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Mein kleiner Nachbar

 

20. Dezember 19 ..

Ich bin nun wirklich bald eine alte Jungfer und fange an resigniert zu werden. Aber ich werde mir trotz all meiner Philosophie immer klarer darüber, daß manches im Leben nicht gerade tadellos eingerichtet ist – ich selbst habe es wenigstens nicht allzugut auf dieser Welt.

Vor allem ist es kalt – mein Zimmernachbar behauptet, acht Grad unter Null. – Er ist ein Bursch von sechsundzwanzig Jahren, besucht die Bergbauschule, stammt aus der Gascogne und spricht infolgedessen einen schrecklichen Dialekt.

Eben habe ich in die Zeitung geschaut und da steht: im Interesse des Eissports ist es sehr zu begrüßen, daß die niedrige Temperatur wahrscheinlich noch lange anhalten wird.

Aber das Blatt denkt nicht daran, seinen Lesern mitzuteilen, wie diese Ankündigung auf das Gemüt einer armen Lehrerin wirkt. Ich fühle mich versucht, der Redaktion zu schreiben, daß vierzehn Tage Frost für mich eine tägliche Mehrausgabe von 50 Centimes – macht in Summa 7 Francs 50 Centimes – bedeuten. Und dafür hätte ich mir gerade einen neuen Winterhut kaufen können. Wenn ich ihn selbst garniere, kommt er mich gerade auf so viel zu stehen.

Ja, es ist kalt, und ich habe Ferien – unfreiwillige Ferien. Merkwürdig, die Engländer zeigen heuer gar keine Neigung, die Sprache Voltaires zu lernen, während jeder Franzose schon mit fünf Jahren englisch spricht, vorausgesetzt, daß er eine Gouvernante gehabt hat. Mein Gott, und ich kann ja doch nichts weiter als englisch und französisch sprechen und ein bißchen Klavier spielen. Wie sollte ich auch? Man hat es mir nicht an der Wiege gesungen, daß ich als Lehrerin endigen würde. Aber meine Eltern haben dann ihr Vermögen verloren. – In Romanen interessiert das heutzutage keinen Menschen mehr, aber im Leben spielt es trotzdem eine Rolle, kann ich euch sagen.

Meine einzige Geldquelle ist momentan eine Dame aus Montevideo. Sie ist sehr hübsch, aber ihr Wissensdrang läßt sehr zu wünschen übrig. Zudem hat sie mir gleich gesagt, ihr läge gar nichts daran, geläufig französisch zu sprechen. Besondern Wert legt sie auf einzelne Sätze, die ich ihr dann einpauken muß, zum Beispiel: »Sie haben schöne blaue Augen und einen schönen blonden Bart« oder: »vergessen Sie nicht, daß ich eine große Rechnung bei der Schneiderin habe.« – Und dann: »nur nicht morgens früh.« Das scheint ihr ganz besonders wichtig zu sein. Ich will lieber nicht erst darüber nachdenken, zu was für Gesprächen sie diese Sätze braucht. Das geht mich ja, Gott sei Dank, nichts an. Ich muß nur sehen, daß ich den »propri« und den »restan« zahlen kann, wie Jean Ducasse sagt.

– Da kommt er gerade heim, mein kleiner Zimmernachbar. Der arme Kerl, er hat sich neulich stark erkältet und hustet, daß es kaum zum Anhören ist. Und dann schlägt er sich auf die Brust und sagt: »Hören Sie, meine Lunge ist schon ganz kaputt. Wenn ich einer von Ihren Parisern wäre, hätten sie mich schon längst begraben.« In dieser Art faßt er überhaupt alle Ereignisse des Lebens auf, einerlei ob sie ihm Gutes oder Schlimmes bringen – wenn er sie nur dazu benutzen kann, die Gascogne und seine eigne Person zu verherrlichen.

Je ärger es draußen friert, desto mehr triumphiert er: »Pfui, ist das ein abscheuliches Klima – bei uns läuft man heute sicher in Hemdsärmeln.« Dabei behauptet er, die Kälte wäre ihm ganz egal. Wenn man ihn noch ein bißchen aufhetzte, würde er sofort den Rock ausziehen und in Hemdsärmeln herumlaufen, nur um zu zeigen, wie unempfindlich er gegen jede Temperatur ist.

In seinem Zimmer wird nie geheizt, dazu ist er viel zu faul. Er kommt mit seinen Büchern zu mir und setzt sich neben den Ofen. Aber jeden Augenblick legt er sie wieder weg und erzählt mir alle möglichen Geschichten aus seiner Schule. Dabei macht er die verschiedenen Stimmen nach, als ob er Theater spielte. In seinen Erzählungen kommt jeden Augenblick ein Professor vor, der durch einen Schüler blamiert wird. Der Professor wechselt, aber der Schüler ist immer Jean Ducasse.

Aber er ist doch ein lieber Kerl, lustig, amüsant und hat wirklich ein hübsches Gesicht mit seinen Zügen. – Übrigens wird er sicher gleich bei mir anklopfen. Ich will mich nur rasch etwas frisieren und eine andre Bluse anziehen. Wenn ich auch eine alte Lehrerin bin, mag ich doch nicht so aussehen, daß die Kinder sich vor mir fürchten.

 

22. Dezember

Nein, alles geht schief. Nun hab ich auch noch die Dame aus Montevideo verloren. Seit gestern ist sie verschwunden. Ich war in ihrer Wohnung in der Rue Boccadar, und der Hausmeister erzählte mir, ein »Offizier von der Ehrenlegion« habe sie entführt. Übrigens hat sie alle ihr Schulden gewissenhaft bezahlt – nur die Lehrerin hat sie vergessen – 18 Francs war sie mir schuldig. Ich werde sie schmerzlich entbehren. Ich wollte so gerne eine schöne Krawatte für meinen kleinen Nachbar kaufen, als Weihnachtsgeschenk. Er versteht es gar nicht sich anzuziehen.

Jean Ducasse macht viel Spektakel wie immer, hustet, schreit und erzählt Anekdoten. Heute morgen, ehe er zur Schule ging, machte er meine Tür auf, ohne anzuklopfen – er wird wirklich allmählich etwas zu familiär – und rief triumphierend herein:

»Hallo – das Schwein ist noch um zwei Grad heruntergegangen.«

Das Schwein war natürlich der Thermometer.

Sollte man es glauben, dieser kleine Hanswurst, der mir andauernd die Cour macht – ich lache ihn natürlich immer aus – hat alles mögliche probiert, um mir die Adresse der Dame aus Montevideo herauszulocken. Jetzt will ich sie ihm gerne geben, er mag dann in der Rue Boccadar sein Glück versuchen.

Wir treiben allen möglichen Schabernack miteinander – wie zwei Kinder. Er ist ja auch wirklich ein Kind – aber ich?

 

23. Dezember

Jean Ducasse und ich haben uns dieser Tage viel über Weihnachten gezankt. Für mich ist es das schönste und bedeutungsreichste Fest im ganzen Jahr – für ihn spielt es gar keine Rolle. Er hat in seiner Kindheit nie am heiligen Abend seine Schuhe in den Kamin gestellt. Nein, so ein Gascogner hat gar keinen Sinn für die Poesie unsrer nordischen Weihnachtsfeier.

Ich wollte ihn gerne dazu bringen, seine Schuhe in den Kamin zu stellen, weil ich ihm die Krawatte hineintun wollte. Es ist mir nämlich doch gelungen, eine zu kaufen (ich bin doch alt genug, um mich in sein Zimmer zu schleichen, wenn er schläft). Aber er wollte durchaus nicht diesen dummen Aberglauben mitmachen.

Nun, seine Verachtung für allen Aberglauben hindert ihn aber durchaus nicht, seiner Phantasie immer wieder die Zügel schießen zu lassen. Gerade heute erzählte er mir eine ganz unwahrscheinliche Geschichte. Er hätte eine sehr reiche Tante, und die wäre jetzt gestorben – und er würde sie zweifellos beerben. Die Tante soll ein Vermögen von mindestens 40 000 Francs in bar und dazu noch Grundbesitz besessen haben. Er, Jean Ducasse, wolle daraufhin sein Studium fahren lassen, das Diplom sei ja doch nur Quatsch. – Statt dessen wollte er ein paar Jahre auf Reisen gehen und dann in seine Heimat zurückkehren, um den Grundbesitz der seligen Tante zu übernehmen. Natürlich würden die Ländereien zehnfachen Ertrag bringen, da ihnen seine wissenschaftlichen Kenntnisse zugute kämen. Und alle diese phantastischen Pläne trug er mir mit dem größten Ernst vor.

»Wenn ich dann von meinen Reisen zurückkomme, schöne Hortense, hole ich Sie hier in der Rue Gît-le-Cœur ab, und Sie werden meine Frau.«

Dann wollte er mir einen Kuß auf die Wange geben, erwischte aber nur einen Haarknoten und machte sich rasch aus dem Staube. Sonst hätte er eine tüchtige Ohrfeige bekommen. Was für ein Strick! Aber man kann ihm wirklich nicht böse sein.

Um mich zu versöhnen, hat er mir versprochen, mit mir in die Mitternachtsmesse zu gehen, und nachher wollen wir in irgendeinem Restaurant unser Weihnachtsmahl feiern.

 

25. Dezember

Ja, ja, Mitternachtsmesse und Weihnachtsmahl! – Seit vorgestern haben sich große Dinge zugetragen. Am Ende hat Jean mir mit seinen Phantastereien den Kopf verdreht und ich habe alles nur geträumt? – Aber nein, alles um mich herum sieht aus wie die Wirklichkeit selbst. Jean sitzt neben dem Ofen und studiert mit feierlicher Miene irgendein wissenschaftliches Werk. – Nein, ich träume nicht – und ich bin sehr glücklich.

Also – damals, am 23. Dezember, kam Jean sehr spät nach Hause. Ich schlief noch nicht, und ich hörte ihn ganz fürchterlich husten.

»Der arme Junge hat sich gewiß erkältet,« dachte ich. So stand ich denn wieder auf, zog meinen Schlafrock an und horchte an seiner Tür. Er hustete jetzt nicht mehr, aber ich glaubte ihn stöhnen zu hören. Und das beängstigte mich so, daß ich alle Bedenken zum Teufel schickte und anklopfte. Ich bekam keine Antwort, und da er seine Tür nie abschließt, ging ich einfach zu ihm hinein. Da lag er und sein Kopf glühte vor Fieber; als er mich hörte, fing er sofort an wieder laut zu stöhnen.

»Ach, liebe Hortense, es ist aus mit mir. Ich glaube, ich habe eine Lungenentzündung, ich kann kaum mehr atmen. – Dies verdammte Paris hat mir den Rest gegeben. – Gott, ist das traurig, so jung und fern von seiner Heimat zu sterben. – Lassen Sie mir doch einen Doktor holen, Hortense.«

Während er sein trauriges Schicksal bejammerte, fühlte ich ihm den Puls und beobachtete ihn etwas genauer. Ich überzeugte mich, daß mein guter Jean Ducasse wahrscheinlich nur einen tüchtigen Bronchialkatarrh hatte. Ich habe einiges Talent zur Krankenpflegerin, so ließ ich denn keinen Doktor holen, verordnete ihm Antipyrin und Chinin und ließ ihn tüchtig schwitzen. Dann suchte ich ihn zu beruhigen, und gegen vier Uhr morgens schlief er denn auch glücklich ein.

Den ganzen nächsten Tag wich ich nicht von seinem Lager. Der arme kleine Jean – er war wie ein krankes Kind, klagte und jammerte fortwährend. Am Abend hatte er wieder Fieber, aber nicht so stark wie gestern.

Als er endlich schlief, konnte ich mich auch nicht mehr aufrecht erhalten. Seit sechsunddreißig Stunden hatte ich kein Auge zugetan. So schlummerte ich ein – als ich wieder aufwachte, saß Jean aufrecht in seinem Bett und sah mich an. Er machte wieder sein gewohntes, vergnügtes Gesicht und war nur etwas blasser als sonst. Ich wurde ganz verlegen, weil ich in seiner Gegenwart geschlafen hatte.

»Na, Sie haben ein tüchtiges Schläfchen gemacht, armes Ding,« sagte er. »Aber ich möchte jetzt aufstehen, ich habe lange genug im Bett gelegen. – Und ich habe Hunger.«

Ich riet ihm, noch liegen zu bleiben. Unter der Bedingung, daß wir unser Weihnachtsmahl an seinem Bett feiern wollten, ging er denn auch darauf ein. Als ich hinausging, unser bescheidenes Mahl herzurichten, rief er mir nach:

»Vergessen Sie nicht, die Schuhe in den Kamin zu stellen.«

Und dann soupierten wir ganz gemütlich an seinem Bett. Jean war wieder ganz der Alte – und doch etwas anders – ich weiß nicht, war es die Nachwirkung des Fiebers oder des Antipyrins – aber er benahm sich so ausgelassen, daß ich ihm dreimal drohen mußte, ich würde das Zimmer verlassen. Aber dann fing er wieder an jämmerlich zu husten, und ich dumme Gans blieb wieder da.

Erst gegen ein Uhr nachts zog ich mich in mein Zimmer zurück und schlief gleich ein. Als ich aufwachte, war es heller Tag, und jemand klopfte laut an die Tür.

»Wer ist da?«

»Ich – Jean.«

»Geht es Ihnen wieder schlechter?«

»O, nein – aber ich habe einen Brief vom Notar bekommen – wegen meiner armen Tante. Kann ich nicht herein?«

»Warten Sie, ich komme gleich zu Ihnen herüber.«

Fünf Minuten später kam ich in sein Zimmer. Mein kleiner Nachbar saß ganz ruhig auf seinem Stuhl und hatte den Brief des Notars in der Hand. Er sah gar nicht aus, wie man sich einen lachenden Erben vorstellt, und ich fragte rasch:

»Hat die Tante Ihnen doch nichts vermacht, Jean?«

»Ja, doch – aber sie hat leider doch keine 40 000 Francs gehabt, obgleich sie es immer behauptete. Und sie hat lauter Hypotheken auf ihrem Grundbesitz.«

Dann gab er mir den Brief. Der Notar fragte an, ob er die Erbschaft antreten wolle. Wenn alle Schulden getilgt würden, blieben noch 2000 bis 3000 Francs übrig. – Das wunderte mich gar nicht weiter, ich war nur erstaunt, daß die Geschichte mit der Erbschaft und der Tante wirklich wahr gewesen war.

»Nun ja – aber 3000 Francs sind immerhin besser als nichts, Jean. Sie wollen die Erbschaft doch wohl antreten, wie?«

»Selbstverständlich,« sagte er. »Aber meine große Reise fällt ins Wasser. Ehe ich mich verheirate, hätte ich mich gern ein bißchen in der Welt umgesehen – zum Beispiel in Monte Carlo – Aix – Ostende usw. Aber dabei kann man nichts machen, wir müssen dann eben gleich heiraten.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das ich von diesem Leben genug habe. Meine Gesundheit geht ja dabei drauf. – Deshalb will ich lieber das Ende vorausnehmen. Also abgemacht, Hortense, wir heiraten uns.«

Ich fühlte, daß ich ganz blaß wurde und alles vor meinen Augen verschwamm.

»Sie müssen über solche Dinge keine schlechten Witze machen, Jean.«

Aber er faßte mich an beiden Händen.

»Witze? Ich denke gar nicht an Witze, Hortense, Sie sind die beste Frau, die ich überhaupt kenne, und ich habe Sie lieb. Himmelherrgott – letzte Nacht – wenn ich nicht Angst gehabt hatte, wieder krank zu werden – – «

»Aber Jean!«

»Und Sie haben mich so gut gepflegt. Ich fühle mich glücklich, wenn ich mit Ihnen zusammen bin. Und ich werde so zahm sein wie ein Kanarienvogel, der aus der Hand frißt. Seien Sie lieb und sagen Sie nicht nein.«

»Aber es ist ja Unsinn – ich bin vier Jahre älter als Sie.«

»Dreieinhalb. Und Sie sehen aus wie einundzwanzig. Bei uns zu Hause gibt es eine Masse Ehepaare, wo der Mann jünger ist als die Frau. Da ist ein gewisser Piot – – nein, der ist es nicht – Rouillès heißt er – dessen Frau ist zehn Jahre älter als er. Und dann ein gewisser Carbal, der ist mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger. Und Lagatère – – – «

Er hätte nie wieder aufgehört; so unterbrach ich seinen Redestrom:

»Es wäre nicht richtig von mir. – Sie können eine gute Partie machen, wenn Sie mit Ihrem Studium fertig sind. Nein, ich will auf keinen Fall.«

»Gut – wie Sie wollen. Aber, wenn Sie mich verlassen, werde ich wieder krank, und dann ist es Ihre Schuld.«

Und er fing wieder an herzbrechend zu husten.

So habe ich denn schließlich ja gesagt. Natürlich ist es eine große Torheit von mir. Da ich niemand mehr habe, der mir Moral predigt, muß ich es selber tun. – Der Junge wird mir doch sicher nicht treu bleiben, wird mich totunglücklich machen. – Aber wenn er mich wirklich lieb hat? Ich hatte ihn ja schon lange lieb, ich wollte es mir nur nicht eingestehen. Und ich will schließlich auch einmal glücklich sein und geliebt werden.

Manche andre Mädchen in meiner Lebenslage geraten auf die schiefe Bahn. –

Eigentlich ist es bei mir ganz dasselbe, nur in einer andern Form – mit Standesamt und Kirche.

*

Eben sieht Jean von seinem dicken Buch auf.

»Wenn ich nun meine Schuhe in den Kamin gestellt hätte,« sagt er halb schelmisch, halb melancholisch – »glaubst du, ich hätte am Ende doch heute morgen die 40 000 Francs meiner Tante darin gefunden?«

»Aber sicher. Das ist die Strafe für deinen Unglauben.«

»Und du – was hast du denn in deinen gefunden?«

Ich stand auf und nahm meinen großen Jungen in die Arme. Dann flüsterte ich ihm ins Ohr:

»Dich.«


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