Art und Weise, wie der ältere Herr Bloch von Bergotte sprach, er sei ein alter Freund von ihm. Aber alle berühmten Leute kannte Herr Bloch nur »ohne sie zu kennen«, vom Sehen von Weitem, im Theater oder auf den Boulevards. Zudem bildete er sich ein, sein eigenes Gesicht, sein Name, seine Persönlichkeit seien ihnen nicht unbekannt, und wenn sie ihn sähen, passiere es ihnen häufig, einem heimlichen Impuls, ihn zu grüßen, unterdrücken zu müssen. Wenn Leute aus der Gesellschaft talentvolle Männer, originelle Persönlichkeiten kennen und zum Diner bei sich sehen, verstehen sie sie darum nicht besser. Hat man aber ein wenig in der Gesellschaft gelebt, dann macht die Dummheit derer, die ihr angehören, einem den Wunsch zu dringlich, außerhalb ihrer, in den obskuren Kreisen zu leben, wo man »ohne zu kennen« kennt. Dann setzt man auch zuviel Intelligenz in diesen voraus. Das sollte mir klar werden, als ich von Bergotte sprach. Herr Bloch war nicht der einzige, der in der Familie Erfolg hatte. Mein Kamerad hatte noch größeren bei seinen Schwestern, er hörte nicht auf, sie anzuknurren, und dazu beugte er den Kopf über den Teller, sie aber lachten Tränen darüber. Übrigens hatten sie die Sprechweise ihres Bruders angenommen und sie drückten, sich fließend in ihr aus, als ob das so sein müsse und es die einzige sei, deren intelligente Menschen sich bedienen könnten. Als wir anlangten, sagte die älteste zu einer ihrer jüngeren Schwestern: »Gehe und künde es an unserem weise waltenden Vater und der verehrtesten Mutter.« »Hündinnen«, sagte Bloch, »ich stelle Euch den Ritter Saint-Loup vor, mit den geschwinden Wurfspeeren, der da auf einige Tage aus Doncières gekommen ist, mit den wohlgeglätteten Häusern, dem Lande, das reich ist an Pferden.« Und da er ebenso geschmacklos war wie gebildet, so endigte solche Rede gewöhnlich mit einem weniger homerischen Scherz: »Schließet nun aber einmal euren Peplos ein wenig mit den schönen Agraffen. Was sind mir denn das für Geschichten! Denn schließlich ist er ja doch nicht mein Vater.« Und die Fräulein Bloch brachen in eine Lachsalve aus. Ich sagte ihrem Bruder, welchen Genuß er mir durch seine Empfehlung von Bergottes Schriften verschafft habe und wie sehr ich dessen Bücher verehrte.

Der ältere Bloch kannte Bergotte nur von weitem und sein Leben nur durch den Klatsch im Parkett – und ebenso indirekt verfuhr er bei seiner Information über die Werke auf Grund von Urteilen, die literarisch aussahen. Er lebte in der Welt des Ungefähr, wo man ins Ungewisse grüßt und irrige Urteile fällt: Mangel an Exaktheit und Kompetenz beeinträchtigen aber in ihr nicht die Sicherheit – im Gegenteil. Nur wenige Leute verfügen naturgemäß über hervorragende Beziehungen und gründliche Kenntnisse; da ist es denn das wohltuende Wunderwerk der Eigenliebe, daß Leute, denen sie fehlen, immer noch glauben, am besten abgeschnitten zu haben, weil bei der Optik der sozialen Stufenfolge jeder Rang dem, der ihn gerade besetzt, der beste scheint, so daß er auf die größten als Minderbegünstigte, die es schlecht trafen, ja, die man beklagen muß, herabsieht und sie beim Namen nennt und verleumdet, ohne um sie zu wissen, sie aburteilt und der Verachtung preisgibt, ohne sie zu kennen. Und selbst in Fällen, da Eigenliebe vergebens die privaten Vorzugsposten vervielfältigen würde, weil sie denn doch zu dürftig bleiben, ist jedem so viel Glück, als er bedarf, mehr als den andern nämlich, garantiert, indem der Neid die Unterschiede ausgleicht. Es ist zwar richtig, daß man die verächtlichen Wendungen des Neides, wie: »Dessen Bekanntschaft will ich gar nicht machen« mit »Ich kann seine Bekanntschaft nicht machen« zu übersetzen hat. So ist der verstandesmäßige Sinn des Satzes. Aber der affektive Sinn ist allerdings: ich will ihn nicht kennen lernen. Man weiß zwar, daß das nicht wahr ist, aber doch sagt man es nicht nur aus Affektiertheit, man sagt es, weil man so fühlt, und das genügt, um den Unterschied zunichte zu machen, will sagen: das genügt zum Glücklichsein.

Weil das egozentrische Wesen im Menschen dergestalt einem jeden gestattet, zu seinen Füßen das Universum gestaffelt liegen zu sehen, in welchem er König ist, so konnte Herr Bloch es sich leisten, als Unerbittlicher sich zu erweisen, wenn am Morgen bei der Frühstücksschokolade am Ende eines Artikels in der kaum fingerbreit geöffneten Zeitung er Bergotte zeichnen sah. Verächtlich gewährte er ihm eine abgekürzte Audienz, ließ seinen Urteilsspruch ergehen und bewilligte sich das komfortable Vergnügen, zwischen den einzelnen Schlucken vom kochendem Getränk zu erwidern: »Dieser Bergotte ist nun einfach nicht mehr zu lesen. Wie dieser Kerl einen anöden kann. Man möchte das ganze Blatt abbestellen. Wie umständlich, was für Schmonzes!« Und er griff nach einem Butterbrot.

Die illusorische Bedeutung der Persönlichkeit des älteren Herrn Bloch ging, nebenbei gesagt, etwas über den Umkreis seines eigenen Wahrnehmens hinaus. Vor allem betrachteten seine Kinder ihn als überlegene Erscheinung. Kinder haben immer die Neigung, abschätzig oder exaltiert von ihren Eltern zu denken, und für einen guten Sohn ist sein Vater immer von allen Vätern der beste, auch abgesehen von allen objektiven Ursachen der Bewunderung. Die aber mangelten an Herrn Bloch durchaus nicht, denn er war gebildet, scharfsinnig und gut zu den Seinen. Unter der engsten Verwandtschaft fand man an ihm um so größeres Gefallen, als im atomisierten Leben der Bourgeoisie – im Gegensatz zu dem der »Gesellschaft«, wo man die Leute nach einem freilich unsinnigen Maßstab, nach falschen aber feststehenden Vorschriften im Vergleich zur Gesamtheit der eleganten Welt beurteilt – Diners sowie Soireen im Familienkreise andauernd sich um Personen drehen, die man für angenehm und amüsant erklärt, während sie in der »Gesellschaft« nicht zwei Abende lang sich würden behaupten können. Kurz, in diesem Milieu, wo die künstlichen Größen der Aristokratie nicht vorkommen, ersetzt man sie durch noch tollere Auszeichnungen. So kam es, daß eine angebliche Ähnlichkeit in der Barttracht und der oberen Nasenpartie, wie man in der Familie bis in sehr entfernte Verwandtschaft hinauf sie bemerken wollte, Herrn Bloch den Namen eines »falschen Herzogs von Aumale« verlieh. (Und hat nicht in der Welt der Klubdiener einer, der seine Mütze schief auf hat und die Joppe sehr eng geschnürt trägt, so daß er, seiner Meinung nach, an einen ausländischen Offizier erinnert, für seine Kameraden eine Art von Persönlichkeit?)

Die Ähnlichkeit war die denkbar schwächste, aber man hätte vermuten können, es handle sich um einen Titel. Man wiederholte: »Bloch? welcher? der Herzog von Aumale?« Wie man sagt: »Die Prinzessin Murat? welche? die Königin (von Neapel)?« Eine gewisse Zahl anderer geringfügigster Kennzeichen trugen weiterhin dazu bei, in den Augen der Sippschaft ihm eine Art von Distinktion und Ansehen zu geben. Da Herr Bloch nicht so weit ging, sich einen Wagen zu halten, so mietete er sich an manchen Tagen eine offene Viktoria mit zwei Pferden und durchquerte den Bois de Boulogne, schräg in die Kissen hingegossen, zwei Finger an der Schläfe, zwei andere unter dem Kinn, und wenn Leute, die ihn nicht kannten, deswegen ihn für einen Wichtigtuer hielten, so war man in der Familie der Überzeugung, wenn es nur um den Chik sich gehandelt hätte, so hätte Onkel Salomon gut von den Gramont-Caderousse abstammen können. Er gehörte zu denen, bei deren Tod die Tatsache, daß sie in einem Boulevardrestaurant gemeinsam mit dem Chefredakteur des Radical einen Tisch besetzt hielten, bei diesem Blatt in der Rubrik »Aus der Gesellschaft« sich darin ausspricht, daß sie als eine »markante Physiognomie«, die allen Parisern geläufig ist, bezeichnet werden. Herr Bloch sagte zu Saint-Loup und zu mir, Bergotte wisse so genau, warum Herr Bloch ihn nicht grüße, daß er seinen Blick vermeide, sobald er im Theater, im Klub auf ihn stoße. Saint-Loup errötete, denn er dachte, dieser Klub könne nicht der Jockeyklub sein, dessen Präsident sein Vater gewesen war. Andererseits mußte es ein verhältnismäßig geschlossener Zirkel sein, denn Herr Bloch hatte gesagt, heute würde Bergotte nicht mehr dort aufgenommen werden. Und so zitterte Saint-Loup denn davor »den Gegner zu unterschätzen«, als er die Frage stellte, ob dieser Klub, der der rue Royale sei, der in der Familie von Saint-Loup für »deklassierend« galt und seines Wissens einige Juden unter den Mitgliedern hatte. »Nein,« sagte Herr Bloch nachlässig, stolz und beschämt, »es ist ein kleiner Klub, der aber weitaus angenehmer ist, der »Cercle des Ganaches«. Die Leute werden dort streng beurteilt.« »Ist da Sir Rufus Israel nicht Präsident?« fragte der junge Bloch seinen Vater, um ihm Gelegenheit zu einer ehrenvollen Lüge zu geben. Er ahnte nicht, daß dieser Finanzier in Saint-Loups Augen nicht so viel galt als in den seinen. In Wirklichkeit gehörte dem »Cercle des Ganaches« nicht Sir Rufus Israel, sondern einer seiner Angestellten an. Aber da er mit seinem Chef sehr gut stand, hatte er Karten des großen Finanziers zu seiner Verfügung und eine davon gab er Herrn Bloch, als der auf Reisen eine Linie benutzte, bei der Sir Rufus Generaldirektor war; das veranlaßte den alten Bloch zu der Bemerkung: »Ich werde im Klub vorsprechen und eine Empfehlung von Sir Rufus verlangen.« Und die Karte gestattete ihm, auf alle Schaffner einen tiefen Eindruck zu machen. Die Fräulein Bloch aber interessierten sich mehr für Bergotte, und kamen auf ihn zurück, anstatt bei den »Ganaches« zu bleiben. Die Jüngere fragte im ernsthaftesten Ton von der Welt (sie glaubte, andere Bezeichnungen, als sie sie anwandte, gäbe es nicht für Leute von Talent: »Ist das wirklich so eine erstaunliche Nummer, Bergotte? Gehört er zu den großen Viechern, zu den Nummern wie Villiers oder Catull?« »Ich habe ihn bei mehreren Generalproben getroffen«, sagte Herr Nissim Bernard. »Er ist linkisch, ein richtiger Schlemihl.« Diese Anspielung auf die Erzählung von Chamisso war nicht zu genau zu nehmen; das Wort »Schlemihl« gehörte zu dem halb deutschen, halb jüdischen Dialekt, den Herr Bloch im Familienkreis über alles gern hörte, vor Fremden aber vulgär und unangebracht fand. So sah er denn seinen Onkel streng an. »Er hat Talent«, sagte Bloch. »Ah!« machte ernst seine Schwester, es war, als wolle sie sagen, unter diesen Umständen sei ich entschuldbar. »Alle Schriftsteller haben Talent«, sagte verächtlich der alte Bloch. »Es gibt sogar Leute, die einem erzählen, daß er sich der Akademie präsentieren will«, sagte sein Sohn – dabei hob er die Gabel und kniff mit diabolischer Ironie die Augen zusammen. »Ausgeschlossen! Er hat ja nichts Hinreichendes aufzuweisen«, erwiderte der alte Herr Bloch. Er schien die Verachtung seines Sohnes und seiner Töchter für die Akademie nicht zu teilen. »Er hat nicht das notwendige Kaliber.« »Außerdem ist die Akademie ein Salon und Bergotte stellt ja nichts vor«, erklärte der Erbonkel von Frau Bloch, ein harmloses, sanftes Geschöpf, bei dem der Name Bernard allein möglicherweise schon die diagnostische Begabung meines Großvaters geweckt haben würde, jedenfalls aber nicht recht im Einklang mit einem Gesicht gestanden hätte, das vom Palais des Darius herbeigeholt und von Frau Dieulafoy restauriert schien, wenn der Vorname Nissim, den ein Liebhaber wählte, um diesem Gesicht aus Susa eine orientalische Krönung zu verleihen, nicht die Flügel des menschenhäuptigen Stieres zu Khorsabad darüber gebreitet hätte. Herr Bloch aber ließ nicht ab, seinen Onkel zu beleidigen, mochte nun die wehrlose Gutmütigkeit seines Prügelknaben ihn aufreizen oder er als Nutznießer einer Villa, die Herr Nissim Bernard bezahlte, bekunden wollen, daß er seine Unabhängigkeit wahre und durchaus nicht durch Schmeicheleien die in Aussicht stehende Erbschaft des reichen Kerls für sich zu sichern trachte. Dieser war vor allem darüber gekränkt, daß man ihn vor dem Butler so rücksichtslos behandelte. Er murmelte einen unverständlichen Satz, in dem man allein die Worte vernahm: »In Gegenwart der Meschores.« Meschores sind in der Bibel die Diener des Herrn. Unter sich bedienten die Bloch sich dieses Wortes, um die Dienstboten zu bezeichnen, und das stimmte sie immer vergnügt; denn die Gewißheit, weder von den Christen noch von den Dienstboten selber verstanden zu werden, steigerte in Herrn Nissim Bernard und Herrn Bloch ihr Wohlgefühl in ihrer doppelten Eigenschaft als Hausherren und Juden. Aber diese letzte Ursache der Genugtuung wurde eine des Mißvergnügens, wenn Leute zugegen waren. Wenn dann Herr Bloch seinen Onkel »Meschores« sagen hörte, fand er, das Orientalische an ihm trete dadurch zu deutlich in Erscheinung, und war zornig, wie eine Kokotte, wenn sie ihre Freundinnen mit Leuten aus guter Gesellschaft eingeladen hat und sie dann Anspielungen auf ihren Kokottenberuf machen oder anstößige Worte gebrauchen. Weit entfernt, daß die Bitte seines Onkels einigen Eindruck auf ihn gemacht hätte, war Herr Bloch vielmehr außerstande, noch länger an sich zu halten. Er ließ keine Gelegenheit mehr vorbeigehen, ausfallend gegen den unglücklichen Onkel zu werden. »Natürlich, wenn irgendwie eine kapitale Dummheit angebracht werden kann – darf man sicher überzeugt sein, daß Sie sie nicht auslassen. Sie wären der Erste, der ihm die Füße leckt, wenn er da ist«, schrie Herr Bloch, während Herr Nissim Bernard traurig den gewellten Bart des Königs Sargon dem Teller zu beugte. Seitdem mein Kamerad den seinigen trug, der ebenso kraus und bläulich war, ähnelte er seinem Großonkel sehr.

»Was? Sie sind der Sohn des Marquis von Marsantes? Aber den habe ich ja sehr gut gekannt«, sagte Herr Nissim Bernard zu Saint-Loup. Ich glaubte, er meinte »gekannt« in dem Sinne, in dem der alte Bloch sagte, daß er Bergotte kenne, nämlich vom Sehen. Aber er sagte weiter: »Ihr Vater war ein guter Freund von mir.« Nun war Bloch über und über rot geworden, sein Vater sah höchst verstimmt aus, und die Fräulein Bloch erstickten ihr Lachen. Bei Herrn Nissim Bernard hatte nämlich die Sucht sich aufzuspielen, die bei dem alten Bloch und seinen Kindern Hemmungen kannte, zur Gewohnheitslüge geführt. War Herr Nissim Bernard zum Beispiel auf Reisen, so ließ er, wie auch der alte Bloch das hätte tun können, sich alle Zeitungen von seinem Kammerdiener mitten in den Speisesaal bringen, wenn alles beim Dejeuner saß, damit jeder sähe, er reise mit einem Kammerdiener. Aber zu den Leuten, mit denen er im Hotel in Beziehung trat, sagte der Onkel – und das hätte sein Neffe niemals getan – er sei Senator. Es war ihm gleich, daß herauskommen werde, der Titel sei usurpiert, im Augenblick konnte er nicht dem Gelüst widerstehen, ihn sich zu geben. Herr Bloch litt unter den Lügen seines Onkels und all den Weiterungen, die aus ihnen folgten, sehr. »Achten Sie nicht auf ihn, er ist ein schrecklicher Aufschneider«, sagte er halblaut zu Saint-Loup, dessen Interesse dadurch nur zunahm, denn ihn beschäftigte die Psychologie des Lügners sehr. »Ein größerer Lügner noch als Odysseus aus Ithaka, welchen doch die Athener den lügenhaftesten unter den Menschen genannt haben«, ergänzte unser Kamerad Bloch. »Donnerwetter!« rief Herr Nissim Bernard, »wenn einer mir gesagt hätte, ich soll mit dem Sohn meines Freundes dinieren! Aber in Paris habe ich in meiner Wohnung eine Photographie Ihres Vaters und weiß Gott wieviel Briefe von ihm. Er nannte mich immer seinen Onkel, man hat nie erfahren, warum. Ein reizender Mann war er, förmlich geistsprühend. Ich erinnere mich noch an ein Diner bei mir, in Nizza war es, und Sardou, Labiche, Augier waren anwesend« »und Moliere, Racine, Corneille«, fuhr ironisch der alte Bloch fort und sein Sohn schloß die Aufzählung mit »Plautus, Menander, Kalidasa«. Verletzt hielt Herr Nissim Bernard inne und in asketischem Verzicht auf ein großes Vergnügen verharrte er in Schweigen bis zum Ende des Diners.

»Saint-Loup mit dem ehernen Helme,« sagte Bloch, »nehmen Sie noch von der fettschenkeligen Ente ein wenig, auf welche der weltberühmte Geflügelopferer zahlreiche Spenden roten Weines ausgegossen hat.« Wenn Herr Bloch für einen Kameraden seines Sohnes, der die Mühe wert war, die Geschichte über Sir Rufus Israël und andere aus dem Reservelager hervorgeholt hatte, konnte er fühlen, diesen letzten bis zur Rührung ergriffen zu haben, und zog sich gewöhnlich zurück, um nicht vor den Augen der »Pennäler sich herumzudrücken«. War aber der Anlaß ein ganz unvergleichlicher – hatte sein Sohn beispielsweise ein Examen bestanden – so fügte Herr Bloch der traditionellen Reihe der Anekdoten noch diese ironische Bemerkung hinzu, die eigentlich seinen persönlichen Freunden vorbehalten blieb und den jungen Bloch sehr stolz machte, wenn er sah, daß sie für seine Freunde aufgeboten wurde: »Es ist unverzeihlich von der Regierung. Sie hat nicht Herrn Coquelins Meinung eingeholt! Herr Coquelin hat wissen lassen, daß er unzufrieden ist.« (Herr Bloch tat sich nämlich etwas darauf zugute, reaktionär zu sein und Leute vom Theater zu verachten. Aber bis über die Ohren erröteten vor freudiger Erregung die beiden Fräulein Bloch und ihr Bruder, als der alte Herr Bloch, um bis zuletzt sich den beiden Gastfreunden seines Sohnes gegenüber königlich zu erweisen, Champagner kommen und beiläufig fallen ließ, um uns zu »regalieren«, habe er drei Parkett-Fauteuils zu einer Vorstellung besorgen lassen, die eine Truppe von der Opéra-Comique an diesem Abend im Kasino geben sollte. Es tat ihm leid, keine Loge mehr bekommen zu haben, aber sie waren alle vergeben. Er hatte, nebenbei gesagt, es oft damit versucht, aber im Parkett war man besser untergebracht. Nun aber lag es leider so: war Ungeschliffenheit der Fehler seines Sohnes, das heißt, der Fehler, den sein Sohn für andere unsichtbar vermeinte, so war der des Vaters der Geiz. So ließ er denn auch in einer Karaffe unter dem Namen »Champagner« einen kleinen spritzigen Wein servieren und unter dem Namen »Parkett-Fauteuils« hatte er Parterre-Plätze nehmen lassen, die um die Hälfte weniger kosteten. Und wunderbarerweise blieb er durch einen göttlichen Eingriff in seinen Charakterfehler überzeugt, weder bei Tisch noch im Theater (wo alle Logen leer waren) werde man etwas merken. Als Herr Bloch unsere Lippen hatte in die flachen Schalen eintauchen lassen, die sein Sohn als »Mischkrug mit schön gebuchteter Wandung« ansprach, machte er uns auf ein Bild aufmerksam, das ihm so lieb war, daß er es mit nach Balbec gebracht hatte. Er erklärte uns, es sei ein Rubens. Saint-Loup fragte ihn ganz naiv, ob es signiert sei. Herr Bloch wurde rot und sagte, er habe des Rahmens wegen die Signatur abschneiden lassen: in diesem Falle sei es gleichgültig, er wolle es nicht verkaufen. Dann entließ er uns schnell, um sich in das Journal Officiel zu versenken, von dem die einzelnen Nummern überall im Hause herumlagen. Zu dieser Lektüre war er »durch die parlamentarische Situation« genötigt, wie er uns erklärte; wie die im einzelnen aber sei, darüber sagte er uns nichts. »Ich nehme einen Foulard«, sagte Bloch, »denn Zephyros und Boreas machen das fischreiche Meer einander streitig, und wenn wir nach dem Theater irgendwo bleiben, kommen wir nicht vorm ersten Scheine der rosenfingrigen Eos wieder nach Hause.« »A propos«, fragte er, als wir draußen waren, Saint-Loup (und ich zitterte, denn ich merkte gleich, daß es um Herrn von Charlus sich handelte, über den Bloch so ironisch sich ausließ), »wer war denn der unbezahlbare Hampelmann in dunklem Anzug, den Sie vorgestern früh am Strande spazierengeführt haben?« »Das war mein Onkel«, erwiderte Saint-Loup verletzt. Leider war in Blochs Augen ein faux-pas durchaus nichts, was es zu vermeiden gilt. Er wand sich vor Lachen. »Mein Kompliment, ich hätte das erraten müssen: tadellos chik und ein unbezahlbarer Typ von einem Trottel hochadliger Herkunft.« »Da täuschen Sie sich vollständig, er ist höchst intelligent«, entgegnete Saint-Loup wütend. »Das tut mir leid, dann ist er weniger ideal. Ich würde ihn übrigens sehr gern kennen lernen, denn ich bin überzeugt, ich werde einmal über Leute in diesem Genre was schreiben. Wenn man den vorbeikommen sieht, das ist einfach zum Schieflachen. Auf das Karikaturistische, das im Grunde für einen Künstler, dem es um plastische Schönheit der Sätze zu tun ist, ziemlich verächtlich ist, auf die Fratze, die einen Augenblick – Sie verzeihen – mich fast auf den Hintern geschmissen hätte, würde ich weniger Wert legen und mehr die aristokratische Seite Ihres Onkels herausarbeiten, der alles in allem einen fabelhaften Eindruck macht und, wenn man mal über das erste Lachen hinaus ist, einen durch großen Stil frappiert. Aber«, erklärte er und wandte sich diesmal an mich, »da fällt mir etwas ein, das zwar gar nicht hierher gehört, wonach ich dich aber lange schon fragen wollte, nur läßt jedesmal, wenn wir zusammen sind, irgendein Gott, ein Seliger von Olympos, vollständig mich vergessen, nach dieser Information dich zu fragen, die mir schon hätte sehr nützlich sein können und sicher es in Zukunft mir werden wird. Wer ist eigentlich diese schöne Person, mit der ich dich einmal im Jardin d'Acclimatation getroffen habe? In ihrer Begleitung war ein Herr, den ich vom Sehen zu kennen glaube, und ein Mädchen mit langen Haaren.« Mir war nicht entgangen, daß Frau Swann sich an Blochs Namen nicht erinnerte, da sie mir einen anderen angegeben und meinen Kameraden als Attaché im Ministerium angesprochen hatte. (Ich hatte seither stets vergessen, mich zu erkundigen, ob er wirklich eingetreten sei.) Aber wie konnte Bloch, der ihrer Mitteilung nach sich ihr hatte vorstellen lassen, ihren Namen nicht wissen? Ich war dermaßen erstaunt, daß mir einen Augenblick lang die Antwort ausblieb. »Auf alle Fälle mein Kompliment«, sagte er. »Du wirst dich nicht mit ihr gelangweilt haben. Ich hatte sie einige Tage vorher in dem train de Ceinture getroffen. Sie hatte durchaus nichts dagegen, ihre eigene ceinture zu Gunsten deines ergebenen Dieners zu lösen, und nie habe ich angenehmer die Zeit verbracht; wir wollten gerade ein Wiedersehen vereinbaren, als jemand, den sie kannte, schlechten Geschmack genug bewies, auf der vorletzten Station zu uns zu steigen.« Bloch schien das Schweigen, welches ich beobachtete, nicht zu gefallen. »Ich hoffte,« erklärte er, »durch dich ihre Adresse zu erfahren und mehrmals in der Woche bei ihr die Freuden des Eros zu kosten, des Götterlieblings, aber ich will nicht insistieren, da du auf Diskretion einer gegenüber Wert legst, die ihre Profession daraus macht und sich mir dreimal hintereinander zwischen Paris und dem Point-du-Jour auf die raffinierteste Weise gegeben hat. Ich werde sie den einen oder andern Abend schon wiederfinden.«

Nach diesem Diner machte ich Bloch einen Besuch, er erwiderte ihn, aber ich war nicht zu Hause. Er wurde jedoch, als er nach mir fragte, von Françoise bemerkt, die ihn bis dahin zufällig nie zu Gesicht bekommen hatte, obgleich er in Combray gewesen. Darum wußte sie nur, einer »der Herrn«, die ich kenne, sei heraufgekommen, um mich zu sprechen. »Mit welcher Absicht« wußte sie nicht, und angezogen war er normal; er hatte ihr keinen großen Eindruck gemacht. Hier half es mir nun gar nichts, längst zu wissen, daß gewisse gesellschaftliche Vorstellungen von Françoise für mich auf immer undurchdringlich bleiben würden, vielleicht weil sie ganz einfach aus Verwechslungen von Worten, Namen herrührten, die sie ein für alle Mal durcheinander gebracht hatte – ich, der ich längst es verlernt hatte, in solchen Fällen mir Fragen zu stellen, konnte mich des Versuchs nicht enthalten (der nebenbei gesagt, vergeblich blieb) zu ergründen, was Außerordentliches der Name Bloch für Françoise eigentlich bedeuten könne. Denn kaum hatte ich ihr gesagt, der junge Mann den sie bemerkt hatte, sei Herr Bloch, so wich sie vor Erstaunen und Entrüstung ein paar Schritte zurück. »Was? der sieht so aus? Herr Bloch?« rief sie ganz zerschmettert, als müsse eine so unvergleichliche Persönlichkeit auch ein Äußeres besitzen, das einem auf den ersten Blick »zu verstehen gäbe«, man habe einen von den Großen der Erde vor sich, und wie jemand tut, der von einer historischen Persönlichkeit findet, sie reiche nicht an ihren Ruf heran, so wiederholte sie ganz benommen, – und man fühlte in ihrem Ton die Keime eines grenzenlosen Skeptizismus für die Zukunft: »Was, der sieht so aus, Herr Bloch? Wirklich, man sollte nicht meinen, ihn vor sich zu haben.« Es war, als trage sie mir das nach, als habe ich ihr »übertriebene Vorstellungen« gemacht, und doch setzte sie in ihrer Güte hinzu: »Nun, wenn er auch Herr Bloch ist, der junge Herr kann sagen, daß er ebenso gut aussieht wie er.«

Bald erlebte sie an Saint-Loup, den sie anbetete, eine Enttäuschung von anderer Natur, welche weniger hart war: sie erfuhr, er sei Republikaner. Wenn sie nun auch, mit jenem Mangel von Respekt, der im Volke den höchsten Respekt bezeichnet, zum Beispiel »Amélie, die Schwester von Philippe« sagen konnte, so war Françoise doch Royalistin. Vor allem aber kam ihr ein Marquis, ein Marquis, der ihr blendend erschienen und für die Republik war, nicht mehr echt vor. Sie war offensichtlich so verstimmt, als hätte ich ihr eine Dose geschenkt, die sie für golden hielt, als hätte sie sich bei mir leidenschaftlich bedankt und dann sei ihr vom Juwelier enthüllt worden, es handle sich um eine Imitation. Augenblicklich entzog sie Saint-Loup ihre Achtung, aber bald darauf bekam er sie wieder zurück; denn Françoise hatte nachgedacht und herausgefunden, er könne, da er der Marquis von Saint-Loup sei, gar nicht Republikaner sein und tue nur aus Berechnung so, denn bei der Regierung, wie sie jetzt aussah, konnte ihm das viel einbringen. Von dem Tage an hörte ihre Kälte ihm gegenüber und ihr Groll gegen mich auf. Und immer, wenn sie von Saint-Loup sprach, sagte sie: »Das ist ein Heuchler«, und dabei hatte sie ein breites, gutmütiges Lächeln, das deutlich zu verstehen gab, sie achte ihn von neuem ganz so wie am ersten Tage und habe ihm verziehen. Doch ganz das Gegenteil war der Fall: Saint-Loup war aufrichtig und selbstlos im höchsten Grade, und gerade diese seine Lauterkeit konnte in einem egoistischen Gefühl, wie die Liebe es bleibt, sich selbst nicht völlig zu genügen; da andererseits bei ihm die Hemmungen fehlten, die es mir unmöglich machten, meine geistige Nahrung irgendwo außerhalb meiner selbst zu suchen, so machte sein lauteres Wesen ihn der Freundschaft in so hohem Grade fähig, als ich ihrer unfähig war.

Nicht weniger täuschte Françoise sich in Saint-Loup, wenn sie erklärte, ja, es sähe zwar so aus, als wenn er Leute aus dem Volke nicht verachte, aber das sei nicht wahr, man brauche ihn nur zu sehen, wenn er auf seinen Kutscher wütend sei. Nun war es Robert wirklich hin und wieder vorgekommen, einigermaßen grob mit ihm zu schelten, das zeugte aber bei ihm nicht sowohl für Gefühl von Unterschied als von der Gleichberechtigung der Klassen. »Aber«, so erklärte er mir in Erwiderung der Vorwürfe, die ich ihm darüber machte, daß er mit seinem Kutscher etwas unwirsch verfahren sei, »warum soll ich denn etwas Besonderes darin suchen, höflich mit ihm zu reden? Steht er mir denn nicht gleich? Steht er mir nicht ebenso nahe wie mein Onkel oder meine Vettern? Sie scheinen zu finden, ich müsse ihn mit Schonung wie einen Tiefergestellten behandeln. Sie reden wie ein Aristokrat«, fügte er verächtlich hinzu. Wenn in der Tat es eine Klasse gab, der gegenüber er voreingenommen und parteiisch blieb, war es die Aristokratie; das ging so weit, daß es ihm ebenso schwerfiel, an die hohen Gaben eines Mannes aus der Gesellschaft als nicht an die von einem Manne aus dem Volke zu glauben. Als ich einmal von der Prinzessin von Luxembourg mit ihm sprach, die ich mit seiner Tante getroffen hatte, sagte er mir:

»Eine Karpfenschnute, so wie alle ihres Schlages. Sie ist, nebenbei gesagt, halb und halb meine Kusine.« Da er Vorurteile gegen die Leute hegte, welche Umgang mit ihm hatten, so ging er selten in Gesellschaft, und dort ließ die verächtliche oder feindselige Haltung, die er beobachtete, bei allen seinen nächsten Angehörigen den Verdruß über seine Beziehung zu einer Frau »vom Theater« noch anwachsen. Sie sahen in dieser Beziehung seinen Ruin, besonders habe sie in ihm den zersetzenden Geist, die schlechte Gesinnung zur Entfaltung kommen lassen, sie habe ihn »auf Abwege gebracht« und werde noch zu guter Letzt ihn völlig deklassieren. So kannten denn gerade leichtfertige Männer aus dem Faubourg Saint-Germain keinerlei Nachsicht, wenn sie von Roberts Verhältnis sprachen. »Die Huren«, so sagte man, »treiben ihr Handwerk, sie sind soviel wert wie andere auch. Aber die – nein! Wir werden es ihr nicht verzeihen! Sie hat an einem, den wir liebhaben, sich zu sehr versündigt.« Gewiß war er nicht der einzige, der sich mit so etwas schleppte. Aber die andern gingen als Leute von Welt ihrem Vergnügen nach, fuhren fort, als Leute von Welt über politische Dinge und alles andere zu denken. Von ihm fand seine Familie, er sei »sauer« geworden. Sie gab sich nicht davon Rechenschaft, für wieviel junge Leute aus der Gesellschaft, deren Geist sonst ohne Kultur, deren Verhalten in der Freundschaft ungeschliffen, ohne Bildung und Anmut geblieben wäre, oft gerade die Geliebte den eigentlichen Lehrer, eine Beziehung dieser Art die einzige Schule des Betragens abgibt, welche in die Anfangsgründe höherer Kultur einführt und den Wert von Wissen, welches nicht der Praxis dient, sie kennen lehrt. Selbst in den tieferen Volksschichten (die in der Ungeschliffenheit so häufig der großen Gesellschaft ähneln) würdigt die Frau, die mehr Gefühl, mehr Sinn und mehr Zeit hat, gewissen feineren Nuancen nachzugehen, Schönheiten des inneren Lebens oder der Kunst, die sie, sogar im Fall, daß sie sie nicht erfaßt, dem überordnet, was dem Manne am begehrenswertesten erscheint: dem Geld, der Position. Mag es sich um die Geliebte eines jungen Clubmans wie Saint-Loup oder um die eines jungen Arbeiters handeln (die Elektrotechniker, beispielsweise, zählen heute zur wirklichen Chevalerie), ihr Freund bewundert sie und achtet sie zu sehr, um solch Gefühl nicht auch auf jene Dinge, die von ihr selbst geachtet und bewundert werden, auszudehnen; für ihn hat die Stufenleiter der Werte sich umgekehrt. Ihr Geschlecht selber macht, daß sie schwach ist, sie hat unerklärliche nervöse Zufälle, die den jungen, robusten Mann bei einem Manne, sogar bei einer anderen Frau, einer Frau, von der er der Neffe oder Vetter ist, zum Lächeln veranlassen würden. Doch kann er die nicht leiden sehen, die er liebt. Der junge Adlige gewöhnt sich, wenn er wie Saint-Loup eine Geliebte hat, wenn er des Abends in ein Restaurant mit ihr geht, Baldriantropfen, die sie brauchen könnte, bei sich zu tragen, nachdrücklich, ohne Ironie, dem Kellner aufzugeben, die Türen ohne Lärm, behutsam zuzumachen, kein feuchtes Moos auf den Tisch zu stellen, und dies, um seiner Freundin Unzuträglichkeiten zu ersparen, wie er an seinem Teil sie nie verspürt hat; für ihn bilden sie eine okkulte Welt, an die sie ihn glauben gelehrt hat, und jetzt kann er dergleichen Zustände bedauern, ohne sie an sich selber erfahren zu haben, und wird sogar die bedauern, die davon befallen werden. Saint-Loups Geliebte hatte ihm – wie die ersten Mönche des Mittelalters der Christenheit – beigebracht, Mitleid mit Tieren zu haben, denn sie hing leidenschaftlich an ihnen und reiste nie ohne ihren Hund, ihre Kanarienvögel und ihre Papageien; Saint-Loup bewachte die mit mütterlicher Sorgfalt und erklärte die Leute, die nicht gut zu Tieren waren für Bestien. Auf der andern Seite war das Verdienst einer Schauspielerin oder einer, die sich so nannte, wie die, die mit ihm lebte – sie mochte intelligent sein oder nicht; ich wußte das nicht – indem sie Umgang mit den Damen der Gesellschaft ihn langweilig finden und die Verpflichtung, auf eine Soiree zu gehen, als lästig betrachten ließ, vor Snobismus ihn bewahrt und von Frivolität geheilt zu haben. Wenn dank ihres Einflusses mondäner Flirt im Leben ihres jungen Liebhabers eine geringere Rolle spielte, so hatte dafür seine Geliebte ihm beigebracht, seine Freundschaften zu verfeinern und zu veredeln, während Eitelkeit oder Eigennutz sie eingegeben, Ungeschliffenheit äußerlich sie gekennzeichnet hätte, wenn er ein bloßer Salonmensch gewesen wäre. Ihr weiblicher Instinkt legte bei Männern mehr Gewicht auf gewisse Werte des Gefühlslebens, die ihr Geliebter ohne sie vielleicht verkannt oder verlacht haben würde, und so dauerte es denn nie lange, bis sie unter den Freunden von Saint-Loup denjenigen herausgefunden, der ihn wahrhaft liebte, und ihn den andern vorgezogen hatte. Sie wußte ihn zu nötigen, ihm gegenüber Dank zu hegen und zu beweisen und Dinge, die ihn freuten, sowie die, welche ihm unangenehm waren, zu erkennen. Und bald lag Saint-Loup das am Herzen, ohne daß sie noch nötig hatte, ihm Hinweise zu geben, und in Balbec, wo sie nicht war, schloß er von selbst für mich, den sie niemals gesehen, von dem er ihr sogar vielleicht nicht einmal in Briefen bisher gesprochen hatte, das Fenster des Wagens, in dem ich saß, trug Blumen fort, unter denen ich litt, und richtete, wenn er bei seiner Abreise von mehreren auf einmal sich zu verabschieden hatte, es so ein, ein wenig früher sie zu verlassen, um zuletzt mit mir allein zu bleiben, diesen Unterschied zwischen ihnen und mir zu machen, anders als zu den übrigen zu mir zu sein. Seine Geliebte hatte seinen Geist dem Unsichtbaren erschlossen, einen ernsteren Gehalt seinem Leben und seinem Herzen Zartgefühl verliehen; das alles aber entging seiner in Tränen schwimmenden Familie, welche wieder und wieder sagte: »Dies hergelaufene Weibsbild wird ihn zuletzt töten, und jetzt bereits entehrt sie ihn.« Man muß zugeben, daß mit der Zeit er alles, was sie Gutes für ihn haben konnte, sich angeeignet hatte, und jetzt war sie nur noch Ursache seiner ununterbrochenen Leiden, denn sie hatte gegen ihn tiefen Widerwillen gefaßt und peinigte ihn. Sie hatte eines schönen Tages begonnen, ihn dumm und lächerlich zu finden, weil die Freunde, die sie unter den jungen Autoren und Schauspielern besaß, ihr versichert hatten, er sei es, und sie wiederholte, was sie gesagt hatten, mit jener Leidenschaft, jenem Mangel an Einschränkung, wie sie sich immer finden, wenn man von außen her Gebräuche oder Meinungen übernimmt, von denen man vorher nicht das mindeste wußte. Sie gefiel sich darin, gleich diesen Schauspielern, zu bekennen, zwischen ihr und Saint-Loup sei eine unüberbrückbare Kluft, sie stammten von verschiednen Rassen ab, sie selber wäre Intellektuelle, und er, was er auch sage, von Geburt ein Feind der Intelligenz. Diese Ansicht der Sache erschien ihr tief, und sie sah in den belanglosesten Worten, den kleinsten Gesten ihres Geliebten deren Bestätigung. Als aber dieselben Freunde dann weiterhin sie überzeugt hatten, durch einen so wenig ihr entsprechenden Umgang vernichte sie die Hoffnungen, zu denen sie, wie sie erklärten, Anlaß gegeben habe, ihr Geliebter werde zuletzt auf sie abfärben, und sie verderbe, wenn sie weiter mit ihm lebe, ihre künstlerische Zukunft, da war zu ihrer Verachtung gegen Saint-Loup ein Haß getreten, als suche er hartnäckig, eine tödliche Krankheit ihr beizubringen. Zwar schob sie den Augenblick eines endgültigen Bruches, der mir recht unwahrscheinlich vorkam, noch hinaus, aber sie sah ihn so wenig wie möglich. Saint-Loup brachte derartige Opfer für sie, daß es schien, es müsse ihr schwerfallen, einen zweiten Mann, welcher zu ähnlichen bereit gewesen wäre, zu finden – es sei denn, sie wäre hinreißend gewesen (aber Saint-Loup hatte mir nie ihre Photographie zeigen wollen und mir gesagt: »Erstens einmal ist sie keine Schönheit, und dann kommt sie auf der Photographie schlecht heraus; es sind Momentaufnahmen, die ich selber mit meinem Kodak gemacht habe, und sie würden Ihnen eine falsche Idee vor ihr beibringen). Mir kam nicht der Gedanke, die fixe Idee, sich einen Namen, sogar wenn man kein Talent hat, zu machen, die Hochschätzung, nichts als die ganz persönliche Hochschätzung von Leuten, welche einem imponieren, könnten (was, nebenbei gesagt, für die Geliebte von Saint-Loup vielleicht nicht der Fall war) sogar für eine kleine Kokotte entscheidendere Gründe sein als das Vergnügen am Geldgewinn. Saint-Loup begriff nicht recht, was im Geiste seiner Geliebten vor sich ging, hielt sie jedoch für ganz aufrichtig weder in ihren ungerechten Vorwürfen noch im Versprechen ewiger Treue; vielmehr kam in gewissen Augenblicken ihm das Gefühl, sie werde Schluß machen, wenn sie es könne; und im Zusammenhange damit veranlaßte ihn zweifellos der Selbsterhaltungstrieb seiner Liebe, der vielleicht schärfer sah als Saint-Loup selber, seine Zuflucht zu einer Praktik zu nehmen, die sich mit den großmütigsten, blindesten Aufwallungen des Herzens bei ihm sehr wohl vertrug: er hatte sich geweigert, ihr ein Kapital anzuvertrauen, hatte ungeheure Summen aufgenommen, damit es ihr an nichts fehle, händigte aber nur von Tag zu Tag ihr etwas aus. Und gewiß, für den Fall, daß sie wirklich mit dem Gedanken umging, ihn zu verlassen, wartete sie nur kaltblütig den Moment ab, »ein Sümmchen angesammelt zu haben«; was bei den Geldern, die Saint-Loup ihr gab, sicherlich nicht lange Zeit brauchen würde – eine Zeit immerhin, welche als Draufgabe gewährt ward, das Glück meines neuen Freundes zu verlängern – oder sein Unglück.

Diese dramatische Periode in ihrer Beziehung – die jetzt zu ihrer höchsten, für Saint-Loup unerträglichsten Zuspitzung gekommen war, denn die Frau hatte ihm untersagt, in Paris zu bleiben, wo seine Gegenwart sie außer sich brachte, und hatte ihn gezwungen, seinen Urlaub in Balbec neben seiner Garnison zu verleben – sie hatte ihren Anfang eines Abends bei einer Tante von Saint-Loup genommen, bei der er es durchgesetzt hatte, daß seine Freundin erscheinen durfte, um vor zahlreichen Gästen Fragmente eines symbolistischen Stückes herzusagen, in dem sie früher einst auf einem Avant-garde-Theater mitgespielt hatte und für das sie in Saint-Loup eine Bewunderung zu wecken verstanden hatte, wie sie selbst sie empfand.

Als sie dann aber, in der Hand eine große Lilie, in einem Kostüm erschienen war, das nach der Ancilla Domini kopiert war und Robert überzeugend als wahrhaft »künstlerische Kreation von ihr war dargestellt worden, war ihr Eintritt in diese Versammlung von Herzoginnen und Klubleuten ringsum mit Lächeln begrüßt worden, und die Monotonie des psalmotierenden Vortrags, das Ausgefallene gewisser Worte, die sich häufig wiederholten, hatten es in ein zwerchfellerschütterndes Lachen verwandelt, das erst erstickt, dann aber so unwiderstehlich wurde, daß die arme Rezitatorin nicht hatte fortfahren können. Am andern Tage gab es nur eine Stimme des Tadels, daß Saint-Loups Tante eine derartig groteske Künstlerin bei sich habe auftreten lassen. Ein recht bekannter Herzog machte ihr kein Hehl daraus, sie habe nur sich selber es zuzuschreiben, wenn sie Kritiken sich zuzöge.

»Zum Teufel nochmal, man kommt uns eben nicht mit Nummern von solchem Kaliber. Wenn die Frau noch Talent hätte, aber sie hat keines und wird nie welches haben. Sapristi! Paris ist nicht so auf den Kopf gefallen, wie man es immer sagt. Die Gesellschaft besteht nicht allein aus Einfaltspinseln. Das kleine Fräulein ist offenbar der Meinung gewesen, sie werde Paris in Erstaunen setzen. Aber es ist denn doch nicht so leicht, Paris in Erstaunen zu setzen, und es gibt immer noch Sachen, die wir von keinem uns weismachen, lassen.«

Die Künstlerin aber sagte Saint-Loup, als sie fortging:

»Zu was für Puten, was für unerzognen Dirnen, was für Pferdeknechten hast du mich da gelockt? Damit du's nur weißt: nicht einer von den Männern da hat es unterlassen, mir mit den Augen, mit den Füßen Zeichen zu machen, und weil ich von ihren Avancen nichts wissen wollte, haben sie Rache zu nehmen versucht.«

Diese Worte hatten die ehemalige Aversion gegen Leute aus der Gesellschaft bei Robert in einen weit tiefergehenden Abscheu verwandelt, der ihn noch mehr leiden machte. Und es erfüllten ihn damit vor allem die, die es am wenigsten verdienten, Verwandte, welche an ihm hingen und als Abgesandte seiner Familie versucht hatten, die Freundin von Saint-Loup zu einem Bruche mit ihm zu veranlassen – ein Vorhaben, das diese Saint-Loup als motiviert durch deren Leidenschaft zu ihr darstellte. Obwohl Robert daraufhin sofort den Umgang mit ihnen abgebrochen hatte, glaubte er immer, wenn er von seiner Freundin entfernt war, wie gerade jetzt, es könnten dieselben oder andere die Gelegenheit benutzen, um die Sache nochmals zu versuchen, und sie seien vielleicht von ihr erhört worden. Und wenn er von den Lebemännern sprach, die ihre Freunde hintergehen und trachten, deren Frauen zu verderben, indem sie den Versuch machen, in eine maison de passe sie kommen zu lassen, dann waren Haß und Qual in seinen Zügen zu lesen.

»Ich hätte weniger Gewissensbisse, sie zu töten als einen Hund, der wenigstens ein angenehmes, loyales und treues Tier ist. Das sind die Leute, die wirklich die Guillotine verdienen, mehr als die Unglücklichen, die Elend und die Grausamkeit der Reichen zu Verbrechen geführt hat.«

Er verwandte den größten Teil seiner Zeit darauf, Briefe und Depeschen an seine Geliebte zu senden. Jedesmal, wenn ihr gelungen war, trotzdem sie nach Paris zu kommen ihn verhinderte, aus der Entfernung ein Zerwürfnis mit ihm heraufzuführen, erfuhr ich es aus seinem verstörten Gesicht. Da seine Geliebte ihm nie sagte, was sie ihm eigentlich vorzuwerfen habe, kam ihm der Argwohn, vielleicht sagte sie's ihm darum nicht, weil sie's nicht wisse und ganz einfach genug von ihm habe; da hätte er denn doch wieder Erklärungen haben mögen und schrieb ihr: »Sage mir, was ich verfehlt habe. Ich bin bereit, mein ganzes Unrecht anzuerkennen.« Und wirklich hatte sein Kummer zur Folge, daß er überzeugt war, schlecht gehandelt zu haben.

Aber sie ließ ihn endlos auf Antworten warten, die zudem keinen Sinn gaben. So sah ich denn fast immer Saint-Loup mit sorgenvoller Stirne und recht oft mit leeren Händen von der Post kommen, wo er als einziger, außer Françoise, im ganzen Hotel seine Briefe stets selber aufgab und abholte. Er tat es als der ungeduldige Liebhaber, sie als der mißtrauische Dienstbote. (Die Depeschen zwangen ihn, sehr viel mehr hin und her zu laufen.)

Als einige Tage nach dem Diner bei den Bloch meine Großmutter mir froh die Mitteilung machte, Saint-Loup habe sie soeben gefragt, ob sie nicht möge, daß er sie photographiere, bevor er von Balbec abreise; und als ich dann sah, daß sie dafür ihre schönste Toilette angelegt hatte und zwischen mehreren Frisuren schwankte, da fühlte ich, wie diese Kinderei, die mich an ihr sehr wundernahm, mich etwas aufbrachte. Es ging sogar so weit, daß ich mich fragte, ob ich mich nicht in meiner Großmutter getäuscht, ob ich sie nicht zu hoch gestellt habe, ob sie wirklich so gar kein Interesse an allem habe, was ihre Person anging, wie ich es immer angenommen hatte, und ob sie nicht, was, wie ich meinte, ihr am fremdesten von allem sei, besäße: Koketterie.

Das Mißvergnügen, das die geplante Aufnahme, vor allem aber die Genugtuung, die meine Großmutter an ihr zu haben schien, in mir auslöste, trat leider hinreichend bei mir hervor, um von Françoise bemerkt zu werden, und, ohne es zu wollen, sorgte sie eifrig für sein Anwachsen durch eine sentimentale, gerührte Ansprache, vor der ich nicht den Eindruck erwecken wollte, ich pflichte ihr bei:

»Ach! junger Herr, der armen gnädigen Frau muß man die Freude lassen; sie wird so glücklich sein, daß man sie aufnimmt, daß sie den Hut aufsetzen kann, den ihre alte Françoise ihr gemacht hat, man muß sie machen lassen, junger Herr.«

Ich überzeugte mich, es sei nicht grausam, wenn ich über die Rührseligkeit von Françoise mich lustig mache, denn ich entsann mich, wie oft meine Mutter und meine Großmutter, die in allem mir Vorbilder waren, das auch getan hatten. Meiner Großmutter aber fiel auf, daß ich verdrossen aussah, und sie sagte, wenn diese Sitzung zur Aufnahme mir irgendwie unangenehm sei, so würde sie darauf verzichten. Das wollte ich nicht; ich versicherte ihr, nichts spreche, soviel ich sähe, dagegen, und ließ sie sich schön machen; aber ich glaubte einen Beweis meines Scharfsinns und meiner Geradheit durch einige verletzende, ironische Worte zu geben, die bestimmt waren, die Freude zu dämpfen, die sie am Aufgenommenwerden zu haben schien; und wenn ich sehen gezwungen war, den wundervollen Hut meiner Großmutter zu sehen, gelang es mir doch wenigstens, aus ihrem Gesicht die Freude, die mich hätte glücklich machen sollen, zu tilgen; doch gerade die erscheint uns allzuoft, solange nämlich die, die wir am liebsten haben, noch am Leben sind, eher als unerträglicher Ausdruck einer mesquinen Schrulle denn als das kostbare Bild des Glückes, das wir so gerne ihnen schenken wollen. Vor allem rührte meine schlechte Laune daher, daß in dieser Woche, wie es schien, meine Großmutter mich geflohen hatte und ich nicht einen Augenblick, sei's am Tag, sei's am Abend, sie hatte für mich haben können. Wenn ich am Nachmittag heimkam, um etwas allein mit ihr zu sein, hieß es, sie sei nicht da; oder sie schloß sich mit Françoise zu langen Verschwornensitzungen ein, die ich nicht stören durfte. Und wenn ich abends mit Saint-Loup ausgewesen war und während der Rückfahrt an den Augenblick dachte, in dem ich meine Großmutter würde wiedersehen und umarmen können, dann mochte ich, solange ich wollte, auf ihre kleinen Klopfzeichen an der Zwischenwand warten, die da bedeuteten, ich solle kommen und ihr guten Abend sagen: ich hörte nichts: schließlich legte ich mich schlafen; doch ein wenig verdachte ich's ihr, daß sie mit einer Gleichgültigkeit, die mir so neu bei ihr war, um eine Freude mich bringe, auf die ich gezählt hatte; und so blieb ich noch mit Herzklopfen wach wie als Kind, horchte auf die Mauer, die stumm blieb, und schlief unter Tränen dann ein.

 

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