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Erstes Buch:
Der Schuldige

An den Pastor Desartiguer

Engelberg, Oberrhein

Mein lieber Samuel,

ich wähle die Briefform, aber nicht um mit Dir eine seit so langer Zeit unterbrochene Korrespondenz wieder anzuknüpfen. Als Schüler und Studenten verlebten wir unsere Jugend wie zwei Brüder; vom Leben getrennt wechselten wir Briefe, erst häufig, dann seltener, und schließlich hörte   durch meine Schuld, wie ich zugebe   auch dieser magere Verkehr auf.

Was denkst Du über mich an diesem Sommerende des Jahres 1927? Wahrscheinlich nichts besonders Schmeichelhaftes, und vielleicht bin ich noch weniger wert, als Du denkst. Trotzdem bin ich Deines Herzens sicher. Du hast für mich nicht aufgehört, den stärksten sittlichen Wert in Deiner Person zu verkörpern, und ich kann Dir versichern, daß in angsterfüllten Stunden Dein Wort und Dein Beispiel in mir immer lebendig werden. Das besagt leider Gottes nicht, daß ich mein Leben danach gerichtet hätte! Aber so seltsam Dir das auch erscheinen mag nach so vielen Jahren des Schweigens und der Trennung, kann ich Dir doch ohne Übertreibung sagen: Ich habe keinen andern Freund als Dich. Beweis dafür ist das Testament, das ich Dir hier mit der Bitte schicke, sein Vollstrecker zu sein. Es ist, wie Du siehst, 1925 datiert, aber keineswegs vordatiert. Ich habe es wirklich im Jahre 1925 vom Notar Capot in Boursès aufsetzen lassen. Ich fühlte mich damals und zum erstenmal in meinem Leben recht krank, und es schien mir klug, das Schlimmste zu bedenken. Aber ich wurde wieder gesund. Meine Krankheit ließ mich bloß einige Jahre einholen, die ich mit meinem Aussehen im Rückstand war.

Heute fühle ich mich körperlich wohl, stehe aber in einer moralischen Krise, ernster als jede Krankheit. Und so bitte ich Dich, das beiliegende Schriftstück günstig aufzunehmen, an dem ich keine Änderung nötig finde, und bitte Dich ferner, das bescheidene Vermächtnis anzunehmen, sei es zur Bestreitung der nicht unbeträchtlichen Kosten Deiner durch mich verursachten Reisen, sei es für Dein christliches Liebeswerk. Im voraus danke ich Dir herzlich. Und jetzt hör' mich an: Dieses Testament hier betrifft nur die Zukunft meiner Habe. Aber es gibt etwas, woran mir weit mehr liegt, und das ist die Zukunft meines Namens, den ich so unversehrt hinterlassen möchte, wie ich ihn empfangen habe. Und mehr als das: es betrifft die Zukunft meines Andenkens bei dem einzigen Menschen, an dessen Urteil mir gelegen ist, und der bist Du.

Lies also dieses andere Testament, das ich hier niederschreibe, und in dem ich mich Dir vermache.

In der kleinen Kirche von Boursès, nackt und ernst, die erfüllt ist von der Erinnerung an die Verfolgungen, die zu Zeiten des Montluc unsere Glaubensbrüder erfahren haben, da sollst Du, so wünsche ich, die letzten Worte über meinem Leichnam sprechen. Ich bin sicher, Du wirst mein Geheimnis nicht verraten. Aber ich will, daß Du vor unsern Brüdern offen sagst, was Du über mich denkst. Denn wenn ich mich auch schuldig weiß, so schäme ich mich doch meiner nicht.

*

Wie weit liegt das alles zurück, dessen ich jetzt gedenken und wohin ich Dich mitnehmen muß! Aber einige Worte werden genügen, Dir wenigstens die örtlichen Umstände deutlich zu machen. Ich schreibe Dir an dem alten Eichentisch mit den gedrehten Füßen in dem Zimmer, das wir immer »das Bureau« genannt haben. Damals hast Du meinen Vater in diesem Raum gesehen, angezogen wie einen Bauer, Mütze auf dem Kopf, Pfeife zwischen den Zähnen, wie er an diesem Tisch mit wütenden Augen die Abrechnungen seiner Pächter prüfte und zerpflückte. Vieles hat sich in unserm Hause La Gatère geändert; es hat sich Stück um Stück modernisiert. Aber dieses Bureau habe ich unberührt gelassen, wie ich's vom Ahn überkam: den Gewehrschrank, die drei Gestelle mit landwirtschaftlichen Büchern und dem Lexikon, die lithographierten Rennbilder von Alfred de Dreux, die imitierte Ledertapete, den Lehnstuhl mit den Ohrenklappen (das Grün und das Rot seiner Handstickerei ist ein unnennbares Bräunlich geworden), die Glyzine vorm Fenster, die von oben her das Tageslicht frißt, aber einen so schönen Lilaton ins Zimmer bringt, wenn die Sonne voll darauf scheint ... Du hast das zuerst bemerkt, und wir andern sagten es Dir nach; denn Vater, Mutter und ich, bevor ich unter Deinen Einfluß kam, wir waren nichts weniger als künstlerisch oder sonst empfindsam für schöne Eindrücke.

Nichts also hat sich da geändert. Bis auf eines: die Petroleumlampe, deren sich mein Vater bediente, hat einer elektrischen Ampel Platz gemacht, unter deren opalisierendem Glase, dessen gelbliches Rund auf das Papier fällt, ich sitze und schreibe. Ich selber habe mit Hilfe meines kleinen Dieners Cyrill die elektrische Beleuchtung im Hause gelegt, und sie funktioniert sehr gut. Ich war damit beschäftigt, mit Cyrill eine Zentralheizung einzurichten, als die Ereignisse mich hierin unterbrachen ... In solche handwerkliche Tätigkeiten, für die ich ein gewisses Geschick besitze, habe ich mich in Stunden moralischer Krisen geflüchtet, um nicht denken zu müssen. Da hat man nur mit Kabeln, mit Litzen, mit Löcherbohren zu tun und fällt des Abends, von Müdigkeit gebrochen, ins Bett zu einem tiefen Schlaf von acht Stunden.

Aber zuweilen ist das Denken stärker. Und anstatt daß es sich von der Hände Arbeit aufhalten läßt, hält es sie auf.

Außer dem Licht bin ich es, der sich geändert hat. Nicht der Körperfülle nach, wenn ich auch wie Du die Fünfzig ziemlich überschritten habe. Natürlich bin ich nicht mehr der Hervé von der juristischen Fakultät, der Student ... Erinnerst Du Dich der kleinen Wäscherin aus Toulouse und ihres »Herrgott nein, ist er hübsch, der braune Kerl!« ... Will ich den Unterschied zwischen meinen neunzehn Jahren damals in Toulouse und meinen heutigen Jahren messen, brauch' ich mich nur neben meinen Sohn Arnal vor den Spiegel zu stellen. Nach langer Abwesenheit lebt Arnal jetzt hier im Schloß seit sechs Monaten. Er ist dreißig. Er ist mein »jüngeres Ich«, ein bißchen kleiner, aber immerhin einen Meter zweiundsiebzig; hat den gleichen bräunlichen Teint, dieselben regelmäßigen Züge. Seine Augen sind größer, ein bläuliches Braun. Sein Mund hat bessere Linien, nicht diese häßliche Schwellung, die meine Oberlippe rechts verunstaltet. Aber ohne Anmaßung glaube ich, ich war in seinem Alter hübscher. Die Leute hier sagen nicht »der schöne Arnal«, wie sie einst sagten »der schöne Hervé«. Sie sagen: »Herr Arnal ist gut gewachsen und hat ein nettes Gesicht.« Was nicht hindert, daß ich beim Vergleich im Spiegel feststelle, was der schöne Hervé verloren hat. Die Haare halten ja noch, sind eisengrau und hart wie die unseres Terriers Muche. Arnals zurückgekämmte Haare sind sicher weniger dicht. Aber mein Gesicht ist dicker geworden, die Figur auch. Seit meinem Sturz vom Pferde 1904, der mir das linke Knie ausgerenkt hat, hinke ich zwar nicht, aber ich trainiere doch weit weniger, gehe wenig zu Fuß, gar nicht auf die Jagd. Begnüge mich mit meinem kleinen Zehnpferder, den ich auf den schlimmsten Waldwegen selbst steuere.

Also der schöne Hervé hat den Jahren seinen Tribut bezahlt, während sein Sohn den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht hat.

Was nicht hindert, daß meine Neunundfünfzig lebendiger, heißer und alles in allem jünger sind als seine Dreißig. Ich werde Dir das noch zu erklären versuchen. Wenn ich nämlich jetzt schon von Arnal spräche, brächte ich meine ganze Geschichte durcheinander und würde mich nicht mehr herausfinden.

Ganz unverändert und gerade um das alte Haus und seinen Herrn herum blieb die Landschaft, die Du, wild wie sie war und blieb, ja so sehr liebtest. Da kam nicht Feld, nicht Siedlung. Die Städte vergrößern sich, verschönern sich oder verfallen; auf bestellbarem Boden gedeiht die Rebe oder verkommt, wechselt Weide mit Ackerland; aber wo nichts ist als armseliges hartes Gras und braunes oder schwarzes Gestein, da bleibt die Natur unverändert. Das ist der Fall bei diesem breiten und tiefen felsigen Bruche, den der Wildbach Cayrou so bizarr in eine fruchtbare Hochebene reißt, so daß man um La Gatère, mitten im lachenden Albret, durch ein Stück des schwarzen Périgord zu kommen glaubt.

Wir haben das miteinander genossen, diesen Gegensatz eines unfruchtbaren und wilden Winkels zu der Üppigkeit seiner Umgebung. Zu diesem Winkel zieht es mich immer, wenn ich in Gedanken mit Dir beisammen sein will, mit Dir sprechen, Dir zuhören. Mit Dir   nicht wie Du jetzt bist in der Heiligkeit Deines Amtes, sondern wie Du als Schüler warst, der Zukunft unsicher wie ich und voll wirrer Leidenschaften. Ohne uns zu kennen, haben wir uns doch gleich erkannt, damals im Hof des kleinen protestantischen Pensionates von Montauban! Ich kam aus England, wo ich, der Tradition unserer Familie folgend, ein Jahr im College von Salisbury verbracht hatte: die erste Schulpause brachte uns einander nah, und wir trennten uns nicht mehr. In den großen Ferien verließest Du für einen ganzen Monat Deine alte Mama, um mich in La Gatère zu besuchen ... Es kommt mir vor, als hätten dieser und spätere gemeinsame Ferienmonate mehr leibliches und seelisches Leben enthalten als mein ganzes übriges Leben. Unermüdlich war damals unser Körper und unser Geist. Wir fuhren auf dem Hochrad, von dem man so hart fällt. Wir ritten die kleinen Landklepper lahm, die das Stück dreihundert Franken kosteten. Aber ganz besonders wanderten wir nicht endende Wege, schweigend oder so von Gedanken bedrängt, daß wir beide gleichzeitig sprachen. Kamen wir durch ein Dorf, schauten mir die Mädchen, die Weiber nach. Du bemerktest das, Dein Gesicht bekam einen strengen Ernst, und mir wurde unbehaglich vor Deinem Gesicht. Alle beide dachten wir damals an die Frau, aber jeder auf seine eigene Weise: Du fromm und tugendhaft, wie an eine Gefahr; ich ohne wahre Frömmigkeit, an die Religion nur gebunden durch ererbten Stolz, nicht durch den Glauben,  wie an eine köstliche, noch nicht zugängliche Eroberung ... Die Einführung in die Liebe erfolgte für mich sehr frühzeitig; eine Freundin meiner Eltern gab sich dazu her, und ich machte Dich sofort zum Vertrauten in dieser Sache.

... Ich sehe noch, wie Du bleich wurdest, verwirrt, fast traurig. Mit welch ängstlicher Neugierde Du mich ausfragtest! Meine lustige Ruhe reizte Dich ... »Du bist ein abscheulicher Sünder!« sagtest Du ... »Und nicht einmal das Bewußtsein einer Sünde hast Du! Hast Du denn nicht auch nur für eine Minute Gewissensbisse?« Und ich war ganz ehrlich in meiner Antwort, daß ganz im Gegenteil mein sittliches Gleichgewicht nach diesem Sturz sich plötzlich wie von selber herstellte, während ich vor ihm nervös, unruhig und geplagt von unbefriedigten Begierden gewesen war ... So war es auch in der Folge, besonders damals, als wir in Toulouse uns auf das Lizentiat vorbereiteten. Du auf das philosophische, ich auf das juristische. Je lebendiger meine Verliebtheit war, um so leistungsfähiger wurde auch mein Geist, um so besser studierte ich, um so glücklicher liefen die Examina ab ... Währenddem wurde Deine lange Silhouette immer magerer durch Selbstkasteiung, und ich erriet, daß auch Dir das Ewig-Weibliche nicht gleichgültig war.

Um unsere Jünglingsgemeinschaft noch besser wiederaufstehen zu lassen, bevor ich Dir von neuem mein Herz ausschütte, will ich Dich an eine einzigartige Szene erinnern: sie spielte sich nur ein paar Monate vor unserer endgültigen Trennung ab. Trotz ihrer fast nackten Einfachheit zählt sie zu den stärksten Erinnerungen meines Lebens.

Es war gegen das Ende unserer Lizentiatenzeit. Du warst für vier Pfingstfeiertage nach La Gatère herübergekommen. Vater und Mutter lebten noch: sie dem Aussehn nach noch sehr jung, er schon schwerfällig, aufgedunsen, verkalkt. Es waren Tage lebhaftesten Gespräches über das Leben und seinen Sinn, über Gott, die Hölle, die Frauen, die Liebe ... Wir nannten das anmaßend »Ideenaustausch« ... An einem dieser nicht endenden Maiabende kamen wir zu Fuß über die Höhe von Le Lot nach La Gatère zurück. Ich war hinter meinem Hund her, der einer Spur nach in die Eichen gelaufen war. Als ich mit dem Tier zu Dir zurückkam, standest Du wie gebannt, die Augen dorthin gerichtet, wo eben die Sonne unterging. Ich mußte Dich an der Schulter berühren, damit Du wieder zu Dir kämest. Da sagtest Du: »Ich habe meine Zukunft gesehen. Ich werde ein Diener des göttlichen Meisters werden. Ich werde fern von Dir leben. Eine Frau wird mich lieben. Ich werde Kinder haben.«

Du warfst Dich mir in die Arme, und wir küßten uns. Dann gingen wir ins Haus, sprachen kein Wort mehr. Ich war geängstet. Egoistisch dachte ich: »Und ich? Was wird aus mir? Dasselbe wie mein Vater? Wie mein Großvater? Die Erde Frucht und Wert tragen lassen und gleichzeitig sie beschimpfen? Jagen? Essen und mächtig trinken? Bald sein Weib vernachlässigen, um mit den Pächterinnen schön zu tun? Die Aussicht auf eine solche Zukunft drehte mir den Magen um ... Aber da tauchte vor mir das Bild eines jungen Mädchens auf, das ich übermorgen wiedersehen würde, wie sie mich ängstlich voll Verlangen am Bahnsteig in Toulouse erwartete. Das war sichere Beruhigung, wenigstens für den Augenblick, Erlösung von den quälenden Aussichten auf die Zukunft.

Schon gab ich diesem mysteriösen Trunk einen Namen: das weibliche Opium.

 

Wir hatten beide das Schlußexamen glänzend bestanden. Drei Wochen der großen Ferien, die ihm folgten, wohntest Du in La Gatère. Am Ende dieser drei Wochen zogst Du mit Deiner Mutter, die Deine Wirtschaft führen sollte, nach Paris, um Theologie zu studieren. Ich diente mein Einjährigenjahr in Montauban ab. In der wilden Schlucht des Cayrou, deren Verlassenheit wir so gern aufsuchten, versuchtest Du zum letztenmal mit der Autorität, die Du durch Deinen erwählten Beruf über mich erlangt hattest, mich zur Enthaltsamkeit zu bekehren. Wir saßen jeder auf einem Felsblock, und ich bewunderte die apostolische Kraft Deines Wortes; mein Herz war ganz mit Dir, meine Vernunft und meine Sinne leisteten Widerstand. Vielleicht haben Deine Beschwörungen mir sogar die Sinne warm gemacht.

Du begannst mit den Worten der Schrift: »Wer sich mit einem Weibe vereinigt, der macht sich ihm gleich ...« Und fügtest hinzu: »Sieh, wie du einen Leib erniedrigst, den der Herr erlöst hat!«

Und ich, der Ungläubige, antwortete: »Aber auch das Weib macht sich mir gleich. Warum also sagen, daß ich mich erniedrige, und nicht, daß das Weib sich erhöht?«

Meine übermütige Bemerkung machte Dich traurig, wie ich merkte. Ich stand auf, setzte mich neben Dich, nahm Deine Hände.

»Es ist nicht alles Ironie in meiner Antwort, Samuel. Ich glaube, nicht ein einziges meiner Abenteuer   und es waren viele bloße Gefälligkeiten darunter   hat sich vollendet, ohne daß nicht ein bißchen Freude oder Hoffnung oder ein Geschmack am Guten in der Seele meiner Gefährtin zurückgeblieben wäre, wenn auch nur für eine ganz kurze Weile.«

Du stießest meine Hände von Dir und riefst: »Das heißt die Tugend lästern und das Böse verherrlichen!«

Aber Du faßtest Dich gleich wieder, sahst mich voll Mitleid an und sagtest leise: »Aber Du bist wenigstens ehrlich ...«

Ein paar Tage darauf trennten wir uns, für ein Jahr, wie wir glaubten. Und die Trennung währt noch.

 

Ich schäme mich, Dir nach solchen Gesprächen zu bekennen, daß ich ein Einjähriger war wie alle andern. Der Dienst, ein bißchen Sport, die Karten, Trinken, die Weiber ... Selbst die Bücher vergaß ich. Meine Briefe an Dich wurden seltener, durch meine Schuld. Du schriebst mir schöne lange Seiten voll moralischen Inhaltes; ich antwortete mit kurzen Karten. In dem derben Milieu schlief mein Gefühl fürs Schickliche ein.

Als das Jahr um war, hatte unsere Korrespondenz fast aufgehört. Ich nahm mir vor, sie in La Gatère wieder lebhafter zu machen. Heimgekehrt bedauerte ich fast, die Kaserne verlassen zu haben. Diese hatte mich bloß fühllos und stumpf gemacht. Das väterliche Haus warf mich wieder in den Zustand unklarer Angst, schmerzlicher Unentschiedenheit und chronischer Verstimmtheit, wozu ich von Natur aus neige und den Deine Anwesenheit während unserer Schul- und Studienjahre so gut zu vertreiben verstand. Du kannst Dir sie nicht vorstellen, diese Kraft des Versinkens, die in der Provinz die »Schloßkinder« belauert und umfängt, sowie sie nach beendigten Studien wieder heimkommen. Seit ich das menschliche Wort verstehen konnte, habe ich von Pächtern und den Dienern des Hauses hören müssen, was sie uns allen sagen: »Herr Hervé, der braucht nicht zu arbeiten, denn er ist reich und kann leben, ohne was zu tun. Er wäre schön dumm, wenn er arbeitete.« Ich kam zurück in ein Heim, wo   nicht durch ihre Schuld, sondern durch die einer Verfassung, die sie ausschloß von öffentlichen Aufgaben   weder mein Vater noch mein Großvater, noch dessen Vater und dessen Großvater je irgendwas anderes getan haben, als gut und behaglich von ihren Einkünften leben und sich mit ihrem Grundbesitz beschäftigen, das heißt zuschauen, wie man pflügt, sät, erntet, die Rebe bindet   außerdem jagen, fischen, Karten spielen, sich zu Hause oder bei Freunden den Wanst vollschlagen, seiner Frau oder manchmal der Frau des Nachbarn Kinder machen.

Das war das Schicksal, das mich erwartete. Mir schauderte. Stell' Dir danach Deinen Jugendgefährten vor, wie ihn mit einundzwanzig Jahren das Haus wieder bei sich aufnahm. Es ist November. Noch ist das Wetter schön, aber der Hochwald beginnt sich zu entlauben; schon bedrängt uns die Lethargie des nahenden Winters in langen Morgennebeln. In Montauban hörte vor der Roheit der Menschen und ihres Handwerks jedes Denken auf; hier fühlte ich, kaum daß ich mich eingelebt hatte, wie der Sauerteig der Traurigkeit wieder in mir gärte, dem nichts entgegenwirken konnte als Deine Gegenwart oder das weibliche Opium. Ich versuchte zu lesen. Seit einem Jahr hatte ich es nicht mehr getan. Die Bücher stießen mich ab. Ich hatte also nur gelesen, um mit Dir über das Gelesene zu sprechen. Mein Vater? Meine Mutter? ... Ihre Gesellschaft langweilt mich, bedrückt mich. Ich halte sie für minderwertig. Jede Gewohnheit und jede Geste meines Vaters reizt mich. Auch seine politischen Meinungen. Seine Art der Gutsverwaltung. Ich schäme mich seiner. Meine Mutter ist entzückend; ich sehe sie gern an, ich mag ihre Zärtlichkeit; die Bewunderung, die sie mir widmet, gereicht mir zur Genugtuung; aber wie unwissend ist sie, ganz eingezwängt in die Vorurteile der Kaste, abergläubisch und zuweilen völlig leer und nichtig. Gesellschaftlich kommt man zu dieser Jahreszeit selten zusammen. Außerdem hat mich nie eine Gesellschaft unterhalten, wo ich nicht das verfolgte, was Du ein sündiges Unternehmen nennst.

Was also tun? Ich kehre zu meiner Sünde zurück, zu meiner chronischen Trunkenheit, zum weiblichen Opium!

Ich suche nicht einmal die Gelegenheit. Sie sucht mich. Ich nehme, was genommen zu werden wünscht. Weder aus Sentimentalität, noch aus Zynismus. Wie man eben Opium nimmt. Genau so. Und wieder einmal stelle ich fest: Meine eingeborene Übellaunigkeit, Verstimmtheit, Gelangweiltheit, die weder durch Körperübung noch Gesellschaft, weder durch Bücher noch Studium besiegt wird   im Verkehr mit der Frau werde ich ihrer Herr. Jeder Frau? Nein. Aber die Auswahl ist zu reichlich und zu unbeschränkt, als daß ich lange zu zaudern brauchte. Sie schließt häßliche und alternde Frauen von vornherein aus. Aber kommt mir ein junges Verlangen entgegen, berauscht es mich, und nur in dieser Trunkenheit vermag ich die öde Gleichgültigkeit zu ertränken, die mein Leben so fade macht. Immerhin lehrte mich eine allzu frühe Erfahrung bereits, daß bei diesen so leicht zu bestehenden Abenteuern das heutige Erlebnis das gestrige nachäfft, und daß das morgige wieder das heutige nachäffen wird. Aber die Pfeife Opium gleicht ja auch allen andern, die man geraucht hat, und es hindert das doch den Raucher nicht, immer wieder und mit der gleichen fiebrigen Ungeduld die schwarze geknetete Kugel in die Pfeife zu stopfen.

Doch ich will nicht doktrinär werden. Ich lasse mich gehen ... Wie ist es doch schwer, seine Gedanken zu zügeln! Ich will mich kurz fassen, will Zahlen und Tatsachen bringen. Die Geschichte vier leerer und feiger Jahre ist nicht ein Blatt Papier wert. Aber mußte ich Dir nicht diesen versumpfenden und elenden Hervé vorstellen, den Du nie gekannt hast?

Februar 1892 starb mein Vater. Meine Mutter, die diesen armen Mann anbetete, bekam bald danach ein Leberleiden und überlebte ihn nicht lange. Schreckliche Öde im Hause. Neurasthenie. Krankhafte Angstzustände. Es endet damit, daß ich mich wie einst auf der Schule (Du protestiertest dagegen!) fragte: »Bin ich einfach ein Degenerierter, einer, der sein Gleichgewicht verloren hat?« Kann mich Deine Strenge für schuldig halten, wenn ich in meinen Ängsten eine vorübergehende Beruhigung dort suche, wo ich sie zu finden sicher bin?

Endlich ein Blitz in dieser trostlosen und schwer drückenden Dunkelheit. Schließ mir Dein Herz auf, Samuel, und so weit, als ob ich mich Deiner Freundschaft würdiger gezeigt hätte, als es der Fall war. Hör', was mit mir am 23. September 1896 geschah. An dem Tage verließ ich, es war etwas vor sechs, plötzlich das Haus, als ob mich ein Stelldichein riefe. Ich begab mich an jene Stelle am Cayrou, wo ich Dich sieben Jahre zuvor getroffen hatte, gebannt im Angesicht Deines künftigen Schicksals. Ich rief Dich an. Ich sprach mit Dir. Ich flehte Dich an. Ganz laut rief ich: »Rette mich, Samuel! Gib mir einen Rat! Ich stürze in etwas Schreckliches! Was soll ich tun?« Ich hatte die kindliche Vorstellung, daß Du mich hören müßtest und ein Brief von Dir mir bald Antwort bringen würde. Natürlich kam kein Brief. Das dunkle Bedürfnis nach Wundern bleibt aber auch dem Ungläubigen. Ich bildete mir ein, Du ständest hinter der Antwort, die ich meinen verzweifelten Fragen gab; ich hörte Dich sagen: »Heirate!«

Am 16. Dezember 1896 heiratete ich Marie Angelika von Lagueyse: neunzehn Jahre, unregelmäßiges, frisches Gesicht, reizend ohne Schönheit, Leib einer Nymphe.   Ein Wunder! (Mein Aberglaube schrieb es Dir zu.) Ein Wunder! Heilung! Wiederherstellung meiner moralischen Gesundheit, meines sittlichen Gleichgewichts. Das weibliche Opium hab' ich nun ganz nah und künftig nach meinem Belieben, aber selbst aus dieser Leichtigkeit kommt keine Übersättigung. Der Trunk behält seine Kraft der Besänftigung, des Wohlbehagens. Keine Angst, die mich schon im voraus packte. Keine Melancholie, wenn der Trunk getan ist. Ich komme mir vor wie die Vergifteten, die man mit Tabak ohne Nikotin oder mit koffeinfreiem Kaffee geheilt hat.

Und siehe: sechzehn Monate des Friedens ... nein, das ist nicht genug gesagt   sechzehn Monate des Glücks.

Ja, Glück! Das Glück ist ja kein Ereignis, kein Gewinn, keine Eroberung, keine Würde. Am Tage nach dem glücklichen Ereignis beginnt die stumpfsinnige Alltäglichkeit des Lebens wieder von neuem. Das wahre Glück hat eine intensive Stetigkeit, eine heitere stille Dauer. Nichts Verblüffendes oder Ungewöhnliches, Einzigartiges erwarten, nicht sein Leben fühlen; mehr oder minder jeden Wechsel fürchten, denn in jedem Fall bedeutet Wechseln ein Wagnis. Den Kopf an die Brust der treuen Geliebten betten; Hände, die man im gemeinsamen Bette sucht, an die man sich klammert, um sich daran aus dem Abgrund der Sorgen zu ziehen ... einen Namen rufen ... und die leise Stimme hören, die neues Leben schenkt.

Ich habe sechzehn Monate dieses dauernden Glückes genossen. Im fünfzehnten Monat brachte Angelika einen Sohn zur Welt, den wir Jean-Marie-Arnal nannten: Arnal ist wie Hervé ein Name unserer Familie. Die Geburt ging nicht glatt, und eine Bauchfellentzündung war die Folge. Aber dieses Mal erfüllte sich das Geschick noch nicht. Angelika erholte sich. Sie behielt wohl empfindliche Bronchien und mußte sehr vorsichtig leben   Gegenstand meiner beständigen Sorgen  , aber sie lebte. Sie fuhr fort, über die Klugheit hinaus mir jenen berauschenden Trunk der Liebe zu reichen, der mich in einer Weise beglückte, daß mich die Zerbrechlichkeit dieses Glückes in keiner Weise beunruhigte ... Aber ein solches Glück läßt sich nicht erzählen; das Unveränderliche hat weder Maß noch Geschichte. Zudem hat es nichts mit der gegenwärtigen Krise zu tun.

Nicht die geringsten Geschehnisse dieser Zeit sind meiner Erinnerung entschwunden. Ich hab' es nicht nötig gehabt, wie mein Sohn seit seiner Kindheit, jeden Tag die Seiten eines gebundenen Heftes mit Buchstaben zu bedecken, eine Schreibmanie für uninteressante Dinge, die periodisch in unserer Familie auftritt. Seit 1621 (das Jahr, in dem sich mein Urgroßvater in La Gatère niederließ) füllte sich das Schloßarchiv mit faden Bekenntnissen verliebter Frauen und anspruchsvollen Erinnerungen schreibbeflissener Herren der Familie. Die Gedichte gar nicht zu zählen! Schwülstiger, nichtiger Plunder! Gott sei Dank, weder mein Vater noch ich haben diesem Laster gehuldigt, das in meinem Sohn wieder aufblühte. Meine Vergangenheit ist in meinem Kopf niedergeschrieben und lastet dort schwer genug. Auf der Schule behauptetest Du einmal, ich würde eines Tages schreiben. Ich wurde auch für Schulaufsätze belobt, die mir leicht von der Hand gingen. Zusammen mit einigen anderen Begabungen hat die ländliche Faulheit das alles verschlungen. Ich schreibe wenig. Meine persönlichen Erinnerungen sind die Wirtschaftsbücher meiner Einnahmen und Ausgaben, kurze Notizen über den Wechsel von Dienstleuten und Pächtern. Gräbt das einer einmal aus unserm Archiv aus, so erfährt er daraus nichts weiter als die Preise für Lebensmittel, Pachtsummen und Löhne für Dienstboten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und das sparsame Leben eines bescheidenen Schloßverwalters von Albret. Aber wenn ich so darin blättere, kann mich ein Datum, eine Ziffer nicht minder rühren als meinen Sohn, den »Denker«, die Vernünfteleien seiner Tagebücher aufregen.

Auf Seite 143 lese ich: »23. April 1898. Ließ das Häuschen unten am Hügel ausbessern und bewohnbar machen.«

Nicht in fünfzig und nicht einmal in zehn Jahren wird das irgendeinem, der es liest, etwas bedeuten. Für mich ist's wie das gedehnte ferne Heulen einer Schiffssirene, die man nächtlicherweile an den Ufern des Meeres hört.

Oder Seite 154: »Diener und Pächter im Schlosse versammelt und Lagueyse vorgestellt.«

Seite 157. »Einzug von Lagueyse unten am Fuße des Hügels. Er beginnt morgen seine Tätigkeit.«

Es gibt Augenblicke (es ist vielleicht krankhaft, ja es ist bestimmt krankhaft), wo es mich lüstet, meinem Herzen wehe zu tun ... Dann such' ich diese Daten in dem Tagesregister des Jahres 1898 auf und lese sie mit größter Aufmerksamkeit. Es ergibt sich daraus ein so scharfer Querschnitt durch Gegenwart und Vergangenheit, daß es schmerzt bis zur Wollust. Sich zu sagen, daß man das ruhig und gleichgültig hingeschrieben hat, und daß sich in diesem Geschriebenen die erste Ankündigung einer vom Schicksal gestellten tödlichen Falle verbarg! ...

Man verschafft sich so, gebannt über das Blatt gebeugt, die Sensation, in der Vergangenheit die Zukunft vorauszusehen, vor der man erschrickt.

*

Dabei war Jean-Louis de Lagueyse der harmloseste Mensch. Bruder oder vielmehr Halbbruder meiner Frau, hatte er, selber ohne Vermögen, ein Mädchen ohne Vermögen und ohne gesellschaftliche Stellung geheiratet. Das Pech verfolgte ihn. Guter Landwirt, durchaus nicht dumm, nüchtern, anständig und sogar tugendhaft, hatte er sein mageres Erbe auf einem ungünstigen Boden des Abhanges aufgebraucht. Dann verlor er, nach dreijähriger Ehe und beim zweiten Kindbett die Frau, die er trotz aller Widerstände geheiratet und angebetet hatte. Nun war er mit vierunddreißig Jahren Witwer mit einem Knaben von zwei Jahren und einem kaum der Brust entwöhnten kleinen Mädchen.

Auf Veranlassung von Angelika kam ihm die Familie zu Hilfe. Ein Bruder nahm den Jungen, der übrigens jung sterben sollte, zu sich und ließ ihn mit seinen eigenen Kindern aufziehen. Die Tochter Sidonie wurde von einer Tante adoptiert, einer alten Jungfer, Fräulein von Anglésis, die ein kleines Herrenhaus etwa zwölf Kilometer weit von La Gatère bewohnte (Aubiac, wie Du Dich vielleicht erinnerst; wir gaben unsern Spaziergängen zuweilen dieses Ziel). Meine Frau und ich, wir schlugen Jean vor, unter unserm Dach zu wohnen, und sagten ihm, um seine Eigenliebe zu schonen, seine Ratschläge hinsichtlich der Bewirtschaftung unseres Gutes seien uns wertvoll. Er lehnte ab, erklärte, er wolle sich sein Brot selber verdienen. Man mußte also eine andere Form finden. Er solle Wirtschaftsleiter auf unsern Gütern zu den üblichen Bedingungen unserer Gegend werden; er würde nicht bei uns, sondern unten in dem kleinen Haus am Fuße des Hügels wohnen, das seit langem unbewohnt sei, aber leicht wieder bewohnbar gemacht werden könne, und das für seine Aufsehertätigkeit mitten in der Domäne sehr bequem liege.

Während der sieben Jahre, die Jean da wohnte, also bis zu seinem Tode, hielt sich dieser wertvolle, vortreffliche Mensch uns gegenüber stolz in den Grenzen eines Angestellten, stolz, aber ohne dies zu übertreiben. Sonntags und Donnerstags aß er zu Mittag bei uns. Sonst nahm er seine frugalen Mahlzeiten zu Hause bei sich, von einem alten Weib bedient. Einfache Mahlzeiten! Er war von Natur aus ein nüchterner Mensch, aber auch aus Gesundheitsrücksichten, denn die Nieren machten ihm grausam zu schaffen. Nach dem Abendbrot erwarteten wir ihn immer im Schlosse, doch kam er nie öfter als zweimal in der Woche. In Gegenwart von Angelika, die eine gute Beraterin war, gingen wir die Gutsrechnungen durch, stellten die Arbeitspläne auf; und blieb dann noch Zeit übrig, spielten wir zu Dritt einige Partien eines heute längst vergessenen Kartenspiels, das jetzt selbst in Albret durch das aufregendere Bridge verdrängt ist.

Mein Schwager billigte eine Unterbrechung dieser Lebensweise nur, wenn unsere Tante, Fräulein d'Anglésis, mit ihrem Mündel Sidonie zu kurzem Besuch nach La Gatère kam. Dann war er einverstanden, alle Mahlzeiten bei uns einzunehmen. Aber die Besuche der Tante hörten bald auf. Sie war eine hochbetagte Dame und blieb ans Haus gefesselt. Von da ab fuhr Jean zu seiner Tochter.

Einen Gutsverwalter von seinen Qualitäten hab' ich nie mehr wieder gefunden. Er leitete die Bewirtschaftung der Domäne mit einer allen Möglichkeiten Rechnung tragenden Intelligenz und einem die Kräfte seiner schwachen Gesundheit sicher überschreitenden Tätigkeitsdrang. Zudem war er mir ein ergebener Genosse, erkenntlich ohne Servilität, von immer gleichbleibender Laune trotz seiner unaufhörlichen körperlichen Leiden. Schließlich starb er an dem Nierenabszeß, der lange schon seine zerstörende Arbeit begonnen hatte. Zwischen ihm und meiner Frau, für die er eine tiefe Verehrung hegte, bestand während dieser sieben Jahre eine vollkommene Harmonie. Heute bin ich der Meinung, daß jene Krisen der Angst und Niedergeschlagenheit, die Du ehemals bei mir beobachtetest und zu bekämpfen suchtest, viel mehr den Umständen als meiner Natur zuzuschreiben sind. »Du hast gar nichts an Dir von einem, der das innere Gleichgewicht verloren hätte«, sagtest Du mir ... Und das stimmte. Die Feindseligkeit der Umstände wirkte stark auf mich, viel stärker vielleicht als auf den Durchschnitt der Menschen. Aber zweimal in meinem Leben gelang es treuer Liebe, meiner Sinnlichkeit zu gebieten; und treulich bedient nahm ich, ohne die Nerven zu verlieren, es mit den häuslichen Verdrießlichkeiten auf.

Der arme Jean! Als er in dem kleinen Hause am Fuße des Hügels starb und Angelika und ich jeder eine seiner Hände hielten, da ahnten weder sie noch ich, daß mit seinem Kommen in unser Haus er mein eigenes Schicksal dem Abgrund nahe gebracht hatte, in den ich jetzt gestürzt bin.

*

Wenn ich, um eine Erklärung für das Vergangene zu finden oder aus bloßer Untätigkeit, in dem, was ich den Wust nenne, diesen Familienaufzeichnungen, blättere, die ich geerbt habe; so erstaunt mich die merkwürdige Tatsache, daß die aufrichtigsten und objektivsten Eintragungen häufig etwas von einer Sterbechronik haben. Es ist wahr, daß alle wichtigeren Sterbefälle der Gegend und des Hofes außer denen von Herrschaft und Dienstleuten im Hause selber hier aufgezeichnet sind. Aber man möchte meinen, daß der Chronist ein sadistisches Vergnügen dabei empfand, die Worte aufzuzeichnen, denen gewöhnlich ein Kreuz vorgesetzt wurde. »Heute verstarb ...« Man möchte glauben, er denkt dabei erleichterten Herzens: »Alle diese Leute sind tot, und ich lebe. Ich befinde mich wohl und ich stelle fest, daß jene tot sind.« Wie sich ein robuster Totengräber am Spiel seiner strotzenden Muskeln freut, während seine Schaufel die Erdbrocken in die Grube wirft.

Jetzt, wo ich selber zum erstenmal den Chronisten spiele, entschlossen übrigens, nur die Geschichte meiner selbst aufzuschreiben, beurteile ich mit weniger Ironie diese düsteren Chronisten. Ich stelle fest: wenn man in sich selbst hinabsteigt, um sich zu verstehen und von sich zu berichten, so steigen eine Menge Tote aus ihren Gräbern und umkreisen einen, wie es geschehen sein mochte im Augenblick, als der Heiland seinen Geist aufgab. Kaum hab' ich zwanzig Seiten geschrieben, so glitten schon in das Halbdunkel dieses trüben Zimmers die Schatten meines Vaters, meiner Mutter und der Jeans. Ein vierter: Jeans Sohn, der kurze Zeit nach seinem Vater durch einen Unfall ums Leben kam. Und noch einer: die alte Gelähmte, das Fräulein von Anglésis. Sie »ging hin«, wie unsere Bauern sagen, dreißig Monate nach meinem Schwager. Sie hinterließ ihrem Mündelkinde Sidonie als ein bescheidenes Erbe die Domäne von Aubiac, Schloß und zwei Meierhöfe im Werte von etwa hunderttausend Vorkriegsfranken. Man bot mir bis zur Großjährigkeit von Sidonie die Nutznießung daraus an unter der Bedingung, Sidonie bei mir aufzunehmen und sie zu erziehen.

Meine Frau, die all meine Liebe nicht ein zweites Mal zur Mutter hatte machen können und die Jean-Louis ein liebevolles Andenken bewahrte, wünschte, daß ich einwilligte. Ohne ihr Zureden hätte ich vielleicht eine andere Regelung getroffen, um die Erziehung der Waise sicherzustellen. Aber ich konnte Angelika nichts abschlagen. Außerdem erwuchs mir daraus nicht mehr Arbeit als die Verwaltung von einigen weiteren Hektar Land; denn ich war entschlossen, mich um mein Mündel nicht mehr zu kümmern als um meinen Sohn.

Nun, nachdem ich diese Worte geschrieben habe, kann ich es nicht mehr hinausschieben, von diesem Sohne zu sprechen, trotz des Unbehagens, das mich dabei überkommt.

 

Bin ich ein schlechter Vater?

Nein, Samuel!

Aber, wenn man so sagen kann, ich bin nicht »sehr Vater«. So wie ich nicht »sehr Sohn« meinem Vater gegenüber gewesen war. Ich spüre nicht diesen Zwang einer Blutsbindung. Und um aufrichtig bis zum letzten zu sein: ich spüre nicht die innerliche Notwendigkeit, Wirklichkeit. Als meine Mutter, die ich lange bei mir behalten durfte, nur mehr noch ein Schatten des Lebens war, fühlte ich doch oftmals am Tage das Bedürfnis, sie auf ihrem Zimmer aufzusuchen, ihr zärtlich in die verblassenden Augen zu blicken, ihre eiskalten Finger zwischen meinen Händen zu wärmen. Meine Mutter: das bedeutet für mich immer tausendfache Erinnerung an Zärtlichkeit, Sorge, Lieder, Lachen, Liebkosungen, Nachsicht, Erraten, kurz Liebe und ausgetauschte menschliche Wärme. Bis in den letzten Nerv fühlte ich mein Teilnehmen an diesem unfaßbaren Geschehen ihres Alterns und Hinschwindens. Auch heute ist der Scherenschnitt der Hebamme gleich nach meiner Geburt noch nicht völlig vernarbt!

Ganz anders mit meinem Vater! Es bedurfte immer einer Überlegung, einer Willensanstrengung, um ihm gegenüber so zu handeln und mich so zu verhalten, als ob das Kindesband zwischen ihm und mir mehr wäre als eine Einbildung.

Und mehr denn je erschien mir dieses Band wesenlos, als ich selbst Vater war.

Als ich Arnal zeugte, bestand der Wunsch zu zeugen kaum bei mir. Ich umarmte eine Frau, die ich anbetete; sie war gleichsam Ursache und Gegenstand meines Tuns. Als mein Vater mich zeugte, war es sicher nicht anders, und ich schulde ihm dafür keinerlei Dankbarkeit. Während meine Mutter (sie hat es mir gesagt) in diesem Augenblick der Hingabe an mich dachte. Und Angelika (sie mußte es mir zugeben) empfand eine Steigerung ihres Liebesempfindens bei der Hoffnung auf ein Kind. Wenn die Pflanze gekommen ist, stirbt das Korn, sagt die Schrift. Aber solange die Pflanze lebt, bleibt sie unlösbar ihrem Schoße verbunden.

Arnal ist mir keinerlei Dank dafür schuldig, daß ich ihm zum Leben geholfen habe.

Aber ich, was schuldete ich ihm? Genau das, was ich ihm mit peinlicher Rechtlichkeit gegeben habe: Leben, Unterhalt, Umsorgung, Erziehung des Leibes und des Geistes, einen gutbemessenen Betrag aus meinen Einkünften für sein Wohlbefinden, in unserm Verkehr Gerechtigkeit und Höflichkeit. Alles das hat er von mir erhalten. Ich könnte ihm nicht mehr geben, wenn dieses »Mehr« besagen will: irgendwelchen Einfluß auf ihn auszuüben, mich ihm anzuvertrauen und von ihm Vertrauen zu fordern. Dazu halte ich mich nicht für verpflichtet. Ich habe keinerlei Bedürfnis danach, ganz abgesehen davon, daß die völlige Verschiedenheit unserer Charaktere mir jede solche Annäherung ganz unmöglich erscheinen ließe.

Warum aber:

Ich bin mit Vertraulichkeiten nicht verschwenderisch. Ich gebe mein seelisches Leben nicht allen Winden preis, wie es mein Vater tat. Hatte der ein Glas Schnaps zuviel getrunken oder geriet er wegen irgend etwas in Wut, so entblößte er sich vor dem ersten besten. Ich bin eher verschlossen. Aber ich habe mein Herz dem Deinen geöffnet; Frauen, die mir ihre Liebe bewiesen, ließ ich es verstehen oder ahnen, was an mir Schlechtes oder Besseres ist. Solange Angelika für mich das ganze Geschlecht bedeutete, war unsere moralische Gemeinschaft ohne Geheimnis, und ich verbarg ihr nichts.

Ich glaube nicht, daß mein Sohn Arnal, seit er denkt und spricht, jemals jemandem sein Vertrauen geschenkt hat, nicht einmal seiner Mutter, die er verehrte, und auch nicht Sidonie, der Gefährtin seiner Kindheit. Je älter er wurde, um so betonter wurde auch seine zurückhaltende, ja verschlossene Haltung. Als er noch ein Kind war, hätten mich die Anmut seines Körpers und seine frühe Intelligenz anziehen, ihm näher bringen können; aber sein passiver Gehorsam, der ihn nie etwas fragen oder einen Einwand machen ließ, seine Art, mich wie einen unbeugsamen Herrn zu behandeln, wo ich doch gegen alle, denen ich zu befehlen habe, von größtem Entgegenkommen bin, sein genaues Sich-Halten an die Vorschriften der Erziehung, wie: daß ein Kind, bevor es spricht, warten soll, bis man es fragt (was absurd ist, denn der Charme eines Kindes liegt in seiner Unmittelbarkeit), und dann dieses Überlegen der Antwort, wenn ich ihn gefragt hatte   als ob es ein Examen gälte  , und diese Antworten selber mit geradem Blick mir in die Augen, sicher und selbstbewußt ... das alles war mir auf eine Weise ungemütlich, daß mir nicht einmal der bloße Anblick des Kindes Vergnügen machte. Mir bestätigte sich nun aus meiner Vatererfahrung, was ich aus meiner Sohneserfahrung wußte: welch künstliches Gefühl diese Vaterliebe ist, wenn schon ein bloßer Gegensatz der Temperamente sie aufhebt. Ich machte in keiner Weise Angelika Konkurrenz, das Herz meines Sohnes zu gewinnen: sie betete ihn an, so wie er war, warf ihm höchstens seine außerordentliche Zurückhaltung vor. Aber da wurde das Kind traurig, und sie mußte es um Verzeihung für den Vorwurf bitten ... Bis zur Ankunft von Jeans Tochter wurde Arnal nur von seiner Mutter erzogen, unterstützt von Alicia, der ergebenen und beschränkten Kammerfrau, deren schwabblige und in lebhafte Farben gekleidete Figur Du damals bestauntest. Als Sidonie in unser Haus kam, schloß sie sich natürlich an den um sechs Monate älteren Arnal an. Ich sehe noch, ziemlich undeutlich, irgendein kleines Mädchen, das ein bißchen fett ist, zerzauste Haare hat, mit den braunen und lebhaften Augen unserer Gegend, nur größer und hübscher als die meisten von diesen, ein rundliches Gesicht, feine Gelenke: sie kam mir furchtsam und verschüchtert vor bis zum Stumpfsinn. Ich kümmerte mich um die Kleine so wenig wie um meinen Sohn.

Das ging so zwei Jahre lang, also bis zum Jahre 1910. Da stellte mir meine Frau vor, daß für Arnal ein Erzieher nötig sei. Zwei Kilometer weit von La Gatère lebte ein alter pensionierter Lehrer mit einigen Universitätsjahren Theologie. Er nahm den Vorschlag an, jeden Tag mit den beiden Kindern zwischen drei und fünf Uhr Schule abzuhalten. So zottelte der gute Ricquier jeden Tag am Schlosse vor in seinem kleinen niederen Wägelchen, das ein nicht viel größerer Klepper zog, den er lenkte. Er zäumte die Mähre Pompon selber ab, führte sie in den Stall, zäumte sie nach den Schulstunden wieder selber auf. Mit dem Unterricht fand er sich recht und schlecht ab wie eine alte Unterrichtsmaschine, die er war. Arnal machte gute Fortschritte, und Sidonie folgte in einigem Abstand, von Arnal unterstützt. Meine Ruhe wurde nicht gestört: das war das Wichtigste. Und glückgewohnt, wie ich war, kam ich zu der Meinung, daß es sich für immer bei mir niedergelassen hätte, dieses Glück, als sich das Schicksal oder die Vorsehung oder der Zufall erinnerten, daß es Zeit sei, mich wieder zu meinem harten Menschenlose zurückzurufen, zu diesem aus wechselnden Stücken gewobenen Leben, in dem die Stücke des Elends und Jammers zahlreicher und größer sind als die des Glückes.

Da kam zunächst die Reblaus über unsere Weinberge und unser Land; in einer gewissen Üppigkeit zu leben gewohnt, bekamen unsere Leute den scharfen Wind der Not zu spüren, als es nichts mehr zu herbsten gab in den Reben. Februar 1910 machte Angelika eine doppelseitige Lungenentzündung durch, die ihr Leben in noch größere Gefahr brachte als damals die Geburt Arnals. Nach drei Monaten der Angst und Sorge war das Leben gerettet. Aber die Ärzte schrieben eine gleich lange oder noch längere Zeit äußerster Schonung und größter Aufmerksamkeit vor. Sie nahmen mich beiseite: und was sie mir sagten, traf mich besonders hart, denn die Kranke, die sich wieder ganz hergestellt glaubte, verlangte meine Liebe mit einer durch die Enthaltsamkeit gesteigerten Leidenschaft ... Trotz unserer relativen Vorsicht kam die völlige Gesundung nicht. Die Kräfte ließen immer mehr nach. Unsere Spaziergänge beschränkten sich bei trockenem Wetter auf die paar Schritte ums Schloß, und die Nächte brachten Anfälle angstvoller Beklemmungen. Da war es die arme Liebende, die untröstlich um Gnade bat vor Erschöpfung durch die Liebe.

Stell' Dir meine Not vor: nichts gab es mehr gegen meine Mutlosigkeit, meinen Widerwillen gegen alles. Ich stellte meine Unfähigkeit fest, mich für irgend etwas zu interessieren, außer für dieses eine, das mich ans Kreuz schlug: Angelikas Krankheit. Jede Zeit, die ich nicht bei ihr verbrachte, haderte ich, eingeschlossen in meinem Zimmer, mit der ungerechten Härte meines Geschickes. Sie merkte es; sie vergaß ihr Elend, um sich mit zärtlichem Trost über das meine zu beugen; sie tat, was in ihrer Kraft stand, mich zu den heilwirkenden Verrichtungen des Lebens zurückzubringen. Sprach von der Wirtschaft, von dem bösen Übel, das unsere Reben auffraß, sprach mit mir über alles mit ihrer armen, oft verlöschenden Stimme. Und sie fand noch anderes. Sie sagte:

»Ich bitte dich, Hervé, kümmere dich ein bißchen um die Erziehung der Kinder! Seit Monaten sind sie Alicia und dem alten Ricquier überlassen, also sich selber. Das macht mich oft so unruhig, daß ich davon fiebere. Tu's meinetwegen, um mich zu beruhigen, daß du dich um die Kinder kümmerst ... wenigstens bis ich wieder gesund bin.«

Gott ist mein Zeuge, es war der Wille, einer teuren Kranken zu gefallen, der mich zu den beiden jungen Wesen führte, für die ich zunächst nicht die moralische Verantwortung tragen wollte. Vorsichtig, langsam. Schritt um Schritt trat ich ihnen näher, denn ich ahnte ihr Mißtrauen mir gegenüber, fast ihre Furcht. Und ich tat, was ich nie zuvor getan hatte: ich beobachtete die beiden.

Meine Frau hatte recht: seit ihrer Krankheit waren die Kinder sich selber überlassen und frei von jedem erzieherischen Einfluß. Alicia verstand sich ja auf nichts anderes, als ihre kleinen Körper und ihre Kleider zu pflegen, ihnen Lieblingsspeisen zu bereiten und ihnen zu sagen, sie sollten nur ja nicht zuviel arbeiten, denn sie seien ja reich. Ricquier war eine Maschine für Syntax, Jahreszahlen und die Funktionen des Einmaleins. Aber die Kinder waren weder faul noch unordentlich, und ich erkannte bald den Grund: Arnal beherrschte mit seinen dreizehn Jahren die um weniges jüngere Sidonie und sich selber. Diese Feststellung war mir gar nicht angenehm; aber ich schalt mich selbst: »Schließlich ist es am besten so. Immerhin will ich mich um sie kümmern.«

Ich kümmerte mich zunächst um ihr Lernen, obzwar ich wußte, daß ich richtiger täte, mich an ihren Spielen zu beteiligen, um ihren jungen Seelen näherzukommen; aber das würde schon mit der Zeit kommen, und es kam auch.

Ich nahm an dem Unterricht Ricquiers teil. Der Alte schien mir ein gewissenhafter Dummkopf zu sein, aber der genaue und fragsüchtige Kopf Arnals hielt ihn in Atem. Er ließ dem Lehrer nichts durchgehen, und dank dieser umgekehrten Disziplin waren die Kinder nicht dümmer, als es in ihrem Alter billig ist. Selbst Sidonie kam mir in dem Maße, wie meine Gegenwart ihr vertraut wurde, weniger beschränkt vor, als ich es geglaubt hatte. Die Langsamkeit ihres Geistes, der rasche Wechsel von Lebhaftigkeit und Dumpfheit bei ihr waren wohl nichts weiter als die Wirkung einer etwas frühen Reife. Sie ging aus der Breite in die Länge. Sie war etwas größer als Arnal, dessen Stimme gerade mit dem Wechsel fertig wurde. Ganz im Gegensatz zu ihm war Sidonie zu mir leicht und ohne merkbare Widerstände vertraut und zärtlich geworden. Ich begann zu verstehen, warum die Väter die Töchter den Söhnen vorziehen.

Als ich unmerklich meinen Beobachterposten in ihre Spiele und Erholungspausen vorschob, sah ich zunächst nichts als zwei richtige Kinder. Ihr Ungestüm beim Spiel stach in gleicher Weise gegen den Ernst Arnals bei der Arbeit ab, wie gegen die Erscheinung Sidonies als »großes Mädchen«. Man hatte niemals ihre freischaltende Phantasie überwacht: ich hatte mir überhaupt keine Sorge darum gemacht, und meine Frau hatte nicht die Kraft dazu. Ich beobachtete sie: auch hier beim Spiel herrschte und leitete Arnal, Sidonie gehorchte und ahmte nach   man hätte sagen können, zwei Jungen spielen, denn sie spielten nur Knabenspiele: Laufen, Turnen an den Geräten, Bäumeklettern, Ringen. Irgend etwas daran stieß mich ab, ohne daß ich entscheiden konnte, was es war. Eifersucht auf die Herrschaft Arnals über Sidonie? Nein. Von keinem der beiden Kinder erwartete ich so etwas wie eine wirkliche Zuneigung. Viel eher war es eine Art Verstimmtheit oder Schmerz darüber, daß dieses kleine Paar sich völlig meinem Einfluß entzog und in meinem Hause glücklich ohne mich lebte, mit Arnal als frühreifem Führer.

Das war der Grund meiner Unzufriedenheit. Und dann noch eine sittliche Beunruhigung.

Arnal war dreizehn Jahre alt, also noch ein Kind. Ein Kind? Und ich in demselben Alter? Ich erinnerte mich, wie ich damals war. Du erinnerst Dich auch, Samuel, obzwar Dein früher Ernst, Deine Heiligkeit, wie wir es halb aus Spaß, halb aus Scheu nannten, aus Dir den Richter und nicht den Gefährten unserer Unterhaltungen und unserer Sitten machte. Es gibt Jungen von dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahren, deren Gespräche und Sitten in ihrem jugendlichen Zynismus und ihrer naiven Perversität die von erwachsenen Wüstlingen übertreffen. Das Aussehen Arnals verriet zwar nichts derlei, obwohl von ihm nicht diese gewollte Strenge ausging, (wie von Dir auf der Schule) die uns, wenn sie auch nicht unversucht blieb, doch verblüffte und einschüchterte. Konnte ich trotzdem an die Unwissenheit dieses auf dem Lande aufgewachsenen Jungen glauben, der so ruhig und sicher stand, wenn das Spiel zu Ende war, und dessen ruhiger, scharfer Blick alles sah und alles in sich aufnahm?

Nein. Arnal wußte sicher um das Spiel der Natur zur Weitererhaltung des Lebens; sein heller Kopf hatte sicher darüber nachgedacht. Nur behielt er, was er beobachtet und gedacht hatte, für sich, wie alles, was in seinem Hirn vorging.

Und ich sagte mir:

»Dieser gesunde, kräftige und intelligente Bursch, der weiß, was eine Frau ist, und was der Mann mit der Frau tut, lebt da in ständigem Zusammensein mit einem körperlich weit mehr als er entwickelten Mädchen, dessen Körper schon fast nichts Kindliches mehr besitzt. Dieses Paar, außer in den Unterrichtsstunden ohne jede Aufsicht, läuft davon, versteckt sich, ist allein, wie es ihm paßt. Warum sollte es den Gesetzen jedes gesunden und freien Menschenpaares entgehen? Seiner Jugend wegen? Kinderstreiche nennen es die gleichgültigen Eltern, die gern ihre eigene Kindheit vergessen und ihre Wachsamkeit betäuben mit: »Aber was denken Sie? Solche Kinder ...!«

*

Der Gedanke an eine Schuld solcher Art zwischen Arnal und Sidonie und an die Gefahren, die für sie daraus entstehen könnten, ließen mir keine Ruhe mehr. (Du mußt bei diesem Eigensinn auch die moralische Verwirrung in Rechnung stellen, in die mich die Umstände gebracht hatten.) Ich ließ meine Augen nicht mehr von ihnen, wenn ich sie zusammen sah. Und ich spitzte, aber selten mit Erfolg, meine Ohren, um zu hören, was und wovon sie sprachen. Wie oft glaubte ich, eine verdächtige Bewegung zu erspähen, ein verräterisches Wort zu hören! Welchen Stich fühlte ich dann im Herzen! Und wenn sie meinem Blick entschwanden, verfolgte mein Denken sie.

Ich stellte mir vor, wie sie zusammen weilten in den buschigen Gehegen, die an das Haus grenzten und sich durch den Ahorn-, Eichen- und Fichtenwald bis zur Schlucht am Cayrou zogen. Gewiß wiederholten sie dort   aber jetzt ohne Zeugen   die Spiele, die ich gesehen hatte. Der eine von ihnen verbarg sich im Dickicht, der andere suchte ihn mit der Vorsicht und List der Mohikaner, entdeckte ihn, griff ihn an; und dann gab es diese brutalen Kämpfe, die mir so mißfallen hatten, bei denen der eine der Kämpfer sich für besiegt erklären mußte, damit der andere ihn frei ließ, und bei denen Arnal oft der Besiegte war, auf den Rücken geworfen, während Sidonie ihm ihr Knie auf die Brust drückte, die Hände Sidonies seine Schultern an die Erde preßten, ihre verbrannten, von Schweiß bedeckten Gesichter sich in die Augen schauten mit Drohen und Lachen ...

Oder sie saßen   und auch so hatte ich sie überrascht   müde vom Tollen und vom Schreien, auf den ungefügen Felsstücken am Ufer des Cayrou (unseren Felsstücken, Samuel!) neben der Holzbrücke, die von unten gesehen Schwindel erregt. Sie saßen fast unbeweglich, verschnauften sich von der eben beendeten Raserei und plauderten vertraulich in leisem Gespräch. Wenn ich sie so sah, erregte mich das sinnloserweise noch weit mehr als ihr Raufen und Toben. Es kam mir vor, als ob sie sich absichtlich absonderten und von Dingen sprachen, die sie mir nie eingestanden und sicher nie anvertraut hätten. Vielleicht sprachen sie von mir. Vielleicht kritisierten sie mich oder machten sich über mich lustig. Das stand fest: sie tauschten Meinungen aus, sie faßten Entschlüsse, von denen sie mich ausschlossen, und die sich meiner Kontrolle entzogen.

Damals habe ich, um sie besser kennenzulernen, mich ihnen genähert, nicht nur wenn sie arbeiteten, sondern auch in ihren Erholungsstunden. Schließlich waren sie so an meine Gegenwart gewöhnt, daß sie sich nicht mehr davor scheuten. Auch widersteht man mir, wie ich weiß, kaum, wenn mich ein frischer Wille beseelt.

Du wirst dich erinnern, daß ich auf der Schule Tüchtiges im Sport leistete. Mein durch einen Sturz mitgenommenes Knie hatte mir darin zwar den Vorrang genommen, aber gerade diese Minderwertigkeit verringerte, wie die Dinge nun lagen, den Abstand zwischen mir und den beiden Kindern.

Ich brachte Methode in ihre Spiele, wie jene alten Fechtmeister, welche gute Lehrer bleiben, auch dann, wenn sie selbst nur noch zur Hälfte fähig sind, die Waffen zu führen. Ich lehrte sie, ihre Kraft und ihre Geschicklichkeit zu nützen, jene nicht blind zu vergeuden, diese im rechten Augenblick anzuwenden. Arnal erwies sich auf diesem neuen Lerngebiet als ein ebenso guter Schüler wie vor dem Pult und der Wandtafel. Sidonie, weniger Herrin ihrer Leistungsfähigkeit, zeigte vor allem ein brennendes Verlangen, mich zufrieden zu stellen, und erschien darum in der Vollkraft einer Kämpferin. Ich selber vergaß zuweilen über dieser meiner Tätigkeit als Leibeserzieher die schwere eheliche Sorge, die auf meinen Schultern lastete. Andererseits zerstreute die vollkommene Natürlichkeit der Kinder rasch die übertriebenen Besorgnisse, die ich mir gemacht hatte.

»Sidonie ist nicht einmal neugierig,« sagte ich mir; »und Arnal besitzt Samuels Reinheit ohne dessen Versuchungen. Ob er mit einem Mädchen oder einem Jungen spielt, ist ihm offenbar ganz gleich.«

Aber die Unruhe meines Herzens erfand sich bald wieder andere Gründe der Besorgnis.

Ohne jeden Hintergedanken freute sich Sidonie über meine Anwesenheit in ihrem Leben ganz einfach wie über die eines großen Kameraden. Es entging mir nicht, daß Arnal darüber erstaunt war. Beim Schulunterricht hatte er rasch die Überlegenheit seines Vaters über den Lehrer erkannt und gebilligt. Aber was das Spiel betraf, sah ich ihm bei all seiner äußern Ruhe an, wie er sich fragte: »Weshalb diese Änderung in der Haltung des Vaters uns gegenüber?« Ich versuchte, ihnen klar zu machen, daß die Krankheit meiner Frau mir ihnen gegenüber neue Pflichten auferlege. Aber mit so ungenügender Erklärung gab sich Arnal sicher nicht zufrieden. Es war mir ganz klar, daß er sich sagte: »Es ist nicht nur meinetwegen«, oder vielmehr: »Es ist überhaupt nicht meinetwegen.« Kinder haben für derlei Bevorzugungen eine unglaubliche Hellsichtigkeit, und Arnal besaß sie in höchstem Maße. Er glaubte zu merken, daß ich ihm weniger von mir gäbe als Sidonie, und daß ich ihm etwas von dem Mädchen wegnähme. Ich las das aus der unbeugsamen Aufmerksamkeit seines auf mich gerichteten Blickes, dieses von mir gezeugten und doch von mir so verschiedenen jungen Menschen. Dabei gab ich mir die größte Mühe zu völliger Unparteilichkeit. Aber ersichtlich arbeitete ich mehr an Sidonie als an Arnal. Ich hatte schließlich die Überzeugung, daß ich Arnal nichts weiter nützen könne, und daß es für Sidonie wertvoller sei, wenn ich allein auf sie Einfluß nehme.

Ich sagte mir: »Es ist keine Frage, daß Arnal besser unter Jungen aufwüchse, wie es bei mir der Fall war, und wie es der Brauch ist.«

Allerlei persönliche Erinnerungen befestigten in mir diese Meinung. Das Internat hatte mir eine Menge hassenswerter Eindrücke hinterlassen, aber ich dankte ihm doch Deine Bekanntschaft, Samuel, und welchen außerordentlichen Einfluß hatte Deine Gegenwart auf meine Jugend! Nützlich waren schließlich auch die bäurische Derbheit, die oft so unangenehme Offenheit unserer Kameraden, der Mangel an Umgangsformen und sozialem Abstandsgefühl, Dinge, welche die Jungen für den Kampf des Lebens hart machten, wie man ja auch den angehenden Reiter zunächst auf den nackten Rücken des Pferdes und erst später in den Sattel setzt.

Unglücklicherweise existierte unser protestantisches Pensionat in Montauban nicht mehr. Und das Durcheinander eines Provinzlyzeums paßte mir für meinen Sohn nicht.

Eines Nachmittags überraschte ich Sidonie, wie sie leise vor sich hinweinend allein auf einem Baumstumpf saß, hinter der Garage in einer verwahrlosten, nie begangenen Allee.

»Du weinst, Sidonie?«

»Nein, Onkel.«

Die Antwort des überraschten Kindes widersprach seinem Gesicht. Sie weinte heftig, das ernste, schwere Jungmädchenweinen.

Ich setzte mich neben sie.

»Warum weinst du denn?«

Da brach sie in hemmungsloses Schluchzen und Weinen aus, wie ein Kind.

Ich nahm sie auf den Schoß. Ich fragte sie. Und ganz in der Art eines kleinen Mädchens kam es heraus:

»Arnal liebt mich nicht.«

»Woher weißt du denn das?«

»Er zieht mich fortwährend auf. Er sagt immer, ich habe borstige Haare. Ich kann doch nichts dafür. Sie gehen immer gleich auf, wenn ich laufe, und stehen dann so weg. Er sagt, ich zeige immer meine Beine. Es ist doch nicht meine Schuld, daß ich so groß gewachsen bin. Er sagt, daß ich ihn herausfordere, wenn ich ihn immer küssen will.«

Und zwischen Tränen und Aufschluchzen zählte sie weiter solche Kümmernisse und Schmerzen auf, und ich war erstaunt, in mir eine väterliche Seele zu entdecken, um sie zu trösten und zu beruhigen. Wahrhaftig, dachte ich, diese Kleine ist mir lieb. Arnal hatte gar keine Entschuldigung dafür, sie so zu betrüben. Als sie, den Kopf an meine Schulter gelegt, sich beruhigte, fragte ich sie weiter:

»Aber Arnal hat dich doch trotz alledem lieb, Sidonie?«

»Ich weiß nicht ... es gibt schon Augenblicke, wo ich ihn ärgere.«

»Und du, du liebst ihn sehr?«

»Ja. Ich möchte ihn nie ärgern.«

Sie lächelte wieder. Und empfand nun, wo sie nicht mehr nötig hatte, getröstet zu werden, das Bedürfnis, mich zu verlassen, und wußte nicht, wie das anstellen. Sie war von meinem Schoß heruntergerutscht, trat von einem Fuß auf den andern. Dann beugte sie sich zu mir und sagte:

»Aber du wirst Arnal nichts davon erzählen, Onkel?«

»Nein«, sagte ich, ein bißchen grob. »Geh und bitt' ihn um Verzeihung, geh!«

Sie lief davon, um Arnal zu suchen.

»Was für ein dummes Mädel«, dachte ich. »Und doch schon Frau genug, um Gefallen daran zu finden, daß man ihr dient ... Und dieser dumme Junge, der sie tyrannisiert und zum Weinen bringt! Eine solche gemeinsame Erziehung taugt eben zu nichts. Sie erzieht den Jungen zum Egoisten; sie erstickt die Persönlichkeit des Mädchens. Man muß sich das merken. Finde ich in Toulouse oder Bordeaux eine ehrenwerte protestantische Familie, steck' ich da Arnal in Pension, und er besucht das Lyzeum.«

Aber ich verschob es von Woche zu Woche, aus Faulheit. Oder weil ich unklar fühlte, daß es eine bessere Lösung geben müsse, die sich schon finden werde.

 

Als ich eines Morgens erwachte, warst Du in meinen Gedanken ganz gegenwärtig, Samuel. Ein Traum, dessen Spur ich nicht wiederfand, hatte mir unsere gemeinsame Jugend zurückgerufen. Ich erinnerte mich meines Empfanges durch Dich in der protestantischen Pension in Montauban. Du hattest schon zwei Jahre da verbracht, ich war ein Neuer, kam aus England. Du fragtest mich aus. Ich erzählte Dir von dem traditionellen Brauch in unserer Familie seit dem 17. Jahrhundert: der Älteste wurde immer für ein oder zwei Jahre im Laufe seiner Studien ins Ausland geschickt, nach England oder Deutschland, um dort die Sprache zu lernen und in einer großen protestantischen Gemeinde zu verkehren. Mein Ahn nannte das: das Gesetz der Angleichung an andere Länder.

Da fiel mir plötzlich ein:

»Arnal wird im Juli vierzehn.«

So wenig hatte ich mich bisher um ihn gekümmert, daß mir die Anwendung des alten Familiengesetzes aus ihn nicht eingefallen war. Übrigens liebe ich es nicht, aus den Überlieferungen der Familie Vorschriften zu machen.

Am gleichen Tage sprach ich mit Angelika über die Angelegenheit. Sie kannte diese Familienüberlieferung und gestand, daß sie schon lange die Anwendung dieser Tradition befürchtet habe. Lieb und ergeben, wie sie war, äußerte sie aber keinen Widerstand. Nur machte sie Einwendungen wegen ihrer Krankheit, obwohl es ihr gerade besser ging; sie meinte, daß sie, käme es zu einem Rückfall, darunter leiden würde, ihren Sohn nicht bei sich zu haben. Ich beruhigte sie mit der Versicherung, daß Arnal nur zu einer Zeit reisen würde, die sie selbst für geeignet hielte. Ich war sicher, daß sie sich mit dem Gedanken nach und nach vertraut machen und im Augenblick der Entscheidung nicht widersprechen würde.

Für mich war es eine Erleichterung, daß dieser Entschluß gefaßt war, auch wenn seine Ausführung noch in ungewisser Ferne stand. Und mit noch größerer Sorgfalt übte ich mein Erzieheramt an beiden Kindern.

In der Zwischenzeit bereitete ich die nutzbringende Verbannung meines Sohnes vor. Die deutsche Sprache zu lernen, empfahl sich seit unserer Niederlage 1870 noch mehr als die englische. Ich beschloß also, Arnal auf die Schule nach Behrenstein am Bodensee zu schicken. Von dort war die Rückreise im Notfalle kürzer als von Salisbury, und der Junge würde in dieser Anstalt um so bessere Aufnahme finden, als einige seiner Vorfahren sie besucht hatten, so insonders der Reverend Hervé de la Gatère, der, nach dem Revokationsedikt ausgewandert, als Superintendent seine Tage in Holland beschlossen hatte. Er war mir immer als eine Art Urbild meines Sohnes vorgekommen.

Als ich Arnal von meiner Absicht Mitteilung machte, nahm er es mit der mir so auf die Nerven fallenden kühlen Ruhe und Unbewegtheit auf, die er nur im Verkehr mit seiner Mutter und Sidonie aufgab. Aber es kam mir trotzdem vor, als ob ihm der Gedanke, fremde Länder zu sehen, nicht mißfiel. Ich riet ihm, seiner kleinen Gefährtin nichts zu sagen, um sie nicht schon im voraus traurig zu machen. Sie erfuhr erst davon, als man die Vorbereitungen zur Reise vor ihr nicht mehr verbergen konnte.

*

Arnal reiste nach Behrenstein in den letzten Septembertagen in Begleitung eines jungen Pastors aus unserer Gegend   Eugen Marmier, vielleicht hast Du ihn gekannt  , der in jener Schule Lehrer für die französische Sprache war.

Arnal verließ uns an einem Vormittag um zehn. Er hatte den ganzen Morgen bei seiner Mutter verbracht, die er aufs zärtlichste liebte; ich ließ sie absichtlich allein miteinander. Sidonie weinte in Alicias Armen. Ich gab dem jungen Pastor und dem Chauffeur eines Mietsautos, das die Reisenden zum Bahnhof bringen sollte, meine letzten Anweisungen. Ich bemühte mich, die Abschiedsszenen abzukürzen; aber es gelang mir nicht, Sidonie abzulenken, deren Nerven schließlich ganz nachgaben.

Endlich ratterte das Auto mit Arnal und Marmier davon. Sehr schnell entzog die Ecke des großen Gehölzes es den Blicken.

Alicia brachte Sidonie ins Haus. Ich ging, Angelika zu trösten, die meiner Zärtlichkeit gegenüber widerstandslos war. Dann lief ich in die Garage, holte meinen kleinen grauen Wagen heraus und fuhr nach einem Pachthof, wo die Weizenernte aufgeteilt werden sollte.

Es war ein frischer, sonniger Tag, einer der Tage, an denen am frühen Morgen weißer Reif liegt, das Zeichen für reiche Traubenernten. Ich atmete tief. Der Winter ist noch weit, dachte ich. Mein Zustand war der eines Neuralgikers, den seine quälenden Kopfschmerzen endlich verlassen. Alles in der Natur tat mir wohl: der frische Geschmack der Luft, das bunte Farbenspiel der Wälder, der blaßblaue Himmel. »Angelika hat den Abschied gut überstanden«, sagte ich mir. »Und der Arzt ist voll Optimismus. Aber bei ihrer Jugend muß sie ja auch gesund werden.« In einem dieser seltenen Anfälle des Glaubens an die Vorsehung, die bei mir immer mit großen dunklen Hoffnungen zusammenfallen, sagte ich laut: »Herr Gott im Himmel, laß sie mir!« Und ich fuhr zu dieser sonst so langweiligen Getreideverteilung wie zu einer Unterhaltung.

 

Arnal war fort. Fort für zehn Monate wie alle aus der Familie vor ihm, die nach Behrenstein gegangen waren, wie ich selber, als ich ungefähr im gleichen Alter La Gatère verließ, um nach Salisbury zu gehen.

Um mir für diese gerechtfertigte Entschließung die Verzeihung Angelikas und Sidonies zu erwerben, hatte ich Zeit von Anfang Oktober bis Ende Juli, zehn Monate. Guten Muts sah ich dieser Aufgabe entgegen; nun gab's nichts Widriges mehr, was ihrem Gelingen entgegenstand. Eine Art von Eingebung ließ mich immer ahnen, was ein weibliches Wesen von mir erwartete, oder womit ich es verletzen würde. Und ich finde ein gewisses Vergnügen daran, den Groll einer Frau, die ich liebe, zu entwaffnen.

So gab Angelika zuerst nach und kam zu mir zurück! Kein Wunder! Denn sie liebte mich noch mehr als unsern Sohn. Wie hätte sie da einen Strom von Kälte zwischen uns lange ertragen können? Übrigens waren ja auch meine Gründe gar nicht bestreitbar: der Nutzen für das Kind; die Tradition der Familie! Darum begnügte sie sich auch nur mit der Einwendung:

»Hätte man nicht noch warten können? Ich bin noch leidend. Wenn ich ihn nun nicht mehr wiedersehen sollte?« Ich schloß ihr den Mund mit Küssen. Die kurze aber heftige Krise, die Arnals Abreise hervorrief, ging vorüber, und das für einen Augenblick mitleidige Schicksal brachte die Krankheit zum Stillstand. Wir wagten es sogar einmal, wieder ehelich vereint zu sein, ohne daß Angelika darunter litt. Mit ihrem Sohn unterhielt sie einen lebhaften Briefwechsel, der ihre müßigen Stunden ausfüllte. Arnal beklagte sich in seinen Antworten nie über seinen neuen Zustand. Er war fleißig und ein guter Schüler, ohne als Musterschüler zu glänzen ... Von der ehelichen Seite her wurde mir also die Aufgabe verhältnismäßig leicht gemacht; befreit von der mich so drückenden Gegenwart Arnals hatte ich keine Mühe, durch größere Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit meiner Frau gegenüber diese über die Abwesenheit des Sohnes zu trösten.

Nicht so einfach war es bei Sidonie. Ihr Widerstand machte meinen Willen hart und verstärkte meinen Wunsch, ihn zu brechen. Es war ihr sehr nahe gegangen, daß man ihr den Kameraden entrissen hatte. Sie empfand das auf eine ein bißchen tierische Art: Ich weiß, das Wort ist etwas hart und deshalb auch nicht ganz treffend, aber ich finde kein besseres. Ich will damit sagen: ihre Verwirrung, ihre Traurigkeit glich dem stumpfen Schmerz zweier Tiere, die unter dasselbe Joch gespannt, Krippennachbarn gewesen waren und plötzlich getrennt wurden. Stundenlang saß sie ohne ein Wort, ohne eine Bewegung, mit verlorenen Blicken. Ihr Appetit ließ nach wie ihre Lust am Spiel. Nur beim Lernen wurde sie eifriger. Suchte sie, nun ihr Herz verlassen war, in den Büchern, in den Unterrichtsstunden die Erinnerung an den Kameraden, der ihr früher geholfen hatte? Als der erste Brief für sie aus Deutschland kam, verschwand sie damit, um ihn wieder und wieder zu lesen, die Seiten zu küssen, zu weinen. Ich lächelte dazu. Ich wußte, das müsse seine Zeit währen und würde vorübergehen. Sidonie gehörte zu jenem gesunden und liebenden Frauentypus, der die wirkliche Gegenwart dessen, den sie lieben, nötig hat, und dem es bei aller ehrlichen Mühe nicht gegeben ist, sich von der Erinnerung zu nähren und sich an einem Bilde genügen zu lassen. Es fehlte ihr der Anblick ihres jungen Kameraden, und es fehlte ihr, von ihm angesehen zu werden, ihre jungen Kräfte im wilden Kampf mit ihm zu messen, kindliche Zärtlichkeiten mit ihm zu tauschen, die in ihr, wenn schon nicht in ihm, jenes wohlige Gefühl wachriefen, jene unbewußte Ahnung eines ungekannten Glückes, das ein Teil ist von der Hoffnung dieser Welt.

Zudem war das Temperament dieses großen Mädchens zu ausgeglichen und zu gesund, um sich dieser Erschlaffung dauernd hinzugeben. Sie hatte Luft und Bewegung nötig; und von diesem Gesichtspunkt aus begann ich meine Kur. Zunächst ohne Erfolg: Sidonie blieb übellaunig und schmollte. Aber ich hatte eine neue Versuchung im Hintergrund. Nie hatte ich den Kindern erlaubt, die Finger an das Steuer meines kleinen grauen Autos zu bringen. Nun nahm ich Sidonie von Zeit zu Zeit mit mir auf meinen Fahrten zu den Pachthöfen und brachte ihr nach und nach das Chauffieren bei. Sie war sofort Feuer und Flamme für den neuen Sport. Als ich begann, mein Wild einzukreisen, amüsierte ich mich zuweilen damit, so zu tun, als hätte ich sie ganz vergessen. Ich stellte den Motor an und setzte mich am Steuer zurecht. Da sah ich auch schon an einem der Fenster ein ängstliches junges Gesicht auftauchen, dessen enttäuschter Blick meinem Tun folgte. Nie fiel ihr übrigens ein, mich zu rufen, mich zu bitten: ihre Unterwerfung war vollkommen,   Arnal hatte sie gut abgerichtet. Es kam vor, daß ich mich von Zeit zu Zeit selbst dazu verurteilte, allein fortzufahren, um einer besonderen Gunstbezeugung ihren Wert zu erhalten. Sie machte sehr rasche Fortschritte, und auf einmal waren alle kindlichen und jungenhaften Spiele vergessen, die ja auch gar nicht mehr zu ihrer Erscheinung einer »fast fertigen Frau« passen wollten. Bald lenkte sie den Wagen häufiger als ich; aber ich ließ sie nie ohne mich fahren. Nahegelegene Höfe in der Nachbarschaft suchten wir zu Fuß auf. Aber nie versäumte ich es, unseren Ausgängen und Fahrten ein praktisches Ziel zu geben: Überwachungen und sonstige Geschäfte auf dem Gute.

 

Sidonie lernte auf diese Weise ein Vergnügen kennen, das Arnal ihr nicht hatte verschaffen können: sich über unser ländliches Leben unterrichten, über den Wechsel im Anbau der Kulturen, über den Einkauf und Verkauf, über die Beziehungen zwischen dem Herrn und dem Personal, über Kosten und Erträgnis,   lauter Dinge, die Arnal gar nicht interessierten, und an denen sie sich, aus Nachahmungstrieb, ebenfalls uninteressiert gezeigt hatte. Nun aber zeigte sie einen ganz unmittelbaren Geschmack daran und sogar ein auffallend reifes Urteil. Mit einem Glücksgefühl sah ich die gute Hilfe voraus, die mir diese auserlesene Schülerin in einigen Jahren leisten würde. Für den Augenblick war es für sie ja nichts weiter als eine angenehme Unterhaltung und Tagesbeschäftigung, aber sie liebte diese Unterhaltung. Ich ermutigte sie darin, indem ich sie gelegentlich als Vermittlerin im Verkehr mit den Pächtern benutzte und ihr kleine Verantwortlichkeiten auftrug. Diese Lust an der »Erde«, die ich trotz aller Verdrießlichkeiten nie ganz verloren habe,   Sidonie fühlte sie mit dem ganzen jugendlichen Feuer des Neulings. Das aber war das erste feste Band zwischen uns. Ich wollte, es sollte nicht das einzige bleiben. Ich nahm mir vor, alle Bezirke dieses jungen Geistes lebendig zu machen, und unser häufiges Zusammensein war mir dazu sehr willkommen. Sidonie war zwar nicht dumm, gehörte jedoch zu den Wesen, die von sich aus keine geistige Arbeit vollenden können: schon die Anstrengung dazu erschöpft sie und alles zerstreut sie. Die Seite eines Buches war für Sidonie nichts Lebendiges. Nur das Leben selber kam ihr nah. Alles, was in der belebten Form des gesprochenen Wortes oder eines Gesehenen in ihr Gehirn eindrang, hinterließ Spuren. Durch diesen mündlichen Unterricht in freier Luft, ohne Zwang und ohne andere schriftliche Aufgaben als einige des Abends gemeinsam gemachte Notizen, bildete sich Sidonies Geist von Monat zu Monat in völliger Harmonie mit ihrem Körper, dessen Entwicklung allen in die Augen fiel. Der gute Ricquier mitsamt seiner ausgefallenen Pädagogik wurde entlassen. Ich hatte das Vergnügen ganz allein, einer Seele, die ich liebte, ihre Form zu geben ... Und in dem Maße, wie ich in diese gelehrige Schülerin meine Ideen, meine Neigungen, meine Kenntnisse und meine Anschauungen verpflanzte, im selben Maße fühlte ich, wie sich nach und nach nicht nur Arnals Einfluß verflüchtigte, sondern selbst die Erinnerung an ihn. Sie sprach kaum mehr von ihm, und nur zerstreut hörte sie von ihm sprechen. Auf seine Briefe gab sie nur verspätete und kurze Antwort.

Arnal kränkte das wohl, denn er begnügte sich bald mit ein paar Sätzen für Sidonie, die er in die Briefe an seine Mutter einflocht. Es waren wohlgemessene, etwas gewundene Sätze, wie alles, was er schrieb. Weder Angelika noch Sidonie fiel es übrigens ein, aus diesen Wendungen einen tieferen Sinn herauszulesen. Angelika sagte nur: »Sidonie, du mußt deinem Vetter schreiben.«

»Ja, Tante ... Heut abend ... spätestens morgen früh ...«

Ich las aus Arnals Sätzen und ihren geschraubten Wendungen Unruhe, die sich zu verbergen suchte, und in der Rückwirkung etwas, das der Eifersucht glich, einer seltsamen Eifersucht, weder aus der Freundschaft noch aus der Liebe entstanden. Eine geschlechtslose Eifersucht.

 

An diese Stelle meines moralischen Testamentes gekommen, Samuel, beschwöre ich viel mehr noch Deine Rechtlichkeit als Deine christliche Nachsicht und Schonung. Ich spreche Dir von einer Zeit, wo ich weder Vorwurf noch Verdacht verdiente. Erlaube mir, mit Dir zu sprechen, der Du gerecht bist. Gewisse Zeiten unserer gemeinsamen Ferien, die ersten vier Jahre meines ehelichen Lebens, ehe die unerbittliche Krankheit der Seele Angelikas den Körper genommen hatte, war ich vollkommen glücklich. Unser menschliches Dasein gewährt uns ähnliches Glück nur selten, und doch erhebt nur ein solches Glücksgefühl uns über die stumpfe Gefühllosigkeit von Steinen und Pflanzen. In solchen Zeiten vergißt man, daß das Leben eine tödliche, jeden Tag schlimmer werdende Krankheit ist ... In der Zeit zwischen dem Dezember 1912 und dem April des darauffolgenden Jahres genoß ich diese glückliche Illusion. Kaum daß in dieser Zeit zwei oder drei Erlebnisse besonders hervortreten. Wie zum Beispiel der Tag, an dem ich zum erstenmal Sidonie in der Höchstgeschwindigkeit zu fahren erlaubte, ohne daß ich auch nur für einen Moment die Hand ans Steuer zu legen brauchte.

Zu jener Zeit begegnete man nur wenigen Autos auf dem Lande, und es war fast ohne Beispiel, daß eine Frau den Wagen lenkte. Sidonie freute sich über die Überraschung, die sie auf den Straßen und beim Durchfahren der Dörfer hervorrief; wenn sie dann ohne Lärm und mit größter Präzision den Wagen vor La Gatère zum Stehen brachte, errötete sie vor Stolz. Sie gab mir einen stürmischen Kuß, und dieser jugendliche Überschwang schenkte mir ein Gefühl unsagbaren Friedens.

Ich erinnere mich auch an unsern ersten gemeinsamen Besuch auf dem Schlößchen von Aubiac. Sidonie hatte hier bei ihrer alten Vormünderin acht Jahre ihrer Kindheit verbracht. Aubiac ist ein Edelsitz aus der Zeit Ludwigs XIII., ein zweistöckiges Gebäude, auf das abscheulichste möbliert im Stile von 1880, also aus der Zeit von Fräulein von Anglésis' Jugend. Seit dem Tode der Besitzerin schlief das alte Gebäude im Staube, gegen den Verfall nur geschützt durch das trockene Klima unserer Gegend, das eine langdauernde Feuchtigkeit nicht aufkommen läßt.

»Nie wäre ich allein hierher gekommen«, sagte Sidonie.

Mich dagegen rührte das »Zimmer des Fräuleins von Anglésis«, in das Sidonie, wie sie mir sagte, nie eingetreten war, ohne etwas verboten oder vorgehalten zu bekommen. Aber Sidonie wollte da nicht bleiben. Dafür führte sie Freudentänze auf den abgenützten, entfärbten Steinfliesen der hohen, gewölbten Küche auf, wo die ehemalige, heute verschwundene Dienerschaft ihr wie einer kleinen Königin gedient, sie mit Süßigkeiten vollgestopft und ihr schön getan hatte ... In den zwei benachbarten Meierhöfen erinnerte sich Sidonie an alles, und die Bilder ihrer Kinderzeit tauchten auf beim Anblick der Weinpressen, der Ställe, der Scheuern. Von dem Tag ab brachte ich sie häufiger nach Aubiac, mindestens jede Woche einmal, und ließ sie bis ins einzelne diese bescheidene Domäne studieren, die eines Tages ihr Eigentum sein sollte. Sie gewöhnte sich an das Haus, das das Aussehen und den Geruch eines unbewohnten Gebäudes behielt; so wie es war, entzückte es mich, so daß ich nicht daran dachte, es bewohnbar zu machen. An heißen Tagen   und es gab dieses Jahr schon im Februar heiße Tage   ruhten wir uns in diesem Schlößchen aus oder hielten ein Stündchen Siesta, wie wir sagten, nach einer rasch improvisierten Mahlzeit ... Nach La Gatère zurückgekehrt, erzählten wir Angelika an ihrem Bett sitzend von unsern ländlichen Ausflügen, und oft fragte sie uns voll Interesse aus, denn auch sie hatte den Boden, die Erde geliebt, auch sie.

Zuweilen kam eine Traurigkeit in ihre Augen und sie seufzte: »Wann werde ich das alles wiedersehen? ...« Sie litt keine Schmerzen; die Krankheit, die nicht heilen konnte, verschlimmerte sich nicht. Aber die große Müdigkeit wich nicht von ihr. Und die Worte »Wie bin ich müde« tönten in meinen Ohren wie ein immer wiederkehrender Stundenschlag. Ich kann mir und auch Sidonie das Zeugnis ausstellen, daß wir sie bis ans Ende mit nie nachlassender Zärtlichkeit umgaben.

Ich will noch einen kleinen Zwischenfall aufzeichnen, der Sidonie und mich lachen machte, aber von dem wir seitdem nie mehr gesprochen haben aus einer Art wechselseitiger Scham. Meine Frau, die vom Bette oder der Chaiselongue aus die häusliche Wirtschaft leitete, worin sie allmählich von Sidonie abgelöst wurde, hatte diese beauftragt, einige Toilettengegenstände einzukaufen. Alicias Tochter Irene sollte nämlich jetzt neben ihrer Mutter bei uns in Dienst treten. Das war nur im Hauptort des Kantons möglich, wohin ich mich mit Sidonie begab. Wir waren unterwegs durch eine Panne aufgehalten worden und kamen erst bei sinkendem Tag bei dem Tapezierer des Ortes an; das langgestreckte Magazin, in dem es nach Terpentin und Hanf roch, war angefüllt mit Stühlen, Schränken, Waschtischen, Betten und all solchen Heiratsmöbeln, von denen die bäuerlichen Brautpaare träumen. Es war niemand in dem Magazin als eine Magd, damit beschäftigt, vom Porzellan den Staub abzuwischen. Als ich mein Einkaufsprogramm vorbrachte, nahm sie sich erst gar nicht die Mühe, ihre Unzuständigkeit zu erklären, sondern lief in den Hintergrund des Raumes, wo man im Dunkel etwas wie eine kleine Stiege bemerkte, und rief hinaus:

»Madame! He! Madame!«

Eine Stimme von oben antwortete:

»Was gibt's denn?«

»Im Laden ist ein junges Brautpaar, das einkaufen will.«

Wir brachen beide in Lachen aus, die Kleine und ich. Und Sidonie machte es Spaß, vor der Verkäuferin die ihr zugesprochene Rolle zu spielen; die Frau zuckte nicht mit der Wimper. Es wäre ja immerhin möglich gewesen. Denn ich war damals vierundvierzig Jahre alt, aber trotz der frühergrauten Schläfen konnte man mir dank meiner Schlankheit und meines faltenlosen Gesichtes zehn Jahre weniger geben. Und bei Sidonie verriet weder die Gestalt noch das Gesicht eine Vierzehnjährige; wer nicht auf die naive Unschuld ihrer Augen und die Mädchenfrische ihres Teints achtete, mußte sie für achtzehn halten ... Ich erinnere mich nicht mehr, ob dieses kleine Abenteuer meiner Eigenliebe schmeichelte oder wehtat: vielleicht beides. Was Sidonie betrifft, so schwätzte sie als »junge Braut« drauflos, aber fiel, sowie wir das Städtchen verlassen hatten, plötzlich in ein wie mir schien nachdenkliches Schweigen. Seitdem haben wir, wie gesagt, nie mehr von dieser Geschichte gesprochen.

 

Da hast Du, Samuel, die armseligen und die großartigen Ereignisse dieser unvergeßlichen Monate. Ich schwöre Dir, ich habe damals nicht ein einziges Mal etwas anderes verlangt als eine endlose Dauer dieser friedevollen Tage. Was hätte ich auch noch verlangen sollen? In mir herrschte eine wundervolle Ruhe. Ich, der ich die Vierzig überschritten hatte, entdeckte die durchdringende Süßigkeit eines väterlichen Gefühles, das die wirkliche Vaterschaft nie in mir erweckt hatte. Wie sollte ich auch diesen armseligen Zufall von Fleisch und Blut, durch den Arnal mein Sohn war, ein Sohn, der nichts von meinem Charakter und meiner Empfindungsart geerbt, und der sich abseits von mir ganz aus Eigenem gebildet hatte,   wie könnte ich diesen Zufall mit dem immer fortschreitenden und so rasch vollendeten Eindringen meines Geistes in einen weiblichen Geist vergleichen, der voller Grazie und Zärtlichkeit war, nach meiner Anwesenheit dürstete und, was ich sagte, mühelos auf eine Weise aufnahm, so daß ich in Sidoniens Worten, Wesen, ja selbst in ihrer Haltung eine Wiederholung meiner eigenen Persönlichkeit wiederfand? Diese geistige Schöpfung, ich muß es zugeben, erfüllte mich mit Stolz. Alle meine Wünsche würden erfüllt werden, wenn nichts die Entwicklung aufhielt oder änderte. Ich war glücklich und wollte dieses Glück auch um mich verbreiten. Nie habe ich mir größere Mühe gegeben, die von mir so geliebte, erwählte Frau zu entzücken, die die Krankheit unbeweglich machte und die, vom Sohne getrennt, keine anderen hatte als ihren Gatten und ihre Nichte, damit Leben um sie sei. Ich versichere Dir, es war keine Heuchelei dabei.

Ich höre Dich einwenden, Samuel: »Gut, es war keine Heuchelei. Aber konnte sich denn ein so kluger Mensch wie du so täuschen? Du wolltest nicht sehen! Du wolltest nicht überlegen!«

Und doch, so unglaublich es Dir auch scheinen mag, Samuel, ich sah nichts, ich merkte nichts. Kein frühes Zeichen schlug Alarm. Ich spürte keinerlei Unruhe, keine Erregung, sondern, wie ich Dir schon sagte, einen köstlichen, wundervollen Frieden. Wäre ich mir einer Gefahr bewußt gewesen, ich hätte Mittel gesucht, ihr zu begegnen ... Ein Beweis meiner Ahnungslosigkeit und meiner Aufrichtigkeit fällt mir im Augenblick des Schreibens ein. Ich erinnere mich eines melancholischen Gefühles, das mich überkam, als ich hörte, daß ein junges Mädchen aus unserer Bekanntschaft vor ihrer Verheiratung stände; sie war neunzehn Jahre alt. Ich mußte sofort an Sidonie denken, die gerade ihren fünfzehnten Geburtstag hatte. »In drei bis vier Jahren«, so sagte ich mir, »wird man sie vielleicht verheiraten müssen ...« Und ich stellte mir La Gatère ohne Sidonies blühende Jugend vor. Die Trauer, die meine Augen feucht machte, war die eines Vaters, dem man die reizende Gesellschaft seines Kindes wegnimmt ... Ja, es war möglich, es war nahe. Ein Tag würde kommen, an dem Sidonie Abschied nehmen und verheiratet einem neuen Schicksal entgegengehen würde.

Ich werde dann allein in dem kleinen Auto sitzen, um zu einer Waldabholzung zu fahren oder auf den Märkten ein paar Ochsen zu kaufen, oder auf einem Pachthof über die Ausbesserung eines Daches zu entscheiden. Wie wird mir das alles langweilig und nichtig vorkommen, alle diese ewig wiederkehrenden Arbeiten und Tätigkeiten, die mich jetzt, belebt von der frischen und neugierigen Jugend an meiner Seite, selber wieder jung machten! Keine Mittagsmahlzeiten mehr mit der kleinen Gefährtin in dem Speisesaal in Aubiac, keine Trictrac-Partien mehr auf dem Mahagonitischchen im Salon des Fräuleins von Anglésis, in deren Verlauf wir unweigerlich immer so schläfrig wurden. Sidonie legte sich dann auf den alten Diwan, dessen Überzug verblichene Mohnblumen zeigte, um gleich in den tiefen Schlaf eines Kindes zu fallen. Und ich schlummerte ein bißchen in einem Fauteuil. Aber ich wachte immer bald wieder auf und sah ihr zu, wie sie schlief.

Du bestehst nicht darauf, Samuel, daß ich mehr und weiter erzähle. Es ist nicht nötig. Schon lange errätst und fürchtest Du den Schluß ... Aber Du kennst auch die zärtliche Ehrfurcht, die ich vor der Liebe habe, und weißt, daß sie jeden Gedanken an Gewalt einem geliebten Wesen gegenüber ausschließt.

Nichtsdestoweniger gibt es im Strafgesetzbuch den Paragraphen 331. Ich bitte Dich, ihn nachzulesen, mit den Kommentaren, die einen Vormund betreffen.

Es leben in diesem Augenblick auf Guyana Menschen mit rasiertem Schädel, Eisen an den Füßen, und graben in der Erde oder schleppen Lasten unter einer glühenden Sonne,   als Strafe dafür, daß sie das taten, was ich getan habe.

*

Vierzehn Jahre! Mehr als vierzehn Jahre sind verflossen seit dem Tage, der dieses alles sah, und dem, an dem ich Dir schreibe!

Richte mich. Sprich Dein Urteil. Es wird nicht strenger ausfallen als jenes, das ich selber über mich fälle. Ich führe keine mildernden Umstände ins Feld, wie etwa das Nichtvorhandensein bewußter Überlegung, vorübergehende geistige Störung oder   besonders   besonders die törichte europäische Übereinkunft, ein für die Mutterschaft reifes weibliches Wesen als ein Kind anzusehen.

Nichts von alledem spricht mich frei, denn ich lebte durchaus nach dieser Übereinkunft; ich habe sie eindeutig anerkannt, als ich das gesetzliche Amt übernahm. Ich bin schuldig. Ich bin nach dem Gesetz meines Landes nur deshalb nicht bestraft worden, weil man mich nicht erwischt hat.

Nicht um mich zu rechtfertigen, sondern um Dir mein Gewissen zu überantworten, füge ich noch hinzu, daß diese meine Verhaftung durch das Gewissen nichts zu tun hat mit der des Strafgesetzes. Ich habe ein allgemein gültiges Gesetz übertreten, aber ich habe dadurch niemandem Böses zugefügt. Nein, nein, Samuel! Du kannst im Namen des Strafgesetzes oder des christlichen Gesetzes protestieren, nicht aber im Namen der wirklichen Moral, welche besagt, daß man »nicht Schaden zufügen dürfe«. Ich habe niemanden geschädigt. Nicht meine Frau, denn meine Ergebenheit für sie vereinte sich mit der Sidonies, um ihr das Leben zu erleichtern, es ihr angenehmer zu machen, sie ihre Leiden vergessen zu lassen und sie möglichst glücklich zu machen bis ans Ende ihrer Tage; in Wirklichkeit nahmen wir ihr nichts und wollten ihr alles geben; auch meinen Sohn habe ich nicht geschädigt, der sein Leben so führte, wie er es wollte, wobei ich ihm nicht nur nicht widersprach, sondern ihm alle Mittel zur Verfügung stellte, so zu leben, wie er eben wollte.

Und vor allem schädigte ich nicht Sidonie selber.

Hätte ich nicht getan, was ich tat, was wäre ihr Schicksal gewesen? Mit irgendeinem unserer Nachbarn verheiratet, würde sie die trübe Existenz einer armen Schloßherrin (wir sind alle arm) geführt haben, geplagter von Sorgen als eine Pächtersfrau, und würde von ihrem Gatten nach zwei, drei Jahren nichts weiter haben als dessen Ausbrüche schlechter Laune in physischem und moralischem Sinne. Oder sie würde in Aubiac ein zweites Fräulein von Anglésis geworden sein.

Durch mich aber hat sie ihre Persönlichkeit verzehnfacht, hat ihren Geist mit einem höheren, dem meinigen (Du weißt, daß es wahr ist!) verschmolzen, und hat die schwere Süße einer Leidenschaft kennen gelernt ... denn sie hat mich als eine leidenschaftliche Gefährtin und Frau geliebt ... Ich schwöre es Dir, Samuel: ich habe niemanden geschädigt, um mein Glück zu erreichen!

 

Und trotzdem fühle ich unauslöschbare Gewissensbisse.

Ja, ich habe, um mein Glück zu erreichen, niemand Böses getan. Aber ich habe, und nicht ohne Absicht, die Schwäche und Unwissenheit eines andern Wesens ausgenützt. Weder in der Stunde selber noch jemals seither hat dieses Wesen mir je einen Vorwurf gemacht. Niemals im Laufe so vieler Jahre hat Sidonie aber das Wort ausgesprochen, das ich immer erwartete, und das ich ihr zuweilen einzugeben versuchte, ohne direkt zu wagen, es zu erbitten. Weder damals noch später, auch nicht in der Zeit unserer heißesten Leidenschaft, die nicht gleich meinem Verbrechen folgte, und die nun nicht mehr ist, sagte sie: »Dein Verbrechen ist meine Glückseligkeit gewesen. Du hast recht getan, es zu begehen, und ich danke dir dafür jetzt wie immer.« Sie sprach dieses Wort nicht und hat mich damit gerichtet, sie erspart mir den Vorwurf und kann mir doch nicht vergeben.

Das hat mir langsam das Herz zerfressen, wie der Krebs. Aus diesem so schwerwiegenden Schweigen über einen wesentlichen Punkt habe ich immer eine Gefahr für die Zukunft gefürchtet. Du wirst sehen, wie recht ich hatte, und daß die Gegenwart das Schlimme zur Wirklichkeit macht, das ich in der Vergangenheit vorausfühlte ... Aber Du sollst ein klares und getreues Bild von mir als Vermächtnis bekommen, und ich will daher nichts vorwegnehmen. Du mußt mit mir alle Krümmungen des Weges gehen, den ich schritt.

 

Du darfst zum Beispiel nicht etwa glauben, daß ich sofort oder ohne Unterbrechungen mein heimliches Leiden gespürt habe. Keineswegs. Am Tage nach der Tat und lange nachher und viel später noch, ja bis zu den letzten Ereignissen, die mein Leben bis in die tiefsten Gründe aufwühlten, war ich, von gewissen vorübergehenden Ängsten abgesehen, durchaus ein glücklicher Schuldiger. Jene Anfälle von Angst verjagte ich, so wie ein Krebskranker sich sträubt, die Symptome seiner Krankheit zu erkennen, weil er Angst vor der Verzweiflung hat.

Das erste, was mir unmittelbar nach dem Geschehen einfiel, war: »Arnal kommt in den ersten Augusttagen zurück.« Wir hatten Ende April. Drei Monate trennten mich also noch von dieser Rückkehr des Sohnes.

Die Rückkehr eines Kindes von fünfzehneinhalb Jahren ... Rückkehr eines Schuljungen ...! Daran war nichts weiter zu fürchten, und der Charakter dieses Kindes, dieses Schuljungen gab mir die Sicherheit, daß zwischen mir und ihm nichts anderes sein oder geschehen würde, als wenn er vor meiner Tat zurückgekommen wäre. Aber was wird in ihm selber vor sich gehen? Was wird sein scharfer Blick merken? Was seine Scharfsinnigkeit ahnen und erraten? Ich kann mich gut verstellen und habe diese Kunst auch leichtlich meiner Mitschuldigen beigebracht. Während Arnals Abwesenheit war Sidonie ein gelehriges Werkzeug in meinen Händen. Aber ich wußte, wie tief seine Gegenwart auf sie einwirken mußte. Wird der heimgekehrte Arnal nicht allen oder einen großen Teil seines Einflusses auf Sidonie wiedergewinnen? Wenn er ihr auch nicht die ganze Wahrheit entreißt, wird sie sich nicht selbst, ohne es zu wollen, einen Teil davon aus Ungeschick, aus Unachtsamkeit entschlüpfen lassen? Ich konnte daran nicht ohne Schauder denken. Gewissensbisse? Nein. Ich hatte keine. Ich hatte auch keine Angst, daß sie mich befallen würden. Die Strafe, die ich befürchtete, war der Verlust meines Glückes, der Skandal, der durch das Bekanntwerden erfolgen würde. Wenn ich mir auch nichts aus Überlieferungen mache und sie verachte, liegt mir doch außerordentlich viel an der Ehre meines Namens. Aber stärker als meine Klugheit war mein Stolz, und er war es, der mich abhielt, Sidonie Vorsicht zu empfehlen.

Arnal kam zurück.

Er war noch zurückhaltender geworden, als er von Natur aus war, und sprach wenig über seinen Aufenthalt in Deutschland. Er sei von Lehrern wie von Schülern freundlich behandelt worden und bald einer der Besten gewesen. Aber irgend etwas, das er uns verschwieg, hatte ihn da verletzt, denn es war ersichtlich, daß er nicht mehr nach Behrenstein zurück wollte. Die zehn Monate hatten zudem genügt, daß er fließend deutsch sprach. Körperlich war er wenig verändert; etwas größer war er geworden, aber doch noch immer ein Junge, noch kein Jüngling. Als einzige Veränderung fiel mir trotz seiner Zurückhaltung eine gesteigerte Empfindlichkeit an ihm auf. Ich merkte ihm an, daß er eine starke innere Bewegung unterdrückte, wieder in La Gatère zu sein; er konnte, als ihn seine Mutter umarmte, die Tränen nicht zurückhalten; und als er Sidonie küßte, machte er verzweifelte Anstrengungen, seine tiefe Erregung zu verbergen. In dem Augenblick, da seine Lippen Sidonies Wange berührten, kreuzten sich unsere Blicke. Und der ihre, ganz schon der einer Frau, bedeutete mir: »Hab keine Angst! ...«

In der Tat mußte ich im Lauf dieser beiden schrecklichen Monate es bewundern, wie sie von selbst aus sicherem Instinkt heraus es verstand, ohne daß wir je darüber gesprochen hatten, unser gemeinsames Geheimnis zu bewahren und zu schützen. So lehrt die Natur ganz plötzlich die junge Mutter die Verteidigung ihres Neugeborenen, das junge Mädchen die Verteidigung ihres Geliebten. Die beiden erneuerten ihre alte Vertrautheit ohne die heftigen Spiele von früher. Sie verbrachten lange Stunden miteinander; Arnal suchte Sidonies Gesellschaft jetzt häufiger als vor ihrer Trennung, während wir, Sidonie und ich, ohne uns erst darüber verständigt zu haben, ein Zusammensein möglichst vermieden. Aber ein Händedruck im Dunkel, eine rasche Umarmung in einem einsamen Korridor genügten, mich sicher zu machen: Sidonie blieb meine Verbündete.

Auf die Dauer wäre dieser Zwang allerdings unerträglich geworden. Ich machte meine Pläne. Nach Ferienschluß wollte ich Arnal nach dem Lyzeum von Montauban bringen. Die Stadt besaß damals, wie Du Dich erinnern wirst, eine heute verschwundene protestantisch-theologische Fakultät. Durch gemeinsame Freunde setzte ich mich mit einem der Professoren, dem Pastor Pellerin, Vater von drei das Lyzeum besuchenden Jungen, in Verbindung; er war damit einverstanden, Arnal bei sich aufzunehmen und seine Studien zu überwachen ... Ich schwieg über diese Verhandlungen, und Arnal vermied es, mich zu fragen, was ich mit ihm vorhabe. Aber je mehr sich die Ferien ihrem Ende zuneigten, wurde er schweigsamer und verdüsterter. Sidonie warf mir im Vorbeigehen die Worte zu: »Ich finde Arnal verändert ...« Ich entschloß mich, meinen Sohn beiseite zu nehmen und ihm meine Absichten mitzuteilen. Er hörte mich mit unbewegtem Blick an.

»Was sagst du dazu?« fragte ich ihn, da er schwieg.

»Liegt dir viel an Montauban, Vater?«

»Ich verfiel auf Montauban, weil es uns nah ist, und weil du da nicht in einem Internat sein wirst. Wärest du wo anders lieber?«

»Ich möchte dorthin gehen, wo du und viele aus unserer Familie waren, Vater, nach Salisbury.«

Ich fürchte, es gelang mir schlecht, die Erleichterung zu verbergen, die mir dieser ganz unerwartet kommende Vorschlag bereitete. Salisbury! Viel weiter noch weg als Behrenstein! Keine Möglichkeit, früher als zu den großen Ferien heimzukommen! Ich gewann rasch die Herrschaft über mich wieder, um ruhig antworten zu können:

»Das ist nicht unmöglich. Ich werde mir's überlegen.«

Aber mein Entschluß stand bereits fest.

Oft hab' ich seitdem, zusammen mit Sidonie, nach dem geheimen Grund zu forschen gesucht, der Arnal veranlaßte, die Erneuerung seiner Verbannung zu verlangen. Er brachte damit tiefe Trauer über seine von ihm zärtlich geliebte Mutter; er verließ die von ihm geliebte heimatliche Gegend und eine junge Gefährtin, für die er, ich weiß es von ihr selber, eine Zuneigung gezeigt hatte, die weniger herrisch, viel zärtlicher war als ehedem. Der erste Gedanke, der mir kam, war: er hat etwas gemerkt. Aber das war unmöglich, denn es geschah nichts in diesen Monaten. Also Ahnung? Es ist auch heute noch für mich wie für Sidonie ein völliges Geheimnis, und es ist wahrscheinlich, daß ich sterben werde, ohne den Schleier gelüftet zu haben.

 

Eine dumpfe Traurigkeit lag über dem zweiten Abschied Arnals; nicht ohne Beschämung muß ich zugeben, daß von uns allen bloß dieses Kind von sechzehn Jahren die ernste Würde eines erwachsenen Menschen zeigte. Als er sich, bevor er in den Wagen stieg, von mir küssen ließ, fühlte ich zum erstenmal in meinem Leben den Schlag seines Herzens an meinem und den Schauer eines väterlichen Gefühles. Mir kam die Angst: »Tue ich ihm nicht etwas Böses?« Aber schon war er im Wagen, fuhr los, verschwand. Da suchte eine schwache, zitternde Frauenhand die meine.

Von diesem Augenblicke meines Lebens ab beginnt, mein lieber Samuel, ein Zeitraum von dreizehn Jahren, dessen Schilderung ich abkürzen will bis auf einige chronologische Notizen. Erst wenn ich wieder ans Ende dieses Zeitabschnittes komme, an das Heute, werde ich ausführlicher sein müssen ... Warum? Nun, weil diese Zeit für mich einen Höhepunkt in meinem Gefühlsleben bildet. Diese dreizehn Jahre sind voller Ereignisse zu zweit, an die ich mich voll Inbrunst erinnere; aber ich fände es unschicklich, einen Mann Deines Charakters und Deines Amtes mit dieser Erzählung zu belästigen. Du könntest dieses Leben nur als das eines Sünders betrachten, und eines Sünders, der immer noch nicht bereut: denn ich war glücklich. Es war kein ganz reines und zuweilen ein bedrohtes Glück, aber ich war glücklich. Die teure Gegenwart meiner Frau blieb mir erhalten; ich hege den Aberglauben, daß ihre Gegenwart mich vor der Katastrophe schützte, und ich irrte mich nicht. Die Bande, die mich mit Sidonie verknüpften, wurden wieder fester; dem unbestimmten Morgendämmern folgte die Glut des Tages. Was ich am meisten fürchtete, blieb mir erspart: der skandalsüchtige Klatsch. Daß Sidonie bei ihrem Vormund wohnte, fand man nur natürlich, zumal doch meine Frau außerstande war, das Haus zu leiten. Und wir übertrieben die Vorsicht, unser Geheimnis nicht bekannt werden zu lassen. Ich habe niemals und selbst nicht bei unsern eigenen Leuten das geringste Zeichen eines Verdachtes bemerkt. Aber vielleicht haben sie sich auch ihrerseits verstellt.

Und Arnal?

Du wirst hören, wie die fürchterlichen Geschehnisse dieser stürmischen Jahre sich mit dem freiwilligen Entschlüsse meines Sohnes zusammentaten, um ihn fast ohne Unterbrechung von uns fernzuhalten.

Er hatte seine Studien in Salisbury im Oktober 1913 begonnen und sollte erst zehn Monate später, in den großen Ferien, zu uns heimkommen. Das Schuljahr war im Juli zu Ende; aber praktisch schloß sich da immer noch eine Woche sportlicher Wettbewerbe an. Der Kriegslärm, von dem Europa damals widerhallte, brauchte einige Zeit, um das insulare Phlegma zu erschüttern, und so geschah es, daß am 2. August 1914, als Frankreich mobilisierte, Arnal England noch nicht verlassen hatte.

Seine Mutter bat mich, da sie Gefahr in diesem kriegerischen Durcheinander für ihn fürchtete, ihn nicht zurückzurufen. Allgemein war man ja des Glaubens, der Krieg werde in wenigen Monaten zu Ende sein. Arnal war einverstanden, zu bleiben. Aber das erwartete rasche Ende kam nicht nur nicht, sondern der Krieg nahm ganz ungeheuerliche Formen an. Die deutschen Unterseeboote traten in Aktion und der Kanal, den man zu Beginn der Feindseligkeiten gefahrlos benutzen konnte, wurde gefährlich. Arnal, dessen Briefe immer noch mit größter Pünktlichkeit eintrafen, verlangte nicht heimzukehren. Und da er ja nun bald in das Alter kam, wo er eingezogen werden mußte, waren seine Mutter und ich uns einig, ihn möglichst von Frankreich fernzuhalten.

So verging das Ende des Jahres 1914, das ganze Jahr 1915 und die erste Hälfte des Jahres 1916. Keiner dieser vielen einander folgenden Tage war ohne Grauen für mich; aber die menschliche Natur ist so sehr auf die eigene Verteidigung eingestellt, daß meine Angst eigentlich nur Egoismus war. Nicht als ob mir diese Katastrophe, die über die Welt gekommen war, gleichgültig gewesen wäre! Mit welcher Erleichterung hätte ich mich, halber Invalide der ich war, den Gefahren ausgesetzt und mich dem Befreier Tod in die Arme geworfen! Aber obwohl man es mir äußerlich nicht anmerkte, war ich doch unfähig, eine Stunde lang zu marschieren; und fünf Kilometer hinter der Front als Bureaumensch Dienst zu machen, daran lag mir gar nichts. Wie hätte ich auch die beiden Frauen verlassen können, die nur durch mich lebten, und die alle beide Rechte auf mich hatten? So blieb ich in meinem heimatlichen Winkel hocken, Fatalist, wie damals alle waren, darauf verzichtend, mich mit der Zukunft zu beschäftigen nach dem Worte der Schrift: Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Qual habe.

*

Der Ratschluß des Schicksals wurde mir kundgetan am 3. September 1916 durch einen Brief Arnals aus England.

In Worten voller Hochachtung ließ der Brief doch durchaus die Sicherheit eines durchblicken, der den Gegner entwaffnet wußte! ... Arnal erbat oder forderte vielmehr entschieden zwei Dinge: innerhalb eines Monats nach Frankreich zurückzukehren, um im Oktober das Abitur in Bordeaux zu machen; und nach dem Examen (dessen Bestehen er als sicher annahm) bei den Fliegern einzutreten.

»Ich bin achtzehn Jahre alt,« schrieb er, »man glaubt hier, der Krieg werde noch vier Jahre dauern. In den Schülerformationen, die man hier gebildet hat, habe ich mich hinreichend vorbereitet. Ich glaube, im März nächsten Jahres an die Front gehen zu können.«

So hatte er im voraus seine Zukunft geordnet, während ich mich treiben, im voraus unterjochen ließ. Wie ich diese abgeklärte Bestimmtheit Arnals haßte! Es geschah übrigens alles so, wie er es angeordnet hatte: Angelika erlag wie ich der Entschiedenheit des Sohnes, und Ende September traf er bei uns ein.

Weit mehr als Deutschland hatte ihn England verändert. Als er aus Behrenstein zurückkam, war uns nichts Deutsches an ihm aufgefallen, weder in seinem Äußeren noch in seinem Wesen. Nun traf er auf La Gatère als ein junger Engländer ein, als einer dieser scharmanten Jünglinge mit hellem Teint, kupferfarbenem Haar, kräftiger Muskulatur, wie sie zu Hunderten Eaton, Henley, Oxford oder Cambridge bevölkern. Er schien um mindestens zehn Zentimeter gewachsen; aber die auffallendste Veränderung war seine derbe Kraft, trotz seiner Schlankheit und Zierlichkeit; kein Fett, alles war Muskel. Er hatte einen leichten englischen Akzent, der übrigens in ein paar Tagen verschwunden war. Die Jugend, mit Schönheit geschmückt, zieht siegreich ein wie eine Verheißung von Glück. Ich beobachtete ein Strahlen von Freude in den Augen unserer Leute. Angelika warf für ein Weilchen die Bürde ihrer Krankheit ab und war der beglückte Widerschein ihres Sohnes. Sidonie blieb unbewegt völlig aus der Fassung gebracht; sie war lange Zeit der Sprache nicht mächtig und brachte nur ein kurzes Aufschluchzen hervor, das sie mit dem Taschentuch zu ersticken suchte.

Und ich?

Ich muß Dir die Niedrigkeit, die senile Entartung meines Charakters gestehen, Samuel. Sowie ich es, ohne aufzufallen, tun konnte, überließ ich Arnal den beiden Frauen; ich stürzte in mein Zimmer und pflanzte mich wie eine eifersüchtige Kokette vor dem Stehspiegel auf, den ich mir aus meinem Toilettenzimmer hatte hierher bringen lassen. Ich überzeugte mich von meinen grauen Haaren, den Säckchen unter den Augen, den verdächtigen Furchen in den Wangen, der verlorenen Schönheitslinie meiner verletzten Gestalt, und ich verlachte diesen »begehrlichen Verführer«. Da kam mir plötzlich der Gedanke: »Vielleicht ist er allein mit ihr ...« Ich lief hinunter. Sie saßen zusammen auf einer Fensterbank und plauderten. Sidonie hatte sich wieder in ihre Gewalt bekommen; ohne Verlegenheit hörte sie aufmerksam zu, was Arnal erzählte ... Ich kam leise und unbemerkt näher, um zu lauschen, und vernahm ..., wovon eben ein englischer Student reden konnte: »Begeisterte Meldung von Freiwilligen ... Bomben auf Kinder ... Regatta in Henley.« Weder jetzt noch später zeigte sich mir etwas, woraus ich schließen konnte, daß sich die Intimität ihrer gemeinsamen Jugend erneuert hätte. Mir kam es vor, als wäre es Arnal selber gewesen, der die Schranke zwischen sich und Sidonie errichtete. Weniger geschickt, sich zu verstellen, konnte mir Sidonie die Verwirrung nicht verbergen, welche die Rückkehr und die Anwesenheit Arnals bei ihr hervorriefen. Ich las in Sidonie wie in mir selber. Ich sah klar die Tiefe ihres Wesens, wie man den Sand auf dem Grunde einer klaren Quelle sieht. Sicher hatte Sidonie sich nicht sofort in Arnal verliebt. Aber etwas wie ein Verlust ihres Lebens, wofür ich die Verantwortung trug, wurde ihr durch die Gegenwart dieses schönen Durchreisenden bestätigt, den sie hätte lieben können, der sie hätte lieben können ... wie sie wenigstens glaubte. Sie war zu gerecht und zu zärtlich, um sich gegen mich zu wenden; aber sie wurde traurig. Ich zwang mich dazu, ihr Zusammensein nicht mehr zu stören, das häufiger zu machen sie übrigens nicht versuchten. Außerdem dauerte dieses gefährliche und trübe Zwischenspiel nicht lange. Arnal ging nach Bordeaux fünf Tage nach seiner Heimkehr und tat hier während der Vorbereitung zum Examen, ordentlich wie er war, alle nötigen Schritte für seinen Militärdienst. Nach dem bestandenen Abitur kam er noch für eine kurze Zeit nach La Gatère und ging dann auf die Fliegerstation von Avor.   Wieder einmal hatte er das kleine Schloß und sein Geheimnis verlassen!

 

Diesmal war der geheimnisvolle Waffenstillstand von Dauer; denn während der folgenden zehn Jahre sollte sich Arnals Entschluß, sein Leben unabhängig und fern von uns zu führen, nicht ändern. Hartnäckig vermied er häufigere Besuche auf La Gatère, und wenn er kam, konnte weder Sidonie noch ich daran zweifeln, daß seine Besuche Angelika galten, die er in der Zeit zwischen Ankunft und Abreise kaum verließ. Arnals Karriere in diesen zehn Jahren war, ganz kurz geschildert, folgende: 1917 eingezogen, kam er glücklicherweise erst kurz vor dem Waffenstillstand an die Front nach Lothringen. Er zog sich mit einem unbedeutenden Kopfschuß, dem Kriegskreuz und dem Leutnantsrang aus der Affäre. Bei der Demobilisierung nützte er den Erlaß aus, der den Reserveoffizieren erlaubte, im aktiven Heeresdienst zu bleiben. Zwischen 1920 und 1926 war er im Rheinland, dann in Syrien. Danach machte er den Feldzug in Marokko mit. Bei Ain-Kitra wurde er ernsthaft verwundet und kam zur Erholung im März 1927 nach La Gatère. Seine Mutter, mit der es sichtlich zu Ende ging, bat ihn, nicht mehr fortzugehen.

Er gab nach und reichte seinen Abschied ein. Seitdem hat er La Gatère nicht mehr verlassen. Es sind fünf Wochen her, daß Angelika für immer von uns gegangen ist, und Arnal spricht von keinem Reiseplan.

Ich bin dem Schicksal sicher dankbar für diese Jahre, in denen es mir in unvorhergesehener Nachsicht den ruhigen Besitz dessen zubilligte, was mir am meisten am Herzen liegt. Du wirst leicht erraten, Samuel, daß diese Ruhe nicht immer ohne Störung war. So selten und immer angemeldet auch Arnal nach La Gatère kam, ich fürchtete seine Besuche im voraus, und sie hinterließen mir immer eine nur langsam wieder weichende Angst ... Bei jedem neuen Kommen erschien der Jüngling ausgebildeter, immer betonter und männlicher in seiner Art. Weniger hübsch, als ich in seinem Alter war, ging von ihm eine Verführung ganz anderer Art aus: er zog die Frauen an, ließ sie schwach werden, bis sie schließlich, ein bißchen verärgert, fast feindlich, stets bereit waren, ihn zu verleumden. Ich konnte diese Wirkung nicht nur bei Sidonie beobachten, sondern auch bei dem kleinen weiblichen Kreis um Sidonie herum, der unser Haus besuchte. Arnal floh diese Gesellschaft nicht. Ich glaube sogar, daß er sie der Männergesellschaft vorzog. Aber ich verstand auch, warum er den Frauen unbehaglich war. Er erregte in ihnen das Verlangen; aber gleichzeitig lähmte er durch sein etwas herrisches, befehlerisches, ablehnendes Wesen alle diese tausend kleinen Zeichen, mit denen die Frauen einem bewunderten, begehrten Manne zu verstehen geben: »Da bin ich ... du gefällst mir ... auf was wartest du noch? ... Greif an! Ich verteidige mich, weil es Brauch ist ... und auch im Interesse des kommenden Glückes ... Aber greif an ... Ich kann dir wirklich nicht mehr entgegenkommen.« Nein! Nicht einmal diese sinnlichen Koketterien wagten sie vor dem kühlen Blick Arnals.

Während er am Rhein in Garnison lag, brachte er öfter einen Kameraden aufs Schloß mit, den Artillerieleutnant Robert Fuchs. Er war Polytechniker und wie wir aus einer protestantisch-liberalen Familie, die in der Umgebung von Belfort zu Hause war. Die beiden kannten sich von der lothringischen Front her, und nach dem Waffenstillstand war es ihnen gelungen, zusammen ins besetzte Gebiet in Garnison zu kommen. Robert Fuchs gefiel mir vom ersten Moment an. Ohne jede Schönheit war er einer dieser lustigen, etwas vierschrötig derben Burschen, die ihrer Offenheit und Lustigkeit auf der Schule ihre Beliebtheit verdanken und später durch die Protektion der Frauen eine leichte Karriere machen, so daß die Mißgünstigen brummen: »Warum der und nicht ich?« Eine ganz simple Liebhaberei brachte uns einander nahe: beide liebten wir die Bastelei. Er selbst sagte lachend zu Arnal: »Dein Vater und ich, wir schlagen zu gerne Nägel ein.«

Während der vierzehn Tage, die dieser Fuchs im Frühjahr 1923 bei uns weilte, brachten wir zusammen eine kleine Turbine im Cayrou an, die uns reichlich trinkbares Wasser ins Schloß schaffte. Mitteilsamen Wesens, aber nie indiskret, verbarg er mir nicht die Annehmlichkeiten der Rheinlandbesetzung.

Als wir schon recht vertraut miteinander geworden waren und wieder einmal das Kapitel Frauen besprachen, wagte ich die Frage:

»Und Arnal?«

»Arnal und die Frauen?«

»Ja, er und die Frauen.«

Fuchs wurde ganz ernst, als er sagte:

»Arnal liebt Frauengesellschaft, aber ich habe nie gehört, daß er eine Geliebte hat.«

»Wie? ... Mit fünfundzwanzig Jahren?«

»Er ist mit fünfundzwanzig in dem Zustand, in dem der Apostel Paulus war, als er mit eigener Hand und mit schwarzer Tinte den Brief an die Korinther schrieb.«

»Und was sagen denn seine Kameraden dazu?«

»Den meisten genügt als Erklärung, daß er Protestant ist, strenger Protestant, vielleicht verlobt ... Andere vermuten geheime Beziehungen. Auch das hörte ich: Er gehöre einem calvinistischen Orden an, in dem man ein Gelübde ablegt. Aber schließlich, mein lieber Herr de La Gatère, müssen Sie auch bedenken, daß unsere Generation sich weit weniger für Frauen interessiert als die unserer Eltern ... Ich nehme an, daß manche unserer Kameraden nicht anders sind als Arnal ... oder fast so, wenn ein ›fast‹ in dieser Beziehung nicht lächerlich ist.«

»Aber ..., nicht aus anderen Gründen ..., die man nicht gern eingesteht?«

»Sicher, aber selten. Immerhin ist der Gedanke, sich für die künftige Gattin rein zu erhalten, nicht selten unter den jungen katholischen Offizieren.«

Unwillkürlich mußte ich ausrufen: »Was für eine Zeit!«

»Für das weibliche Geschlecht sicher weniger günstig als die Ihre war. Selbst die unter uns, die nicht enthaltsam leben, tragen so etwas wie eine liebenswürdige Gleichgültigkeit zur Schau. Da überrascht sie Arnals Reserviertheit nicht weiter.«

»Aber in Ihrer Unterhaltung dürften doch Anspielungen, Anekdoten und gewisse Scherze über das Ewig-Weibliche nicht fehlen, oder ...?«

»Im Gegenteil! Sie sind vielleicht noch zynischer, noch verächtlicher, diese Scherze, als sie zu Ihrer Zeit waren.«

»Und wie verhält sich Arnal dabei?«

Fuchs dachte einen Augenblick nach und sagte dann lächelnd:

»Arnal hat bei solchen Gesprächen das Wesen eines wortkargen und mäßigen Mannes, vor dem man lieber von Trunkenbolden und Saufgelagen spricht. Er lacht zwar mit. Aber seine Verachtung ist, ohne beleidigend zu sein, ganz deutlich. Es ist klar, daß er von den Frauen eine ganz unnachsichtige Meinung hat: die der Heiligen Schrift.«

Und nach einem Moment des Schweigens fügte er hinzu:

»Das Vernünftigste, das ich über Ihren Sohn habe sagen hören, war: Er muß noch sehr jung unter der Gemeinheit einer Frau gelitten haben.«

Das Wort traf mich ein wenig. Ich verbarg meine Bewegung und sagte rasch:

»Ist das auch Ihre Meinung?«

»Ich habe da keinerlei Meinung«, antwortete Robert Fuchs. »Ich liebe Arnal viel zu sehr, um   es klingt zwar sinnlos, aber es ist doch richtig  , ich will sagen, ich stehe ihm viel zu nahe, als daß ich ihn über so etwas befragen könnte.«

Dieses Gespräch und meine persönlichen Beobachtungen gaben mir die Sicherheit, daß Arnal es nie versuchen würde, Sidonie zu erobern. Trotzdem befand ich mich nach jeder Abreise Arnals einer immer mehr veränderten Sidonie gegenüber. War sie in Arnal verliebt? Nein. Und doch war es offensichtlich, daß die Gegenwart dieses Hippolyt, dieses Parzival die unschuldige Sünderin dazu reizte, über sich selbst nachzusinnen und in der Tiefe ihres Gewissens Skrupel zu spüren ... Wenn ich je bis zum äußersten meine Kenntnis der Frauen nützte, so war es dazu, Sidonie immer wieder zurückzuerobern: es glückte mir immer, aber nach jedem Besuche Arnals mußte ich es von neuem beginnen. Wie es mir immer wieder gelang, sie mir zurückzuerobern, das mitzuteilen ist hier nicht der Ort. Du wirst erraten, daß mir dabei das körperliche Temperament des zu erobernden Objektes ebenso zu Hilfe kam wie seine zarte Empfindsamkeit. Verhülle nicht Dein Antlitz, Samuel! Und rufe nicht, indem Du meinen Brief zerknüllst: »Welche Scheußlichkeiten! Fast unerträglich ist es, ihren Bericht zu lesen!« Ich liebte Sidonie über alles, und Sidonie liebte mich. Wo eine solche fast übermenschliche Glut strahlt, verschwindet jede Häßlichkeit. Und bedenke, daß fast fünfzehn Jahre unserem treuen Beisammensein das intime Gewebe einer Ehe gegeben hatten. Der Altersunterschied, diese dreißig Jahre zwischen ihr und mir, die anfangs so drückend für mich waren, die auf uns beiden lastende Zeit hatte ihn vermindert. Sidonie war neunundzwanzig. Ich zählte nun achtundfünfzig   wie viele legitime Ehen gibt es bei gleichen und größeren Altersunterschieden jenseits des Kanals und in den Vereinigten Staaten! Sidonie hatte mir, freiwillig, gewiß, aber doch von mir überrascht   die einzige Schuld, die ich zu bereuen habe  , die Blüte ihrer Jugend geschenkt; aber ich gab ihr dafür diese ununterbrochene Freude der Sinne, ohne die jedes Leben schal ist. Ihre Eroberung durch mich   mag sie nun schuldbeladen sein oder nicht   hatte sie vor einem schrecklichen Los bewahrt: einen Mann zu lieben, der nicht geliebt werden will. Sie dankte mir die Steigerung ihrer etwas trägen, etwas passiven Natur über sich selbst hinaus; sie dankte mir die sich offenbarende Liebe, nicht diese geschraubte oder sprunghafte Liebe der meisten Paare, sondern die bewußte, besonnene und überlegte Liebe unter der Führung eines Mannes, dessen wahre Berufung die Liebe war. Du bekreuzigst Dich, Samuel, wie vor dem Bösen? Ich habe nichts Satanisches in mir. Bin weder ein Lüstling, noch ein aus dem Gleichgewicht Geratener. Aber es handelt sich hier nicht um Rechtfertigungen; verzeih, wenn mich zuweilen das Bedürfnis danach packt und unterbricht.

Ob verdient oder nicht, ich hatte doch zehn glückliche Jahre. 1924 brachte der heftige Anfall eines Leberleidens   ich sprach zu Anfang davon   mein Leben in Gefahr. Sidonie verstand es, mich mütterlich zu pflegen und gesund zu machen. Einmal genesen   und mein Testament gemacht   nahmen die Dinge wieder ihren gewohnten Lauf; vielleicht mit dem Unterschied, daß ich das nun als zerbrechlich erkannte Glück heftiger an mich reißen wollte, während sich meine beunruhigte Genossin bemühte, mich zu beruhigen oder wenigstens meine Leidenschaft zu dämpfen ...

Die Dinge nahmen, wie gesagt, weiter ihren Lauf. Wenn Arnal   was nach allem Vorgefallenen möglich gewesen wäre   sein Geschick fern seiner Heimat verlegt hätte, wenn er, nachdem er die Augen seiner Mutter geschlossen, das unstete Leben eines Kolonialoffiziers fortgesetzt hätte, würden noch Jahre, anscheinend ruhige, in Wirklichkeit aber leidenschaftlich bewegte Jahre über unsere Häupter dahingerollt sein.

Und unser Geheimnis wäre eines Tages mit uns ins Grab gesunken, verschwunden! Es wäre aufgezehrt worden mit unseren Leibern, unserer Sinnenlust und unseren Gewissensbissen.

Durch den sich hinziehenden Todeskampf Angelikas verlängerte sich Arnals letzter Aufenthalt in La Gatère um mehr als vier Monate. Mehr als fünf Wochen brauchten alle die mit Todesfall und Erbschaft verbundenen Formalitäten zu ihrer Erledigung. So hatte ich fast ein halbes Jahr lang Arnals Anwesenheit im Hause, die mir sonst schon für ein paar Tage schwer zu ertragen gewesen war. Ich glaube nicht, daß ich es ausgehalten hätte ohne die grausame Ablenkung, die mir der Schmerz über Angelikas Hingang, wenigstens während der ersten Hälfte dieses halben Jahres, bereitete. Du wirst mich verstehen, Samuel, wenn ich hier von einer grausamen Ablenkung spreche ... Ich hätte Gewissensbisse gehabt, einem leidenden und sterbenden Wesen, das ich liebte, mich nicht ganz zuzuwenden; und die gleiche Empfindung hatte, ich bin dessen sicher, auch Sidonie. Es ergab sich daraus, was Dir mitzuteilen ich mich verpflichtet fühle: Sidonie und ich, wir lebten keusch seit dem 7. April dieses Jahres,   ein unvergeßliches Datum.

Es war ein entscheidender Tag, und heute ahne ich noch nicht, welche Bedeutung er für die Zukunft in sich trägt.

Arnal hatte noch nicht seinen Entschluß bekanntgegeben, bis zum Ende Angelikas in La Gatère zu bleiben. Aber schon verspürten wir, ich wie Sidonie, seine Gegenwart als drückend ... Aus Vorsicht und um keine Überraschung zu riskieren, kamen wir schließlich dazu, uns zu meiden. Als einmal in Angelikas Leiden eine Pause eintrat, beschloß ich, mit Sidonie außerhalb des Hauses allein zu sein, und nichts war da natürlicher, als uns nach Aubiac zu begeben zur ersten Schwefelung der Reben. Man probierte gerade zum erstenmal einen neuen Apparat dazu aus. Ich schlug meinem Sohn vor, uns zu begleiten; er lehnte unsere Einladung ab und gab als Vorwand an, bei der kranken Mutter wachen zu wollen. Wir fuhren also allein ab in dem grauen Auto, von dem ich mich nicht habe trennen können, war es doch die bescheidene Waffe, mit der ich den teuersten Sieg errungen hatte. Sidonie saß am Steuer.

Die Dächer von La Gatère verschwanden im Laub des Hochwalds, und vor uns lag das weiße Band der Straße im blendenden Licht, wand sich in weiter Kurve um die weinbestandenen Hügel. Mir fiel eine schwere Last vom Herzen, die mich seit Tagen bedrückt hatte. Schweigend, in guter Haltung, fuhr Sidonie den Wagen. Unsere Körper berührten einander, und ich spürte den Sidonies durch das dünne blaue Linon ihres Kleides, wie ein feines Riechkissen einen köstlichen Duft ausströmt! Einen Duft stark und betörend! Meine Nüstern wußten wohl, wie er zusammengesetzt war: das köstliche Bitter ihres kastanienbraunen Haares, ihr Atem, säuerlich und süß zugleich, wie eine Mischung aus Honig und Zitrone; und da war auch jener verborgenste Duft des weiblichen Wesens, den die Frühlingsluft dahinträgt wie den Pollen der Blumen ... Das Profil Sidoniens war rein und so wahrhaft aristokratisch   in dem Sinne nämlich, der von jeder Übertreibung frei ist  , daß man bei seinem Anblick an die Frauen des XVIII. Jahrhunderts denken mußte (wie sie in der Bildfolge von Don Quichotte von Caypel erscheinen). Ich sah von der Seite seine festen, anmutigen Linien. Ihre nackten Arme, gebogen wie die Arme eines Ankers, schienen sich auf das Steuerrad zu stürzen und berührten es doch kaum mit den aufgelegten Händen.

Ich hätte gewollt, die Fahrt hätte länger gedauert; aber je näher dem Ziele, um so mehr beschleunigte Sidonie das Tempo, schweigsam, unbewegten Blicks, mit zusammengebissenen Zähnen.

Das Tal des Cayrou verschwand hinter uns, die Höhe war erreicht, und in der Tiefe der grünen, fruchtbaren Landschaft erkannte ich das hohe dunkle Grün der Bäume, das den uns so teuren einsamen Ort einschloß: das Schlößchen von Aubiac.

Ohne es meiner Gefährtin zu sagen, hatte ich im voraus Auftrag gegeben, daß wir diesen Nachmittag ungestörter noch als sonst für uns hätten. Ich hatte das Pförtnerpaar auf einen weit entfernten Markt geschickt, um dort eine bretonische Milchkuh zu kaufen.

Wie oft hatte uns das alte, wie verlassene Haus aufgenommen! Alles atmete Verlassenheit: diese mit Steinplatten belegten Flure, auf denen wochenlang kein Schritt des Herrn laut wird; der Geruch von Holz, Farben, Kalk   nur der Geruch von Menschen ist nicht zu spüren; Treppen, deren Stufen in der Dämmerung zusammenlaufen und sich im Dunkel verlieren; das spärliche Licht, das zwischen den kleinen Fugen der schiefgewordenen Fensterläden hindurchdringt; die beunruhigende Stille, die einen nötigt, nur leise zu sprechen und leise aufzutreten! Dieses Zusammenwirken von so vielen Erinnerungen, so vielen Dingen der Schläfrigkeit und Müdigkeit riefen in uns beiden so viel erlebten Liebeszauber wach, daß unsere Sinne zu lechzen begannen. Unsere Finger suchten sich, vereinten ihr Fieber, unsere Schritte stießen sich an den dunklen Stufen; wir durchliefen in Eile den Korridor der ersten Etage zwischen den Wänden, auf die die Scheiben der Stubentüren unklar beleuchtete Flecke warfen, bis zum hintersten Zimmer, das mit schon verfärbten roten Pfingstrosen auf dunkelblauem Tuch tapeziert war, wo der Alkoven sich zwischen zwei kleine gleiche Nebengemächer drängte   dort hatte Fräulein von Anglésis gewohnt.

Von diesem Zimmer aus   wohlgemerkt, ehe ich schuldig wurde   hatte ich mit väterlichem Auge den noch kindlichen Schlummer Sidoniens bewacht, von ihm ging für sie ein Zauber aus, der ihr die Erinnerung an alle anderen Orte verwischte, in ihm hatte sie die Empfindung, als Eindringling zu leben, als Eindringling, der sich dort die Liebe stahl. Auf seiner Schwelle verweilten wir oft einen langen Augenblick, einer gegen den anderen gelehnt, unsere Brüste gegeneinander gepreßt, Mund aus Mund unseren schuldigen Odem atmend.   Aber was beschwöre ich herauf! ... Verzeihe mir, Samuel! Aber Du mußt mich doch kennen lernen!

Ich habe es Dir schon gesagt:

Sidonie war während der Fahrt wohl schweigsam und in sich versunken gewesen, aber keineswegs nervös. Ich bezweifelte nicht, daß der alte Zauber von Aubiac wieder Gewalt über sie bekommen würde. Sie erwachte aus ihrer Versunkenheit, als sie den leeren Schloßhof sah; sonst rief das Geräusch des einfahrenden Autos immer das Dienerpaar aus seinem Haus herbei.

»Wie? Joachim und Yvonne sind nicht da?« fragte sie leise.

Ihr eben noch ruhiges und rosiges Gesicht verdüsterte sich. Sidonie schien das Alleinsein mit mir zu fürchten.

Ich hatte schon eine Antwort vorbereitet.

»Sie sind heute morgen nach Rioux auf den Markt gegangen, um eine Bretonische zu kaufen. Sie werden wohl bald zurückkommen.«

Sidonie gab keine Antwort und stieg als erste aus. Sie wartete auf mich, bis ich den Wagen in Ordnung gebracht hatte, und folgte mir dann. Ich schöpfte wieder Vertrauen zu ihrer Ergebenheit. Seit so vielen Jahren hatte ich ihr statt ihres Willens den meinen gegeben. Da war die kleine Halle ... der lange halbdunkle Korridor ... die Doppeltüre in das Zimmer ... in unser Zimmer. In der verschlafenen Trägheit des Hauses war dieses Zimmer, aufgeweckt von der Liebe eines Menschenpaares, immer das einzig Wache gewesen; hier lebte Sidonie für mich, auch wenn sie leiblich nicht anwesend war. Oft hatte ich, ohne sie in Aubiac, hier lange Stunden verträumt, unbeweglich auf einem dieser Ruhebetten mit den verbrauchten Bezügen gelegen und die von Sidonie erfüllte Luft geatmet. Als ich dieses Mal Sidonie an mich zog   diese Umarmung an der Schwelle war zu einem Ritus unserer Liebe geworden   fühlte ich sie zwar noch Sklavin, ihren Leib an meinen, ihren Mund auf meinen gepreßt, aber der Amazonenleib schien mir entkräftet und ihre Lippen antworteten nicht, ertrugen nur die meinen. Ich weiß wohl, was ein Liebhaber wagt, wenn er etwas derartiges bemerkt oder gar sich darüber beklagt: es heißt nur die Gefahr vergrößern und der Freundin ins Bewußtsein bringen, was ihr bisher noch unbewußt war. Ich löste meine Arme von ihr, ohne irgendeine Bemerkung zu machen ... Ich öffnete die beiden Oberfenster. Der fast in den Sommer übergegangene Frühling strömte seinen sonnigen, blütenduftenden und süßen Atem in das Zimmer. Ich führte Sidonie nicht in den Alkoven, sondern zu dem vergilbten Kanapee. Setzte mich neben sie, ergriff ihre Hände ... Ich vermied jede leidenschaftliche Zärtlichkeit, damit sie ihre Ruhe wiederfände. Sie war mir dankbar dafür, daß ich sie schonte. Und ganz plötzlich ließ sie ihren Kopf auf meine Schulter sinken.

Ich brauchte alle Energie, um nicht meiner eigenen Angst zu erliegen und durch gewaltsame Fragen diese von Kummer belastete Seele zu quälen, einem Kummer, dessen Natur ich besser kannte als sie! Ich begnügte mich damit, sie zu liebkosen wie ein krankes Kind; dann setzte ich sie mir wie ein Kind auf die Knie, flüsterte ihr Worte reinster Zärtlichkeit zu. Da gaben ihre Tränen nach, sie weinte lange, schlang dann ihre Arme um mich und küßte mich fast schüchtern.

Ich fühlte nun, daß ich diese flüchtige Möglichkeit, sie wiederzugewinnen, ausnützen müßte. Und schloß sie plötzlich, ohne daß sie sozusagen Zeit fand, zwischen Tröster und Liebhaber zu unterscheiden, in meine Arme. Ich trug sie in den Alkoven ... Nichts ähnelte weniger unserm sonstigen tiefen und langen Ineinanderaufgehen als diese Besitzergreifung einer Sklavin durch ihren Despoten, der zudem nicht einmal seine Lust suchte, sondern nur sich seine Herrschaft nicht entreißen lassen wollte. Der Stolz, trotz allem triumphiert zu haben, entschädigte mich aber nicht für die entsetzliche Gewißheit, daß an dieser Umschlingung die Zustimmung der andern einen weit geringeren Teil hatte als vierzehn Jahre früher, zur Zeit meines Verbrechens.

Trauer begleitete uns, als wir dieses so oft gesegnete Zimmer verließen; fast war es eine Flucht, als wir uns ins Auto stürzten und im gelblichen Licht der untergehenden Sonne heimfuhren. Wir bemühten uns zu sprechen, wie um mit leeren Worten unsern inneren Aufruhr zu übertönen. Als wir in La Gatère ankamen, war es uns fast wie eine Erleichterung, als wir uns trennen konnten.

Hör' zu, Samuel: dieser kühle Kuß war der letzte, den sie von mir empfing, ich sage nicht freiwillig, aber bewußt. Und seitdem verging fast die Hälfte eines Jahres bis zu dem heutigen Tage, an dem ich Dir schreibe.

Dir von dieser gefahrvollen und schmerzlichen Zeit zu erzählen, dazu brauchte es die Seiten eines dicken Buches; ich will versuchen, das Wesentliche in wenige Sätze zu bringen. Es war der Kampf meines Begehrens, meines Willens, meines Wissens um Liebe gegen ein Wesen, das sich der körperlichen Gefangennahme entzog, ohne deswegen aufzuhören, seinen Herrn zu lieben.

Ein innerer Einfluß, stärker als alles, verwandelte ihren ehemals spontanen, heißen und andauernden Willen, mir anzugehören, in Furcht. Ja, Seiten und Seiten brauchte es, um alle Einzelheiten dieses seltsamen Bruches anzuführen, der bestand trotz des Lebens unter einem Dach, trotz der Freude am Zusammensein und trotz des Verlangens, dem andern kein Leid zuzufügen. Ich glaubte zuerst an eine vorübergehende Krise, wie sie auch schon frühere Anwesenheiten Arnals hervorgerufen hatten. Und ich habe mich beherrscht; um Sidoniens Unruhe einzuschläfern, habe ich mein eigenes Verlangen abgetötet. Ich hoffte auf diese Weise, meinen armseligen Sieg von Aubiac zu erneuern. Aber Sidonie war auf der Hut. Sie entzog sich selbst rein väterlichen Liebkosungen. Und das war ja alles, was mir geblieben war. Und nie ein erklärendes Wort! Ich erkannte die Gefahr, die in meiner Abdankung lag; ich schien damit eine Niederlage hinzunehmen, die ich in Wirklichkeit nie hinnehmen würde, und gegen die ich um jeden Preis zu kämpfen bereit war, sei es auch um den unseres Unterganges. Aber eine dieser hartnäckigen Hoffnungen, die nichts weiter sind als Maske der Verzweiflung, lebte in mir weiter. Ich sagte mir: »Arnal ist ja nicht für immer da. Ist er fort, dann gehört Sidonie wieder mir.«

Denn ich wußte wohl, welcher Gegner sie, ohne sie für sich zu wollen, von mir wegzog.

Ich höre Dich antworten, Samuel. Du sagst mir: »Nütze diese kritische Stunde, um Deine Liebe zu Sidonie von ihrer fleischlichen Befleckung zu heilen. Alles hilft dir dabei: die Umstände, ihr Wunsch, dein Alter.« Nein, Samuel ... Liebe zwischen Mann und Weib nenne ich die Anziehung, die sie treibt, sich miteinander zu vereinen, ohne da kindisch zwischen geistiger Einung und leiblicher Einung zu unterscheiden. Was ist der Geist ganz allein? Was ist das Fleisch ganz allein? Das sind zwei ganz gleichwertige Ausdrücke für dasselbe: den Tod. Wenn Du Geist mit Geist vereinigst, Fleisch mit Fleisch, hast Du immer nur den Tod. Das Leben beginnt dort, wo die völlige Vereinigung des Geistes mit dem Fleische ist, also im Werke der Liebe. Ja, das Leben ist das Werk der Liebe.

Trotzdem hatte ich für einige Stunden, die ich am Bette der sterbenden Angelika verbrachte, die Vorstellung, ich könnte wahr und wirklich das Opfer bringen, das mir Deine heilige gebietende Stimme empfiehlt. Es kam mir vor, als würde ich dadurch die Sühne vollziehen und entsühnt, würdiger werden, der immer geliebten Genossin meiner Jugend bis zum Grabe zu folgen. In der Beruhigung der Sinne, durch Ermüdung und Kummer hervorgerufen, hoffte ich, daß es nach der Trennung so kommen würde. Als Angelika mich nicht mehr hören konnte, flehte ich sie an, über ihr Dasein hinaus immer weiter die erlösende Kraft ihres Todeskampfes auf mich wirken zu lassen. Als aber alles vorüber war und ich mit Sidonie und Arnal vom Friedhof aufs Schloß zurückkehrte, nahm ich bald wahr, daß der alte Dämon mich besaß wie zuvor.

Wir traten in eine Atmosphäre, welche das leise Atmen der Sterbenden nicht mehr heiligte. Kaum war die Tür geschlossen, fühlten wir: der Waffenstillstand ist zu Ende.

Zu Ende, aber nicht aufgehoben. Während einiger Tage hielt sich das Trio, das wir bildeten, still, jeder beobachtete die beiden andern und tat sich Zwang an. Die Mahlzeiten vereinigten uns, und es war eine harte Prüfung, zweimal am Tage dieses Beieinandersein zweier Männer und einer Frau in Trauer in dem langen Speisesaal, vor kaum berührten Gerichten. Es wurden Worte gewechselt, die nichts weiter wollten, als unsere wirklichen Gedanken verbergen. Außer diesem erzwungenen Beisammensein bei den Mahlzeiten, suchte sich jeder vom andern abzusondern. Gern wäre ich zu Sidonie gegangen, um ihre Stimme zu hören, ihren Arm zu berühren, sie bloß zu sehen, ihr Dasein zu spüren. Aber Sidonie vermied es, mit mir allein zu sein. Was Arnal betrifft, so kam es mir vor   war es Einbildung?  , aber mir schien, als ob er, ohne es zu wollen, immer mehr Einfluß über Sidonie gewann; ich überraschte das Gesicht meiner Geliebten, wie sie es ihrem Vetter hinwandte genau mit jenem seltsamen Ausdruck der Unterwerfung, wie ich ihn nur zu gut kannte, da ich ihn selber ehemals hervorgerufen hatte. Verständigten sie sich, ohne daß ich es merken sollte? Ich beobachtete sie unablässig während einiger Tage. Belauschte auch kurze Gespräche ... Nichts Verdächtiges! Mein Scharfblick überraschte nichts. Es war ein Zufall, der mir die Augen öffnete.

Immer waren Sidonies Zimmer den meinen benachbart gewesen; nur das Stiegenhaus trennte uns. Das erschien ganz natürlich, solange Sidonie noch ein Kind war und eine Dienerin in einem Nebengemach, das als Wäschekammer diente, über sie wachte. Mit den Jahren wurde diese Dienerin im Stockwerk überflüssig, und die Wäschekammer wurde zu einem kleinen Wohnzimmer umgewandelt. Niemand fand etwas daran, daß unsere Nachbarschaft weiter bestand. Sie wurde größer, ich wurde älter. Ich wiederhole Dir, man schöpfte keinerlei Verdacht. Ich mußte Dir die Räumlichkeiten erklären, bevor ich weiter erzähle.

Am neunten Tage nach Angelikas Beerdigung verbrachte ich den ganzen Nachmittag mit Arnal und dem Notar Capot. Die Hinterlassenschaft der Verblichenen konnte zwischen mir und Arnal keinerlei Differenzen hervorrufen, denn es war immer so beschlossen und abgemacht gewesen, daß Arnal ihr ganzes Erbe zufiele, auch wenn sie vor mir stürbe.

Doch wenn auch Arnal die ganze Hinterlassenschaft zufiel, blieb er, wenn er den Dienst quittierte, ein ziemlich armer Mann. Was wollte er anfangen? Nun Angelika nicht mehr unter uns weilte, hielt ihn eigentlich kein triftiger Grund mehr auf La Gatère zurück. Als Verwalter für mein und Sidonies Anwesen hatte ich ihn nicht nötig. Er hatte auch kaum stärker als ich das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Leben. Ich wagte in Gegenwart des Notars, an den ich mich wandte, die Erklärung: sollte mein Sohn Geld bedürfen   sei es um seine Karriere fortzusetzen, sei es um irgend etwas Neues zu unternehmen, wäre ich bereit, ihm sofort den Teil seines Erbgutes aus meinem Vermögen auszuzahlen, den man den »Pflichtteil« nennt. Arnal hatte nicht nur kein Wort des Dankes dafür, sondern sah mich nur einen Augenblick scharf an und gab dem Gespräche eine andere Wendung. Ich merkte, wie der Notar sich darüber wunderte, und wir beeilten uns, mit unserer Unterredung zu Ende zu kommen.

Diese traurige Sitzung hinterließ in meinem Herzen eine Wunde. Nach dem Abendessen zu dritt suchte ich sogleich meine Räume auf. Um weiteres Grübeln zu vermeiden, versenkte ich mich in die Lektüre einer Abhandlung, deren Verfasser eine neue Methode der Bewirtschaftung vorschlug, von der sich meine Nachbarn Wunder versprachen. Es war halb elf, als ich die Broschüre zu Ende gelesen hatte. Ich begann zu träumen. Der ganze Jammer der Stunde packte mich. Ohne mir Genaues vorstellen zu können, wurde ich den Gedanken nicht los, daß man gegen mich etwas anzettele. Wer arbeitete an dieser Intrige? Arnal? Sidonie? Beide zusammen? Ich konnte zu keiner Klarheit kommen. Das machte mich nervös.

Es handelt sich darum, nicht den Mut zu verlieren, dachte ich. Mein Haus gehört mir, und mein Sohn hat kein Anrecht darauf, hier im Hause zu bleiben, wenn ich ihn bitte, es zu verlassen.

Aber plötzlich sah ich wieder den sonderbaren, schwer erträglichen Blick, den er auf mich richtete, als ich eine Anspielung auf die Zukunft machte. Und wenn es mit Gewalt ist, er darf nicht hier bleiben. Ich erschrak über meine eigene Stimme in der Stille, denn ich hatte den letzten Satz laut herausgerufen.

Ein zweites Mal versuchte ich, mich durch eine ganz mechanische Tätigkeit zu beruhigen. Ich schlug die Bücher der Domäne Aubiac auf und prüfte die Pächterabrechnungen für das erste Vierteljahr ... Aber die trockene Arbeit hinderte nicht, daß Gedanken und Erinnerungen um die Namen und Zahlen spielten ... Pachthof Aubiac ... Weinberg von Fréchon ... Meierhof von Bourdieu ... Beim Lesen dieser Namen tauchten vierzehn Jahre schuldigen, aber herrlichen Glückes aus der Vergangenheit auf und tanzten ihren Reigen um die Zeilen; an jeden dieser Namen knüpfte sich eine Erinnerung an einen Vorgang aus den Anfängen unserer Liebe, an eine unvorhergesehene heftige Szene aus der Zeit, wo wir noch miteinander im Kampf standen, oder an einen glücklichen Tag der langen Zeitspanne, in der voller Gleichklang aus uns beiden ein einziges Wesen gemacht hatte. Keinerlei Gewissensbisse brachte diese Erinnerung mit sich, Samuel! Sondern nur den starken Wunsch, daß diese Zeiten einer gewollten, freiwilligen, triumphierenden Sünde wiederkehren möchten.

Als ich so dachte, ließ mich ein leichtes Geräusch, ein Rascheln oder ein leises Kratzen, ganz deutlich in der Stille des Hauses, den Kopf heben ... horchen ...

Vielleicht war's ein Vorhang, den ein Luftzug bewegte. Oder eine Maus auf der Treppe. Oder es stöhnte ein Balken in dem alten Hause auf, es zerbröckelte etwas an einem seiner alten Bausteine ... geheimnisvolle Laute, wie man sie in alten Häusern öfters des Nachts hört. In La Gatère war bisher nichts davon zu mir gedrungen.

Aber ich täuschte mich keinen Augenblick darüber; konnte mich nicht täuschen. Zu oft hatte ich im Lauf so vieler Jahre ein ganz gleiches hinstreichendes nächtliches Geräusch im Korridor vernommen und bis an mein bebendes Herz gespürt; zu oft hatte mich dieses Geräusch den halben Weg begleitet, wenn ich meine Zimmer wieder aufsuchte mitten in der Nacht. Es war das Geräusch eines leisen Schrittes, Sidonies ...

Ich erhob mich. Ich zog meine Schuhe aus, ging bis zur äußeren Tür meines Zimmers und legte an sie mein Ohr.

Langsamer, zögernder noch und vorsichtiger klang der Schritt an mein lauschendes Ohr, vorsichtiger als ehemals, da er mich suchte oder begleitete. Er hielt inne im Treppenflur meiner Tür gegenüber; und so vollkommen war nun die Stille, daß ich ein unterdrücktes, unregelmäßiges Atmen hörte, das sich vergeblich zu verhalten suchte. Ich widerstand dem Verlangen, rasch die Tür zu öffnen und das Gespenst zu greifen, das davor stand, sicher halb ohnmächtig an der Rampe lehnend, es in mein Zimmer zu ziehen und die Tür hinter meiner Beute zu schließen ... Warum tat ich es nicht? Die Scham, die Angst vor dem Skandal hätten Sidonies Widerstand gelähmt! ... Aber meine eifersüchtige Neugier war stärker als mein Verlangen. Ich beherrschte mich. Ich rührte mich nicht. Und das Gespenst nahm wieder sein gleitendes Gehen auf. Ganz deutlich hörte ich seine Schritte auf der Treppe. Eine Treppe aus Holz hätte geknackt; die harten Steinstufen waren stumme Helfer ... Die sonst so blinde Eifersucht wird zuweilen ganz hellsichtig: sie will wissen, was der andere plant. Und sofort stand in mir fest, was ich wollte: nicht meine Gegenwart verraten, nur zu erforschen suchen, was Sidonie auf diesen nächtlichen Weg trieb. Da sie sich in ein Stockwerk begab, in dem seit dem Tode seiner Mutter nur Arnal wohnte, war dieser sicher das Ziel ihrer leisen, zögernden Füße. Der stets und mühelos zurückgewiesene Gedanke, daß Arnal für Sidonie das geworden sei oder in diesem Augenblick werde, was ich für sie gewesen war, der Gegenstand ihrer Lust oder der Herr ihres Leibes, überfiel mich mit wilder Stärke. Was sollte sie im oberen Stockwerk tun in derselben Gangart und zur selben Stunde, in der sie so oft zu mir gekommen war, um sich mit mir in Liebe zu vereinen? Was anders, als nun ihn zu treffen und bei ihm die Liebe? Das Blut schlug mir in den Schläfen und in den Augen mit einer Stärke, daß ich seinen salzigen, heißen Geschmack in den Nüstern zu spüren meinte. Ich war für Momente ein wildes Tier, dessen Verlangen nicht der Besitz, sondern die Zerstörung war. Nur meine Betäubung bewahrte mich vor sinnlosem Tun; die Knie gaben mir nach, ich schwankte, und als das Blut wieder zu seiner Quelle zurückgekehrt war und das Denken freigab, war ich vor der Tür auf dem Boden zusammengesunken. Ich drückte das Ohr an die Tür. Nichts mehr war zu hören. Wo war sie? Wo waren sie? Hatten sie sich gefunden? Die Mordlust war einer nicht weniger mörderischen Neugier gewichen. Ich wollte Gewißheit haben um jeden Preis. Erst einmal wissen, dann würde sich die Entscheidung schon von selbst ergeben.

Mit der Geschicklichkeit eines Diebes (erprobt in vierzehn Jahren) verließ ich mein Zimmer und stieg die Stufen hinauf, die eben vor mir Sidonie gegangen war. Ein außen von wildem Wein nur zur Hälfte verhängtes Rundfenster ließ in das Treppenhaus genügend Licht fallen; denn die Nacht war nicht sehr dunkel.

Die Treppe schien mir leer bis zum nächsten Absatz. Also war Sidonie schon auf dem oberen Korridor, auf dem Weg zu Arnals Zimmer. Vielleicht war sie schon eingetreten! Plötzlich kam mir, woran ich vorher nicht gedacht hatte, so unmöglich war es mir erschienen, meinen Sohn mit einem Liebhaber zu identifizieren  , sein Zimmer und das Sidonies befanden sich genau übereinander. Nichts leichter also für sie, als sich durch Klopfen zu verständigen. »Sie sind im Einverständnis,« dachte ich; »wie konnte ich nur je daran zweifeln? Ist Sidonie eine Frau, die monatelang wie eine Nonne leben kann? ... Du Trottel!« In zehn Sekunden war ich trotz meines schmerzenden Knies auf der oberen Etage. Aber da mußte ich anhalten, ehe ich in den Korridor einbog, denn gerade auf den Boden dieser abbiegenden Ecke fiel ein schwacher Lichtschimmer; ich begriff, Arnal hatte Licht in seinem Zimmer, und unter der Tür fiel der schwache Schein bis zu mir.

»Sie ist bei ihm, kein Zweifel«, sagte ich mir.

Entschlossen bog ich um die Ecke in den Korridor, sicher, ihn leer zu finden. Ohne alle Vorsicht, ganz fortgerissen von Wahnsinn und innerem Aufruhr, schritt ich den Korridor entlang auf die Tür zu ... Aber ich war noch einige Meter von dem Lichtstreifen unter Arnals Tür entfernt, als ich an eine Gestalt stieß, die sich, um mich vorbeizulassen, an die Wand drückte. Es war Sidonie.

So seltsam auch dieses Stehenbleiben bei Arnals Türe war, ich fühlte doch eine Erleichterung ... Sie waren nicht zusammen! Ich faßte sie beim Handgelenk, ohne daß sie sich wehrte. Ganz leise sagte ich:

»Was machst du hier?«

»Nichts«, sagte sie.

Die Antwort war ganz sinnlos, aber mein Zorn mäßigte sich. Diese kraftlose, vergehende, unterwürfige Frau, das war keine Verliebte, die sich zum Rendezvous begibt.

»Komm!«

Widerstandslos folgte sie mir, stieg von mir gestützt die Treppe hinunter; sie widerstand auch nicht, als ich sie zu meinem Zimmer führte, in das sie mit mir eintrat, und das ich hinter uns abschloß. Sie sagte nichts, als ich sie in den weitläufigen Voltairesessel trug, ihren gewohnten Sitz, wenn sie mich ehemals besuchte. Schon begann die Hoffnung in meinen Nerven zu kreisen, ich könne sie wiedergewinnen. Sie lag fast in dem Fauteuil, mit herabhängenden Armen, das Gesicht ausdruckslos, ihr Denken schien mit einem Schleier umhüllt, und sie kam mir unendlich viel entwaffneter vor als das unwissende, aber starke und lebhafte Mädchen, das ehemals mein plötzlicher Angriff überwältigt hatte.

Sie so schwach und vergehend zu sehen ergriff mich so sehr, daß all mein Groll verschwand und nichts blieb als eine inbrünstige Entschlossenheit.

»Mein einziges Gut auf der Welt,« dachte ich, »und wenn es mir entschwindet, will ich nicht mehr weiter leben. Ihren Besitz will ich um den Preis meines oder ihres oder irgendeines andern Lebens verteidigen, so mir jemand sie rauben will. Das schwör' ich mir! Entweder wir beide, oder keiner.«

Ich setzte mich neben sie auf einen niederen Stuhl, nahm ihre heißen Hände in meine; ich hatte Tränen in den Augen und konnte nur immer wiederholen:

»Mein Liebes! ... Mein Liebes! ...«

Ich fühlte es mit Entzücken, daß meine zaghafte Berührung und meine armen Worte ihr gut taten. Sie wandte mir ihre Augen zu, rührender noch als je in den Minuten der Leidenschaft, und eine schwache Bewegung ihrer Finger versuchte ein zärtliches Drücken.

»Gewinne ich ihr Vertrauen wieder,« dachte ich, »dann wird sie nicht aus diesem Zimmer gehen, ohne sich mir hingegeben zu haben.«

Denn dies blieb immer der innerste Wunsch meines Blutes und meines Hirns. Nichts brach ihn.   Ich bin wie ich bin, Samuel!

Als sie mir etwas ruhiger schien, sagte ich:

»Kann ich mit dir sprechen?«

Sie zauderte.

»Was kann das nützen«, sagte sie.

Welche Mutlosigkeit drückten diese Worte aus!

»Verdiene ich es nicht mehr, daß du mir antwortest? ... Daß du dich auf mich stützest?«

»Oh! doch ...«

»Sprich! Es wird dich erleichtern ...«

Schweigen.

»Hör' mich an, Sidonie. Ich finde dich allein, oben, im Dunkel ... an die Wand gelehnt und fiebernd ... Ist's nicht natürlich, daß ich dich frage, was du suchtest?«

Schweigen.

»Gingst du zu Arnal?«

»Ich weiß nicht ... Ja, ich glaube ...«

Ich war selber überrascht, daß ich mich beherrschte. Ganz ruhig fragte ich sie:

»Und was hat dich auf deinem Weg aufgehalten?«

»Ich hab' mich nicht getraut.«

»Du kannst mir nicht sagen, was du von ihm wolltest?«

»Doch!«

»Nun?«

»Ich wollte ihm sagen, daß ich künftig in Aubiac wohnen würde.«

Ich verlor plötzlich meine erkünstelte Ruhe. Ich richtete mich auf.

»Du willst fort von hier? Willst das Haus verlassen?«

Sie nickte: Ja! Sie hatte die Augen aufgeschlagen und auf die meinen gerichtet. Es war kein Trotz in ihnen, aber sie glühten vor festem Willen.

 

Was weiter in dieser Nacht geschah, ist nicht nötig Dir im einzelnen zu berichten, Samuel. Ich wüßte es auch übrigens nicht. Man kann nicht leere Gesten wiedergeben   Stammeln, Beschwörungen, die zu Drohungen werden, Drohungen, die sogleich von Bitten und Gelöbnissen widerlegt werden, und dieses sinnlose Hin und Her von Worten, welche die Liebe ertöten und alles fälschen ... Nein, das ist nicht zu erzählen ... Ich fühlte nur, alle meine Anstrengung brachte Sidonie nicht ab von ihrem Entschluß. Sie wiederholte hartnäckig:

»Ich werfe dir nichts vor. Ich weiß, du liebst mich, und ich bin untröstlich, dir Kummer zu bereiten. Aber ich will künftig für mich allein in Aubiac leben. Es muß sein.«

Unmöglich, aus ihr den Grund dieses Entschlusses herauszubekommen; sie wiederholte mit einer aufreizenden Gleichförmigkeit, für die ich sie hätte schlagen mögen, nur immer wieder:

»Weil es sein muß.«

Bis zu welcher Erbärmlichkeit ließ ich mich nicht herab! Ich schlug vor, gemeinsam mit ihr La Gatère zu verlassen. Ich bot ihr an, sie zu heiraten, erinnerte, daß ich seit dem Tode meiner Frau frei sei. In diesem Augenblick tauchte etwas wie Grauen in den Augen Sidonies auf ... Welcher heimliche innere Zwang ließ mir den Vorwurf, daß sie Arnal liebe, nicht entschlüpfen, und daß sie zu ihm laufen wolle, um sein Weib oder seine Geliebte zu werden oder seine Genossin in einer abscheulichen Verschwörung zu meiner Beseitigung? Ich hielt mich zurück; ich fühlte, sagte ich diese Worte, es wäre nie mehr wieder gutzumachen gewesen.

Alles, was ich erreichen konnte, war, daß sie nicht den unwiderruflichen Entschluß, aber den Zeitpunkt der Abreise aufschob ... wenigstens bis zu einer neuerlichen Besprechung am andern Tag; wir waren beide zu erschöpft ...

Nachdem ich ihr dies Versprechen entrissen hatte, bildete ich mir in meiner Müdigkeit ein, daß die Drohung nun sicher nicht mehr verwirklicht werden würde.

Als wir zu dieser Einigung gekommen waren, schlug die Uhr die vierte Morgenstunde. Sidonie lag jetzt unbeweglich in dem Fanteuil, und ich glaubte, sie sei ohnmächtig geworden. Aber sie war aus Erschöpfung eingeschlafen, und so tief war ihr Schlaf, daß ich sie, ohne daß sie die Augen öffnete oder ein Glied rührte, in meine Arme nehmen und in ihr Zimmer tragen konnte, wo ich sie aufs Bett legte. Ich konnte leidenschaftlich ihr Haar küssen, ihre Wangen, ihre Lippen, und sie wachte nicht auf davon ... Ihr ganzes kraftloses Wesen gehörte meiner Willkür, meiner Raserei, meiner Begierde ...

Welches Ende der Nacht! Beim ersten Morgengrauen ging ich, ein gebrochener Mann, in mein Zimmer zurück; ich war voll Verzweiflung und voller Verachtung meiner selbst, aber vom Fieber der Rache geschüttelt, die ich genommen hatte.

*

Samuel, Du und Du allein kennst nun mein ganzes bisheriges Leben, sowohl das, was wir zusammen verlebt haben, als das, was ich fern von Dir erlebte. Dreimal vierundzwanzig Stunden hab' ich gebraucht, diese Beichte meines Lebens niederzuschreiben, und mir ist daraus eine große Erleichterung geworden. Von den ersten Zeilen an, die mich in unsere gemeinsame Jugend zurückführten, fühlte ich Dich neben mir. Die Schläge meines Herzens wurden davon ruhiger, meine Augen blickten klarer in mein Inneres, und die tiefen letzten Gründe der Dinge entschleierten sich mir; auch über die Zukunft bin ich mir klar geworden. Wenn ich Dir jetzt sagte: »Beeile Dich, mir zu Hilfe zu kommen!« so weiß ich, daß Du alles lassen und mir helfen würdest. Ich habe daran gedacht. Und habe darauf verzichtet. Warum? Ich weiß, was Du mir raten würdest, und was Dein Amt mir auferlegen müßte. Aber ich will nicht nachgeben. Ich kann nicht nachgeben. Nur dies will ich tun: nichts überstürzen; ich schiebe die äußersten Entschlüsse auf die letztmögliche Grenze.

Am Tage nach dieser schrecklichen Nacht sagte ich Sidonie mit offensichtlicher Ruhe, daß ich überlegt hätte und mich ihrer Abfahrt, falls sie darauf bestände, nicht widersetzen wollte. Man könne sie mit Gründen der Schicklichkeit erklären, jetzt, wo ich Witwer geworden. Ich verlange von ihr nur, abzuwarten, bis Aubiac in bewohnbaren Stand gebracht sei, damit ihre Abreise nicht einer Flucht gliche und zu peinlichen Bemerkungen Anlaß gäbe. Wir, Arnal und ich, würden sie dorthin begleiten, um das Familieneinverständnis vor den Leuten aufrechtzuerhalten. Sie war sofort damit einverstanden; der gute Ruf des Hauses liegt ihr wie uns am Herzen.

Also eine Ruhepause, ein Waffenstillstand ... Ich schwöre Dir, daß ich ihn nach meinen besten Kräften ausnützen werde, um jede Katastrophe zu vermeiden. Das ist nicht unmöglich. Einer steht zwischen mir und Sidonie, der seine Meinung noch nicht gesagt hat: Arnal. Sidonie täuscht sich über Arnals Absichten. Wird sie davon überzeugt, ist alles gerettet. Wenn nicht ... Du würdest mir Ergebung und Verzicht raten. Aber ich könnte Dir nicht gehorchen. Mein Entschluß ist in diesem Augenblick kein anderer als während des Chaos dieser schrecklichen Nacht. Aber er ist jetzt kalten Blutes gefaßt.

Daher wird dies zwiefache Testament, in einen Umschlag versiegelt, so lange an Dich nicht abgehen, als dieser Waffenstillstand dauert. Aber wenn Du es erhältst, dann komme ohne weitere Benachrichtigung unverzüglich.

Ich umarme Dich, mein einziger Freund!

Hervé.


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