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VI.

Der Herbst hatte sich schon gemeldet, als sich Paul Le Tessier im selben Jahre 1893 nach Vézéris begab, um für seinen Bruder um die Hand Jeanne de Chantels anzuhalten. Hector selbst befand sich auf Vézéris: es war sein zweiter Besuch dort, seit den Begebenheiten im Frühling.

Paul kam am Morgen eines klaren Septembertages an. Die Weinernte näherte sich ihrem Ende; auf allen Wegen begegnete man vollbeladenen Wagen, die von Ochsen gezogen wurden.

Die großen Ländereien, die zur Domäne Vézéris gehören, erstrecken sich zwischen dem gleichnamigen Dorfe, dem Flusse Vienne, und den Höhenzügen längs eines kleinen Nebenflusses der Vienne, der sich durch den Park des Herrenhauses schlängelt. Das zweistöckige Gebäude, im Stile Ludwigs XIII., umschließt einen großen Hof, in den man durch ein noch älteres Thor kommt, das schwer wie ein Brückenbogen ist. Das Hauptgebäude liegt gerade davor und nimmt sich nicht übel aus mit seinem breit vorspringendem Schieferdache, seiner großen Steintreppe, und den Fensterbogen der Façade. Rechts und links liegen die Gebäude für das Gesinde, und die Ställe.

Der Senator wurde von M me. de Chantel in der großen Wohnstube des unteren Geschosses empfangen. Unter den hohen, grau und weißen Plafonds, zwischen den vielen verblaßten Ahnenbildern der Familie, zeigte sie sich erst recht in dem Rahmen, welcher für sie paßte, mit der ihr eigentümlichen Grazie und Sicherheit, die nur bei Leuten von altem Adel zu finden ist. Im Augenblick war in der Familie kein Todesfall, um den sie hatte trauern müssen, und beide Damen, sowohl sie als Jeanne, hatten ihre Toiletten mit hellen Spitzen und Bandschleifen belebt. Von Paris hatte Jeanne einen moderneren Geschmack mit heimgebracht, den sie später unter Hectors Leitung weiter entwickelte, doch ohne dabei das ihr eigentümliche Gepräge zu verwischen, das Hector lächelnd »ihren Vendéeischen Typus« nannte. Was Maxime betrifft, so hatte er sich nur wenig verändert. Sein Haar war an den Schläfen leicht ergraut; aber es wäre schwierig zu sagen, was es eigentlich war, das ihn gleichsam um zehn Jahre älter machte. Vielleicht war es der Ausdruck in den Augen, oder der Zug um den Mund, vielleicht war es auch diese oder jene tiefe Furche im Gesicht, welche verriet, daß der Kummer sie gezogen.

Als das Frühstück zu Ende war, ging man hinaus, um das Besitztum zu besehen. M me. de Chantel blieb zu Hause, aber Jeanne begleitete die drei Herren. In einem braunen Tuchkleide, das ihrer schlanken Figur wie angegossen saß und einem kleinen englischen Strohhut auf dem Kopfe, wie sie in diesem Jahre modern waren, ging sie voran mit Maxime. Paul sagte zu seinem Bruder:

»Sie hat sich bedeutend verschönert. Hast Du sie auch moralisch umgeschaffen?«

»Nein,« antwortete Hector lächelnd. »Ich werde mich schon hüten. Sie ist noch immer dieselbe kleine weiße Gans, die mein Herz gewann ... nur ein klein wenig geschickter ist sie darin geworden, ihre Federn zu Putzen, und etwas mehr Leidenschaft hat sie bekommen. Das ist das Ganze! – Aber wie geht es denn mit Deiner Liebe, mein armer Freund.«

Paul schüttelte traurig den Kopf.

»Alles unverändert ... das Kind ist noch immer ebenso störrisch. Nichts vermag ihren Widerstand zu brechen. Darauf bestehen, meinst Du? Ich wage es nicht recht, das Ende davon könnte sein, daß sie mich überhaupt nicht mehr empfangen würde. Ja, lieber Freund, ich alter Kerl verbringe jeden Tag zwei Stunden bei einem entzückenden jungen Mädchen, das ich liebe, und das mich wieder liebt, dem ich aber nur Stirn und Wangen zu küssen wage.«

»Die Geschichte mit Suzanne ist doch abgethan; man spricht nicht mehr davon.«

»Nein – und sie selber ist ebenfalls aus der Welt. das arme Mädchen ist kürzlich im Hospital gestorben.«

Hector nahm seinen Arm und drückte ihn liebevoll: »Hab' Vertrauen auf die Zukunft. Alles geht vorüber, alles wird vergessen. Eines Tages wirst Du Deiner kleinen Étiennette dankbar dafür sein, daß sie standhaft gewesen, damit Du eine unberührte Braut bekämest und Deine Ehe einen Sinn hätte, zu einem Ereignis von Bedeutung in Deinem Leben würde. Du weißt ja sehr gut, daß ich so wenig wie Du, von einer konventionellen Ehrfurcht vor socialen Institutionen, welche die Zeit ändern und aufheben kann, angesteckt bin. Aber während der Übergangsjahre müssen die Klugen in der offiziellen Moral Schutz suchen. Nur die Dummen ziehen aus, ohne zu wissen, wohin sie ziehen wollen.«

Jeanne und Maxime standen auf einem waldbewachsenen Hügel und warteten auf ihre Gäste. Als diese sie erreicht hatten, sagte Jeanne zu Hector:

»Nun zeige Deinem Bruder Paul alles, damit er meinen Geburtsort lieben lernt.«

Aber ihre Augen, die von der schönen Flamme unschuldiger Liebe leuchteten, sagten zu Hector: »Auf Dein Urteil nur lege ich Wert; von Dir, mein Herr und Meister, will ich, daß das Land meiner Kindheit geliebt werde.«

Vom Hügel, wo sie standen, hatte man eine weite Aussicht über eine Landschaft mit flachen Ebenen und waldigen Hügelketten, eine echte Landschaft von Poitou, deren friedliche Schönheit man erst recht genießt, wenn man sich an sie gewöhnt hat. Maxime erklärte Paul, was man von da oben sah.

»Der Fluß, den Sie hier unten vorbeifließen sehen, und der rechts oben das kleine freundliche Dorf zwischen den Bäumen passiert, ist ein bescheidener Nebenfluß der Vienne; er durchschneidet den südlichen Teil unseres Besitztums, und das kleine Dorf ist ein historischer Ort; ein Mal über das andere ist es wahrend der Religionskriege in Asche gelegt, und von den Engländern belagert worden. Und doch ist sein Name nur wenig bekannt. Es heißt Azay-la-Bataille. Wenn Sie wollen, können wir ihm einen Besuch abstatten.«

»Sind dort noch Ruinen von den alten Festungswerken? fragte Paul.

»Sie werden sehen ... es liegen noch große Steine dort, die auf allerlei schließen lassen.«

Er sprach mit Ruhe und Gelassenheit, ohne Freude, ohne Heiterkeit. So war er immer; niemals wurde in der Familie die Vergangenheit erwähnt; er trauerte, aber er sprach kein Wort über seine Trauer. Jeanne, die mit Paul Le Tessier vorausging, erzählte ihm das ganz offen: weder sie noch ihre Mutter hatten es gewagt, Maxime auszufragen, ja ihm nicht einmal angedeutet, daß sie die Ursache seines großen Kummers errieten.

»Wir verließen Paris damals in verzweifelter Stimmung. Maxime wollte uns keine Erklärung geben. Aber er ist ja das Oberhaupt der Familie; er befahl uns, nach Vézéris zurückzukehren, und wir gehorchten. Ach, glauben Sie mir, wir haben traurige Stunden durchgemacht ... Wie konnte die Frau es übers Herz bringen, einen Mann, wie Maxime, so furchtbar leiden zu lassen! Er, der sie so unendlich lieb hatte!«

Nach einer Pause fragte sie:

»Ist sie verheiratet?«

»Nein!« antwortete Le Tessier ... »Vielleicht wird sie sich eines Tages verheiraten. Aber im Augenblick ist sie abwesend von Paris und gehört nicht mehr zur guten Gesellschaft. Man spricht nicht gern mehr von ihr.«

»So,« sagte Jeanne, ohne zu erröten, denn sie hatte nicht ganz verstanden.

Doch fügte sie kurz darauf hinzu, nachdem sie ein Weilchen nachgedacht:

»Das arme, arme Mädchen!«

Sie erreichten das Dorf Azah. Die Winzer hielten gerade Mittag. In heiteren Scharen zogen sie dahin, mit dem roten Blut der Traube auf den Lippen und in der übermütig lustigen Stimmung, in die die Weinernte die Bauern versetzt.

Traurig und still erzählte Maxime die Geschichte des Orts:

»Diese großen Steine sind alles, was von der Burg übrig geblieben ist. Die Sage erzählt, daß mit dem Turm tausend Menschen im Feuer umkamen ... Und heutzutage, sehen Sie, wächst schönes Gemüse um die Ruinen herum. Die Erde ist besonders fruchtbar hier, vielleicht von den vielen Leichen, die sie gedüngt haben.«

Ein alter Bauer kam vorbei, mit krummem Rücken von der Arbeit hinterm Pfluge und einem von der Sonne braungebrannten Gesicht.

»Nicht wahr, Vater Laurent, die Erde ist gut hier um das alte Schloß herum?«

»Gewiß, Herr Graf, vorzüglich. Es mag wohl von der großen Schlacht sein, die einstmals geschlagen wurde vor der Revolution

Mit neidischen Blicken betrachtete er die fette, reiche Erde, die von Blut gedüngt und gesättigt worden. Das große Feld, das den Schauplatz für die Blutbäder abgegeben, von denen die Sage berichtet, lag jetzt friedlich da; auf den mächtigen Befehl der Natur war sie den regelmäßigen Verrichtungen des Jahres, der Aussaat und der Ernte, zurückgegeben worden, erzeugte goldenes Korn und purpurfarbenen Wein; – und das kleine Dorf, einst von Kriegsgreueln verheert, verlor allmählich seinen historischen Ruf und lebte nun unbekannt sein unberühmtes, stilles Leben weiter.

Jeanne schaute lächelnd hinaus auf die üppige Erde und die sonnige Natur; sie schaute auch lächelnd in die Zukunft hinein, indem sie im Egoismus ihres eigenen Glücks sowohl das Unglück vergaß, das vor kurzem einen der ihrigen getroffen, wie die tragische Vergangenheit ihres Geburtsortes.

Aber Paul und Hector beobachteten Maxime, der schweigend dastand, in Träume versunken; sie errieten, wovon er träumte, und für einen Augenblick schlugen ihre Bruderherzen im gleichen Takt mit dem seinen ... Weshalb läßt das reiche Leben nicht ebenfalls, durch ein unabänderliches Gesetz, in der verheerten Menschenseele neue Hoffnung und Liebe, wie eine neue Ernte, emporkeimen?

 

La Roche, 1893–1894.

 

 


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