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Zweiter Teil

Meine Gegenwart und die Artigkeiten des Herrn von T... zerstreuten Manons Trübsinn völlig. »Laß uns vergangene Schrecken vergessen, liebes Herz,« sagte ich zu ihr, »und ein Leben beginnen, glücklicher als je. Die Liebe ist eine gütige Gottheit ... Fortuna kann uns nicht so viele Leiden schicken, als sie uns Freuden schafft.«

Unser Essen war ein wahres Festmahl.

Ich war stolzer und zufriedener, Manon und meine hundert Pistolen zu besitzen, als irgendein Nabob mit seinen angehäuften Schätzen. Der Reichtum hat nur dann einen Wert, wenn er das Mittel ist, unsere Wünsche zu erfüllen, uns Freuden zu schaffen. Ich war so befriedigt, daß ich mir nicht einmal wegen meiner Zukunft Sorge machte; ich war beinahe sicher, daß mir mein Vater seine Hilfe nicht verweigern würde, um in Paris anständig leben zu können, außerdem hatte ich bald das zwanzigste Jahr erreicht und mit diesem Alter hatte ich auch das Recht, mein mütterliches Erbe zu fordern. Ich machte vor Manon kein Hehl daraus, daß mein Reichtum nur in hundert Pistolen bestände. Es war genug, um bessere Zeiten abzuwarten, die mir nicht fehlen konnten, sei es durch meine natürlichen Rechte oder durch das Spiel.

So dachte ich während der ersten Wochen nur daran, mich meiner Lage zu erfreuen, und da ein Funke von Ehre, sowie die Furcht vor der Polizei mich von Tag zu Tag abhielt, meine Verbindungen im Hotel Transsylvania wieder anzuknüpfen, so beschränkte ich mich darauf, in weniger verrufenen Gesellschaften zu spielen, wo die Gunst des Schicksals es mir ersparte, zum Betrug meine Zuflucht zu nehmen. Einen Teil des Tages verbrachte ich in der Stadt, und ich kehrte zum Souper nach Chaillot zurück, oft von Herrn von T... begleitet, dessen Freundschaft für uns von Tag zu Tage wuchs. Manon fand Mittel gegen die Langeweile. Sie machte sich mit einigen jungen Mädchen aus der Nachbarschaft, welche der Frühling dahingebracht, bekannt. Ausflüge, Plaudereien mit ihren Altersgenossinnen verkürzten ihr abwechselnd die Zeit. Sie fuhren nach dem Bois de Boulogne, um Luft zu schöpfen, und bei meiner Rückkehr am Abend fand ich Manon schöner, zufriedener und liebenswürdiger.

Trotzdem sammelten sich einige Wolken an, welche das Gebäude meines Glücks zu bedrohen schienen; aber sie wurden bald zerstreut, und die tolle Laune Manons machte die Entwicklung so komisch, daß ich noch heute Freude an der Erinnerung finde, die mir ihre Zärtlichkeit und ihre Geistesgaben lebendig vor Augen führt.

Unsere Dienerschaft bestand aus einem einzigen Lakaien, welcher mich eines Tages beiseite nahm und mir mit verlegener Miene sagte, er habe mir ein wichtiges Geheimnis anzuvertrauen. Ich ermutigte ihn, sich offen auszusprechen. Nach einigen Umschweifen erzählte er mir, ein vornehmer fremder Herr habe sich in Fräulein Manon verliebt. Das Blut wallte mir heftig durch die Adern. »Und zeigt sie für ihn Zuneigung?« unterbach ich ihn hastig; durch die Heftigkeit erschreckte ich ihn.

Ängstlich antwortete er mir, soviel habe er nicht beobachten können. Der Herr sei ihm im Bois de Boulogne aufgefallen, da er sich bemühte, in die Nähe des Fräuleins zu kommen. Um seinen Namen zu erfahren, habe er sich mit der Dienerschaft des Herrn bekannt gemacht, der, wie sie sagten, ein italienischer Fürst sei. Als er sich noch näher erkundigen wollte, sei er durch den Fürsten gestört worden, der sich ihm freundlich genähert habe und ihm, als er erraten, in wessen Diensten er stehe, Glück zu seiner reizenden Herrin gewünscht.

Ich erwartete ungeduldig die Fortsetzung dieser Erzählung. Meine Heftigkeit hatte ihn aber so eingeschüchtert, daß er unter Entschuldigungen abbrach und, obwohl ich ihn drang, mir beteuerte, daß er nichts mehr wisse und seit gestern noch nicht mit den Dienern des Fürsten zusammengekommen sei. Ich beruhigte ihn nicht nur durch mein Lob, sondern auch durch eine ansehnliche Belohnung; ich beauftragte ihn, ohne ein Mißtrauen gegen Manon zu zeigen, jeden Schritt des Fremden zu überwachen.

Sein Erschrecken hatte grausame Zweifel in mir erweckt; er konnte einen Teil der Wahrheit aus Angst verschwiegen haben. Nach einiger Ueberlegung kam ich wieder von meiner Besorgnis ab; ich bedauerte sogar, ihm diese Zeichen von Schwäche gegeben zu haben. Konnte Manon dafür, daß man sie liebte? Es hatte viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß sie nichts von dieser Eroberung wußte; und was für ein Leben mußte ich führen, wenn mein Herz der Eifersucht so leicht zugänglich war? Am folgenden Tage kehrte ich nach Paris zurück, ohne einen anderen Entschluß gefaßt zu haben, als mir im Spiel ein wenig nachzuhelfen, um mich in den Stand zu setzen, Chaillot bei der ersten Veranlassung zur Unruhe verlassen zu können.

Am Abend erfuhr ich nichts, was mich beunruhigen konnte. Der Fremde war wieder im Bois de Boulogne erschienen, hatte sich meinem Diener genähert und von seiner Liebe zu Manon gesprochen, aber in einer Weise, die jede Mitwisserschaft Manons ausschloß. Er fragte ihn nach tausend Kleinigkeiten. Endlich versuchte er meinen Diener durch glänzende Versprechungen für sich zu gewinnen, zog einen Brief aus seiner Tasche und bot ihm einige Goldstücke an, wenn er ihn seiner Herrin bringen wolle; aber vergebens.

Zwei Tage verstrichen ohne irgendein Vorkommnis. Der dritte war stürmischer. Ich erfuhr, als ich ziemlich spät von Paris zurückkehrte, daß Manon sich während des Spaziergangs einen Augenblick von ihren Gefährtinnen entfernt habe, und daß der Fremde, der ihr gefolgt sei, sich ihr, auf ein Zeichen, das sie ihm gab, näherte. Darauf habe sie ihm einen Brief gegeben, den er in überströmender Freude empfing, die er durch heiße Küsse ausdrückte, die er auf den Brief preßte, weil sie ihm sofort wieder entschlüpft war. Aber sie sei den ganzen Tag über von außerordentlicher Lustigkeit gewesen. Bei jedem Wort zitterte ich. »Bist du sicher,« sagte ich traurig zu meinem Diener, »daß deine Augen dich nicht getäuscht haben?« Er rief den Himmel zum Zeugen der Wahrheit an.

Ich weiß nicht, wozu ich mich in meiner Seelenangst hätte verleiten lassen, wenn Manon mir nicht klagend und vorwurfsvoll über meine späte Rückkehr entgegengekommen wäre. Ohne meine Antwort abzuwarten, überschüttete sie mich mit Liebkosungen, und als sie sich allein mit mir sah, machte sie mir Vorwürfe, daß ich mich gewöhne, so spät nach Hause zu kommen. Da mein Schweigen ihr gestattete, fortzufahren, so klagte sie, daß ich seit drei Wochen noch keinen einzigen Tag bei ihr verbracht hätte; sie könne meine lange Abwesenheit nicht ertragen, sie fordere wenigstens von Zeit zu Zeit einen Tag, und schon morgen müßte ich von früh bis Abends bei ihr bleiben.

»Ich werde hier sein, zweifle nicht daran,« antwortete ich ihr in barschem Tone.

Sie beachtete meine Verstimmung nicht und machte mir in ihrer heiteren Laune, die mir etwas erkünstelt erschien, allerlei spaßhafte Schilderungen, wie sie ihre Tage verbringe.

»Seltsames Mädchen,« sagte ich im stillen zu mir, »was soll ich von diesem Vorspiel denken?«

Das Abenteuer unserer ersten Trennung kam mir wieder in Erinnerung; doch glaubte ich in ihrer Freude und an ihren Liebkosungen eine gewisse Aufrichtigkeit zu erkennen.

Es fiel mir nicht schwer, die Verstimmung, die mich während des Soupers beschlich, wieder von mir abzuschütteln, obwohl ich auch im Spiel Verluste zu beklagen hatte.

Es war mir sehr angenehm, daß sie selbst mich veranlaßte, in Chaillot zu bleiben. Ich gewann dadurch Zeit zum Überlegen. Meine Anwesenheit entfernte für den folgenden Tag alles Beunruhigende; und wenn ich nichts entdeckte, was mich erregen konnte, so war ich entschlossen, am Tage darauf nach der Stadt überzusiedeln, in eine Gegend, wo ich nichts von dem Fürsten zu besorgen hatte. Dieser Entschluß brachte mir eine ruhigere Nacht, doch milderte er nicht den Schmerz, vor einer neuen Untreue zittern zu müssen.

Am Morgen erklärte mir Manon, wenn ich auch den Tag zu Hause verbrächte, so dürfte ich doch mein Äußeres nicht vernachlässigen. Sie selbst wolle mein Haar, das schön und voll war, ordnen. Es war ein Scherz, den sie schon öfters sich erlaubt hatte, und diese Spielerei beschäftigte uns bis zum Diner.

Ich mußte ihr den Willen tun, mich vor ihre Toilette setzen, und gab mich zu allen kleinen Ausschmückungen her, die sie mit mir vornahm. Während ihrer Arbeit drehte sie oft mein Gesicht nach ihr zu, stützte sich mit beiden Händen auf meine Schultern und sah mich mit durchdringender Schärfe an. Danach drückte sie wohl ihre Zufriedenheit durch ein paar Küsse aus, brachte mich wieder in die rechte Haltung und setzte ihre Arbeit fort.

Diese Tändelei gab uns bis zur Mittagszeit zu tun. Das Vergnügen, das sie daran fand, schien mir so natürlich, ihre Lustigkeit so ungezwungen, daß ich einen solchen Anschein von Beständigkeit nicht mit der Absicht einer schwarzen Verräterei zusammenreimen konnte und mehr als einmal darauf und daran war, ihr mein Herz zu öffnen, um es von einer Last zu befreien, die mir zu schwer zu fallen anfing.

Ich schmeichelte mir nur alle Augenblicke, die Eröffnung werde von ihr ausgehen, und bereitete mir so schon im voraus einen herrlichen Triumph vor.

Wir traten in ihr Boudoir ein. Sie scherzte und schäkerte mit mir, und ich ließ mir alles gefallen, um ihr gefällig zu sein, als man uns meldete, der Prinz von ... wünsche sie zu sprechen. Dieser Name brachte mich in Zorn. »Wer? Was für ein Prinz?« rief ich, sie zurückstoßend. Sie antwortete mir nicht, sondern sagte ruhig zu dem Diener: »Lassen Sie ihn eintreten.« Dann sich zu mir wendend, sagte sie in bestrickendem Tone: »Geliebter, du, den ich anbete, ich bitte dich um einen Augenblick der Nachsicht, einen Augenblick, nur einen Augenblick, ich werde dich dafür um so inniger lieben, ich werde dir mein Leben lang Dank wissen.« Entrüstung und Staunen machten mich stumm. Sie wiederholte ihre Bitten, und ich suchte nach Ausdrücken, sie mit Verachtung zurückzuweisen. Als sie aber die Tür des Vorzimmers öffnen hörte, faßte sie mit einer Hand meine Haare, welche über meine Schultern wallten, mit der andern den Spiegel und wendete alle Kraft auf, mich zur Tür des Zimmers zu ziehen, stieß sie mit dem Knie auf und bot dem Fremden, den das Geräusch in der Mitte des Zimmers bannte, ein Schauspiel, daß ihn nicht wenig in Staunen versetzen mußte. Ich sah einen sehr eleganten, aber ziemlich häßlichen jungen Mann vor mir.

In seiner Verlegenheit machte er eine tiefe Verbeugung, Manon ließ ihm nicht Zeit, den Mund zu öffnen. Sie hielt ihm ihren Spiegel vor.

»Sehen Sie hinein, mein Herr,« sagte sie, »betrachten Sie sich genau, und lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren. Sie fordern meine Liebe. Hier steht der Mann, den ich liebe, welchem ich geschworen habe, ihn mein ganzes Leben lang zu lieben. Machen Sie selbst einen Vergleich. Wenn Sie glauben, ihm mein Herz abwendig machen zu können, so berichten Sie mir doch, wie Sie es anfangen wollen; denn ich erkläre Ihnen, daß ein einzelnes von den Haaren, die ich halte, für mich mehr Wert hat als alle Fürsten Italiens.«

Während dieser tollen Anrede, die sie anscheinend vorbereitet hatte, machte ich vergebliche Versuche, frei zu werden, und da ich Mitleid fühlte für einen so angesehenen Mann, wollte ich durch meine Höflichkeit die Beleidigung wieder gut machen. Aber seine etwas grobe Erwiderung ließ mich diese Absicht aufgeben.

»Mein Fräulein,« sagte er mit einem erzwungenen Lächeln, »ich öffne in der Tat die Augen, und ich finde Sie viel weniger Neuling, als ich mir eingebildet hatte.«

Er entfernte sich darauf, ohne einen Blick auf sie zu werfen, indem er mit leiserer Stimme hinzufügte, daß die Frauen Frankreichs nicht mehr Wert hätten als die Italiens. Ich fand es nicht für nötig, ihm eine bessere Ansicht beizubringen vom schönen Geschlecht.

Manon ließ meine Haare los, warf sich in einen Sessel und brach in lautes Lachen aus. Ich war gerührt von dem Opfer, das nur ihre Liebe zu bringen vermochte. Doch der Scherz schien mir zu weit getrieben. Ich machte ihr darüber Vorwürfe. Sie erzählte mir nun, daß mein Nebenbuhler, der sie einige Tage im Bois de Boulogne verfolgt habe, ihr durch den Kutscher einen Brief geschickt habe, in dem er ihr seine Liebe und seinen Stand und alle seine Titel erklärte und ihr jenseits der Berge ein glänzendes Leben und ewige Liebe versprach. Sie sei nach Chaillot mit dem Entschluß zurückgekehrt, mir dieses Abenteuer mitzuteilen; aber sie habe uns eine heitere Stunde bereiten wollen durch diesen Scherz und so habe sie dem Fürsten geschrieben, es sei ihm erlaubt, sie zu besuchen. Mit keinem Wort erwähnte ich, daß man mir schon von anderer Seite von dieser Angelegenheit gesprochen; im Rausch meiner triumphierenden Liebe hieß ich alles gut, was Manon tat. Ich habe in meinem ganzen Leben wahrgenommen, daß die Strafe des Himmels mich immer dann traf, wenn ich am glücklichsten war. Mit Manons Liebe und der Freundschaft des Herrn von T... hielt ich mich so glücklich, daß ich nicht geglaubt hätte, daß ich schon wieder ein neues Unglück zu befürchten habe. Dennoch stand mir ein so verhängnisvolles bevor, daß es mich in den Zustand versetzte, in dem Sie mich in Passy gesehen haben, und nach und nach in so beklagenswerte Lagen, daß Sie Mühe haben werden, meiner wahrheitsgetreuen Erzählung Glauben zu schenken.

Eines Tages, als Herr von T ... mit uns soupierte, hörten wir einen Wagen vor unserem Gasthofe halten. Die Neugier trieb uns, zu erfahren, wer zu dieser Stunde angekommen sei. Man sagte uns, es wäre der junge G... M..., nämlich der Sohn unseres grausamsten Feindes, dieses alten Lebemanns, der mich nach Saint-Lazare und Manon ins »Hospital« geschickt hatte. Sein Name trieb mir die Röte ins Gesicht.

»Den schickt der Himmel her,« sagte ich zu Herrn von T..., »um ihn für die Niederträchtigkeit seines Vaters zu strafen. Er darf mir nicht entkommen, bevor wir nicht unsere Degen miteinander gemessen haben.« Herr von T..., der ihn kannte und sogar einer seiner besten Freunde war, bemühte sich, mir eine andere Meinung beizubringen. Er versicherte mir, daß er ein sehr liebenswürdiger junger Mann sei und so wenig fähig, an der Handlungsweise seines Vaters teilzunehmen, daß ich selbst ihn nur zu sehen brauche, um ihm meine Achtung zu schenken und die seinige zu wünschen. Nachdem er noch viel zu seinem Vorteil hinzugefügt hatte, bat er mich, ihn auffordern zu dürfen, daß er zu unserem Souper komme.

Meine Bedenken, es hieße doch Manon einer Gefahr aussetzen, wenn der Sohn unseres Feindes ihren Aufenthalt erführe, zerstreute er mit der Versicherung, die er auf Ehre und Gewissen gab, daß wir an dem jungen Manne, sobald er uns kenne, den eifrigsten Verteidiger haben würden; nach solchen Beteuerungen hatte ich nichts mehr einzuwenden.

Herr von T... brachte ihn erst zu uns, nachdem er ihm angezeigt, wer wir wären. Als wir ihn erblickten, waren wir sofort zu seinen Gunsten eingenommen. Wir setzten uns. Er bewunderte Manon, mich, alles, was uns gehörte, und aß mit einem Appetit, der unserem Souper Ehre machte.

Als der Tisch abgedeckt war, wurde die Unterhaltung ernster. Er schlug die Augen nieder, während er von der Ausschreitung sprach, die sein Vater sich gegen uns erlaubt hatte; er entschuldigte sich bei uns deswegen: »Ich breche ab,« sagte er, »um nicht eine Erinnerung zu erwecken, die mir nur Schande bereitet.« Er war von Anfang an aufrichtig, wurde es aber später noch mehr; er war noch nicht eine halbe Stunde bei uns, als ich bemerkte, welchen Eindruck Manons Reize auf ihn machten. Seine Blicke und seine Mienen wurden bald milder; er ließ zwar nichts davon in seiner Rede merken, doch hatte ich, abgesehen von der Eifersucht, zuviel Erfahrung in der Liebe, um nicht zu bemerken, welche Wandlung mit ihm vorging.

Er leistete uns bis spät nachts Gesellschaft; als er sich entfernte, beglückwünschte er sich zu unserer Bekanntschaft und bat um die Erlaubnis, uns manchmal besuchen zu dürfen. Herr von T... nahm ihn in seinem Wagen mit und sie fuhren zusammen zur Stadt zurück.

Ich fühlte, wie schon gesagt, keine Neigung zur Eifersucht und setzte mehr Glauben als jemals in die Schwüre Manons.

Das reizende Wesen war so unumschränkte Gebieterin meiner Seele, daß ich nicht das leiseste Gefühl kannte, das nicht Liebe und Anbetung für sie gewesen wäre.

Weit entfernt, ihr einen Vorwurf zu machen, daß sie dem jungen G... M... gefallen habe, machte es mich glückselig, von einem Mädchen geliebt zu sein, daß alle Welt liebenswürdig fand. Ich hielt es nicht einmal für nötig, ihr meinen Argwohn mitzuteilen.

... Während einiger Tage waren wir mit dem Instandsetzen ihrer Garderobe beschäftigt und überlegten, ob wir ins Theater gehen könnten, ohne erkannt zu werden. Herr von T... besuchte uns vor Ende der Woche, und wir befragten ihn darüber. Er sah wohl, daß er Ja sagen mußte, um Manon gefällig zu sein. Wir beschlossen, am selben Abend mit ihm dahin zu gehen.

Dennoch konnte dieser Beschluß nicht ausgeführt werden, denn Herr von T... zog mich bei Seite. »Ich bin,« sagte er zu mir, »in der größten Verlegenheit, seitdem ich Sie besuchte, und infolgedessen mache ich Ihnen heute den Besuch. G... M ... liebt ihre Geliebte; er hat es mir anvertraut. Ich bin sein intimer Freund und bereit, ihm in allen Stücken zu dienen, aber ich bin nicht minder der Ihrige. Ich habe in Betracht gezogen, daß seine Absichten unlauter sind und ich habe sie verurteilt. Sein Geheimnis hätte ich gewahrt, hätte er nicht die Absicht, zu unlauteren Mitteln zu greifen, denn Manons Schwächen sind ihm wohl bekannt. Er weiß – woher, ist mir unbekannt –, daß sie ein luxuriöses Leben und Vergnügungen liebt, und da er über ein großes Vermögen verfügt, so will er sie, wie er mir erklärte, durch ein sehr kostbares Geschenk und eine Jahrespension von zehntausend Livres zu gewinnen suchen. Alles wohl erwogen, hätte ich mir nun vielleicht noch mehr Gewalt antun müssen, ihn zu verraten, wenn mir nicht das Gefühl der Aufrichtigkeit und Freundschaft zu Ihnen um so entschiedener zu Hilfe gekommen wäre, als ich eben die unkluge Ursache seiner Leidenschaft geworden bin, indem ich ihn selbst zu Ihnen gebracht habe, und nunmehr die Verpflichtung fühle, die Folgen des von mir angestifteten Übels zu verhüten.

Ich dankte Herrn von T... für einen Dienst von solcher Wichtigkeit und gestand ihm im vollkommenen Vertrauen, daß Manons Charakter wirklich so sei, wie Herr G... M... sich ihn vorstellte.

»Dennoch,« sagte ich ihm, »da es sich hier nur um ein Mehr oder Weniger handelt, halte ich sie nicht für fähig, mich um eines andern willen zu verlassen. Ich fürchte nur etwas,« fügte ich hinzu, »daß Herr G... M... die Kenntnis unseres Aufenthaltortes dazu benutzt, uns einen bösen Streich zu spielen.«

Herr von T... versicherte mir, daß ich nach dieser Seite hin nichts zu befürchten habe; Herr G... M... wäre einer törichten Leidenschaft fähig, nicht aber einer Gemeinheit; wenn er aber so erbärmlich wäre, eine solche zu begehen, so wäre er der erste, der verlangte, daß er bestraft würde, um das Unglück wieder gut zu machen.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« entgegnete ich, »aber wenn das Übel geschehen ist, käme die Strafe zu spät. So ist das klügste, ihm zuvorzukommen. Wir vertauschen Chaillot mit einem andern Aufenthaltsort.«

»Ja,« bemerkte Herr von T..., »aber es wird schwer sein, es so schnell auszuführen, als nötig ist; denn Herr G... M... wird am Mittag hier sein; er sagte es mir gestern; und das hat mich zu so früher Stunde hergeführt, um Sie von seinen Absichten zu benachrichtigen. Er kann jeden Augenblick ankommen.«

Ich überlegte sehr ernsthaft diese Angelegenheit. Da es mir unmöglich schien, dem Besuch des G... M... zu entgehen, und ebenso unmöglich, ihn zu verhindern, Manon gegenüber sich zu erklären, so entschloß ich mich, ihr selbst die Absichten dieses Nebenbuhlers mitzuteilen. Ich bildete mir ein, daß sie, da ich die Vorschläge schon kannte, die er ihr machen würde, Kraft genug haben würde, sie zurückzuweisen. Herr von T..., dem ich mein Vorhaben mitteilte, antwortete mir, daß dies äußerst kitzlig sei. »Das gebe ich zu,« sprach ich, »ich darf aber aus allen Gründen, die uns die Treue einer Geliebten sichern, auf die meinige zählen. Die Größe des Anerbietens könnte sie vielleicht blenden, aber ich sagte Ihnen schon, daß Manon nicht habsüchtig ist. Sie liebt das Wohlleben kaum mehr als mich, und ich vermag nicht zu glauben, daß sie bei meiner gegenwärtigen Lage mir den Sohn eines Mannes vorziehen würde, der sie in das Hospital gebracht hat.« So beharrte ich auf meinem Plan, zog Manon in eine Ecke und erklärte ihr alles, was ich soeben erfahren hatte.

Sie dankte mir für die gute Meinung, die ich von ihr hatte, und versprach mir, das Anerbieten G... M...s in einer Weise aufzunehmen, die ihm die Lust benehmen sollte, es zu erneuern. »Nein,« sagte ich ihr, »man darf ihn nicht durch eine Beleidigung reizen, er kann uns schaden.«

Nachdem sie ein wenig nachgedacht hatte, versetzte sie: »Mir kommt ein wunderbarer Gedanke, auf den ich ganz stolz bin. G... M... ist der Sohn unseres ärgsten Feindes, wir wollen uns an dem Sohn für den Vater rächen, d. h. nur an dessen Börse. Ich will ihn anhören, seine Geschenke annehmen und ihn dann am Narrenseil führen.«

»Der Plan ist hübsch,« entgegnete ich ihr, »aber du bedenkst nicht, mein armes Kind, daß dies der Weg ist, der uns direkt ins Hospital geführt hat.« Vergebens stellte ich ihr die Gefahr dieses Unternehmens vor; sie meinte, es käme eben ganz darauf an, wie man es anfange, und ließ meine Einwürfe unbeachtet.

Zeigt mir einen Liebhaber, der nicht blindlings auf alle Launen einer Geliebten eingeht, die er anbetet, und ich werde zugeben, daß ich unrecht tat, ihr so leicht nachzugeben.

Es ward also demzufolge der Entschluß gefaßt, G... M... zum besten zu haben und – einer seltsamen Wendung meines Schicksals zufolge geschah es, daß er mich selbst zum besten hatte!

Gegen elf Uhr sahen wir G... M...s Wagen heranrollen. In gesuchter Weise entschuldigte er übertrieben die Freiheit, die er sich herausnehme, zu uns zum Diner zu kommen. Er war durchaus nicht überrascht, Herrn von T... bei uns zu sehen, der ihm am vergangenen Tage versprochen hatte, mit ihm zu fahren, aber durch Geschäfte verhindert worden sei. Obgleich nicht einer unter uns war, der nicht den Verrat im Herzen getragen hätte, setzten wir uns doch mit freundschaftlichen und vertrauensvollen Mienen zu Tische. G... M... fand leicht Gelegenheit, sich Manon zu erklären. Ich mußte ihm sehr rücksichtsvoll erscheinen, denn ich entfernte mich absichtlich auf einige Minuten. Als ich zurückkehrte, bemerkte ich, daß man ihn nicht zu sehr gekränkt habe durch zu große Härte und Strenge. Er war in der besten Laune von der Welt. Ich tat, als wäre ich es auch; er lachte innerlich über meine Einfalt und ich über die seinige. So bereiteten wir uns gegenseitig einen angenehmen Nachmittag. Bevor er uns verließ, war ich so rücksichtsvoll, ihn nochmals einen Augenblick mit Manon allein zu lassen, so daß er Ursache hatte, mit meiner Liebenswürdigkeit ebenso zufrieden zu sein wie mit unserer Tafel.

Sobald er mit Herrn von T... in den Wagen gestiegen war, eilte Manon mit offenen Armen auf mich zu, umarmte und küßte mich lachend. Sie wiederholte mir seine Reden und Anträge Wort für Wort. Der Inhalt derselben war folgender: Er betete sie an, er wollte vierzigtausend Livres Rente mit ihr teilen, die er jetzt erhielt, abgesehen von dem, was er nach dem Tode seines Vaters erwartete. Sie sollte die Gebieterin seines Herzens und seines Vermögens sein; zum Beweis dafür, war er bereit, ihr einen Wagen, ein möbliertes Haus, eine Kammerfrau, drei Lakaien und einen Koch zu halten.

»Dieser Mann ist großmütiger als sein Vater,« sagte ich zu Manon; »sei aufrichtig,« fügte ich hinzu, »reizt dich dieses Anerbieten garnicht?« »Mich?« antwortete sie. »Traust du mir diese Treulosigkeit zu?«

»Aber ein möbliertes Haus, ein Wagen, drei Diener, das sind doch herrliche Dinge!«

Sie beteuerte mir, daß ihr Herz mir für ewig gehöre, nur mir allein.

»Die Versprechungen, die er mir machte,« sagte sie, »stacheln mehr mein Rachegefühl an als meine Liebe.« Darauf fragte ich sie, ob sie das Haus und den Wagen anzunehmen beabsichtige. Sie antwortete mir, sie wolle nur sein Geld haben.

Die Schwierigkeit bestand darin, das eine ohne das andere zu bekommen. Wir beschlossen, die ganze Erklärung des Planes, den G... M... hatte, abzuwarten; er versprach, dies brieflich tun zu wollen. In der Tat erhielt sie am folgenden Tage einen Brief durch einen Diener, der sich geschickt die Gelegenheit zu verschaffen wußte, sie allein zu sprechen. Sie hieß ihn auf Antwort warten und brachte mir den Brief. Wir öffneten ihn gemeinschaftlich.

Außer den gewöhnlichen Liebesbeteuerungen enthielt er die Einzelheiten der Versprechungen meines Nebenbuhlers. Seine Freigebigkeit kannte keine Grenzen; er verpflichtete sich, ihr zehntausend Franken auszuzahlen, nachdem sie das Haus in Besitz genommen; was sie von den zehntausend Franken ausgebe, wolle er laufend ergänzen, so daß diese Summe stets bar zur ihrer Verfügung bleibe. Der Tag der Zusammenkunft war nicht lange hinausgeschoben. Er verlangte nur zwei Tage zu den Vorbereitungen und bezeichnete ihr den Namen der Straße und des Hauses, wo er sie am Nachmittage des zweiten Tages erwarten wollte, wenn sie mir entschlüpfen könnte. Er beschwor sie, ihn über diesen einen Punkt zu beruhigen, alles übrigen schien er sicher zu sein; er fügte hinzu, sollte sie Schwierigkeiten finden, mir zu entkommen, so möge sie es ihm mitteilen, er würde Mittel finden, ihr die Flucht zu erleichtern.

G... M... war schlauer als sein Vater. Er wollte seine Beute halten, bevor er zahlte. Wir beratschlagten, was Manon zu tun habe. Ich bemühte mich nochmals, ihr dieses Unternehmen auszureden, ihr alle die Gefahren vorzustellen. Nichts war imstande, ihren Entschluß wankend zu machen.

Sie schickte Herrn G... M... eine kurze Antwort, um ihm zu versichern, es würde nicht schwierig sein, an dem bestimmten Tage nach Paris zu kommen, und daß er sie mit Bestimmtheit erwarten könne.

Hierauf verabredeten wir, daß ich auf der Stelle in einem Dorfe auf der entgegengesetzten Seite von Paris eine Wohnung mieten sollte, und daß unsere Sachen dorthin geschafft würden. Am folgenden Tage, Nachmittag, wollte sie rechtzeitig sich nach Paris begeben und, wenn sie die Geschenke von G... M... erhalten, ihn dringend bitten, sie in die Oper zu führen; sie würde von dem Gelde, soviel als sie tragen könnte, zu sich stecken, den Rest aber unserm getreuen Aufwärter aus dem Hospitale übergeben, der sie begleiten sollte. Ich sollte mich am Anfange der Rue Saint-André des Arts mit einem Fiaker gegen sieben Uhr einfinden, ihn dort stehen lassen, um mich in der Dunkelheit der Einfahrt zum Theater zu nähern. Manon versprach mir, einen Vorwand zu finden, um sich einen Augenblick aus ihrer Loge zu entfernen, und ihn zu benutzen, um zu mir zu eilen. Die Ausführung des Übrigen war leicht. In einem Augenblick hatten wir unsern Wagen erreicht, und würden Paris durch das Faubourg Saint-Antoine verlassen, welches der Weg zu unserer neuen Wohnung war.

So außergewöhnlich dieser Plan auch war, uns erschien er sehr leicht ausführbar. Aber im Grunde waren wir sehr kindisch, denn wenn unser Plan auch geglückt wäre, so hätten wir bedenken müssen, daß wir uns doch seinen Folgen nicht entziehen konnten. Indes setzten wir unser Glück mit dem größten Selbstvertrauen aufs Spiel. Manon fuhr mit Marcel, so hieß nämlich unser Diener, zu ihrer Zusammenkunft. Ich sah sie mit Wehmut scheiden. Ich sagte zu ihr, sie innig umarmend:

»Manon, täuschest du mich auch nicht? Wirst du mir treu bleiben?«

Sie beklagte sich über mein Mißtrauen und erneuerte alle ihre Schwüre. Nach ihrer Berechnung mußte sie um drei Uhr in Paris sein. Ich entfernte mich nach ihr. Die Zeit bis zum Abend wollte ich im Café de Feré zubringen. Am Abend nahm ich einen Fiaker, den ich laut unserer Verabredung an der Ecke der Straße Saint-André des Arts halten ließ, und ich selbst stand pünktlich an dem Tor der Oper. Ich wunderte mich, Marcel nicht dort zu finden. Eine Stunde geduldete ich mich, in einer Menge von Lakaien stehend und alle Vorübergehenden musternd. Endlich, als es bereits sieben Uhr geschlagen, und ich nichts merken konnte, löste ich mir ein Billett für das Parterre, um zu sehen, ob Manon und G... M... in einer der Logen säßen. Keiner von beiden war da. Ich kehrte zu dem Tore zurück, wo ich noch eine Viertelstunde wartete, von Sorge und Unruhe gepeinigt. Da ich niemand erscheinen sah, kehrte ich zu meinem Wagen zurück, ohne einen klaren Entschluß fassen zu können. Als der Kutscher mich bemerkte, kam er mir entgegen, um mir mit geheimnisvoller Miene zu sagen, daß ein hübsches Fräulein seit einer Stunde im Wagen auf mich warte. Sie habe, so bemerkte er weiter, nach mir gefragt, mich deutlich bezeichnet und erklärt, sie werde geduldig warten, da ich ja bald wiederkommen würde.

Ich dachte natürlich sogleich, es sei Manon. Als ich mich näherte, sah ich ein hübsches, aber fremdes Gesicht. Die Fremde fragte mich gleich, ob sie die Ehre habe, mit dem Herrn Chevalier des Grieux zu sprechen, und als ich bejahte, fuhr sie fort: »Ich habe Ihnen einen Brief zu übergeben, der Ihnen den Grund angeben wird, der mich herführt, und Ihnen sagen wird, durch welchen Zufall ich das Vergnügen hatte, Ihren Namen zu erfahren.« Ich ersuchte sie, mir Zeit zu lassen, den Brief in einem benachbarten Lokal zu lesen. Sie wollte mir durchaus folgen und bestand darauf, mir ein Zimmer geben zu lassen.

»Von wem kommt dieser Brief?« fragte ich sie. Sie überreichte ihn mir und ich erkannte Manons Handschrift.

Ungefähr so lautete sein Inhalt: G... M... hatte sie mit einer Zuvorkommenheit und Pracht empfangen, die alle ihre Erwartungen übertraf. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft und bot ihr ein fürstliches Leben an. Sie versicherte mir, daß sie mich trotz dieser neuen Pracht nicht vergessen würde; aber da G... M... nicht einwilligen wollte, sie an diesem Abend ins Theater zu führen, so verschiebe sie das Vergnügen, mich zu sehen, auf einen anderen Tag. Um mich einigermaßen über den Schmerz zu trösten, den diese Zeilen mir verursachen würden, sende sie mir diese Zeilen durch eins der schönsten Mädchen von Paris. Unterzeichnet hatte sie: »Deine treue Geliebte

Manon Lescaut.«

 

Es war etwas so Grausames, so Beleidigendes für mich in diesem Brief, das ich, zwischen Zorn und Schmerz hin und hergeworfen, beschloß, einen Versuch zu machen, meine undankbare und unwürdige Geliebte für ewig zu vergessen. Ich blickte das Mädchen an, das vor mir stand. Sie war sehr hübsch und ich hätte gewünscht, sie wäre so hübsch gewesen, daß sie auch mich hätte treulos werden lassen. Aber ich vermißte das feine, berückende Auge, die göttliche Haltung, kurz, den unerschöpflichen Reichtum an Reizen, die die Natur über die treulose Manon in so verschwenderischer Fülle ergossen hatte. »Nein, nein,« sagte ich, den Blick von ihr abwendend, »die Undankbare, welche Sie zu mir schickt, weiß sehr wohl, wie vergeblich sie Sie bemüht hat. Kehren Sie zu ihr zurück und sagen Sie ihr in meinem Namen, sie möge sich ihres Verbrechens erfreuen, wenn es ihr möglich ist, ohne Gewissensbisse. Ich verlasse sie auf immer und entsage zugleich allen Frauen, die vielleicht nicht so liebenswürdig sind wie sie, aber jedenfalls ebenso treulos und schlecht.«

Ich war im Begriff, fortzugehen und Manon aufzugeben; die Eifersucht, die mir das Herz zerriß, äußerte sich jetzt nur in düsterer Ruhe, auch ich glaubte mich meiner Heilung um so näher, als ich keine jener heftigen Bewegungen empfand, die ich sonst bei solchen Gelegenheiten hatte. Ach! ich war der Spielball der Liebe, wie ich mich von G... M... und Manon getäuscht wußte.

Als das Mädchen, das mir den Brief gebracht hatte, sah, daß ich fortgehen wollte, fragte es mich, was es Herrn M... G... und der Dame, die bei ihm sei, ausrichten solle. Bei dieser Frage kehrte ich in das Zimmer zurück, und durch einen unglaublichen Umschlag der Stimmung, den nur derjenige begreifen kann, der es selbst an sich erlebte, verfiel ich plötzlich aus meiner Ruhe in die rasendste Wut. »Geh!« rief ich, »berichte dem Verräter G... M... und seiner treulosen Freundin, in welche Verzweiflung mich der verwünschte Brief stürzte; aber sage ihnen auch, daß sie nicht lange lachen werden, und daß ich sie beide mit eigner Hand töten werde.«

Ich warf mich in einen Sessel, mein Hut fiel von einer Seite nieder, mein Stock von der anderen. Ströme bitterer Tränen stürzten aus meinen Augen. Meine Wut löste sich in tiefen Schmerz, ich weinte, seufzte und ächzte.

»Komm her, mein Kind,« redete ich das junge Mädchen an, »komm her zu mir, dem man dich zu seinem Troste gesandt hat. Sprich, ob du Trost kennst gegen Wut und Verzweiflung und gegen das Verlangen, sich selbst den Tod zu geben, nachdem man zwei Treulose umgebracht hat, die nicht zu leben verdienen?

Ja, komm her,« fuhr ich fort, als ich sah, daß sie zögernd einige Schritte auf mich zu tat: »Trockne meine Tränen, gib meinem Herzen den Frieden und sage mir, ob du mich liebst; vielleicht kann ich mich daran gewöhnen, von einer anderen geliebt zu werden. Du bist hübsch, vielleicht kann ich dich auch lieben.«

Das arme Kind, das kaum sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein konnte und schamhafter als seinesgleichen zu sein schien, war über eine so seltsame Szene höchst erstaunt. Demungeachtet versuchte sie, mir einige Liebkosungen zu erweisen, doch stieß ich sie gleich wieder von mir. Das Mädchen, dem mein Kummer nahe ging, versuchte es nochmals schüchtern, mich zu trösten, aber ich stieß sie rauh zurück. »Was willst du?« rief ich aus, »du gehörst dem Geschlecht an, das ich verachte. Die Sanftmut deiner Züge bedroht mich auch nur mit Verrat. Geh und kehre zurück zu Herrn G... M...; er besitzt alles, um Liebling der Schönen zu sein; er hat möblierte Häuser und Equipagen. Ich aber habe nichts zu bieten als Liebe und Treue, und so verachten mich die Frauen und treiben ihr Spiel mit meiner Einfalt.« Sie verbeugte sich und wollte gehen. Ich hielt sie zurück und fragte sie, wer ihr meinen Namen und den Ort gesagt, an dem sie mich finden konnte. Sie erzählte mir, sie kenne Herrn G... M... schon lange. Heute hätte er sie holen lassen; der Diener habe sie in ein schönes Haus geführt, wo sie G... M... mit einer jungen Dame Piquet spielend fand. Man habe ihr den Auftrag gegeben, mir den Brief zu überbringen, in der Hoffnung, daß ich mich ihrer annehmen würde. »Armes Kind,« rief ich, »man hat dich getäuscht, ich bin ein unglücklicher, armer Mann. Kehre nur zu Herrn G... M... zurück.«

So redete ich noch längere Zeit fort, bald traurig, bald zornig, je nachdem die Leidenschaften mich abwechselnd erregten. Je länger ich mich inzwischen quälte, desto mehr fand Überlegung Raum.

Ich verglich diesen letzten Unfall mit ähnlichen früheren, und fand, daß ich zu verzweifeln nicht nötig habe.

Ich kannte Manon; warum sollte ich mich über ein Mißgeschick zu sehr betrüben, das ich hatte vorhersehen können? Warum nicht lieber auf Abhilfe bedacht sein?

Noch war es Zeit; ich durfte es wenigstens meinerseits nicht an Sorgfalt fehlen lassen, wenn ich mir nicht vorzuwerfen haben wollte, durch meine Nachlässigkeit meinen Leiden förderlich gewesen zu sein. Ich erwog alle Mittel, von denen sich etwas hoffen ließ.

Sie G... M... mit Gewalt zu entreißen, war ein verzweifelter Versuch, der mich wohl verderben konnte, ohne die mindeste Aussicht auf Erfolg zu gewähren.

Es schien mir aber, wenn ich nur die kleinste Unterredung mit ihr haben könne, daß ich dann sicher einen Einfluß auf ihr Herz erringen würde. Ich kannte dessen empfindliche Stellen. Ich war ja davon überzeugt, daß sie mich liebte. Ich hätte sogar wetten wollen, daß der Einfall, mir ein hübsches Mädchen zu meinem Troste zu senden, von ihr ausgegangen und eine Wirkung ihres Mitleidens mit meinem Kummer sei.

Mein ganzes Denken drehte sich nur darum, wie ich Manon wiedersehen konnte. Ich begann alle Mittel zu überlegen, die mir den Weg zu neuer Hoffnung weisen konnten.

Ich zermarterte mein Gehirn, konnte aber lange zu keinem Ergebnis kommen. Endlich schien sich mir ein Weg aufzutun.

Unter allen möglichen Plänen gedachte ich folgenden ins Werk zu setzen:

Herr von T... hatte sich mir von Anfang an so ergeben gezeigt, so freundschaftlich, daß ich nicht den geringsten Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, an seinem Eifer hegte. Ich nahm mir vor, sogleich zu ihm zu eilen und ihn zu bitten, G... M... unter dem Vorwande einer Sache von Wichtigkeit zu sich kommen zu lassen. Eine halbe Stunde genügte mir, mit Manon zu reden. Ich wollte mich in ihr Zimmer führen lassen und glaubte, daß dies keine Schwierigkeit bieten würde.

Dieser Plan machte mich ruhiger, ich beschenkte das junge Mädchen, das noch bei mir war, freigebig; ich ließ mir ihre Wohnung angeben und ließ sie hoffen, daß ich die Nacht bei ihr zubringen würde, um ihr die Lust zu nehmen, zu ihren Auftraggebern zurückzukehren. Ich stieg sofort in einen Wagen, ließ mich zu Herrn von T... fahren, und war so glücklich, ihn zu Hause zu treffen. Ein Wort von mir genügte, um ihn von meinen Leiden zu belehren und von dem Dienst, den ich von ihm forderte.

Er war so erstaunt zu hören, daß Manon sich von G... M... habe verleiten lassen, daß er mir, der ich selbst an meinem Unglück Schuld hatte, antrug, alle seine Freunde zu versammeln, um ihre Arme und ihre Degen zur Befreiung meiner Geliebten zu gebrauchen.

Ich erklärte ihm, daß ein solches Aufsehen für mich und Manon verderblich werden würde. »Sparen wir unser Blut und Leben bis zur äußersten Notwendigkeit,« rief ich. »Ich denke an einen anderen Weg, von dem ich mir nicht weniger Erfolg verspreche.« Er verpflichtete sich, alles zu tun, was ich von ihm verlangte; und als ich ihm sagte, er brauche Herrn G... M... bloß abrufen zu lassen und eine Stunde oder zwei zurückzuhalten, war er sofort bereit, mich zu befriedigen.

Wir überlegten, auf welche Weise und unter welchem Vorwand er ihn so lange aufhalten könne. Ich riet ihm, zuerst ein kurzes Briefchen an ihn zu schreiben, worin er ihn ersuchte, wegen einer wichtigen Angelegenheit, die keinen Aufschub leide, in ein Café zu kommen, wo er ihn erwarte. »Ich werde den Augenblick abwarten, wo er fortgeht, und dann ohne Mühe in sein Haus eindringen, was um so leichter geschehen kann, als mich dort niemand kennt, wie Manon und mein eigener Diener Marcel. Was Sie betrifft, der Sie während dieser Zeit bei G... M... bleiben werden, so können Sie ihm sagen, daß es sich bei der wichtigen Angelegenheit, um derentwillen Sie ihn zu sprechen wünschen, um eine Summe Geldes handelt, die Sie brauchen. Sie hätten nicht nur Ihre eigene Barschaft verspielt, sondern noch Schulden gemacht auf Ehrenwort. Er wird Zeit brauchen, um Sie zu seinem Geldschrank zu führen, und unterdessen kann ich meinen Plan ausführen.«

Herr von T... befolgte diese Anordnung Punkt für Punkt. Ich ließ ihn in einer Schenkstube, wo er seinen Brief nach Verabredung schrieb. Ich stellte mich einige Schritte vor dem Hause Manons auf; ich sah den Überbringer der Nachricht kommen und bald darauf G... M... in Begleitung eines Dieners das Haus verlassen. Nachdem ich ihm Zeit gelassen hatte, die ganze Straße hinabzugehen, trat ich an die Tür meiner Ungetreuen, und trotz meines Zornes klopfte ich mit der Ehrerbietung an, welche man für einen Tempel empfindet. Glücklicherweise öffnete mir Marcel; ich gab ihm ein Zeichen, zu schweigen. Obwohl ich von den anderen Dienstboten nichts zu befürchten hatte, fragte ich ihn ganz leise, ob er mich nicht unbemerkt in Manons Zimmer führen könnte. Er sagte mir, es wäre ganz leicht, wenn man leise die Haupttreppe hinaufstiege. »Gehen wir also schnell,« sagte ich zu ihm, »und versuche zu hindern, daß jemand hinaufkommt, während ich hier bin.« So gelangte ich ohne Hindernis in das Zimmer.

Manon las gerade. Ich hatte so Gelegenheit, den Charakter dieses Mädchens zu bewundern. Anstatt bei meinem Anblick erschreckt oder furchtsam zu sein, zeigte sie nur eine leichte Überraschung, die man nicht zu unterdrücken vermag, wenn man eine Person sieht, die man weit entfernt glaubte.

»Ach! Du bist es, mein Lieber,« sagte sie, indem sie mich mit ihrer gewohnten Zärtlichkeit umarmte. »Guter Gott! Welche Kühnheit! Wer hätte dich heute hier erwartet!« Ich machte mich aus ihren Armen los und, weit entfernt, ihre Zärtlichkeiten zu erwidern, stieß ich sie mit Verachtung zurück und machte einige Schritte, um mich von ihr zu entfernen. Diese Bewegung brachte sie aus der Fassung. Sie blieb regungslos stehen und wechselte die Farbe, indem sie mich anblickte.

Ich war so entzückt, sie wiederzusehen, daß ich, ungeachtet meiner gerechten Gründe zum Zorne, kaum imstande war, sie zu schelten. Nichtsdestoweniger blutete mein Herz über die bittere Kränkung, die sie mir angetan hatte.

Ich rief sie mir lebhaft ins Gedächtnis zurück, um meinen Verdruß aufzuregen, und bemühte mich, in meinen Augen ein anderes Feuer als das der Liebe anzufachen. Da ich eine Weile stillschwieg, und sie meine Erbitterung bemerkte, sah ich sie, wahrscheinlich aus Furcht, zittern.

Diesen Anblick vermochte ich nicht zu ertragen.

»O Manon,« sagte ich zu ihr in zärtlichem Tone, »treulose, meineidige Manon! Worüber soll ich mich zuerst beklagen? Ich sehe dich bleich und zitternd vor mir stehen und ich fühle deine geringsten Leiden so lebhaft mit, daß ich fürchte, dich durch meine Vorwürfe allzusehr zu betrüben. Aber, Manon, das sage ich dir, mein Herz blutet über deinen Verrat. Es ist das dritte Mal, Manon, ich habe es wohl gezählt, es ist unmöglich, so etwas zu vergessen. An dir ist es jetzt noch in dieser Stunde, zu überlegen, welchen Entschluß du fassen willst, denn mein betrübtes Herz vermag nicht mehr eine so grausame Behandlung zu ertragen. Ich fühle, daß es bald vor Kummer brechen muß. Ich kann nicht mehr,« fügte ich hinzu, »ich habe kaum die Kraft zu sprechen und mich aufrecht zu halten.«

Sie antwortete mir nicht; als ich mich aber gesetzt hatte, ließ sie sich auf die Knie vor mir nieder und barg ihr Gesicht in meinen Händen. Ich fühlte, daß sie sie mit ihren Tränen benetzte. O Gott, welche Gefühle durchstürmten mich! »O Manon, Manon, diese Tränen kommen spät,« sagte ich seufzend, »nachdem du mir den Todesstoß versetzt hast. Du heuchelst eine Traurigkeit, die du nicht fühlen kannst. Was dich am meisten bedrückt, ist meine Gegenwart, die deinen Vergnügungen stets hinderlich war. Sieh, wer ich bin; so zärtliche Tränen weint man nicht um einen Unglücklichen, den man verraten und grausam verlassen hat.«

Sie küßte meine Hände, ohne ihre Stellung zu verändern. »Unbeständige Manon,« begann ich wieder, »undankbares, treuloses Mädchen, wo sind deine Versprechungen und deine Schwüre? Leichtsinnige Geliebte, wo ist die Liebe, die du mir noch heute beteuertest? Gerechter Himmel, darf ein ungetreues Weib dich so verhöhnen, die dich zuvor mit so heiligen Schwüren anrief? Wird so der Meineid belohnt? Ist Verzweiflung und Verlassenheit der Lohn für Beständigkeit und Treue?« Bei diesen Worten konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Manon bemerkte es an dem veränderten Ton meiner Stimme. Sie brach endlich ihr Schweigen. »Ich muß wohl sehr schuldig sein,« sagte sie traurig, »da ich dir einen so großen Schmerz und Aufregung bereiten konnte; aber der Himmel möge mich strafen, wenn ich es zu sein glaubte oder den Gedanken hatte, es zu werden!«

Diese Worte schienen mir so sehr des Verstandes und der Wahrheit zu entbehren, daß ich mich einer hastigen Aufwallung des Zornes nicht erwehren konnte. »Abscheuliche Heuchelei!« rief ich aus. »Ich sehe besser ein, als je zuvor, daß du nur eine Betrügerin und Lügnerin bist! Jetzt lerne ich erst deinen erbärmlichen Charakter kennen. Lebe wohl, elende Kreatur,« fügte ich hinzu, indem ich mich erhob, »lieber will ich tausendmal sterben, als ferner noch den mindesten Verkehr mit dir haben. Der Himmel mag mich strafen, wenn ich dich nur noch eines Blickes würdige! Bleibe nur bei deinem neuen Verehrer, liebe ihn, verabscheue mich, gib Vernunft und Ehre auf; ich lache darüber.«

Sie war über diesen Ausbruch derart erschreckt, daß sie, noch immer vor dem Stuhle, von dem ich aufgestanden war, auf den Knien liegend, mich zitternd und mit angehaltenem Atem ansah. Ich machte einige Schritte nach der Tür, indem ich den Kopf umwandte und die Blicke auf sie gerichtet hielt. Ich hätte jedoch jedes menschliche Gefühl eingebüßt haben müssen, um gegen so viele Reize kalt zu bleiben.

Ich besaß so wenig Gemütsverhärtung, daß ich, plötzlich in das entgegengesetzte Extrem umschlagend, zu ihr zurückkehrte oder vielmehr ohne Überlegung auf sie zueilte. Ich schloß sie in meine Arme und gab ihr zärtliche Küsse; ich bat sie wegen meiner Erregung um Verzeihung; ich gestand, daß ich ein brutaler Mensch wäre und nicht das Glück verdiente, von einem solchen Mädchen geliebt zu werden. Ich ließ sie Platz nehmen und, indem ich mich jetzt meinerseits ihr zu Füßen warf, beschwor ich sie, mich in dieser Stellung anzuhören.

Und nun sagte ich ihr in wenigen, entschuldigenden Worten alles, was ein Liebender nur an Zärtlichkeit und Verehrung empfinden kann. Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und gestand, sie wäre es, die meine Nachsicht nötig hätte, damit ich den Kummer vergäße, den sie mir verursacht hätte, und sie fürchte, daß ich nicht anerkennen würde, was sie mir zu ihrer Rechtfertigung zu sagen hätte.

»O, ich verlange keine Rechtfertigung von dir,« unterbrach ich sie sogleich. »Ich billige alles, was du getan hast. Es kommt mir nicht zu, nach den Gründen deiner Handlungsweise zu forschen, zu glückselig und zufrieden, wenn meine teure Manon mir die Zärtlichkeit ihres Herzens nicht entzieht.

Aber,« fuhr ich fort, meine gegenwärtige Lage beachtend, »du, allmächtige Manon, die du nach deinem Belieben bei mir Freuden oder Leiden hervorrufst, wirst du mir, sobald dich meine Demütigung und die Zeichen meiner Reue befriedigt haben, wohl erlauben, von meiner Betrübnis und meinem Kummer zu reden? Werde ich von dir vernehmen, ob du unwiderruflich meinen Tod beschlossen hast, indem du die Nacht mit meinem Nebenbuhler verbringst? Sage mir nur, ob du wirklich meinen Tod willst, indem du bei meinem Nebenbuhler bleibst.«

Sie sann eine Weile nach, bevor sie antwortete:

»Mein Chevalier,« sagte sie, indem sie wieder eine ruhige Miene annahm, »hättest du dich gleich so deutlich erklärt, so hättest du dir viel Aufregung und mir einen peinlichen Auftritt erspart. Da dein Schmerz nur deiner Eifersucht entspringt, so hätte ich ihn geheilt, indem ich mich erbot, dir sogleich bis ans Ende der Welt zu folgen. Aber ich glaubte, daß der Brief, welchen ich dir in Gegenwart des Herrn von G... M... geschrieben habe, und das Mädchen, welches wir dir geschickt haben, deinen Verdruß verursacht hätten. Ich dachte, du könntest meinen Brief für Spott und das Mädchen für den Ausdruck meines Verzichtes auf deine Person ansehen. Dieser Gedanke hat meine Bestürzung hervorgerufen, denn so unschuldig ich war, so fand ich, wenn ich darüber nachdachte, daß der Schein gegen mich war. Indessen sollst du über mich urteilen, wenn ich dir den wahren Sachverhalt erklärt haben werde.«

Sie teilte mir nun alles mit, was ihr begegnet war, seitdem sie G... M... gefunden hatte. Er hatte sie wirklich wie die vornehmste Prinzessin empfangen. Er hatte ihr alle Zimmer gezeigt, die mit auserlesenem Geschmack eingerichtet waren; er hatte ihr zehntausend Franken überreicht und einige Kleinodien beigefügt, unter denen sich auch das Halsband und die Perlenarmbänder befanden, die sie schon einmal von seinem Vater erhalten hatte. Er hatte sie dann in den Speisesaal geführt, wo ein ausgezeichnetes Mahl aufgestellt war. Er ließ sie durch die neu aufgenommene Dienerschaft bedienen, der er befahl, sie künftig als ihre Herrin zu betrachten; endlich hatte er ihr die Equipage, die Pferde und alle übrigen Geschenke gezeigt, worauf er ihr eine Partie Piquet vorgeschlagen hatte, um die Zeit bis zum Souper auszufüllen.

»Ich gestehe,« fuhr sie fort, »daß ich von dieser Pracht ganz befangen war. Ich dachte darüber nach, daß es schade wäre, uns auch nur eines dieser Güter zu berauben, indem ich mich etwa damit begnügt hätte, die zehntausend Franken und die Kleinodien mit mir zu nehmen; das war ein Vermögen, wie geschaffen für dich und für mich; von welchem wir auf Kosten G... M...s angenehm leben könnten. Anstatt mit ihm vom Theater zu sprechen, begann ich, ihn in betreff deiner Person auszuforschen, um daraus zu ersehen, ob es uns leicht werden würde, uns zu sehen, wenn ich an meinem Systeme festhielt. Ich fand, daß er sehr zugänglich sei. Er fragte, was ich von dir dächte und ob es mir nicht Kummer bereitet hätte, dich zu verlassen. Ich sagte ihm, du wärest immer so liebenswürdig gewesen und hättest dich immer so rechtschaffen gegen mich benommen, daß es unnatürlich wäre, wenn ich dich haßte. Er gestand, daß du gute Eigenschaften hättest, und daß er den Wunsch gehegt hätte, deine Freundschaft zu erlangen.

Er wollte wissen, wie du wohl meine Flucht aufnehmen würdest, besonders wenn du erführest, daß ich ihm angehörte. Ich antwortete ihm, daß unsere Liebe schon so lange bestände, daß sie Zeit gehabt hätte, zu erkalten; überdies wärest du nicht in den besten Verhältnissen und würdest meinen Verlust vielleicht nicht als ein Unglück betrachten, weil er dich von einer Last befreite, welche deine Schultern drückte. Ich fügte noch hinzu, ich wäre durchaus von deiner Zustimmung überzeugt gewesen und hätte dir daher ohne Umschweife gesagt, daß ich Geschäfte halber nach Paris ginge; du wärest also, selbst dorthin gekommen, über mein Verschwinden kaum sehr besorgt gewesen.

›Wenn ich glauben könnte,‹ sagte er mir, ›daß der Chevalier geneigt wäre, mit mir in Frieden zu leben, wäre ich der erste, ihm meine Dienste anzubieten.‹ Ich versicherte ihm, daß ich, wie ich deinen Charakter kenne, nicht zweifle, du würdest seine Freundschaft in aufrichtiger Weise erwidern, besonders wenn er dir in deinen Angelegenheiten hilfreiche Hand leiste, da es um diese seit deiner Entzweiung mit deiner Familie schlecht stände. Er unterbrach mich, um mir zu beteuern, daß er dir alle Dienste erweisen würde, die in seiner Macht ständen und daß, wenn du dich in eine neue Liebschaft einlassen wolltest, er dir ein hübsches Mädchen empfehlen würde, das er verlassen hätte, um sich mir zu widmen.

Ich ging auf seine Gedanken ein, um seinen Argwohn nicht aufkommen zu lassen, und jetzt, mich mehr und mehr in meinen Plan vertiefend, wünschte ich nur ein Mittel zu finden, dich in ihn einzuweihen, aus Furcht, du könntest besorgt sein, wenn du mich unsere Verabredung nicht einhalten sähest. Nur in dieser Absicht schlug ich ihm vor, dir jenes Mädchen noch an demselben Abend zu schicken, um eine Gelegenheit zu haben, dir zu schreiben; ich war genötigt, zu diesem Mittel meine Zuflucht zu nehmen, weil ich nicht hoffen konnte, daß er mich einen Augenblick frei lassen würde.

Er lachte über meinen Vorschlag, rief seinen Diener, und, nachdem er ihn befragt hatte, ob er sogleich seine frühere Geliebte wieder finden könnte, schickte er ihn weg, um sie zu holen. Er glaubte, daß sie dich in Chaillot aufsuchen müßte, aber ich teilte ihm mit, daß, als ich dich verlassen, ich dir versprochen hätte, vor dem Theater mit dir zusammenzutreffen oder, wenn mich irgendein Grund hinderte zu kommen, du mit dem Wagen an der Ecke der Rue Saint-André warten solltest, daß es also besser wäre, dir die neue Geliebte dorthin zu schicken, und wäre es auch nur, um dir die Langeweile zu vertreiben. Ich habe ihm noch gesagt, daß es nötig wäre, dir ein Wort zu schreiben, um dich über diesen Tausch zu benachrichtigen, welchen du sonst kaum begreifen würdest. Er willigte ein, aber ich war genötigt, in seiner Gegenwart zu schreiben, und ich habe mich wohl gehütet, in meinem Briefe die Sache zu offen darzulegen.

So haben sich die Dinge zugetragen,« fügte Manon hinzu. »Ich verheimliche dir nichts, weder mein Betragen, noch meine Absichten. Das junge Mädchen kam, ich fand es hübsch, und da ich nicht daran zweifelte, meine Abwesenheit würde dir Kummer bereiten, so wünschte ich aufrichtig, es möge dazu dienen, dich einige Augenblicke aufzuheitern; denn die Treue, welche ich von dir verlange, ist die Treue des Herzens. Ich wäre erfreut gewesen, wenn ich dir hätte Marcel schicken können, aber ich habe mir nicht einen Augenblick verschaffen können, um ihn von dem zu unterrichten, was ich dir mitzuteilen hatte.« Sie schloß endlich ihre Erzählung, indem sie mir mitteilte, in welcher Verlegenheit sich M... G... befunden hätte, als er das Billett von Herrn v. T. erhielt. »Er schwankte,« sagte sie, »ob er mich verlassen sollte, und versicherte mir, daß er bald zurückkehren würde; deshalb beunruhigt es mich auch, dich hier zu sehen, und deshalb habe ich gesagt, daß mich deine Ankunft überrascht hat.«

Ich hörte diese Erzählung geduldig an. Ich fand darin unzweifelhaft eine Menge grausamer und beleidigender Züge, denn die Absicht, mir untreu zu werden, war so klar, daß sie sich nicht einmal die Mühe gegeben hatte, sie mir zu verbergen. Sie konnte sich nicht einbilden, daß G... M... sie nur platonisch verehren würde, und rechnete also darauf, die Nacht mit ihm zuzubringen; welch ein Geständnis für einen Liebhaber! Doch ich überlegte, daß ich zum Teil selbst schuld an ihrer Handlungsweise sei, erstens, weil ich ihr von G... M...s Gefühlen Kenntnis gab, und dann weil ich blindlings in den tollkühnen Plan ihres Abenteuers eingewilligt hatte. Übrigens wurde ich infolge der eigentümlichen Richtung meines Geistes durch die Aufrichtigkeit gerührt, mit welcher sie mir selbst die für mich kränkendsten Umstände erzählte. »Sie sündigt ohne Böswilligkeit,« sagte ich zu mir selbst; »sie ist leichtsinnig und unbesonnen, aber sie ist freimütig und aufrichtig.« Fügen Sie hinzu, daß die Liebe allein genügte, um vor allen ihren Fehlern die Augen zu schließen. Ich war schon durch die Hoffnung allzubefriedigt, sie noch an diesem Abend meinem Nebenbuhler zu entreißen. Nichtsdestoweniger sagte ich zu ihr: »Und wo gedachtest du die Nacht zu verbringen?« Diese kummervolle Frage setzte sie in Verwirrung. Sie antwortete nur mit einem abgebrochenen »Aber –« oder »Wenn –«

Ich hatte Mitleid mit ihrer Pein und, das Gespräch abbrechend, erklärte ich ihr, daß sie mir unverzüglich folgen möge. »Ich will es gern,« sagte sie mir, »aber billigst du denn meinen Plan nicht?«

»Ach! Ist es nicht genug,« erwiderte ich, »daß ich alles billige, was du bis jetzt getan hast?«

»Wie! Wir sollen nicht einmal die zehntausend Franken mitnehmen?« entgegnete sie. »Er hat sie mir geschenkt, sie gehören mir.«

Ich riet, alles im Stich zu lassen und nur an unsere schnelle Flucht zu denken, denn obwohl kaum eine halbe Stunde vergangen war, seit ich bei ihr war, fürchtete ich doch G... M...s Rückkehr. Doch sie machte mir so dringende Vorstellungen, nicht mit leeren Händen hinwegzugehen, daß ich glaubte, ihr ein Zugeständnis machen zu müssen, nachdem ich soviel von ihr erlangt hatte.

Während der Zeit, wo wir uns zur Flucht vorbereiteten, hörte ich an das Haustor klopfen. Ich zweifelte keineswegs, daß es G... M... sei, und in der Aufregung, in welche mich der Gedanke versetzte, sagte ich zu Manon, daß er verloren wäre, wenn er jetzt käme. In der Tat hatte ich mich noch nicht genügend von meiner Aufregung erholt, um mich bei seinem Anblick mäßigen zu können. Marcel beendigte meine Pein, indem er mir ein Billett brachte, welches er an der Tür empfangen hatte, es war von Herrn von T...

Er schrieb mir, daß er die Abwesenheit des Herrn G... M..., der weggegangen sei, um Geld zu holen, benutze, um mir einen scherzhaften Gedanken mitzuteilen; ich könnte mich nicht angenehmer an meinem Nebenbuhler rächen, als wenn ich sein Souper verzehrte und die Nacht in seinem Bette schliefe. Das wäre ganz leicht zu bewerkstelligen, wenn ich mich dreier oder vier Männer versichern könnte, die Entschlossenheit genug besäßen, ihn auf der Straße festzuhalten und bis zum Morgen zu bewahren. Was ihn selbst beträfe, so verspräche er mir, ihn wenigstens noch eine Stunde hinzuhalten.

Ich zeigte dieses Billett Manon und teilte ihr mit, welcher List ich mich bedient hatte, um ungehindert zu ihr zu gelangen. Meine Erfindung und diejenige des Herrn von T... erschienen ihr bewundernswert.

Wir lachten darüber nach Herzenslust, als ich ihr aber von dem letzten Vorschlag des Herrn von T... als von einer Torheit Mitteilung machte, war ich überrascht, daß sie ernstlich darauf bestand, ihn auszuführen. Vergebens fragte ich sie, wo ich plötzlich Leute finden würde, die geeignet wären, G... M... anzuhalten und sicher zu bewachen; sie antwortete mir, man müsse wenigstens den Versuch machen, da Herr von T... uns noch eine Stunde sicherte, und als Antwort auf meine anderen Einwände entgegnete sie, ich spiele den Tyrannen und wollte ihr keinen Gefallen erweisen. Sie fand nichts hübscher als diesen Plan. »Du wirst seinen Platz beim Nachtessen haben,« wiederholte sie mir, »wirst in seinem Bett schlafen und morgen bei Tagesanbruch mit seiner Geliebten und mit seinem Gelde davongehen. Das ist die beste Rache, die du an Vater und Sohn nehmen kannst.«

Ich gab ihrem Drängen nach, trotz einer geheimen Ahnung meines Herzens, welche mir einen unglücklichen Ausgang zu weissagen schien. Ich entfernte mich in der Absicht, zwei oder drei Gardisten, mit denen mich Lescaut bekannt gemacht hatte, zu bitten, die Arretierung des G... M... zu übernehmen. Ich fand nur einen zu Hause; aber dieser war ein unternehmender Mensch, der kaum gehört hatte, um was es sich handle, als er mir den Erfolg zusicherte; er verlangte nur zehn Pistolen als Belohnung für drei Soldaten, welche er für dieses Unternehmen engagieren wollte. Ich bat ihn, keine Zeit zu verlieren, und nach kaum einer Viertelstunde brachte er die Leute zusammen. Ich erwartete ihn in seiner Wohnung, und als er mit seinen Gefährten zurückkam, führte ich sie selbst an die Ecke der Straße, durch welche G... M... unbedingt in das Haus Manons zurückkehren mußte. Ich trug ihnen auf, ihn nicht zu mißhandeln, aber ihn bis sieben Uhr morgens so streng zu bewachen, daß ich sicher sein könnte, er würde ihnen nicht entschlüpfen. Der Gardist sagte mir, daß es seine Absicht wäre, ihn in sein Zimmer zu führen, ihn zu zwingen, sich auszukleiden und sich sogar in sein Bett zu legen, während er und seine drei Genossen die Nacht mit Trinken und Spielen verbringen würden.

Ich blieb bis zu dem Augenblick bei ihnen, wo ich G... M... erscheinen sah, und zog mich dann in eine dunkle Ecke zurück, um Zeuge einer so außerordentlichen Scene zu sein. Der Leibgardist trat ihm mit erhobner Pistole entgegen und erklärte ihm in höflicher Weise, es sei weder auf sein Leben noch auf seine Börse abgesehen, aber wenn er den geringsten Widerstand leiste oder den leisesten Schrei ausstoße, würde er ihn niederschießen. G... M..., welcher sich durch drei Soldaten festgehalten sah und ohne Zweifel die Pistole fürchtete, widersetzte sich nicht und folgte ihnen wie ein Lamm. Ich kehrte sogleich zu Manon zurück, und um den Dienern jeden Verdacht zu nehmen, sagte ich ihnen gleich beim Eintreten, sie brauchten mit dem Souper nicht auf Herrn G... M... zu warten; er wäre mit Geschäften überhäuft, welche ihn wider seinen Willen zurückhielten, und hätte mich gebeten, ihn bei Manon zu entschuldigen und an seiner Stelle mit ihr zu soupieren, was ich noch dazu bei einer so schönen Dame als eine große Ehre ansähe. Manon half mir geschickt bei meinem Plan. Wir setzten uns zu Tische und nahmen, solange die Lakaien uns bedienten, eine ernste Miene an. Nachdem wir sie endlich verabschiedet hatten, verbrachten wir einen der reizendsten Abende unseres Lebens. Ich befahl Marcel im geheimen, einen Fiaker zu suchen und ihn zu benachrichtigen, daß er sich vor sechs Uhr morgens an der Tür einfinde. Ich tat so, als ob ich Manon um Mitternacht verließe, aber mit Marcels Hilfe trat ich sacht wieder ein, um in G... M...'s Bett bei ihr zu schlafen, wie ich bei Tisch seinen Platz eingenommen hatte.

Während dieser Zeit arbeitete unser böser Geist an unserem Untergang. Während wir im Taumel des Entzückens schwelgten, hing schon das Damoklesschwert über unsern Häuptern und das Haar, an dem es schwebte, war schon im Begriff, zu reißen. Aber um die einzelnen Umstände unseres Untergangs besser zu verstehen, muß ich ihre Ursachen erklären.

G... M... war von einem Diener begleitet, als er von den Leibgardisten festgenommen wurde.

Dieser junge Mensch, über das Abenteuer seines Herrn erschreckt, wandte sich zur Flucht, und der erste Schritt, den er tat, um ihm zu helfen, war, daß er den alten G... M... schleunigst von dem benachrichtigte, was sich soeben zugetragen hatte.

Eine so böse Nachricht mußte den Alten natürlich sehr beunruhigen. Er besaß nur diesen einzigen Sohn und liebte ihn zärtlich; er geriet in große Aufregung und war überhaupt für seine Jahre noch sehr feurigen Temperaments. Er wollte von dem Diener zuerst genau wissen, was sein Sohn während des Nachmittags getan hatte; ob er sich mit jemandem gestritten oder an dem Streite eines anderen teilgenommen hätte, ob er sich in irgendeinem verdächtigen Hause aufgehalten habe. Der Diener, welcher seinen Herrn in der äußersten Gefahr glaubte und jedes Mittel zu seiner Rettung für erlaubt hielt, erzählte alles, was er von seines Herrn Liebe zu Manon und von dem Aufwand, den er für sie getrieben hatte, wußte, und gab genau an, wie er den Nachmittag bis gegen neun Uhr verlebt hätte, dann weggegangen und auf dem Rückwege überfallen worden wäre. Der alte Mann zog aus diesen Mitteilungen den Schluß, daß es sich bei der ganzen Sache um einen Liebesstreit handle. Obwohl es bald halb elf Uhr war, zögerte er nicht, sich sofort zu dem Polizeipräsidenten zu begeben, den er bat, allen Sicherheitswachen geeignete Befehle zu geben; er selbst ließ sich von einer Wache begleiten und begab sich mit ihr nach der Straße, wo sein Sohn überfallen worden war. Er besuchte alle Orte der Stadt, wo er ihn finden zu können hoffte, und als er seine Spur nicht entdecken konnte, suchte er endlich das Haus Manons auf, wohin, wie er glaubte, sein Sohn schon zurückgekehrt wäre.

Ich war im Begriff, mich zu Bette zu legen, als er kam. Da die Tür des Zimmers geschlossen war, hatte ich das Klopfen an dem Haustor nicht hören können; er trat, begleitet von zwei Häschern, ein, und als ihm die Diener meldeten, daß ihr Gebieter sich nicht im Hause befinde, geriet er auf den Einfall, seine Geliebte zu sehen, um vielleicht von ihr einige Aufklärung zu erhalten. Wir waren gerade im Begriff, ins Bett zu steigen, da tritt er ein, immer von seinen Häschern begleitet, und macht durch seinen Anblick unser Blut in den Adern erstarren.

»O Gott! Das ist der alte G... M...,« sagte ich zu Manon. Ich sprang nach meinem Degen, er war unglücklicherweise in dem Gehänge verwickelt. Die Häscher, welche meine Bewegung beobachtet hatten, eilten sogleich herbei, um ihn mir zu nehmen. Ich war widerstandslos, sie nahmen mir alle Mittel zur Verteidigung.

G... M..., obwohl durch dieses Schauspiel verwirrt, erkannte mich bald und Manon noch leichter.

»Ist es eine Erscheinung?« sagte er ernst, »oder sehe ich wirklich Chevalier des Grieux und Manon Lescaut vor mir?«

Ich war vor Wut und Scham so außer mir, daß ich keine Antwort geben konnte. Während einiger Zeit schienen verschiedene Gedanken sein Hirn zu durchkreuzen, und als ob sie plötzlich seinen Zorn angefacht hätten, rief er, indem er sich an mich wandte: »Ach, Unglücklicher, ich bin überzeugt, daß du meinen Sohn getötet hast.«

Diese Beleidigung reizte mich aufs äußerste. »Alter Schuft,« erwiderte ich ihm stolz, »wenn ich jemand von deiner Familie hätte töten wollen, hätte ich mit dir den Anfang gemacht!«

»Haltet ihn,« sagte er zu den Häschern. »Er muß mir sagen, wo mein Sohn sich befindet. Ich lasse ihn morgen hängen, wenn er mir nicht sogleich mitteilt, was er mit ihm angefangen hat.«

»Du willst mich hängen lassen, Schurke,« erwiderte ich, »Leute deinesgleichen sind reif für den Galgen. Vernimm, daß ich von edlerem und reinerem Blute bin als du. Ja,« fügte ich hinzu, »ich weiß, wo dein Sohn geblieben ist, und wenn du mich noch länger reizest, werde ich ihn erdrosseln lassen, bevor der morgende Tag angebrochen ist, und dir verspreche ich dasselbe Schicksal.«

Ich beging eine Unvorsichtigkeit, indem ich ihm gestand, daß ich wüßte, wo sein Sohn wäre; aber das Übermaß meines Zornes verleitete mich zu dieser Unklugheit. Er rief sofort fünf oder sechs andere Häscher, welche an der Tür warteten, und befahl ihnen, alle Diener des Hauses zu ergreifen. »So, so, Herr Chevalier,« sagte er in spöttischem Tone, »Sie wissen also, wo mein Sohn ist und Sie wollen ihn erdrosseln lassen, sagen Sie; rechnen Sie darauf, daß wir dem Einhalt tun werden.«

Ich sah ein, welchen Fehler ich begangen hatte.

Er näherte sich Manon, welche weinend auf dem Bette saß, und sagte ihr einige ironische Schmeicheleien über die Macht, welche sie auf Vater und Sohn ausgeübt, und über den edlen Gebrauch, den sie davon gemacht habe. Dieses alte Ungeheuer wollte sich sogar einige Vertraulichkeiten gegen sie herausnehmen.

»Hüte dich, sie zu berühren!« rief ich; »es gäbe nichts Heiliges, was dich vor meinen Händen retten könnte.«

Er ging hinaus, indem er drei Häscher im Zimmer zurückließ, denen er befahl, dafür zu sorgen, daß ich mich schnell vollends ankleidete.

Ich weiß nicht, welche Absichten er damals mit uns hatte. Vielleicht hätten wir damals unsere Freiheit erlangt, wenn wir ihm mitgeteilt hätten, wo sein Sohn wäre. Ich dachte nach, während ich meine Toilette beendete, ob das nicht das beste wäre.

Aber wenn er vielleicht noch zur Milde geneigt war, als er unser Zimmer verließ, so änderte sich dies, als er zurückkam. Er hatte die Diener Manons ausgefragt, welche die Häscher festgenommen hatten. Er konnte nichts von denjenigen erfahren, welche sein Sohn angenommen hatte; aber als er erfahren hatte, daß uns Marcel früher bedient hatte, beschloß er ihn zum Reden zu bringen, indem er ihn durch Drohungen einzuschüchtern suchte.

Der Bursche war treu, aber einfältig und ungeschliffen. Die Erinnerung an das, was er getan hatte, um Manon aus dem »Hospital« zu befreien, verbunden mit der Angst, welche G... M... ihm einflößte, machten einen solchen Eindruck auf seinen schwachen Verstand, daß er glaubte, man würde ihn an den Galgen hängen oder aufs Rad flechten. Er versprach alles zu entdecken, was zu seiner Kenntnis gelangt wäre, wenn man ihm das Leben schenken wollte. G... M... überzeugte sich bald, es müsse in unsern Angelegenheiten etwas Ernsthafteres, ja ein schlimmeres Verbrechen geben, als er bisher geglaubt hatte. Er sicherte Marcel nicht nur sein Leben, sondern er versprach ihm auch eine Belohnung, wenn er alles beichten wollte.

Dieser Unglückselige verriet ihm einen Teil unseres Planes, den wir ohne Scheu in seiner Gegenwart besprochen hatten, weil er auch eine Rolle darin spielen sollte. Er wußte allerdings nicht, in welcher Weise wir unsern Plan in Paris verändert, sondern nur, was er davon bei der Abreise von Chaillot erfahren hatte. Er erzählte also, daß es unsere Absicht wäre, seinen Sohn zum Besten zu halten und Manon sollte oder hätte schon zehntausend Franken empfangen, welche nach unserem Vorhaben niemals den Erben des Herrn G. M. zufallen würden.

Als der Alte diese Entdeckung gemacht hatte, eilte er schnell in unser Zimmer zurück. Er ging, ohne ein Wort zu sagen, in das Kabinett, wo er ohne Mühe das Geld und die Kleinodien fand. Er kam zu uns mit einem zornentflammten Gesicht zurück, zeigte uns, was er unsere »Diebsbeute« nannte, und überhäufte uns mit beleidigenden Vorwürfen. Er hielt das Perlenhalsband und die Armbänder Manon dicht vor die Augen und fragte sie mit spöttischem Lächeln:

»Kennen Sie das? Sie haben es nicht zum ersten Male gesehen. Meiner Treu! Es sind dieselben Kleinodien! Sie waren nach Ihrem Geschmack, meine Schöne, ich glaube es wohl. Die armen Kinder!« fügte er hinzu, »sie sind beide wirklich sehr liebenswürdig, aber etwas diebisch.«

Mein Herz pochte vor Wut bei diesen beleidigenden Worten. Was hätte ich nicht darum gegeben, einen Augenblick frei zu sein!

Endlich tat ich mir Gewalt an, um ihm mit einer Mäßigung, welche nur verhaltener Zorn war, zu sagen:

»Beendigen Sie, mein Herr, diese schmählichen Spöttereien. Was soll geschehen? Sagen Sie, was Sie mit uns zu tun beabsichtigen!«

»Was geschehen soll, Herr Chevalier?« antwortete er mir. »Sie sollen sogleich ins Gefängnis geführt werden. Morgen werden wir diese Sache besser durchschauen, und ich hoffe, daß Sie mir endlich die Gnade erweisen werden, mir mitzuteilen, wo sich mein Sohn befindet.«

Ich begriff ohne vieles Nachdenken, daß es von den schrecklichsten Folgen für uns sein würde, wenn wir ins Gefängnis geworfen würden. Ich sah zitternd alle Gefahren voraus. Trotz meines Stolzes erkannte ich, daß ich mich unter der Last meines Schicksals demütigen und meinem grausamsten Feinde schmeicheln mußte, um durch die Unterwerfung etwas zu erlangen.

Ich bat ihn also in dringendem Tone, mich einen Augenblick anzuhören.

»Ich erkenne meine Schuld, mein Herr,« sagte ich zu ihm. »Ich bekenne, daß die Jugend mich zu schlimmen Fehltritten verleitete, und daß Sie das Recht haben, sich darüber zu beklagen, da Sie dadurch geschädigt wurden, aber wenn Sie die Macht der Liebe kennen, wenn Sie begreifen und beurteilen können, was ein unglücklicher, junger Mann leidet, dem man sein Teuerstes raubt, dann werden Sie es vielleicht verzeihlich finden, wenn ich mir das Vergnügen einer kleinen Rache gönnen wollte, oder Sie werden mich wenigstens für hinlänglich gestraft halten, durch die Schmach, welche ich soeben erlitten habe. Es bedarf keines Gefängnisses und keiner sonstigen Strafe, um mich zu veranlassen, Ihnen mitzuteilen, wo Ihr Sohn sich befindet. Er ist in Sicherheit. Es war weder meine Absicht, ihm ein Leid anzutun, noch Sie zu beleidigen. Ich bin bereit, Ihnen den Ort zu nennen, wo er in aller Ruhe die Nacht zubringt, wenn Sie mir die Gnade gewähren wollen, mir die Freiheit zu schenken.«

Der alte Tiger, anstatt von meiner Bitte sich rühren zu lassen, wandte mir lachend den Rücken und ließ nur einige Worte fallen, um mir zu verstehen zu geben, daß er unsere Absichten bis auf den Grund kannte. Was seinen Sohn beträfe, fügte er barsch hinzu, so würde er sich wohl wieder finden, da ich ihn nicht ermordet hätte.

»Führen Sie diese Leute ins Gefängnis«, sagte er zu den Häschern, »und geben Sie wohl acht, daß der Chevalier Ihnen nicht entwischt; das ist ein gefährlicher Mensch, der schon einmal aus Saint-Lazare entsprungen ist.«

Er entfernte sich; Sie können sich vorstellen, in welchem Zustande er mich zurückließ.

»O Himmel,« rief ich aus, »ich wollte demütig alle Strafen ertragen, die du über mich verhängst, aber daß dieser verruchte Schurke die Macht hat, mich mit solcher Tyrannei zu behandeln, das bringt mich zur äußersten Verzweiflung.«

Die Häscher ersuchten uns, sie nicht länger warten zu lassen. Sie hatten einen Wagen vor der Tür. Ich reichte Manon die Hand, um sie hinabzuführen. »Komm, meine teure Königin,« sagte ich zu ihr, »ergib dich in das grausame Schicksal. Vielleicht wird es dem Himmel gefallen, uns eines Tages glücklicher zu machen.«

Wir fuhren in demselben Wagen, sie lehnte sich an mich. Ich hatte kein Wort von ihr gehört, seit dem Augenblick, wo G. M. eingetreten war; aber als sie sich jetzt mit mir allein befand, sagte sie mir die zärtlichsten Worte, indem sie sich vorwarf, die Ursache meines Unglücks zu sein. Ich versicherte ihr, daß ich mich nie über mein Los beklagen würde, solange sie nicht aufhörte, mich zu lieben. »Nicht ich bin zu beklagen«, fuhr ich fort; »einige Monate Gefängnis schrecken mich keineswegs und ich bin lieber im Chatelet als in Saint-Lazare. Aber deinetwegen, Geliebte, ist mein Herz bekümmert. Welches Schicksal für ein so liebreizendes Wesen! O Gott, wie hart behandelst du das vollkommenste deiner Geschöpfe! Warum sind wir beide nicht mit den zu unserm Elende passenden Eigenschaften geboren? Wir sind begabt mit Geist, feinem Geschmack und zarten Empfindungen; ach! welchen traurigen Gebrauch machen wir von diesen Gaben, während soviele niedrige Seelen, die unser Schicksal verdienen, sich aller Gunstbezeugungen des Glückes erfreuen!«

Diese Überlegung verursachte mir vielen Kummer. Doch was bedeutete dies im Vergleiche zu den Sorgen für die Zukunft, denn ich war wegen Manon in der größten Herzensangst. Sie war schon im »Hospital« gewesen und wenn sie es auch auf eine angemessene Art verlassen hatte, so wußte ich doch, daß Rückfälle von den schrecklichsten Folgen wären. Ich hätte ihr meine Besorgnisse ausdrücken mögen, aber ich fürchtete, ihr zuviel Angst einzuflößen. Ich zitterte für sie, ohne zu wagen, sie vor der Gefahr zu warnen; ich umarmte sie seufzend, um sie wenigstens meiner Liebe zu versichern, die einzige Empfindung, die ich auszudrücken wagte.

»Manon,« sagte ich zu ihr, »sprich aufrichtig, wirst du mich immer lieben?«

Sie antwortete mir, sie wäre sehr unglücklich, wenn ich daran zweifeln könnte.

»Nun wohl,« erwiderte ich, »ich zweifle nicht daran und ich will allen unsern Feinden trotzen, solange dies Bewußtsein mir bleibt! Ich werde mir den Einfluß meiner Familie zu nutze machen, um aus dem Chatelet herauszukommen und dann werde ich Blut und Leben daran setzen, um auch dich daraus zu befreien.«

Wir kamen im Gefängnis an. Man wies jedem von uns einen gesonderten Raum an. Dieser Schlag traf mich weniger hart, weil ich ihn vorausgesehen hatte. Ich empfahl Manon dem Pförtner, indem ich ihm mitteilte, daß ich ein Mann von guter Familie wäre, und ihm eine bedeutende Belohnung versprach. Ich umarmte meine teure Geliebte, bevor ich sie verließ. Ich beschwor sie, sich nicht allzu sehr zu betrüben und nichts zu fürchten, solange ich auf der Welt wäre. Ich war nicht ohne Geld. Ich gab ihr einen Teil davon und bezahlte dem Pförtner von dem, was mir übrig blieb, für sie und für mich reichlich für einen Monat voraus.

Das Geld hatte eine gute Wirkung. Man brachte mich in ein sauber möbliertes Zimmer und versicherte mir, Manon hätte ebenfalls ein solches erhalten.

Ich beschäftigte mich sogleich damit, Mittel zu finden, wie ich am schnellsten meine Freiheit wiedererlangen könnte. Es war klar, daß in meiner Angelegenheit durchaus nichts Verbrecherisches lag; und vorausgesetzt selbst, daß die Absicht zum Stehlen uns bewiesen wurde durch die Aussagen Marcels, so wußte ich sehr gut, daß der bloße Wille, Böses zu tun, nicht bestraft werde. Ich beschloß sofort, an meinen Vater zu schreiben und ihn zu bitten, persönlich nach Paris zu kommen. Wie ich schon gesagt, ich schämte mich weit weniger, im Chatelet als in Saint-Lazare gefangen gehalten zu werden; obwohl ich vor der väterlichen Autorität immer alle schuldige Achtung bewahrte, hatte doch das Alter und die Erfahrung meine Zaghaftigkeit sehr vermindert. Ich schrieb also und man machte mir keine Schwierigkeiten im Chatelet, den Brief befördern zu lassen. Aber ich hätte mir die Mühe ersparen können, wenn ich gewußt hätte, daß mein Vater ohnehin am nächsten Tage nach Paris kommen würde.

Er hatte nämlich mein vor acht Tagen an ihn gerichtetes Schreiben empfangen und die größte Freude darüber empfunden; aber wie große Hoffnung ich ihm auch betreffs meiner Bekehrung eingeflößt hatte, so glaubte er doch nicht, sich ganz auf diese Versprechungen verlassen zu dürfen. Er hatte also den Entschluß gefaßt, sich mit eigenen Augen von meiner Bekehrung zu überzeugen und sein Verhalten nach der Aufrichtigkeit meiner Reue zu regeln. Er kam am Tage nach meiner Gefangensetzung an.

Sein erster Besuch galt Tiberge, an welchen ich ihn gebeten hatte, seine Antwort zu senden. Er konnte von ihm weder meine Wohnung noch meine gegenwärtige Lage erfahren. Er hörte nur von den hauptsächlichsten Abenteuern seit meiner Flucht aus Saint-Lazare. Tiberge äußerte sich sehr vorteilhaft über meine ihm bei unserer Zusammenkunft bekundeten Gesinnungen, die sich nur auf das Gute richteten. Er fügte hinzu, er glaubte, ich hätte mich ganz von Manon losgesagt, aber er wäre nichtsdestoweniger erstaunt, daß ich seit acht Tagen nichts hätte von mir hören lassen. Mein Vater ließ sich nicht täuschen. Er begriff, daß etwas vorgefallen sein müsse, was mein Stillschweigen veranlaßte und was dem Scharfsinn Tiberges entging, und er wandte soviel Mühe daran, meine Spur zu entdecken, daß er zwei Tage nach seiner Ankunft in Paris erfuhr, ich wäre im Chatelet.

Bevor ich seinen Besuch empfing, den ich wahrlich nicht so bald erwartete, erhielt ich den des Polizeipräsidenten oder, um die Sache beim rechten Namen zu nennen, ich mußte ein Verhör bestehen.

Er machte mir allerdings Vorwürfe, doch nicht in harten, unziemlichen Ausdrücken, sondern er tadelte meine schlechte Aufführung in milder Weise; er meinte, ich hätte unklug gehandelt, indem ich mir Herrn G... M... zum Feinde machte; es sei wohl klar, daß meinem Vergehen mehr Leichtsinn und Unbesonnenheit als Schlechtigkeit zugrunde liege; aber es sei nichtsdestoweniger das zweite Mal, daß ich mich vor Gericht befinde und er hätte gehofft, daß ich nach meinem zwei- oder dreimonatigen Zwangsaufenthalt in Saint-Lazare vernünftiger geworden wäre.

Entzückt, einen so milden Richter zu finden, sprach ich mich auf eine so ehrerbietige und bescheidene Weise gegen ihn aus, daß er über meine Antworten außerordentlich befriedigt schien. Er sagte mir, daß ich mich nicht zu sehr dem Kummer überlassen sollte und daß er sich geneigt fühlte, meiner Abstammung und Jugend zuliebe Nachsicht gegen mich zu üben. Ich wagte es, ihm Manon zu empfehlen und ihre Sanftmut und ihr gutes Herz zu loben. Er antwortete mir lachend, er habe sie noch nicht gesehen, aber man schildere sie als eine gefährliche Person. Dieses Wort erregte so sehr meine Zärtlichkeit, daß ich mich in leidenschaftlichen Ausdrücken erging, um meine arme Geliebte zu verteidigen, und ich konnte mich nicht enthalten, sogar etliche Tränen zu vergießen. Er befahl, daß man mich in mein Zimmer zurückführe.

»O Liebe, Liebe,« rief der ernste Beamte aus, als er mich fortgehen sah, »wirst du dich niemals mit der Vernunft vertragen.«

Ich beschäftigte mich trübselig mit meinen Gedanken und überlegte noch einmal die Unterredung, welche ich mit dem Polizeipräsidenten gehabt hatte, als ich die Tür meines Zimmers öffnen hörte; es war mein Vater. Obwohl ich auf seinen Anblick halb vorbereitet sein mußte, weil ich ihn einige Tage später erwartet hatte, so war ich doch so außerordentlich überrascht, daß ich mich in den Abgrund der Erde gestürzt hätte, wenn sie sich unter meinen Füßen aufgetan hätte. Ich umarmte ihn mit allen Zeichen der äußersten Verwirrung. Er setzte sich; keiner von uns hatte noch den Mund geöffnet.

Da ich stehen blieb mit gesenktem Blicke und gebeugtem Haupte, sagte er streng zu mir: »Setzen Sie sich, mein Herr. Dank dem Aufsehen, welches Ihre Liederlichkeit und Ihre Betrügereien gemacht haben, habe ich Ihren Aufenthaltsort entdeckt. Es ist der Vorteil eines solchen Verdienstes, wie das Ihrige, nicht verborgen bleiben zu können. Sie schreiten auf dem unfehlbaren Wege zum Ruhme. Ich glaube, Ihre Laufbahn wird auf dem Schafott enden und Sie werden wirklich den Ruhm haben, der Bewunderung der ganzen Welt dargestellt zu sein.«

Ich antwortete nichts. Er fuhr fort: »Was für ein unglücklicher Vater bin ich, nachdem ich einen Sohn zärtlich geliebt und nichts gespart habe, um ihn zum rechtschaffenen Mann zu machen, ihn am Ende als einen Schurken wieder zu finden, welcher mich entehrt. Man tröstet sich über den Verlust des Vermögens, die Zeit läßt ihn vergessen und der Kummer vermindert sich; aber welches Mittel gibt es gegen ein Übel, das täglich wächst, wie der liederliche Lebenswandel eines lasterhaften Sohnes, der alles Ehrgefühl verloren hat? Du schweigst, Unglücklicher!« fügte er hinzu. »Seht doch diese lügenhafte Bescheidenheit und diese heuchlerische Sanftmut; sollte man ihn nicht für den größten Ehrenmann halten?«

Obwohl ich zugeben mußte, daß ich diese Schmähungen teilweise verdiente, schienen sie mir nichtsdestoweniger doch zu weit getrieben und ich glaubte, meinen Gedanken Ausdruck geben zu dürfen.

»Ich versichere,« sagte ich zu ihm, »daß die Bescheidenheit, in welcher Sie mich vor sich sehen, keineswegs erheuchelt ist; sie ist die natürliche Empfindung eines wohlerzogenen Sohnes, der seinen Vater unendlich verehrt und besonders seinen beleidigten Vater. Ich behaupte auch nicht, der gesittetste Mensch unseres Geschlechtes zu sein. Ich gestehe, Ihre Vorwürfe zu verdienen, aber ich beschwöre Sie, ein wenig mehr Güte für mich zu haben und mich nicht wie den schändlichsten aller Menschen zu behandeln. Ich verdiene nicht so herbe Namen. Sie wissen, daß es die Liebe ist, welche alle meine Fehltritte verursacht hat. Verhängnisvolle Leidenschaft! Ach! Kennen Sie nicht ihre Macht und ist es möglich, daß Ihr Blut, die Quelle des meinigen, nicht dieselbe Glut empfunden hat? Die Liebe hat mich zu zärtlich, zu leidenschaftlich, zu treu gemacht, vielleicht auch zu nachgiebig gegen die Wünsche einer reizenden Geliebten! Das ist mein Verbrechen. Sehen Sie darin etwas, was Sie und unsern Namen entehrt? O mein Vater,« fügte ich in zärtlichem Tone hinzu, »haben Sie doch ein wenig Mitleid für einen Sohn, der immer voll Achtung und Ehrerbietung gegen Sie gewesen ist, der nicht, wie Sie glauben, Ehre und Pflicht vergessen hat und der tausendmal mehr zu beklagen ist, als Sie denken können.« Bei den letzten Worten vergoß ich einige Tränen. Ein Vaterherz ist ein Meisterwerk der Natur, welche es mit den höchsten und liebenswürdigsten Tugenden ausgestattet hat und alle Triebfedern desselben beherrscht. Mein Vater, welcher überdies ein Mann von Geist und Geschmack war, war so gerührt von der Wendung, die ich meiner Rechtfertigung gab, daß er nicht imstande war, mir diesen Wechsel seiner Empfindungen zu verhehlen.

»Komm, mein armer Sohn,« sagte er zu mir, »komm an mein Herz, du tust mir leid.«

Ich umarmte ihn, und sein Händedruck gab mir zu erkennen, was in seinem Herzen vorging.

»Aber welches Mittel müssen wir ergreifen, um dich von hier fortzubringen? Erkläre mir deine Verhältnisse ohne Rückhalt.«

Da schließlich in meinen Handlungen nichts lag, was mich durchaus entehrte, wenigstens nicht, wenn man sie mit denjenigen der jungen Leute einer gewissen Gesellschaft verglich, und da es in unserm Jahrhundert für keine Schmach gilt, eine Geliebte zu halten oder dem Glück im Spiel ein wenig nachzuhelfen, so erzählte ich meinem Vater ganz offen die Einzelheiten des Lebens, welches ich geführt hatte. Bei jedem Fehltritt, welchen ich gestand, war ich so vorsichtig, berühmte Beispiele für ihn anzuführen, um seine Schande zu mildern.

»Ich lebte mit einer Geliebten, ohne daß wir durch die Zeremonien der Ehe verbunden waren,« sagte ich zu ihm, »der Herzog von ... unterhält zwei Maitressen vor den Augen von ganz Paris; Herr von ... hat eine seit zehn Jahren und liebt sie mit einer Treue, welche er niemals seiner Frau bewiesen hat. Zwei Drittel der angesehenen Leute Frankreichs machen sich eine Ehre daraus, Maitressen zu haben. Ich habe hinterlistige Mittel im Spiel angewandt; der Marquis von ... und der Graf von ... haben keine anderen Erwerbsquellen; der Fürst von ... und der Herzog von ... sind die Chefs einer solchen Gesellschaft von Glücksrittern.« Was meine Absichten auf die Börse der beiden G. M. betraf, so hätte ich leicht beweisen können, daß ich auch hierbei Vorbilder gehabt hatte; aber es blieb mir noch zuviel Ehrgefühl, um mich nicht selbst und alle diejenigen, die ich als Beispiel hätte anführen können, zu verdammen, weshalb ich meinen Vater bat, dieses Vergehen wegen der zwei heftigen Leidenschaften zu verzeihen, die mich damals beseelten: Liebe und Rache.

Er fragte mich, ob ich ihm mitteilen könnte, in welcher Weise ich auf dem kürzesten Wege meine Freiheit erhalten könne, ohne viel Aufsehen zu machen. Ich teilte ihm mit, wie gütig der Polizeipräsident gegen mich gesinnt sei.

»Wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten finden,« sagte ich ihm, »so können sie nur von seiten der beiden G... M... kommen; daher glaube ich, daß es ratsam wäre, daß Sie sich die Mühe nähmen, sie aufzusuchen.«

Er versprach es. Ich wagte es nicht, ihn auch für Manon zu bitten; nicht weil es mir an Kühnheit fehlte, sondern weil ich fürchtete, ihn durch einen solchen Vorschlag zu erbittern und zu irgendeinem für sie und mich unheilvollen Schritte zu verleiten. Noch heute weiß ich nicht, ob dies Bedenken nicht die Ursache meiner größten Leiden war, indem es mich hinderte, die Gesinnung meines Vaters zu erforschen und ihm eine günstige für meine unglückliche Geliebte einzuflößen. Ich hätte vielleicht noch einmal sein Mitleid erregt; ich hätte ihn gegen die Eindrücke unempfindlich gemacht, die er gar zu leicht bei dem alten G... M... erhalten würde. Was weiß ich? Mein Unstern hätte vielleicht alle meine Bemühungen vereitelt. Allerdings, aber ich hätte dann nur mein Schicksal und die Grausamkeit meiner Feinde, nicht mich selbst anklagen können.

Als er mich verließ, begab sich mein Vater zu Herrn von G... M..., bei welchem er seinen Sohn antraf, welchen der Leibgardist wieder freigelassen hatte. Ich habe niemals die Einzelheiten ihrer Unterredung erfahren, aber es war nur zu leicht, sie nach ihren entsetzlichen Folgen zu beurteilen. Beide Väter gingen zusammen zu dem Polizeipräsidenten, welchem sie zwei Bitten vortrugen: die eine, mich sogleich aus dem Châtelet zu entlassen, die andere, Manon lebenslänglich gefangen zu halten oder nach Amerika zu schicken. Man hatte zu dieser Zeit angefangen, eine Menge Gesindel nach dem Mississippi zu schicken. Der Polizeipräsident gab ihnen sein Wort, Manon mit dem ersten Schiffe fortzuschicken.

Herr von G... M... und mein Vater kamen zusammen zu mir, um mich von meiner Freilassung zu benachrichtigen. Herr von G... M... sprach einige freundliche Worte über die Vergangenheit und, indem er mir zu einem solchen Vater Glück wünschte, ermahnte er mich, künftig seinen Lehren und seinem Beispiele zu folgen. Mein Vater befahl, daß ich mich bei ihm wegen des seiner Familie angetanen Schimpfes entschuldigen und ihm für seine Bemühungen betreffs meiner Freilassung danken sollte. Wir gingen zusammen fort, ohne ein Wort über meine Geliebte miteinander gewechselt zu haben. Ich wagte in Gegenwart meiner Begleiter nicht einmal mit dem Gefängniswärter von ihr zu sprechen. Ach! Meine Fürsprache wäre nutzlos gewesen! Der grausame Befehl war zugleich mit demjenigen meiner Freilassung eingetroffen. Das unglückliche Mädchen wurde eine Stunde später nach dem »Hospital« geführt, um dort einigen Leidensgefährten beigesellt zu werden, die zu demselben Lose verdammt waren.

Da mein Vater mich gezwungen hatte, ihm in das Haus zu folgen, wo er sein Logis genommen hatte, war es fast sechs Uhr abends geworden, als ich mich einen Augenblick fortstehlen konnte, um in das Châtelet zurückzueilen. Ich hatte nur die Absicht, Manon einige Erfrischungen zukommen zu lassen und sie dem Pförtner zu empfehlen, denn ich wagte nicht zu hoffen, daß mir die Erlaubnis, sie zu sehen, gewährt werden würde. Ich hatte noch nicht Zeit gehabt, über Mittel zu ihrer Befreiung nachzudenken.

Ich verlangte, den Pförtner zu sprechen; er war mit meiner Freigebigkeit und meiner Freundlichkeit zufrieden gewesen, so daß er, geneigt, mir einen Dienst zu leisten, von Manons Schicksal wie von einem Unglück sprach, das ihm Bedauern einflößte, weil es mich betrüben könnte. Ich verstand seine Worte nicht. So unterhielten wir uns einige Augenblicke, ohne uns zu verstehen.

Indem er endlich bemerkte, daß ich das Verlangen nach einer Erklärung hätte, gab er mir eine solche, die mir einen furchtbaren Schreck einjagte.

Niemals verursachte ein plötzlicher Schlaganfall eine gewaltigere und schrecklichere Wirkung. Ich wurde unter so heftigem Herzklopfen ohnmächtig, daß ich in dem Augenblick, wo ich das Bewußtsein verlor, nicht wieder zum Leben zurückzukehren glaubte. Als ich wieder zu mir kam, war ich kaum Herr meiner Sinne. Ich wandte meine Blicke nach allen Seiten des Zimmers und auf mich selbst, um mich zu vergewissern, ob ich noch am Leben wäre. Es ist unzweifelhaft, daß, wäre ich nur der natürlichen Regung gefolgt, mich von meinen Leiden zu befreien, mir nichts hätte erwünschter erscheinen müssen als der Tod in diesem Augenblicke der Verzweiflung und Bestürzung. Selbst die Religion zeigte mir keine unerträglicheren Qualen im Jenseits, als die, welche mein Gemüt jetzt zerrissen. Dennoch fand ich durch ein Wunder, wie es nur die Liebe bewirken kann, bald Kraft genug, dem Himmel zu danken, daß er mir meine Lebenskraft und meine Vernunft wiedergegeben habe. Mein Tod würde nur für mich allein von Nutzen gewesen sein, Manon aber brauchte mein Leben, um sie zu befreien, sie zu unterstützen, sie zu rächen. Ich schwor, mich diesem Zweck schonungslos zu widmen.

Der Pförtner stand mir so bereitwillig in allem bei, wie ich es auch von dem besten meiner Freunde nicht hätte erwarten können. Seine eifrigen Dienstleistungen erweckten meine lebhafteste Dankbarkeit.

»Ach!« sagte ich zu ihm, »mein Kummer, meine Leiden rühren Sie also! Alle Welt verläßt mich; sogar mein Vater ist einer meiner grausamsten Verfolger. Niemand hat Erbarmen, Mitleid mit mir. Nur Sie allein, in dem Aufenthaltsort der Barbarei und Hartherzigkeit, Sie zeigen Mitleid und Barmherzigkeit für den Unglücklichsten aller Menschen.«

Er gab mir den Rat, die Straße nicht eher zu betreten, als bis die Aufregung, in der ich mich befand, sich etwas gelegt habe.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich,« sagte ich beim Fortgehen, »Sie werden mich eher wiedersehen, als Sie glauben. Halten Sie den schwersten Kerker für mich bereit, ich werde mir Mühe geben, ihn zu verdienen.«

In der Tat waren meine ersten Entschließungen, die beiden G... M... und den Polizeipräsidenten auf die Seite zu schaffen und dann mit allen Leuten, die ich gewinnen konnte, sofort bewaffnet ins »Hospital« zu dringen. Mein Vater selbst wäre von meiner Rache, die mir so berechtigt erschien, nicht verschont worden, denn ich wußte, daß er und G... M... die Urheber meines Unglücks waren.

Doch hatte ich kaum einige Schritte auf der Straße gemacht, als die frische Luft mein Blut und meine Erregung abkühlte und meine Wut vernünftigeren Gedanken Platz gab. Der Tod unserer Feinde wäre für Manon von geringem Nutzen gewesen und hätte mich ohne Zweifel aller Mittel beraubt, ihr beizustehen. Übrigens, wäre ich imstande gewesen, meine Zuflucht zum Meuchelmord zu nehmen? Aber welchen andern Weg konnte ich einschlagen, um meine Rache auszuführen? Ich nahm allen meinen Mut und alle meine Geisteskräfte zusammen, um zuerst die Freiheit Manons zustande zu bringen, das übrige würde sich schon nach dem Erfolge dieses wichtigen Unternehmens finden.

Mir war nur noch wenig Geld geblieben. Dennoch war dies die notwendige Grundlage, mit welcher ich zuerst anfangen mußte. Ich kannte nur drei Personen, von denen ich Hilfe erwarten durfte: Herr von T..., mein Vater und Tiberge. Es hatte nicht den Anschein, als wäre von den beiden letzteren etwas zu erwarten, und ich schämte mich, den ersteren durch Bitten zu belästigen. Aber in der Verzweiflung hört alle Rücksicht auf. Ich eilte sofort nach Saint-Sulpice ins Seminar, ohne mich darum zu kümmern, ob ich erkannt werden würde, und ließ Tiberge rufen. Seine ersten Worte belehrten mich, daß er meine letzten Abenteuer noch nicht kannte. Diese Erkenntnis ließ mich meine Absicht, sein Mitleid anzurufen, verändern. Ich sprach zu ihm im allgemeinen von der Freude, die ich empfand, meinen Vater wiederzusehen, und bat ihn hierauf, mir etwas Geld zu leihen, unter dem Vorwand, ich hätte vor der Abreise von Paris einige Schulden zu bezahlen, die ich geheim zu halten wünschte. Er übergab mir sofort seine Börse; von den sechshundert Franken, welche ich darin fand, nahm ich fünfhundert. Ich bot ihm einen Wechsel an; er wies ihn großmütig zurück.

Ich begab mich von da zu Herrn von T..., dem ich nichts verschwieg. Ich machte ihn mit meinem Unglück, mit meinem Schmerz bekannt. Er wußte bereits alles bis auf die geringsten Umstände, da er das Abenteuer des jungen G... M... mit dem größten Eifer verfolgt hatte.

Nichtsdestoweniger hörte er mir zu und beklagte mich aufrichtig. Als ich ihn über die Mittel, Manon zu befreien, um Rat fragte, antwortete er mir traurig, er habe in dieser Beziehung so wenig Hoffnung, daß nur ein Wunder des Himmels mir zu helfen imstande wäre; sonst müßte man auf die Rettung verzichten; er wäre eigens ins »Hospital« gegangen, sobald sie dort eingesperrt war, aber er hätte nicht die Erlaubnis erlangen können, sie zu sprechen; die Befehle des Polizeipräsidenten seien von der äußersten Strenge, und zum Übermaß meines Unglücks sollte der Zug Sträflinge, dem sie angehörte, schon übermorgen abgehen.

Ich war so bestürzt über seine Worte, daß er eine Stunde hätte sprechen können, ohne daß ich daran gedacht hätte, ihn zu unterbrechen. Er sagte mir noch, daß er mich absichtlich im Châtelet nicht besucht habe, weil er mir leichter nützen könne, wenn man nicht wüßte, daß ich zu ihm in Beziehung stände; seitdem ich vor einigen Stunden das Châtelet verlassen hatte, hätte er den Kummer gehabt, nicht zu wissen, wohin ich mich zurückgezogen hätte, und er hätte gewünscht, mich sogleich zu sehen, um mir den einzigen Rat zu geben, aus dem sich eine Änderung in dem Schicksal Manons erhoffen ließe; es sei ein gefährlicher Rat, und er bitte mich, für immer geheim zu halten, daß er daran Anteil habe. Der Rat bestand darin, einige kühne Burschen zu wählen, welche den Mut hätten, die Häscher Manons anzugreifen, wenn sie mit ihr Paris verlassen hätten. Er wartete gar nicht, bis ich ihm meine Mittellosigkeit gestand.

»Da sind hundert Pistolen, welche Ihnen von einigem Nutzen sein können,« sagte er, indem er mir seine Börse reichte. »Sie werden sie mir zurückgeben, wenn das Glück Ihre Angelegenheiten wieder begünstigt.«

Er fügte hinzu, daß, wenn die Sorge für seinen Ruf es ihm erlaubt hätte, er selbst den Degen zur Befreiung meiner Geliebten gezogen hätte.

Dieser außerordentliche Edelmut rührte mich bis zu Tränen, und ich sprach meinen Dank mit all dem Feuer aus, das meine Betrübnis mir übriggelassen hatte.

Ich fragte ihn, ob keine Aussicht vorhanden sei, auf dem Wege der Fürsprache etwas bei dem Polizeipräsidenten zu erwirken. Er sagte mir, daß er schon daran gedacht hätte, daß er es aber für eine unnütze Bemühung halte, da sich eine solche Gnade nicht ohne Beweggrund erbitten lasse und er nicht einsähe, welchen Beweggrund man anführen könnte, um die Fürsprache einer angesehenen und mächtigen Person zu erlangen; daß man etwas von dieser Seite nur dadurch erreichen könne, daß man Herrn von G... M... und meinem Vater andere Gesinnungen beibrachte und sie dazu bewegte, selbst den Polizeipräsidenten zu bitten, daß er das Urteil widerriefe. Er bot mir an, alle Anstrengungen zu machen, um den jungen G... M... zu gewinnen, obwohl er glaubte, daß er kälter gegen ihn geworden sei wegen des Verdachtes, den er gegen ihn hegte, an jenem Streich, der ihm gespielt worden war, Anteil gehabt zu haben, und er forderte mich auf, nichts zu unterlassen, um meinen Vater zu erweichen.

Das war aber keine leichte Unternehmung für mich; ich sage das nicht bloß wegen der Schwierigkeit, die es mir bereiten mußte, ihn zu besiegen, sondern aus einem andern Grunde, der mich eine Begegnung mit ihm fürchten ließ. Ich hatte mich nämlich gegen seine Befehle aus seiner Wohnung fortgeschlichen und hatte beschlossen, nicht mehr dorthin zurückzukehren, seitdem ich das traurige Schicksal Manons erfahren hatte. Ich fürchtete nicht ohne Grund, er würde mich wider meinen Willen festhalten und mich in die Provinz bringen, so wie es damals mein älterer Bruder getan hatte. Ich war allerdings seit jener Zeit älter geworden, aber das Alter ist ein schwacher Schutz gegen die Gewalt. Indessen, ich fand einen rettenden Ausweg aus der Gefahr; nämlich ihn an einen öffentlichen Ort rufen zu lassen und mich ihm unter fremdem Namen anzukündigen. Herr von T... begab sich zu G... M... und ich nach dem Luxembourg, von wo ich einen Boten an meinen Vater sandte mit der Nachricht, ein Bekannter erwarte ihn dort.

Ich fürchtete, daß er Bedenken tragen würde, zu kommen, weil die Nacht schon hereinbrach; er erschien nichtsdestoweniger bald nachher, von seinem Diener begleitet. Ich bat ihn, mir in eine Allee zu folgen, wo wir allein sprechen konnten. Wir machten hundert Schritte, ohne ein Wort zu sagen.

Er glaubte wohl, daß soviel Vorbereitungen auf etwas Wichtiges hindeuteten. Er wartete meine Anrede ab und ich überlegte sie.

Endlich begann ich zitternd. »Sie sind ein guter Vater,« sagte ich. »Sie haben mich mit Güte und Nachsicht überhäuft und mir eine Menge Vergehen verziehen. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich für Sie alle Gefühle des zärtlichsten und ehrerbietigsten Sohnes hege. Aber es scheint mir, daß Ihre Strenge ...«

»Nun, meine Strenge?« unterbrach mich mein Vater, für dessen Ungeduld ich zu langsam sprach.

»Ach! Es scheint mir, daß Sie in der Behandlung, die Sie der unglücklichen Manon zuteil werden lassen, die äußerste Strenge zeigen. Sie haben sich an Herrn von G... M... gewendet und sein Haß schilderte sie in den schwärzesten Farben. Sie ist jedoch das sanfteste und liebenswürdigste Wesen, welches je gelebt hat. Warum hat es nicht dem Himmel gefallen, Ihnen das Verlangen einzuflößen, sie einen Augenblick selbst zu sehen! Ich bin ebenso überzeugt, daß sie liebenswürdig ist, wie ich es bin, daß sie Ihnen so erschienen wäre. Sie hätten Partei für sie ergriffen, Sie hätten die schwarzen Anschläge G. M.s verabscheut, Sie hätten Erbarmen gehabt für sie und für mich. Ach! Ich bin davon überzeugt. Ihr Herz ist nicht unempfindlich, Sie hätten sich erweichen lassen!« Er unterbrach mich, indem er merkte, daß ich mit einer Leidenschaft sprach, die es mir nicht möglich gemacht hätte, sobald zu enden. Er wollte wissen, worauf ich mit einer so leidenschaftlichen Rede hinzielte.

»Sie um mein Leben bitten,« antwortete ich, »welches ich keinen Augenblick länger ertragen kann, wenn Manon nach Amerika eingeschifft ist.«

»Nein, nein,« entgegnete er in strengem Tone, »lieber will ich dich leblos als ehrlos sehen.«

»Gehen wir nicht weiter,« rief ich aus, indem ich ihn am Arme festhielt; »nehmen Sie es mir, dieses abscheuliche, unerträgliche Leben, denn in der Verzweiflung, in die Sie mich stürzen, ist der Tod mir ein willkommenes Geschenk aus der Hand meines Vaters.«

»Ich würde dir nur geben, was du verdienst,« erwiderte er. »Ich kenne sehr viele Väter, welche nicht so lange gewartet hätten, um selbst dein Henker zu sein; aber meine übermäßige Güte war dein Verderben.«

Ich fiel ihm zu Füßen.

»Ach! Wenn noch ein Funken Liebe in Ihnen ist,« sagte ich, seine Knie umklammernd, »verhärten Sie sich nicht gegen mein Flehen! Bedenken Sie, daß ich Ihr Sohn bin! Ach! Denken Sie an meine Mutter! Sie liebten sie so zärtlich. Würden Sie es gelitten haben, daß man sie aus Ihren Armen riß! Sie hätten sie bis zum letzten Atemzuge verteidigt. Und besitze ich nicht ein Herz wie Sie? Kann man ein Barbar sein, nachdem man selbst einmal empfunden hat, was Schmerz und Liebe sind?«

»Sprich mir nicht mehr von deiner Mutter,« erwiderte er in gereiztem Tone; »die Erinnerung erregt noch mehr meine Erbitterung. Dein liederlicher Lebenswandel würde ihr den Tod geben, wenn sie noch lebte. Beenden wir diese Unterredung,« fügte er hinzu, »sie belästigt mich und wird meinen Entschluß nicht ändern. Ich kehre in meine Wohnung zurück. Ich befehle dir, mir zu folgen.«

Der harte, rauhe Ton, in dem er mir diesen Befehl gab, zeigte mir zur Genüge, daß er unbeugsam war. Ich entfernte mich einige Schritte aus Furcht, er könnte die Absicht haben, mich mit eigner Hand festzuhalten.

»Vermehren Sie nicht meine Verzweiflung,« sagte ich, »indem Sie mich zwingen, Ihnen ungehorsam zu sein. Es ist unmöglich, daß ich Ihnen folge; ebenso unmöglich, als die Härte, mit welcher Sie mich behandeln, zu überleben. Ich sage Ihnen daher auf ewig Lebewohl. Mein Tod, von dem Sie bald hören werden,« fügte ich traurig hinzu, »wird vielleicht die väterlichen Gefühle in Ihnen wieder beleben.«

Als ich mich zum Gehen wandte, rief er mir mit heftigem Zorne nach: »Du weigerst dich also, mir zu folgen? Gut, so renne in dein Verderben, undankbarer, widerspenstiger Sohn.«

»Leben Sie wohl,« sagte ich in meiner Verzweiflung, »leben Sie wohl, barbarischer, unnatürlicher Vater!«

Ich verließ sogleich das Luxembourg und rannte wie rasend durch die Straßen zu Herrn v. T. Ich hob unterwegs Blicke und Hände empor, um alle himmlischen Mächte anzurufen. »O Himmel!« sagte ich, »wirst du ebenso unbarmherzig sein wie die Menschen? Ich habe keine Hilfe mehr zu hoffen als von dir.«

Herr v. T. war noch nicht in seine Wohnung zurückgekehrt, aber er kam, nachdem ich einige Augenblicke auf ihn gewartet hatte. Seine Bemühungen waren ebenso vergeblich gewesen wie die meinigen, da der junge G. M., obgleich er weniger als sein Vater gegen Manon und mich gereizt war, sich nicht bewegen ließ, für uns irgendwelche Schritte zu tun. Er gab vor, den Groll dieses rachsüchtigen Greises zu scheuen, welcher ihm ohnedies schon wegen seiner Absichten auf Manon die heftigsten Vorwürfe gemacht hatte.

So blieb mir kein Mittel, als der Weg der Gewalt wie mir Herr v. T. geraten hatte. Alle meine Hoffnungen richteten sich darauf. »Sie sind sehr unsicher,« sagte ich, »aber die sicherste und am meisten tröstende ist die, bei diesem Unternehmen den Tod zu finden.«

Ich verließ ihn, indem ich ihn bat, für das Gelingen meines Planes zu beten, und ich dachte nur noch daran, mir Kameraden zu verschaffen, welchen ich einen Funken meines Mutes und meiner Entschlossenheit einflößen könnte.

Mein erster Gedanke war, denselben Leibgardisten aufzusuchen, dessen ich mich bedient hatte, um den jungen G... M... festzunehmen. Ich gedachte auch in seinem Zimmer die Nacht zuzubringen, da mir der Kopf zu voll war, als daß ich mir hätte ein Logis verschaffen können. Ich fand ihn allein; er war erfreut, mich dem Châtelet entkommen zu sehen. Er bot mir bereitwillig seine Dienste an, und ich bezeichnete ihm diejenigen, welche er mir leisten sollte. Er hatte Verstand genug, um alle Schwierigkeiten des Unternehmens einzusehen, versprach aber dennoch, alles daran zu setzen, mein Ziel zu erreichen. Wir brachten einen Teil der Nacht damit hin, unsern Plan zu beraten. Er sprach von drei Soldaten, deren er sich bei der letzten Gelegenheit bedient, und die er als tapfer erprobt hätte. Herr v. T. hatte mich genau über die Anzahl der Häscher unterrichtet, die Manon führen sollten; es waren ihrer nur sechs. Fünf kühne und entschlossene Männer reichten hin, jene elenden Söldner in Furcht zu jagen, die nicht fähig waren, sich ehrenhaft zu verteidigen, wenn sie sich der Gefahr des Kampfes durch die Flucht entziehen konnten.

Da es mir nicht an Geld fehlte, so riet mir der Gardist, nichts zu sparen, um den Erfolg unseres Angriffs zu sichern.

»Wir brauchen jeder ein Pferd, Pistolen und Flinten,« sagte er zu mir. »Ich übernehme es, morgen diese Vorbereitungen zu treffen. Auch müssen wir unsern Soldaten Zivilkleidung geben, da sie in Uniform sich nicht in ein derartiges Abenteuer einlassen können.«

Ich gab ihm die hundert Pistolen, welche ich von Herrn v. T. erhalten hatte. Sie waren am nächsten Tage bis auf den letzten Sou ausgegeben. Die drei Soldaten stellten sich mir vor, ich ermutigte sie durch große Versprechungen, und um ihnen jedes Mißtrauen zu nehmen, gab ich jedem für den Anfang zehn Pistolen. Als der Tag der Ausführung des Planes gekommen war, schickte ich einen meiner Leute am frühen Morgen ins »Hospital«, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, wann der Zug sich in Bewegung setzen würde. Obgleich ich diese Vorsicht nur aus einem Übermaße von Unruhe und Besorgnis geübt hatte, ergab sich doch, daß sie durchaus notwendig war.

Ich hatte mich darauf verlassen, daß man mir richtige Angaben über den Weg machen würde, den der Zug einschlagen sollte und, indem ich überzeugt war, daß diese unglückliche Schar in La Rochelle eingeschifft werden sollte, hätte ich beinahe Zeit und Mühe verloren, indem ich sie auf dem Wege nach Orleans erwartete. Indessen wurde ich durch den Bericht des Gardesoldaten in Kenntnis gesetzt, daß der Zug den Weg nach der Normandie einschlüge, und daß er von Havre de Grâce aus die Reise nach Amerika antreten solle.

Wir begaben uns sogleich zur Porte Saint-Honoré, indem wir durch verschiedene Straßen zogen, und vereinigten uns am Ende der Vorstadt. Unsere Pferde waren frisch und wir entdeckten bald die sechs Häscher und zwei elende Karren, die Sie vor zwei Jahren in Passy sahen. Dieser Anblick hätte mir bald die Kraft und das Bewußtsein geraubt. »O Schicksal!« rief ich aus, »grausames Schicksal! Gib mir hier wenigstens den Tod oder den Sieg!«

Wir hielten einen Augenblick Rat, auf welche Weise wir den Angriff beginnen könnten. Die Häscher waren uns nur vierhundert Schritte voraus und, wenn wir über ein kleines Feld ritten, um welches die Landstraße bog, konnten wir sie abschneiden. Der Leibgardist war der Ansicht, diesen Weg einzuschlagen, um sie durch einen plötzlichen Überfall zu überrumpeln. Ich stimmte ihm zu und war der erste, mein Pferd anzuspornen, aber das Schicksal hatte unerbittlich gegen meine Wünsche entschieden.

Als die Häscher fünf Reiter auf sich zusprengen sahen, zweifelten sie nicht, daß dies einen Angriff bedeute. Sie bereiteten ihre Bajonette und Flinten mit entschlossener Miene zur Verteidigung vor.

Dieser Anblick, der für mich und den Leibgardisten nur ein neuer Sporn war, nahm unsern drei feigen Gefährten plötzlich den Mut. Sie blieben wie auf Vereinbarung stehen, und, indem sie unter sich einige Worte wechselten, die ich nicht verstand, wandten sie die Köpfe ihrer Pferde, um mit verhängtem Zügel nach Paris zurückzusprengen.

»Mein Gott!« sagte der Leibgardist zu mir, der ebenso wie ich über diese schmähliche Flucht bestürzt schien »was beginnen wir nun? Wir sind nur zwei gegen sechs!«

Zorn und Entsetzen raubten mir die Sprache und ich schwankte einen Augenblick, ob meine erste Rache nicht der Verfolgung und Züchtigung der elenden Ausreißer sich zuwenden sollte. Ich sah sie fliehen und richtete dann die Blicke nach der andern Seite auf die Häscher.

Wenn es mir möglich gewesen wäre, wäre ich zugleich auf beide Gegenstände meiner Wut losgestürzt, ich hätte sie alle beide vernichtet.

Der Leibgardist, der meine Unentschlossenheit an der wechselnden Richtung meiner Blicke erkannte, bat mich, seinen Rat zu hören.

»Da wir nur zwei sind,« sagte er zu mir, »wäre es Tollheit, sechs wohlbewaffnete Männer anzugreifen, die uns festen Fußes zu erwarten scheinen. Wir müssen nach Paris zurückeilen und suchen, bessere Hilfe aufzutreiben. Die Häscher können mit den zwei schweren Wagen unmöglich große Tagereisen machen; wir werden sie morgen ohne Mühe einholen.«

Ich sann eine Weile über diesen Vorschlag nach, aber da ich von allen Seiten nur Unglück sah, faßte ich einen wahrhaft verzweifelten Entschluß; nämlich meinem Gefährten für seine Dienste zu danken und, anstatt die Häscher anzugreifen, mit der Bitte an sie heranzutreten, mich in ihre Schar aufzunehmen, um Manon bis Havre de Grâce zu begleiten und mich dann mit ihr nach Amerika einzuschiffen.

»Alle Welt verfolgt oder verrät mich,« sagte ich zu dem Leibgardisten; »keinem kann ich trauen; ich erwarte nichts mehr sowohl vom Schicksal als von der Hilfe der Menschen. Mein Unglück hat das höchste Maß erreicht; es bleibt mir nichts mehr übrig, als mich darein zu ergeben. So schließe ich vor jeder Hoffnung die Augen. Möge der Himmel Ihre Großmut lohnen! Leben Sie wohl! Ich will meinem bösen Geschick helfen, meinen Ruin zu vollenden, indem ich ihm selbst in die Arme eile.«

Er versuchte es vergebens, mich zur Rückkehr nach Paris zu veranlassen. Ich bat ihn, mich meinem Entschlusse nicht abwendig zu machen und mich sogleich zu verlassen, aus Furcht, daß die Häscher glauben könnten, wir hätten noch immer die Absicht, sie anzugreifen.

Ich ritt allein zu ihnen so langsam und mit so trübseliger Miene, daß meine Annäherung nichts Erschreckendes für sie haben konnte; nichtsdestoweniger blieben sie im Verteidigungszustand.

»Seien Sie unbesorgt, meine Herren,« redete ich sie an; »ich komme nicht in feindseliger Absicht, sondern mit einer Bitte.«

Ich bat sie, ihren Weg ohne Mißtrauen fortzusetzen, und teilte ihnen mit, während wir weitergingen, welche Gunst ich von ihnen erwartete.

Sie beratschlagten zusammen, wie sie meinen Antrag aufnehmen sollten, und dann nahm ihr Anführer das Wort. Er antwortete mir, sie hätten sehr strenge Befehle zur Überwachung ihrer Gefangenen erhalten. Doch schiene ich ein so liebenswürdiger Mann, daß er und seine Gefährten ein Auge zudrücken wollten, aber ich würde wohl begreifen, daß ich es mir etwas kosten lassen müßte. Es blieben mir noch ungefähr fünfzehn Pistolen, und ich sagte ihnen aufrichtig, worin mein Vermögen bestehe.

»Wohlan,« sagte der Häscher, »wir wollen anständig an Ihnen handeln. Es wird Ihnen nur einen Taler die Stunde kosten, um sich mit demjenigen Mädchen zu unterhalten, das Ihnen am besten gefallen wird.«

Ich hatte mit ihnen nicht von Manon im besonderen gesprochen, weil ich sie nicht mit meiner Leidenschaft bekannt machen wollte.

Sie glaubten daher anfangs, es handle sich um die Laune eines jungen Menschen, welcher einen Zeitvertreib suche, als sie aber erkannten, daß ich verliebt war, steigerten sie ihre Forderungen dermaßen, daß meine Börse erschöpft war, als wir von Nantes aufbrachen, wo wir halt gemacht hatten, bevor wir nach Passy kamen.

Soll ich Ihnen sagen, welches der Gegenstand meiner traurigen Gespräche mit Manon während der Reise war, oder welchen Eindruck ihr Anblick auf mich machte, als ich von den Häschern die Erlaubnis erlangt hatte, mich ihrem Karren zu nahen? Ach! Die Sprache ist zu arm, um solche Empfindungen wiederzugeben! Stellen Sie sich meine arme Geliebte vor, um die Taille gefesselt, auf einem Bündel Stroh sitzend, den Kopf an den Wagen gelehnt, das bleiche Gesicht von Tränen benetzt, welche den Weg durch ihre Lider fanden, obwohl sie die Augen fortwährend festgeschlossen hielt. Sie war nicht einmal so neugierig, sie zu öffnen, als sie die Bewegung der Häscher gehört hatte, welche angegriffen zu werden fürchteten. Ihre Kleidung war schmutzig und unordentlich; ihre zarten Hände den Unbilden der Witterung ausgesetzt, kurz, dieses liebreizende Wesen, diese zur Vergötterung geschaffene Gestalt war in einem bedauernswerten Zustande und einer unaussprechlichen Niedergeschlagenheit!

Ich betrachtete sie einige Zeit, indem ich neben dem Wagen ritt. Ich war so geistesabwesend, daß ich mehrmals nahe daran war, einen gefährlichen Sturz zu erleiden. Meine Seufzer, meine klagenden Ausrufe lenkten ihre Blicke auf mich. Sie erkannte mich, und ich bemerkte, daß sie in der ersten Regung versuchte, sich aus dem Wagen zu stürzen, um zu mir zu kommen; aber durch die Kette zurückgehalten, sank sie in ihre frühere Stellung zurück.

Ich bat die Häscher, einen Augenblick aus Mitleid anzuhalten; sie willigten aus Habsucht ein. Ich stieg vom Pferde, um mich neben sie zu setzen. Sie war so matt und erschöpft, daß es einer Weile bedurfte, ehe sie sprechen und die Hände bewegen konnte, welche ich inzwischen mit meinen heißen Tränen benetzte. Da ich selbst kein einziges Wort hervorbringen konnte, so befanden wir uns beide in einer der denkbar traurigsten Lagen. Als wir endlich die Sprache wiederfanden, waren unsere Worte nicht weniger kummervoll. Manon sprach wenig; es war, als wenn Scham und Schmerz ihre Stimme gebrochen hätten; der Ton war schwach und zitternd.

Sie dankte mir, daß ich sie nicht vergessen habe und ihr die Freude bereite, mich wenigstens noch einmal zu sehen und mir das letzte Lebewohl zu sagen. Als ich ihr aber versicherte, nichts auf Erden sei imstande, mich von ihr zu trennen, und ich sei entschlossen, ihr bis ans Ende der Welt zu folgen, um sie zu pflegen, ihr zu dienen, um sie zu lieben und mein elendes Schicksal unlösbar an das ihrige zu knüpfen, überließ sich dieses arme Mädchen so zärtlichen und so schmerzlichen Empfindungen, daß ich von dieser heftigen Aufregung für ihr Leben fürchtete. Alle Empfindungen ihrer Seele schienen in ihren Augen, die sie fest auf mich gerichtet hielt, zum Ausdruck zu kommen.

Bisweilen öffnete sie die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen. Endlich stieß sie einzelne Worte aus. Es waren Ausdrücke der Bewunderung für meine Liebe, zarte Klagen über ihr Leiden, Zweifel darüber, daß sie mir eine so tiefe Leidenschaft eingeflößt haben könne, dringende Bitten, meinen Plan, ihr zu folgen, aufzugeben und anderswo ein meiner würdiges Glück zu suchen, das ich bei ihr nicht hoffen könne.

Trotz des grausamen Schicksals fand ich doch meine Glückseligkeit in ihren Blicken und in der Gewißheit, ihre Liebe zu besitzen. Ich hatte in Wahrheit alles verloren, was die Menschen sonst schätzen, aber Manons Herz gehörte mir, das einzige Gut, das ich schätzte. Ob ich in Europa oder in Amerika oder an irgendeinem andern Orte der Welt lebte, was kümmerte es mich, wenn ich das Glück genoß, mit meiner Geliebten dort zu leben? Ist nicht die ganze Welt das Vaterland eines treuen Liebespaares? Finden zwei Liebende nicht Vater, Mutter, Verwandte, Freunde, Reichtümer und Glückseligkeit ineinander?

Wenn irgend etwas mich beunruhigte, so war es nur die Angst, daß Manon Entbehrungen ausgesetzt sein würde. Ich sah mich schon mit ihr in einer wüsten, von Wilden bewohnten Gegend. »Ich bin überzeugt,« sagte ich, »daß diese Wilden nicht so grausam sein werden wie G... M... und mein Vater. Sie werden uns wenigstens in Frieden leben lassen. Wenn die Berichte, welche man von ihnen gibt, wahr sind, so folgen sie den Naturgesetzen; sie kennen weder die Leidenschaft des Geizes, die Herrn G ... M... beherrschte, noch die phantastischen Ideen des Ehrgefühls, welches meinen Vater zu meinem Feinde machte; sie werden zwei Liebenden, welche ihre einfache Lebensweise annehmen, nichts in den Weg legen.«

In diesem Punkte war ich also ruhig. Aber ich hatte keine romantischen Ideen über die gewöhnlichen Lebensbedürfnisse; hatte ich doch oft genug erfahren, was für unentbehrliche Lebensbedürfnisse es besonders für ein zartes Mädchen gibt, welches an ein bequemes, verschwenderisches Leben gewöhnt ist. Ich war in Verzweiflung, meine Börse nutzlos erschöpft zu haben und das wenige Geld, welches mir noch blieb, durch die schurkische Habgier der Häscher mir entrissen zu sehen. Ich begriff, daß ich mit einer kleinen Summe mich in Amerika, wo das Geld selten war, nicht nur eine Zeitlang über Wasser halten, sondern dort etwas unternehmen könnte, um mir eine dauernde Erwerbsquelle zu sichern.

Diese Betrachtung erweckte den Gedanken in mir, an Tiberge zu schreiben, den ich immer so bereitwillig gefunden hatte, mir zu helfen. Ich schrieb ihm von der nächsten Stadt, durch welche wir kamen. Ich führte keinen andern Beweggrund an, als wie nötig ich einer Summe Geldes in Havre bedürfe, wohin Manon begleitet zu haben ich eingestand. Ich bat ihn um hundert Pistolen.

»Weise mir das Geld in Havre bei dem Postmeister an,« schrieb ich ihm. »Du siehst wohl, daß es das letzte Mal ist, daß ich Deine Zuneigung in Anspruch nehme, und da meine unglückliche Geliebte mir für immer entrissen wird, kann ich sie nicht abreisen lassen, ohne ihr einige Erleichterungen zu verschaffen, die ihr grausames Geschick und meine schreckliche Besorgnis etwas zu mildern vermögen.«

Die Häscher wurden so unzugänglich, als sie die Heftigkeit meiner Leidenschaft erkannt hatten, daß sie fortwährend den Preis ihres geringsten Zugeständnisses verdoppelten und mich bald zu dem äußersten Mangel gebracht hatten. Die Liebe ließ mich überdies keine Rücksicht auf meine Börse nehmen. Ich verweilte vom Morgen bis zum Abend bei Manon, und man berechnete mir die Zeit nicht mehr nach Stunden, sondern nach ganzen Tagen. Als endlich meine Börse ganz leer war, sah ich mich den Launen und den Roheiten dieser sechs Elenden ausgesetzt, welche mich mit unerträglichem Hochmut behandelten. Sie konnten sich in Passy davon überzeugen. Die Begegnung mit Ihnen war ein kurzer Lichtblick, den der Himmel mir schenkte. Ihr Mitleid bei dem Anblick meiner Leiden war meine einzige Empfehlung bei Ihrem edlen Herzen. Die Hilfe, welche Sie mir so freigebig gewährten, brachte mich bis Havre und die Häscher hielten ihr Versprechen redlicher, als ich erwartet hatte.

Wir kamen in Havre an. Ich ging zuerst nach der Post. Tiberge hatte noch nicht Zeit gehabt, mir zu antworten. Ich erkundigte mich genau, wann ich einen Brief aus Paris erwarten könnte. Er konnte erst in zwei Tagen ankommen, und durch eine sonderbare Verkettung meines Schicksals fand es sich, daß unser Schiff am Morgen desjenigen Tages absegeln sollte, in dessen Verlauf ich die Antwort erwartete. Ich kann Ihnen meine Verzweiflung nicht beschreiben.

»Wie!« rief ich aus, »muß mein Unglück sich stets bis aufs äußerste steigern?«

Manon erwiderte: »Ach! Ist unser elendes Leben auch so großer Sorge wert? Laß uns in Havre sterben, teurer Freund; der Tod soll mit einem Schlage unsere Leiden beenden! Sollen wir unser Elend in fremde Länder schleppen, wo uns jedenfalls entsetzliche Qualen bevorstehen, da man mich zur Buße hinschickt? Sterben wir,« wiederholte sie, »oder gib wenigstens mir den Tod und suche ein besseres Los in den Armen einer glücklicheren Geliebten!«

»Nein, nein,« sagte ich, »an deiner Seite unglücklich zu sein, ist für mich das beneidenswerteste Schicksal.«

Aber ihre Rede ließ mich zittern, da sie verriet, daß sie sich von ihren Leiden niedergedrückt fühlte. Ich zwang mich, eine ruhigere Miene anzunehmen, um sie von diesen Todesgedanken abzubringen, aus ihrer Verzweiflung aufzurütteln.

Ich beschloß, das gleiche Benehmen auch für die Zukunft zu bewahren, und habe in der Folge erprobt, daß nichts so sehr dazu dient, den Mut des Weibes anzufeuern, als die Unerschrockenheit des Mannes, den sie liebt.

Als ich die Hoffnung verloren hatte, von Tiberge Hilfe zu erhalten, verkaufte ich mein Pferd.

Das Geld, welches ich dafür löste, sowie der Rest desjenigen, das ich Ihrer Freigebigkeit verdankte, betrug die kleine Summe von siebzehn Pistolen. Ich verwendete sieben davon zum Ankauf von einigen, Manon nötigen Gegenständen; die andern zehn bewahrte ich sorgsam auf, als Grundlage unserer Hoffnungen und unseres Glückes in Amerika.

Es kostete mir keine Mühe, auf dem Schiffe Aufnahme zu finden, da man damals junge Leute suchte, welche geneigt waren, sich freiwillig der Kolonie anzuschließen. Überfahrt und Kost wurden mir unentgeltlich gewährt. Da am nächsten Tage die Briefpost nach Paris abging, ließ ich einen Brief für Tiberge zurück. Er war offenbar ungemein rührend und ergreifend, da er ihn zu einem Entschluß brachte, welchen nur höchste Freundschaft und reinster Edelmut einem Menschen eingeben kann.

Wir gingen in See. Der Wind blieb uns günstig. Ich erhielt von dem Kapitän einen abgesonderten Raum für Manon und mich. Er war so gütig, uns mit andern Augen zu betrachten als unsere andern elenden Gefährten. Ich hatte ihn schon am ersten Tage beiseite genommen und ihm einen Teil meiner Leiden erzählt, um seine Beachtung auf mich zu ziehen. Ich glaubte mich keiner schmählichen Lüge schuldig zu machen, als ich ihm mitteilte, ich sei mit Manon verheiratet. Er stellte sich, als glaubte er es, und sicherte mir seinen Schutz zu, den er uns auch auf der Reise redlich angedeihen ließ, indem er dafür sorgte, daß wir anständige Kost erhielten; durch die uns erwiesene Rücksicht verschaffte er uns auch die Achtung unserer Leidensgefährten. Ich wachte unaufhörlich darüber, daß Manon jede Unbequemlichkeit erspart wurde. Sie bemerkte es wohl, und dieser Umstand, sowie ihre warme Erkenntlichkeit für den außerordentlichen Schritt, den ich um ihretwillen tat, machten ihre Liebe so zärtlich und leidenschaftlich, daß wir gegenseitig in Liebesdiensten wetteiferten. Ich grämte mich nicht im geringsten um Europa; im Gegenteil, je mehr wir uns Amerika näherten, um so ruhiger und weiter wurde mir ums Herz. Wäre ich sicher gewesen, dort nicht an dem Notwendigsten Mangel zu leiden, so hätte ich Gott gedankt, daß er unserm Schicksal eine so glückliche Wendung gegeben. Nach zweimonatiger Seefahrt landeten wir endlich am ersehnten Gestade. Beim ersten Anblick bot das Land nichts Angenehmes. Unfruchtbare, unbewohnte Landstrecken und hier und da einige vom Sturme beschädigte Bäume und Sträucher. Von Menschen und Tieren keine Spur. Als jedoch der Kapitän einige Geschütze hatte abfeuern lassen, bemerkten wir bald eine Schar Einwohner von Neu-Orleans, welche sich mit lebhaften Zeichen der Freude näherten. Wir hatten die Stadt nicht sehen können, weil sie hinter einem Hügel versteckt lag. Wir wurden aufgenommen, als wären wir vom Himmel gekommen.

Diese armen Leute überschütteten uns mit Fragen über den Zustand Frankreichs und über die verschiedenen Provinzen, wo ihre Heimat war. Sie umarmten uns, als wären wir ihre Geschwister oder teure Kameraden, die gekommen wären, ihr Elend und ihre Einsamkeit zu teilen.

Wir gingen mit ihnen nach der Stadt; wir waren aber erstaunt, zu sehen, daß, was man uns als eine hübsche Stadt geschildert hatte, nur ein Haufen armseliger Hütten war. Sie war von fünf- oder sechshundert Personen bewohnt. Das Haus des Gouverneurs zeichnete sich durch seine Höhe und bessere Lage aus; es war durch einige Erdwälle geschützt und von einem breiten Graben umgeben.

Wir wurden ihm zuerst vorgestellt. Er unterhielt sich lange Zeit im geheimen mit dem Kapitän und, sodann zu uns zurückkommend, betrachtete er der Reihe nach die mit dem Schiffe angekommenen Mädchen. Es waren dreißig an der Zahl, da sich in Havre noch ein anderer Zug mit dem unsrigen vereinigt hatte. Nachdem der Gouverneur die Mädchen lange geprüft hatte, ließ er einige junge Leute aus der Stadt rufen, die eine Gattin wünschten. Er gab die hübschesten Mädchen den angesehensten Leuten zu Frauen; die andern wurden verlost. Mit Manon hatte er noch nicht gesprochen, aber als er den andern befohlen hatte, sich zu entfernen, hieß er sie und mich bleiben.

»Ich habe vom Kapitän erfahren, daß ihr verheiratet seid,« sagte er, »und daß er euch als Personen von Bildung und Geist kennen lernte. Ich spreche nicht von den Ursachen, die schuld an eurem Unglück sind, aber wenn ihr soviel Achtbarkeit besitzet, wie ich in euren Mienen lese, so werde ich alles aufbieten, um euer Los zu erleichtern, und ihr könnt sogar dazu beitragen, mir den Aufenthalt in diesem öden, wüsten Lande angenehm zu machen.«

Ich antwortete ihm in einer Weise, die ihn in seiner guten Meinung von uns bestärken sollte. Er gab Befehl, uns eine Wohnung in der Stadt zu besorgen, und behielt uns zum Souper.

Für das Oberhaupt einer Bande armer Verbannter fand ich ihn sehr liebenswürdig. Vor Zeugen stellte er keine Fragen über unser Abenteuer; das Gespräch war ein allgemeines, und trotz unserer Traurigkeit bemühten wir uns, sowohl Manon als ich, es möglichst angenehm zu machen. Am Abend ließ er uns nach der Wohnung führen, die er uns angewiesen hatte.

Wir fanden eine elende, aus Brettern und Lehm erbaute Hütte, welche aus drei ebenerdig gelegenen Zimmern und einem Boden über diesen bestand. Der Gouverneur hatte fünf oder sechs Stühle und einige andere unentbehrliche Möbel dorthin bringen lassen.

Manon schien über diese erbärmliche Wohnung zu erschrecken, aber mehr meinetwegen, als um ihrer selbst willen. Als wir allein waren, begann sie bitterlich zu weinen. Anfangs bemühte ich mich, sie zu trösten; als ich aber verstand, daß sie sich um mich Sorge mache, und in unserem gemeinschaftlichen Elend nur das bejammerte, was mich betraf, nahm ich eine heitre, zufriedene Miene an, um sie zu beruhigen.

»Worüber sollte ich klagen?« sagte ich. »Ich besitze alles, was ich verlange. Du liebst mich, nicht wahr? Habe ich je nach einem andern Glücke gestrebt? Lassen wir dem Himmel die Sorge für unser Los. Ich finde es nicht so trostlos. Der Gouverneur ist ein rechtschaffener Mann; er hat uns Achtung bewiesen; er wird es uns nicht am Nötigen fehlen lassen. Was die Ärmlichkeit unserer Hütte und die Einfachheit unserer Möbel betrifft, so hast du schon bemerkt, daß es hier wenig Menschen gibt, die Besseres besitzen. Übrigens bist du eine Zauberin,« fügte ich, sie umarmend, hinzu, »was du berührst, verwandelt sich in Gold.«

»So wirst du der reichste Mann der Welt sein,« antwortete sie, »denn so wie es nie eine so reine Liebe gab, die der deinigen gleich kommt, so kann auch niemand je so zärtlich geliebt worden sein wie du. Ich kenne mich selbst, ich fühle zu gut, daß ich deine leidenschaftliche Neigung nie verdient habe. Nur deine übergroße Güte konnte mir den Kummer verzeihen, den ich dir wiederholt bereitete. Ich war leichtsinnig, flatterhaft und undankbar, obwohl ich nicht aufhörte, dich hingebend zu lieben. Aber du kannst nicht glauben, wie ich mich verändert habe. Die Tränen, welche du mich seit unserer Abreise von Frankreich so oft vergießen sahest, sie flossen nicht ein einziges Mal meinem Unglück; dieses fühlte ich mehr, sobald du gekommen warst, es mit mir zu teilen. Ich weinte nur aus Zärtlichkeit und Mitgefühl für dich. Ich kann mich nicht darüber trösten, daß ich dir einen Augenblick in meinem Leben Kummer bereiten konnte. Ich kann nicht ablassen, mir meine Unbeständigkeit vorzuwerfen und vor Reue zu vergehen, wenn ich bedenke, wessen deine Liebe für mich Unselige fähig war, die ihrer unwürdig ist und deren Herzblut ein zu kleines Opfer ist, um dir zu lohnen, was du für sie getan!« Ihre Tränen, ihre Worte, der Ton, in dem sie sprach, erschütterten mich tief.

»Hör' auf, teure Manon,« sagte ich, »ich habe nicht die Kraft, so lebhafte Äußerungen deiner Liebe zu ertragen, ich bin ein solches Übermaß der Freude nicht gewöhnt. O Gott,« rief ich aus, »ich habe keinen Wunsch mehr; ich bin der Liebe meiner Manon sicher, und ihr Herz ist so, wie ich es mir wünschte, um mich glücklich zu fühlen; nun ist meine Seligkeit begründet.«

»Sie ist es,« sagte Manon, »wenn du sie bei mir suchst, und ich, ich weiß, wo ich die meinige sicher finden kann!«

Als ich zu Bett ging, war ich von den Gedanken erfüllt, welche meine Hütte in einen Kaiserpalast verwandelten. Jetzt war Amerika mir ein gesegnetes Land.

»Wer wahre Glückseligkeit genießen will,« sagte ich zu Manon, »muß nach Neu-Orleans kommen. Hier liebt man sich ohne Eigennutz, ohne Eifersucht, ohne Unbeständigkeit. Unsere Landsleute reisen hierher, um Gold zu suchen, aber wir, wir haben kostbarere Schätze gefunden.«

Wir bewarben uns eifrig um die Freundschaft des Gouverneurs. Er hatte die Güte, mir einige Wochen nach unserer Ankunft ein kleines Amt zu verleihen, welches ich, obwohl es kein ansehnliches war, als eine Gnade des Himmels ansah, denn es setzte mich in den Stand zu leben, ohne jemandem zur Last zu fallen. Ich nahm einen Diener für mich und eine Magd für Manon. Unsere Verhältnisse waren geregelt, ich schränkte mich ein, Manon tat es nicht minder.

Wir ließen uns keine Gelegenheit entgehen, unsern Nachbaren gefällig und dienlich zu sein. Diese Neigung und unser sanftes Wesen erwarben uns das Vertrauen und die Liebe der ganzen Kolonie. Wir waren in kurzer Zeit so geachtet, daß wir uns nach dem Gouverneur für die ersten Persönlichkeiten der Stadt halten durften.

Die Ruhe und Unschuld unseres Lebens brachten uns unmerklich zu religiösen Anschauungen zurück. Manon war nie gottlos gewesen – auch ich gehörte nicht zur Klasse jener Lasterhaften, die stolz darauf sind, zu ihren andern Sünden auch noch die Verhöhnung der Religion hinzuzufügen. Nur Liebe und Jugend hatten unsere Ausschweifungen veranlaßt. Die Erfahrung ersetzte uns, was uns an Alter fehlte; sie übte dieselbe Wirkung auf uns, wie die zunehmenden Jahre. Unsere ernsten Gespräche lenkten unsern Geschmack auf den Weg der tugendhaften Liebe. Ich war es, welcher Manon zuerst diese Ideen beibrachte. Ich kannte den Grundzug ihres Gemütes, sie war in allen ihren Empfindungen offen und natürlich, eine Eigenschaft, die immer für die Tugend empfänglich macht. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß unserem Glücke etwas fehle.

»Es ist der Segen des Himmels,« sagte ich. »Wir beide besitzen ein zu edles Herz und zu feine Empfindungen, um gern unsere Pflichten zu vergessen. In Frankreich mochte es hingehen, denn dort war es uns ebenso unmöglich, uns nicht mehr zu lieben, als auf legitime Art vereinigt zu werden; aber in Amerika, wo wir nur von uns selbst abhängen, wo wir die willkürlichen Gesetze des Ranges und Standes nicht zu berücksichtigen brauchen, wo man uns sogar verheiratet glaubt, wer hindert uns hier, es wirklich zu sein und unsere Liebe durch ein von der Kirche geweihtes Band zu veredeln? Ich biete dir mit Herz und Hand nichts Neues,« fügte ich hinzu, »bin aber bereit, den Bund am Altare zu erneuern.«

Dieser Vorschlag schien ihr Freude zu verursachen. »Glaubst du, daß ich selbst schon tausendmal daran dachte, seitdem wir in Amerika sind?« erwiderte sie. Aber die Furcht, dich zu erzürnen, ließ mich schweigen. Ich wage es nicht, auf den Titel deiner Gattin Anspruch zu machen.«

»O Manon,« rief ich aus, »wäre ich auf einem Thron geboren, du solltest bald die Gattin eines Königs sein. Wir wollen nicht länger zaudern, da wir kein Hindernis zu fürchten haben. Ich will noch heute mit dem Gouverneur sprechen und ihm gestehen, daß wir ihn getäuscht haben. Überlassen wir es gemeinen Seelen,« fügte ich hinzu, »die unauflöslichen Ketten der Ehe zu fürchten. Sie würden es nicht tun, wenn sie überzeugt wären wie wir, ewig die Ketten der Liebe zu tragen.«

Dieser Entschluß versetzte Manon in die höchste Freude.

Ich bin überzeugt, jeder Mann von Ehre muß meine Absicht billigen, wenn er meine Lage in Erwägung zieht. Ich war der Sklave einer Leidenschaft, welche zu beherrschen mir unmöglich war, und doch von Gewissensbissen gepeinigt, die ich nicht unterdrücken durfte. Können meine Klagen aber für ungerecht erklärt werden, wenn ich über die Härte des Himmels seufze, die einen Plan scheitern ließ, der nur gefaßt worden war, um ihm zu gefallen?

Ach, und er hatte diesen Plan nicht nur scheitern, sondern bestrafen lassen, wie ein Verbrecher! Solange ich mit Verblendung geschlagen auf dem Pfade des Lasters wandelte, fand ich Barmherzigkeit, und erst als ich zur Tugend zurückkehrte, traf mich sein ärgstes Strafgericht! Ich fürchte, daß mir die Kraft versagt, die Erzählung des unheilvollsten Ereignisses meines Lebens zu Ende zu führen.

Ich ging zum Gouverneur, wie ich es mit Manon vereinbart hatte, um seine Einwilligung zu unserer Verheiratung zu erbitten. Ich hätte mich wohl gehütet, mit ihm oder sonst jemand von dieser Heirat zu sprechen, wenn ich gewußt hätte, daß sein Almosenier, der damals der einzige Priester der Stadt war, mich ohne des Gouverneurs Vermittlung mit Manon getraut hätte! Da ich aber nicht hoffte, ihn zur Geheimhaltung dieses Vorganges bewegen zu können, zog ich es vor, ganz offen zu handeln. Der Gouverneur besaß einen Neffen Namens Synnelet, den er zärtlich liebte. Er war ein tapferer, aber heftiger, jähzorniger Mensch und noch unverheiratet. Manons Schönheit hatte schon am ersten Tage unserer Ankunft einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die häufige Gelegenheit, sie zu sehen, die sich ihm in den verflossenen neun oder zehn Monaten geboten hatte, hatte seine Leidenschaft so entflammt, daß er sich im geheimen vor Liebeskummer verzehrte. Da er aber wie sein Onkel und die ganze Stadt der Meinung war, wir seien verheiratet, so bemühte er sich, seine Liebe in Schranken zu halten und uns davon nichts merken zu lassen, und er hatte mir mehrmals seinen Eifer durch geleistete Dienste bewiesen.

Ich fand ihn bei seinem Oheim, als ich im Fort anlangte. Ich hatte keinen Grund, meine Absicht vor ihm zu verheimlichen, so daß ich mich in seiner Anwesenheit freimütig aussprach. Der Gouverneur hörte mich mit seiner gewohnten Güte an. Ich erzählte ihm einen Teil meiner Lebensgeschichte, welche er teilnehmend anhörte, und als ich ihn bat, der Zeremonie beizuwohnen, erbot er sich großmütig, die Kosten der Feierlichkeit zu bestreiten. Ich entfernte mich völlig befriedigt.

Eine Stunde später sah ich den Almosenier bei mir eintreten. Ich glaubte, er käme, um mir wegen der Zeremonie einige Erklärungen zu geben, aber nachdem er mich steif begrüßt hatte, erklärte er mir in kurzen Worten, daß der Gouverneur mir verbiete, an diese Ehe zu denken, und daß er andere Absichten mit Manon habe.

»Andere Absichten mit Manon!« rief ich aus und ein tödlicher Schreck erfaßte mich. »Und welche Absichten denn, Herr Almosenier?«

Er antwortete mir, ob ich nicht wüßte, daß der Gouverneur hier der Gebieter wäre und daß er über Manon, welche von Frankreich nach der Kolonie geschickt sei, frei verfügen könne; er habe es bisher nicht getan, weil er sie für verheiratet gehalten habe; seit er aber von mir selbst erfahren habe, daß dem nicht so sei, halte er es für angemessen, sie Herrn Synnelet zu geben, der sie liebe.

Meine Heißblütigkeit ließ mich alle Klugheit vergessen. Ich gebot dem Almosenier stolz, mein Haus zu verlassen, und schwur, daß der Gouverneur, Synnelet und die ganze Stadt nicht wagen sollten, meine Frau oder meine Geliebte, wenn sie sie so nennen wollten, anzutasten.

Ich machte Manon sofort Mitteilung von dieser eben empfangenen, unheilvollen Botschaft.

Wir glaubten, daß Synnelet nach meiner Entfernung seinen Oheim dazu überredet hätte und daß das die Wirkung eines lange überlegten Planes wäre. Sie waren die Starken – wir die Schwachen. Wir waren in Neu-Orleans wie mitten auf dem Meere, das heißt von der übrigen Welt durch ungeheure Räume getrennt. Wohin fliehen in einem unbekannten, teils verödeten, teils von wilden Tieren und ebenso wilden Menschen bewohnten Lande?

Wenn ich auch in der Stadt beliebt war, so konnte ich doch nicht hoffen, eine genügende Menge von Leuten zu meinen Gunsten in Bewegung zu setzen, um eine entsprechende Hilfe zu erlangen. Es hätte dazu vielen Geldes bedurft, und ich war arm. Überdies war der Erfolg eines Volksaufstandes unsicher, und wenn das Geschick uns im Stiche ließ, so wäre unser Unglück unheilbar gewesen.

Alle diese Gedanken wälzten sich durch meinen Kopf; einige teilte ich Manon mit; bildete aber wieder neue, ohne ihre Antwort gehört zu haben. Ich faßte einen Entschluß und verwarf ihn, um einen andern zu fassen; ich sprach laut und beantwortete meine Reden selber, kurz ich befand mich in einer Aufregung, die ich mit nichts vergleichen könnte, weil sie nicht ihresgleichen hatte.

Manon heftete ihre Blicke auf mich; nach meiner Unruhe beurteilte sie die Größe der Gefahr, doch das zarte Wesen, das mehr um mich als um sich selber zitterte, wagte nicht einmal den Mund zu öffnen, um mir seine Angst zu erkennen zu geben.

Nach vielfachen Überlegungen entschloß ich mich endlich, den Gouverneur aufzusuchen und ihn durch den Hinweis auf seine frühere Güte, auf meine achtungsvolle Dankbarkeit zu rühren.

Manon wollte mich zurückhalten und sagte mit Tränen in den Augen: »Du gehst in den Tod; sie werden dich ermorden; ich werde dich nicht mehr wiedersehen; ich will vor dir sterben.«

Nur mit Mühe konnte ich sie von der Notwendigkeit dieses Ganges und davon überzeugen, daß sie in unserer Wohnung bleiben müßte. Ich versprach ihr, daß sie mich in einigen Minuten wiedersehen würde. Sie wußte ebensowenig wie ich, daß sie es war, auf welche der ganze Zorn des Himmels und die ganze Wut unserer Feinde niederfallen sollte.

Ich begab mich wieder in das Fort; der Almosenier befand sich bei dem Gouverneur. Ich erniedrigte mich, um ihn zu rühren, zu Demütigungen, die mich zu Boden gedrückt hätten, wenn ich sie um eines anderen Zweckes willen erduldet hätte. Ich beschwor ihn bei allem, was ein Menschenherz zu rühren vermag, das nicht die Grausamkeit eines Tigers besitzt.

Dieser Barbar hatte nur zwei Antworten auf meine Klagen und wiederholte sie fortwährend: Manon stände unter seiner Gewalt, und er habe seinem Neffen das Wort gegeben. Ich begnügte mich, ihm zu sagen, ich hätte ihn für meinen Freund gehalten und konnte nicht glauben, daß er meinen Tod wolle, den ich lieber ertragen möchte als den Verlust meiner Geliebten.

Als ich ihn verließ, war ich überzeugt, daß ich von diesem hartnäckigen Greis, welcher sich seinem Neffen zuliebe hundertmal dem Teufel verschrieben hatte, nichts zu hoffen hätte. Dennoch wollte ich meine scheinbare Mäßigung bis zu Ende bewahren, entschlossen, wenn es zur äußersten Ungerechtigkeit käme, eine der blutigsten und schrecklichsten Szenen zu veranlassen, die die Liebe je hervorgebracht hat.

Über solche Pläne sinnend, kehrte ich nach Hause zurück, als das Schicksal, welches mein Verderben wollte, mich Synnelet begegnen ließ. Er las einen Teil meiner Gedanken in meinen Augen. Ich habe schon erwähnt, daß er tapfer war, jetzt trat er auf mich zu und sagte: »Suchen Sie mich? Ich weiß, daß meine Absichten Sie verletzen, und bin darauf gefaßt, daß wir uns die Kehlen abschneiden; lassen Sie uns sehen, wer der Glücklichere sein wird.«

Ich antwortete ihm, er hätte recht, und nur mein Tod könne diesem Streit ein Ende machen. Wir begaben uns abseits etwa hundert Schritte außerhalb der Stadt. Unsere Degen kreuzten sich; ich verwundete und entwaffnete ihn fast in demselben Augenblick. Er war so erbittert über sein Mißgeschick, daß er sich weigerte, mich um sein Leben zu bitten und auf Manon zu verzichten. Ich war vielleicht berechtigt, ihm das Leben und mit ihm Manon zu nehmen, aber edelmütiges Blut verleugnet sich niemals. Ich warf ihm seinen Degen hin.

»Wir wollen noch einmal anfangen,« sagte ich, »aber auf Tod und Leben.«

Er griff mich mit unbeschreiblicher Wut an. Ich muß gestehen, daß ich keine große Übung in den Waffen hatte, da ich nur eine dreimonatige Schulung in Paris durchgemacht hatte; aber die Liebe führte meinen Degen. Synnelet stach allerdings meinen Arm durch und durch, aber er hatte sich dabei eine Blöße gegeben, und ich versetzte ihm einen so kräftig geführten Schlag, daß er regungslos zu meinen Füßen niedersank.

Trotz der Freude, die der Sieg nach einem Kampfe auf Leben und Tod verleiht, dachte ich sogleich an die Folgen seines Todes. Ich konnte weder Gnade noch Aufschub der Strafe erwarten. Da ich die blinde Liebe des Gouverneurs für seinen Neffen kannte, war ich überzeugt, daß er meinen Tod nicht um eine Stunde aufschieben würde, nachdem er den seinigen erfahren hätte. So beklemmend diese Furcht war, so war sie doch nicht die stärkste Ursache meiner Besorgnis. Der Gedanke an Manon, an ihre Gefahr und ihr bevorstehendes Verderben versetzte mich in so große Verwirrung, daß ich gar nicht wußte, wo ich mich befand. Ich beneidete Synnelet um sein Los; ein schneller Tod schien mir das einzige Heilmittel aller Leiden.

Doch gerade dieser Gedanke brachte mich wieder zum klaren Bewußtsein und befähigte mich, einen Entschluß zu fassen.

»Was! Du willst sterben,« sagte ich zu mir, »sterben, um deinen Leiden ein Ende zu machen! Giebt es denn ein Leiden, das du mehr fürchtest, als den Verlust derjenigen, die du liebst? Ach! Ich will das Grausamste ertragen, um meiner Geliebten beizustehen, und erst dann sterben, wenn ich ihr nicht mehr nützen kann.«

Ich kehrte nach der Stadt und in mein Haus zurück, und fand Manon halbtot vor Schreck und Unruhe. Mein Erscheinen ermutigte sie wieder. Ich konnte ihr das entsetzliche Ereignis, welches sich soeben zugetragen hatte, nicht verheimlichen. Bei der Erzählung von Synnelets Tode und meiner Verwundung fiel sie bewußtlos in meine Arme, und ich brauchte mehr als eine Viertelstunde, um sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Ich war selbst halbtot; ich sah nicht das geringste Mittel, für ihre und meine Sicherheit zu sorgen.

»Was sollen wir tun, Manon?« fragte ich sie, als sie sich wieder ein wenig erholt hatte; »ach, was beginnen wir? Ich muß mich entfernen. Willst du in der Stadt bleiben? Ja, bleibe hier. Du kannst noch glücklich werden, und ich will, fern von dir, den Tod unter den Wilden oder unter den Raubtieren suchen.«

Trotz ihrer Schwäche erhob sie sich, nahm mich bei der Hand und führte mich zur Tür.

»Fliehen wir zusammen,« sagte sie, »verlieren wir keinen Augenblick. Die Leiche Synnelets kann zufällig schon gefunden worden sein und wir hätten dann keine Zeit mehr zu fliehen.«

»Aber, liebe Manon,« erwiderte ich ganz bestürzt, »sage mir doch, wohin wir gehen könnten. Siehst du irgendeinen Ausweg? Ist es nicht besser, daß du hier ohne mich zu leben versuchst und daß ich freiwillig dem Gouverneur meinen Kopf bringe?«

Dieser Vorschlag vermehrte nur ihren Eifer zur Flucht; ich mußte ihr folgen. Ich hatte noch soviel Geistesgegenwart, einige kräftige Liköre, die ich in meinem Zimmer hatte, und soviel Lebensmittel mit mir zu nehmen, wie ich in meine Taschen stecken konnte. Wir sagten unsern Dienern, die sich im anstoßenden Zimmer befanden, daß wir unsern gewohnten Abendspaziergang machen wollten, und dann entfernten wir uns schneller aus der Stadt, als Manons Zartheit es zu erlauben schien.

Obwohl ich noch keinen Entschluß gefaßt hatte, wohin wir unsere Zuflucht nehmen sollten, so nährte ich doch noch zwei Hoffnungen, ohne welche ich den Tod der Ungewißheit über Manons Schicksal vorgezogen hätte. Seit meinem nahezu zehnmonatigen Aufenthalt in Amerika hatte ich genug Kenntnis des Landes erlangt, um zu wissen, auf welche Art man die Wilden behandeln mußte. Man konnte in ihre Hände geraten, ohne dadurch dem sicheren Tode zu verfallen. Ich hatte sogar einige Wörter ihrer Sprache und einige ihrer Gebräuche kennengelernt, da ich öfter Gelegenheit gefunden hatte, sie zu sehen.

Außer dieser trübseligen Aussicht beruhte meine zweite Hoffnung auf den Engländern, welche in diesem Teile der neuen Welt ebenfalls Besitzungen haben. Aber die Entfernung schreckte mich; um ihre Kolonien zu erreichen, mußten wir mehrere Tagereisen durch unfruchtbare Gebiete zurücklegen und einige so hohe und steile Berge übersteigen, daß der Weg für den kräftigsten, abgehärtetsten Mann als ein höchst schwieriger erschien. Nichtsdestoweniger hoffte ich, aus diesen beiden Hilfsquellen Nutzen ziehen zu können; die Wilden sollten uns als Führer dienen und die Engländer uns in ihre Kolonie aufnehmen.

Wir gingen so lange weiter, als Manons Mut sie aufrechthalten konnte, das heißt ungefähr zwei Meilen, denn dieser unvergleichliche Engel weigerte sich, früher zu rasten. Von Erschöpfung überwältigt, mußte sie endlich gestehen, daß sie nicht weitergehen könnte. Es war bereits Nacht; da wir keinen schützenden Baum finden konnten, mußten wir uns mitten in der Ebene lagern.

Manons erste Sorge war, den Verband meiner Wunde zu erneuern, welchen sie mir selbst angelegt hatte, bevor wir unsere Wanderung antraten. Vergebens widersetzte ich mich ihrem Willen; ich würde sie zu Tode betrübt haben, hätte ich ihr die Genugtuung entzogen, für mein Wohlbefinden gesorgt zu haben, bevor sie an ihre eigene Stärkung dachte. Ich fügte mich ihrem Wunsche und nahm schweigend und mit dem Gefühl der Beschämung ihre Fürsorge hin.

Aber als sie ihre Liebespflicht erfüllt hatte, mit welcher Glut vergalt es ihr meine Liebe!

Ich legte meine Oberkleider ab, um sie auszubreiten und ihr den harten Boden erträglicher zu machen. Sie mußte es dulden, daß ich alles aufbot, um ihre Lage erträglicher zu machen.

Ich erwärmte ihre Hände mit meinen glühenden Küssen und dem heißen Atem meiner Seufzer. Ich verbrachte die Nacht damit, an ihrer Seite zu wachen und Gott zu bitten, ihr einen ruhigen, friedlichen Schlummer zu schenken. O Gott! Wie heiß und aufrichtig waren meine Wünsche! Und mit welcher grausamen Härte beschlossest du, sie nicht zu erhören!

Verzeihen Sie, wenn ich einen Bericht, der mich schrecklich angreift, in wenigen Worten gebe. Ich erzähle Ihnen ein Unglück, das nicht seinesgleichen hat; mein ganzes Leben ist dazu bestimmt, es zu beweinen. Aber obwohl ich es beständig in meiner Erinnerung bewahre, so schauert meine Seele doch, so oft ich es unternehme, es zu schildern.

Wir hatten einen Teil der Nacht ruhig hingebracht; ich glaubte meine Geliebte schlafend und ich wagte kaum zu atmen, aus Furcht, ihren Schlaf zu stören. Als ich bei Tagesanbruch ihre Hände faßte, fühlte ich, daß sie auffallend kalt waren und zitterten; ich legte sie an meine Brust, um sie zu wärmen. Manon fühlte diese Bewegung, bemühte sich, meine beiden Hände zu ergreifen, und sagte mir mit schwacher Stimme, sie glaube, ihre letzte Stunde sei gekommen.

Anfangs hielt ich diese Worte nur für die gewöhnlichen Ausdrücke des Unglücks und beantwortete sie nur mit zärtlichen, tröstenden Liebesworten. Aber ihre häufigen Seufzer, ihr beharrliches Stillschweigen trotz meiner Fragen, ihr Händedruck, ihr Ächzen ließen mich erkennen, daß das Ende ihrer Leiden nahte.

Fordern Sie nicht, daß ich Ihnen meine Gefühle beschreibe, noch daß ich Ihnen ihre letzten Worte berichte. Ich verlor Manon; ich empfing von ihr bis zum letzten Augenblicke ihres Lebens zarte Beweise ihrer Liebe; das ist alles, was ich Ihnen über dieses jammervolle Ereignis zu berichten vermag.

Meine Seele folgte der ihrigen nicht. Der Himmel fand wahrscheinlich, ich sei noch nicht gestraft genug, und verurteilte mich, dieses öde, trostlose Leben weiter zu tragen. Ich verzichte freiwillig darauf, jemals ein glücklicheres zu führen.

Ich blieb länger als vierundzwanzig Stunden bei ihrer Leiche, meine Lippen auf die ihrigen gepreßt oder ihre Hände küssend. Ich beabsichtigte so zu sterben; aber bei Anbruch des zweiten Tages überlegte ich, daß ihr Leichnam nach meinem Hinscheiden der Entweihung ausgesetzt war, den wilden Tieren zur Beute zu werden. Ich beschloß daher, sie zu begraben und den Tod auf ihrem Grabe zu erwarten. Hunger und Schmerz hatten mich dem Tode so nahe gebracht, daß ich kaum mehr Kraft besaß, mich aufrecht zu halten. Ich mußte zu den Likören meine Zuflucht nehmen, welche ich mitgenommen hatte. Sie verliehen mir soviel Kraft, daß ich mein trauriges Geschäft ausführen konnte. Es war mir nicht leicht, an der Stelle, wo ich mich befand, den Boden aufzuwühlen. Ich zerbrach meinen Degen, um mich seiner zum Graben zu bedienen, aber er nützte mir weniger als die Arbeit meiner Hände. Ich grub ein großes Grab und legte das Idol meines Herzens hinein, nachdem ich es sorgfältig in meine Kleider gehüllt hatte, damit der Sand es nicht berühre. Doch küßte ich sie vorher noch mit der ganzen Glut meiner Liebe. Dann setzte ich mich wieder neben sie und sah sie lange an, ohne daß ich mich entschließen konnte, das Grab zuzuschütten.

Endlich, als meine Kräfte wieder abnahmen und ich fürchten mußte, sie ganz zu verlieren, bevor meine Aufgabe vollendet war, begrub ich das Vollkommenste und Reizendste, was die Erde je getragen hatte, in ihren Schoß. Dann legte ich mich auf das Grab, das Gesicht dem Boden zugewandt, schloß die Augen in dem Gedanken, sie nie mehr zu öffnen, rief den Beistand des Himmels an und erwartete den Tod mit Ungeduld.

Es wird Ihnen vielleicht unglaublich erscheinen, daß während dieser ganzen traurigen Beschäftigung keine Träne aus meinen Augen floß und kein Seufzer von meinen Lippen kam. Die tiefe Niedergeschlagenheit, in der ich mich befand, und der feste Entschluß zu sterben, hatten jeden Ausdruck des Schmerzes und der Verzweiflung versiegen lassen. Auch blieb ich nicht lange in diesem Zustande, als ich den letzten Rest von Bewußtsein und Empfindung, der mir noch geblieben war, verlor.

Nach dem, was Sie soeben gehört haben, ist der Schluß meiner Geschichte von so geringer Wichtigkeit, daß er kaum verdient angehört zu werden. Als Synnelets Körper nach der Stadt gebracht wurde und man seine Wunden sorgfältig untersuchte, fand sich, daß er nicht nur nicht tot war, sondern überhaupt keine lebensgefährliche Wunde erhalten hatte. Er teilte seinem Oheim mit, was zwischen uns vorgefallen war, und sein Edelmut trieb ihn an, den meinigen laut anzuerkennen. Man ließ mich suchen, und meine und Manons Abwesenheit erweckte den Verdacht, daß wir die Flucht ergriffen hätten. Es war zu spät, meinen Spuren zu folgen, aber der folgende und nächstfolgende Tag wurden auf meine Verfolgung verwendet.

Man fand mich ohne Lebenszeichen auf dem Grabe Manons, und da ich aus meiner Wunde blutete und nur notdürftig bekleidet war, glaubte man, ich wäre beraubt und ermordet worden.

Sie trugen mich in die Stadt; die Bewegung weckte mich. Die Seufzer, welche ich ausstieß, als ich die Augen öffnete und mich zu meinem Schmerz unter den Lebenden wiederfand, ließ sie erkennen, daß ich noch gerettet werden konnte, und ihre Versuche hatten nur allzu guten Erfolg.

Ich wurde in strenge Haft genommen; mein Prozeß wurde eingeleitet und, da Manon nicht erschien, klagte man mich an, in einem Anfalle von Wut und Eifersucht sie aus dem Wege geräumt zu haben. Ich erzählte natürlich mein grausames Geschick. Obwohl meine Erzählung Synnelet tiefen Schmerz bereitete, hatte er doch Edelmut genug, meine Freisprechung zu erbitten. Ich erhielt sie.

Ich war so schwach, daß man genötigt war, mich aus dem Gefängnis in mein Bett zu tragen, an welches ich durch eine schwere Krankheit drei Monate lang gefesselt blieb. Mein Haß gegen das Leben milderte sich nicht; ich rief unaufhörlich den Tod herbei und wies lange Zeit alle Heilmittel zurück. Aber der Himmel, nachdem er mich mit solcher Härte heimgesucht hatte, wollte, daß mein Unglück und seine Strafen mir zum Heile dienten; er erleuchtete mich mit seinem Geiste und erweckte Gedanken in mir, wie sie meiner Geburt und meiner Erziehung würdig waren.

Als die Ruhe allmählich in meine Seele wiederkehrte, ließ auch meine Genesung nicht lange auf sich warten. Ich überließ mich völlig den Eingebungen der Ehre, fuhr fort, mein kleines Amt zu versehen, und wartete auf ein Schiff aus Frankreich, welches einmal in jedem Jahre nach diesem Teile Amerikas segelte. Ich war entschlossen, in mein Vaterland zurückzukehren und dort durch ein verständiges, ordentliches Leben meine frühere anstößige Aufführung gut zu machen. Synnelet hat Sorge getragen, den Körper meiner teuren Geliebten an einen ehrenhaften Platz überführen zu lassen.

Ungefähr sechs Wochen nach meiner Wiederherstellung ging ich eines Tages am Gestade allein spazieren, als ich ein Schiff herannahen sah, welches Handelsgeschäfte nach Neu-Orleans brachten. Ich beobachtete die Ausschiffung und war aufs höchste überrascht, unter denjenigen, welche der Stadt zueilten, Tiberge zu erkennen. Der treue Freund erkannte mich von weitem, trotz der großen Verwüstung, die die Trauer in meinen Zügen angerichtet hatte. Er teilte mir mit, der einzige Beweggrund seiner Reise wäre der Wunsch gewesen, mich zu sehen und mich zur Rückkehr nach Frankreich zu veranlassen. Sobald er den Brief, welchen ich ihm in Havre geschrieben, erhalten hatte, war er persönlich dorthin geeilt, um mir die erbetene Hilfe zu bringen; bei der Nachricht von meiner Abreise empfand er den lebhaftesten Schmerz, und er würde mir sofort nachgereist sein, wenn er ein segelfertiges Schiff gefunden hätte; er hatte monatelang eins in verschiedenen Häfen gesucht und endlich in St. Malo eins gefunden, welches die Anker lichtete, um nach Martinique abzugehen; von dort habe er gehofft, leicht nach Neu-Orleans hinüber zu gelangen.

Sein Schiff wurde unterwegs von spanischen Seeräubern gekapert und nach einer ihrer Inseln gebracht, von wo es ihm gelang, zu entfliehen. Nach vielen weiteren Bemühungen hatte er endlich Gelegenheit gefunden, in diesem kleinen Fahrzeug zu mir zu gelangen.

Einem so edeln und treuen Freunde konnte ich nicht genug Dankbarkeit beweisen. Ich führte ihn in mein Haus, teilte mit ihm, was ich besaß, und erzählte ihm meine Erlebnisse seit meiner Abreise aus Frankreich; eine große Freude bereitete ich ihm durch die Erklärung, daß der Same der Tugend, den er einstmals in mein Herz gestreut, Früchte zu treiben beginne, mit denen er zufrieden sein würde. Er versicherte, daß diese Aussicht ihm eine herrliche Belohnung für alle Beschwerden seiner Reise sei.

Wir verlebten zwei Monate zusammen in Neu-Orleans, um die Ankunft der Schiffe aus Frankreich abzuwarten, gingen dann an Bord und landeten nach glücklicher Seefahrt vor vierzehn Tagen in Havre. Dort angekommen, schrieb ich an meine Familie. Ich erfuhr durch die Antwort meines älteren Bruders die traurige Nachricht von dem Tode meines Vaters, den meine Verirrung beschleunigt haben mag. Da der Wind unserer Reise nach Calais günstig war, so schiffte ich mich sogleich ein, um in der Umgebung dieser Stadt einen Verwandten aufzusuchen, in dessen Hause mein Bruder mich erwartet.

 

Ende

 


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