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Die Stunde Heidelbergs

Von der Höhe des Schlosses in Heidelberg aus stellte man frühzeitig fest, daß von Westen her ein schwarzes politisches Wetter heraufzog. Aber weil doch das eigene Fürstenkind Elisabeth Charlotte, als Madame Royale von Frankreich, als des Königs Schwägerin, am Hofe von Versailles lebte, so konnte doch schlechterdings Heidelberg nichts Böses geschehen. Doch besser, als bloß zu hoffen, war, alles zu tun, um zu verhindern, daß Böses geschehe: hatte nicht die kleine Elisabeth, der Wildfang, mit dem Pfleger der Weine im Heidelberger Schloßkeller besondere Freundschaft gepflogen, war auf seinen Knien geritten und auf seine Schultern geklettert? Also war Johannes Weingard, der Küfer, jetzt Wirt »Zum König von Portugal«, der Mann, den die Heidelberger als Gesandten nach Frankreich schickten.

Mit Eilpost nach Paris gekommen, meldete Weingard sich sofort beim Herzog von Orleans, dem Gatten der Pfälzerin, im Palais Royal, des Herzogs Wohnsitz. Er begab sich sogleich zu des Herzogs Hauskanzler Herrn de Terrat. Dieser hörte den atemlosen Weingard aufmerksam an und versprach alles zu tun, was seine schwachen Kräfte vermöchten. Dasselbe sagten noch höher gestellte Personen. Aber wie der Wanderer beim Ersteigen eines Gebirges es allmählich kälter werden fühlt, seine Schritte in der dünnen und immer dünneren Luft sich verlangsamen und er sich oben nur noch schleppt, so erging es dem Wirt von Heidelberg, je höher er den Berg der höfischen Gesellschaft hinanstieg.

Der Herzog werde demnächst von Versailles nach Paris hereinkommen, man möge im Palais Royal warten. »Monsieur«, der Herzog, werde dann die Erlaubnis zu einem Vorsprechen bei »Madame«, der Herzogin, erwirken, von der man augenblicklich nicht wisse, wo sie sei, ob in Versailles oder in Fontainebleau oder in Saint-Cloud, denn sie nehme aus Gnaden des Königs an den königlichen Hirschjagden der Jahreszeit teil. Weingard wartete, wartete eine Woche und zitterte davor, es möchte die Nachricht, Heidelberg brenne wie Speyer, Worms und andere Städte der Pfalz, dem Zwecke seiner Sendung zuvorkommen. Er verzehrte sich im Warten und in der Angst. Kam doch die Kunde von oben herunter, der König habe gesagt, wenn der Kurfürst von Sachsen seine Drohung wahrmache und mit seinem Kreistruppenteil zum Entsatz von Heidelberg heranrücke, so werde er ihm mit der Fackel dazu leuchten! Ein Wartender und Hingehaltener sieht bald wie ein Verdächtiger aus – die herzoglichen Hausbeamten wurden kühler und auch eisig und wollten bald nichts mehr gesagt haben. Der pfälzische Gesandte in Paris von Stein fühlte sich beobachtet und ließ sich nicht sprechen und zum brandenburgischen Gesandten von Spanheim zu gehen warnten die Herren. Denn es herrschte doch Spannung zwischen Kölln an der Spree und Versailles, wegen Kölns am Rhein, das der Brandenburger eilig besetzt hatte, als der Fürstenberger, der Kölner Erzbischof, alle festen Städte Kurkölns, Bonn und Andernach insbesondere, dem Franzosenkönig, seinem Schützer gegen den Kaiser, bereitwillig geöffnet hatte. Wenn der König erführe, daß er, Weingard, zu dem brandenburgischen Gesandten gegangen sei, dann sei seine Sendung von vornherein verspielt.

Aber der Wirt »Zum König von Portugal« ging doch zu Herrn von Spanheim, in der Nacht, und beim Schein einer Kerze sprach Ezechiel Spanheim zu ihm. Es sehe schlecht aus. Am Versailler Hofe sei man still entschlossen, so scheine es ihm.

Allmählich traten die Gegenstände der Kammer aus dem Dunkel der Nacht halbdeutlich in den Lichtschein der Kerze, und der Wirt sah, daß der Gesandte zwischen gepackten Koffern saß.

Ihre Gnaden, die Herzogin, ja! Über Spanheims schmales nachtblasses Gesicht ging ein Leuchten. Sie weine um das Schicksal ihres Landes. Aber sie sei auch eine Dame der Hofwelt, ein Fürstenkind und eine Frau, sie fühle sich am Ende wohl im goldenen Käfig von Versailles, namentlich, wenn des Königs besondere Gunst ihr leuchte, der sie in auffälliger Weise auszeichne und in seiner eigenen Karosse mit auf seine Jagden nehme. A propos Versailles! Er, Weingard, solle doch einfach nach Versailles gehen! Dreimal wöchentlich abends habe der König in den Sälen seines neuen Schlosses offenes Haus. Jeder anständig gekleidete Bürger könne hingehen. Er werde den ganzen Hof versammelt finden, könne also auch Madame sehen und vielleicht sprechen. Und mit der Majestät werde er seine Überraschung erleben! Er denke sich den König natürlich als eine unzugängliche Gottheit. Nun, er werde sehen! Unzugängliche Gottheiten seien nur gewisse armselige deutsche Fürsten, der von Kassel und Ansbach zum Beispiel. Die Kleinen haben natürlich die großen Gebärden nötig.

Der Gesandte leuchtete selbst mit seiner Kerze dem nächtlichen Besucher die knarrende Treppe des bescheidenen brandenburgischen Hotels in der Rue Montpinasse hinab.

Ja, das sei eine Sache heutzutage in der Welt mit diesem Frankreich! Es gehe ihm zu gut! Nicht unverdientermaßen, gewiß nicht, da seien gewisse Könige gewesen und gewisse Kardinäle. Heute sei an Mazarins Stelle Louvois … er scheine freilich mehr ein Aktenkonzipient zu sein als ein Staatsmann, bockstirnig und hölzern, o so hölzern! Gesandte wüßten Liedchen zu singen von diesem starren trockenen harten Knorren, diesem Kopfe ohne Einbildungskraft. Aber in Frankreich bedeuteten alle diese Namen, ob nun gute oder minder gute, einen Weg, eine Richtung, eine Hauptstraße. In Deutschland, das nicht weniger mit Köpfen und Namen aufwarten könne, bedeute indes jeder Kopf und Name einen Weg, und manchmal sogar zwei. Wahrscheinlich sei das Deutschlands Schicksal, die Deutschen seien ja wohl das Denkervolk, Europas Chinesen. Wenn ihr die Zöpfe richtig faßt, dann halten sie diese für die Zügel der Vorsehung. Falls übrigens sein Herr, der Brandenburger, nicht einen andern Zügelzug in Deutschland einführen werde! Aber bis das geschähe, habe es noch gute Weile, und auf alle Fälle werde Frankreich die Vorteile seines frühen Aufstehens auf lange hinaus genießen.

Der Gesandte war längere Zeit anscheinend mit Absicht hinter der Haustür stehengeblieben. Plötzlich, mit einem Ruck, und um sie sogleich wieder zu schließen, hatte er sie geöffnet – im Luftzug erlosch fast die Kerze – man hatte die Gestalt eines Menschen eiligst verschwinden sehen. Das hagere Gesicht Spanheims lächelte, und sein schiefstehendes Auge knipste er zu, was hieß: Verstehst? Wie? Dann sagte der Brandenburger: »Nun wird die Straße für kurze Zeit frei sein. Man kann ohne Besorgnis nach der andern Seite hin davongehen. Übrigens nach Versailles fahren zweimal täglich Postkutschen von der Rue Saint-Nicaise aus. Kostet 25 Soldi. Mach Er's gut für sein Vaterland!«

Weingard trat der Schweiß auf die Stirn, wenn er an die Dringlichkeit und Schwierigkeit seiner Sendung dachte. Man hatte ein wenig Umgang mit Fürstlichkeiten gehabt, wie der Dienst es mit sich brachte, wenn Seine Gnaden der alte Kurfürst in den Keller herabkamen. Der Kurfürst war ein guter Herr und hatte selbst etwas auf dem Kerbholz; denn er hatte seine Frau, die Kasselerin, verstoßen und versuchte vergeblich, sie zur Scheidung zu zwingen, damit er seine Geliebte, die Raugräfin, heiraten könne. Dadurch, daß die hohen Herrschaften etwas auf dem Kerbholz haben, sind sie uns Niederen menschlich näher. Und meistens kam mit dem Kurfürsten, dem Herrn Vater, die Prinzessin. Sie schlug mit einem Holze wider das große Faß. Wo es hart klang, war Wein drin, wo's tönte, keiner. Aber Seine Gnaden der Herr Vater liebten das große Faß nicht, das Sie für eine Abgeschmacktheit erklärten. So lebte man in aller Ehrfurcht auf gewissermaßen vertrautem Fuße mit den fürstlichen Herrschaften, und sie machten es einem nicht schwer. Aber was war ein kleiner deutscher Kurhof gegen den allmächtigen Hof von Frankreich! …

Ob die Prinzessin Elisabeth, jetzt Madame von Frankreich, ihn wiedererkennen werde? … Achtzehn Jahre lebte sie schon in Frankreich, ohne einmal heim nach Heidelberg gekommen zu sein, achtzehn Jahre war sie alt gewesen, als sie Heidelberg verlassen hatte, um dem unbekannten Gemahl entgegenzuziehen. War sie Französin geworden? Würde ihr Herz noch an Heidelberg hängen, an der kleinen Stadt im Tale und dem vieltürmigen vielwinkligen Schloß über der Stadt, das weit mehr altmodische Burg denn Schloß war, sie, die in dem neumodischen Schloß von Versailles lebte? Das waren zwei Namen, in denen Deutschland und Frankreich einander gegenüberstanden und sich aussprachen: Heidelberg und Versailles! Der Efeu rankte in Heidelberg am achteckigen Turm, und aus dem Walde, der vom Berge Königstuhl herab in die roteingefaßten Fenster hineinwuchs, tönte der Gesang der Nachtigall. Das Leben im Schlosse ging emsig und doch still wie in einem großen Bauernhofe. Manchmal erschien der Kopf des Herrn Kurfürsten in einem Fenster des vorkragenden Bibliothekbaus; ein Buch in der Hand und eine große Hornbrille unten auf der Nase, lugte der Herr über den Brillenrand weg in den taubendurchflatterten Hof hinab, nach dem Rechten sehend. Manchmal hatte er auch jemanden nötig, einen Schrank zu rücken oder einen Nagel einzuschlagen, und wenn der Zimmermeister nicht gerade bei der Hand war oder etwas Dringliches zu tun hatte, so holte der Kurfürst von der Pfalz selbst den Hammer hervor und schlug den Nagel ein. Gebaut am Schlosse hatte man, wenn man wieder einmal Geld hatte, jedes Menschenalter ein kleines Stück. Aber in Versailles! Da waren, sagte man, sechsunddreißigtausend Arbeiter auf einmal am Bauen, ein paar tausend Barone und Grafen vom Adel des ganzen Landes standen zu überflüssigen Diensten bereit, an jeder Tür einer, an jedem Treppenaufgang einer, um Wünsche des Königs und der Personen von Geblüt zu ahnen, zu erraten, durch ihr überflüssiges Dasein zu erzeugen und auf der Stelle zu befriedigen. Wenn der König ausging – sein Schnupftuch wurde ihm in goldüberstickter Tasche aus Sahara-Gazellenleder nachgetragen, erzählte man sich lächelnd in Heidelberg. Ach, was würde man sich Verwirrendem und Beklemmendem gegenübergestellt finden! Aber es galt, alles durchzumachen, alles, um das liebe Heidelberg zu retten!

Weingard schritt den sich verengenden Hof der Vorderseite des Schlosses in Versailles hinauf, das auf dieser Seite aus Marmor und roten Ziegeln errichtet war. Baumlange Schweizer Wachen in Helmen, Schlagwaffen und zweierlei Tuch ließen ihn nach einem prüfenden Blicke über seine ganze Erscheinung hin mit anderem geziemend sich benehmendem Volke ein. Im rechten Flügel des innersten Hofes war der Zugang und Aufgang. War drinnen irgendwo der Durchgang verboten, so war die Tür verschlossen oder es stand, war sie offen, ein schweigender Schweizer davor. Von solchen stummen Hindernissen geführt, kam man von selbst über eine Treppe auf den ersten Stock. »Zuviel Pracht!« dachte Weingard, hilflos vor allen diesen edlen und halbedlen, weißen und bunten Marmoren, blinkenden geformten Erzen, den Büsten, Hermen, Mosaiken und Bildern. »Zuviel Pracht!« sagte er immer wieder vor all dem Herrlichen und Edlen in Arbeit und Aufwand, das er zu sehen bekam. In diesem Schlosse hatte man das Ausgezeichnete neben das Ausgezeichnete gestellt, während das Ausgezeichnete doch die geringen Grade in seiner Umgebung braucht. Das Edle bedarf des Halbedlen, um zu sein, in einer Welt des Nur-Edlen ist alles gewöhnlich. Es wimmelte von Menschen, Stimmen raunten, Instrumente klangen durcheinander, doch alles gebunden von jener Ehrfurcht, die zu wissen bekundete, daß man in eines Königs Hause sei. Der Adel ging auf Schuhen mit roten Absätzen und mit dem Degen an der Seite, ging am Bürger vorbei mit einem Blicke, der sagte: Du darfst auch hier sein, nach Seinem Willen. Fürstlichkeiten von Blut wurden in Sänften vorübergetragen, auch wenn ihre Wohnungen im Schlosse lagen. Sie waren zu vornehm, um auch nur etwas Stummes mit dem Auge zu sagen. Ganz nach oben hin, so hoch, daß gar kein Zweifel an Adeligkeit mehr möglich war, nahm die Bekundung der Vornehmheit wieder ab, und der König selbst hätte es sich leisten können, ein Volksmann zu sein. Je mehr man ins Innere des Schlosses kam, desto langsamer floß der Strom der Besucher, wie ein Fluß sich gegen ein Wehr hin verlangsamt und glättet.

Und da stand Johannes Weingard im Apollosaale! Die Wände, die Böden, die Kamine, alles Marmor. Die Decken trugen vergoldeten Stuck, und Gemälde waren eingelassen in die Ziergefache der Decke, die Halbrunde über den Türen und die Rechtecke über den Kaminen. Langsam schritt der Besucher aus dem Apollosaale hinaus und durch den Merkursaal hinüber nach dem Marssaale. Da standen zwischen zarten Stühlen und Hockern niedrige Tische, darauf lagen Würfel, Becher und Karten, und viele Spieler und Spielerinnen aus der Hofgesellschaft und dem Adel spielten unter gedämpften Kampfesrufen mit Karten und Würfeln. Die Bürger sahen zu, es drängte auch wohl jemand so nahe heran, daß eine Dame, ohne etwas zu sagen und nur ein Paar Füße ansehend, unter dem beschämt und eilig Zurücktretenden das Ende ihres Kleides frei machte. Der Heidelberger hätte am liebsten in den Saal des Staatsrats geschaut, das Herz Frankreichs und des Schlosses, die Schmiede der Welt, aber da stand die Tür verschlossen, stumm und dumm da. Weingard studierte die Bildnisse des Königs, fast in jedem Saale befand sich eine Büste Ludwigs oder ein eingelassenes Gemälde, das ihn über Dünkirchen triumphierend oder den Rhein überschreitend zeigte, während in den Lüften ein französischer Adler den spanischen oder deutschen so jämmerlich zurichtete, daß die Federn der Vögel umherflogen. Aber eine Büste des jugendlichen Königs von der Hand des Jean Warin fesselte Weingard, sie beschäftigte ihn, bald liebte er sie. Dargestellt war eine Art barhäuptigen fünfundzwanzigjährigen Alexanders. Das Schönste an der schönen Büste war der Ausdruck von Milde und Traurigkeit im Antlitz des leicht nach der rechten Schulter gewandten Kopfes. Lieben mußte man den jungen Monarchen wegen dieses Ausdrucks von Trauer. Aber plötzlich haßte der Pfälzer ihn, denn der da, das war doch der furchtbarste Feind Heidelbergs und Deutschlands! Und Johannes lief, ganz gegen die gute Sitte dieses Ortes, die Eile verbot, zurück in den Apollosaal, wo das abgeschmackte Bild Ludwigs von Mignard zu sehen war, der König umwallt von Samt und Hermelin, den Marschallstab in prahlender Gebärde gegen den Oberschenkel stützend. Das war der Mann, den man hassen, hassen, hassen durfte! Wieviel Flüche schallten ihm schon entgegen aus Spanien, aus Flandern, aus dem Elsaß! Und nun aus der Pfalz! Zorn im Herzen ging Johannes Weingard zurück aus dem Apollosaale durch den Merkur- nach dem Marssaale, aber er konnte es sich nicht versagen, im Vorbeigehen im Merkursaale nach Warins Büste zu blicken, vor deren Ausdruck von Schwermut und Trauer sofort seine Erbitterung zerschmolz. Ach, wie traurig, König sein zu müssen! Ach, wie erbärmlich, aus Staatsgründen Kriege führen und den Menschen, die schon genug am Leben leiden, durch Krieg noch wehtun zu sollen! Ach, wäre ich doch ein kleiner Edelmann Ludwig von Bourbon in Marly oder Versailles und könnte Frischgemüse und jeden Tag Blumen liefern auf den Frühmarkt von Paris! Ach Gott, das Königsein!

Weingard war in den Saal der Diana getreten, wo die Billards standen. Herr von Vendôme und der Graf von Grammont spielten grade ihren Gang, und die Elfenbeinbälle knallten sanft aneinander. Der dritte Spieler, die Queue in der Hand, pauste, und auf der Brüstung der Empore für die Damen sitzend stopfte er drei Daunenkissen unter sich, um bequem sitzen und die Beine baumeln lassen zu können, während er belustigt und sanft dem aufgeregten und schlechten Spielen des Herrn von Vendôme zusah. Wahrhaftig, das war doch … das war doch aus dem Bild … das war doch – – der König!

Es überlief ihn.

Ludwig war angetan mit einem hellbraunen Samtrock, einer blaßroten, stark mit Gold durchwirkten Weste und gelben Beinkleidern. Eine nicht schwere Perücke für den Hausgebrauch verdeckte die Altersschäden auf dem Haupte des Fünfzigers. Er trug weder Orden noch Ringe. Das war der König für Jedereinen und hier zu sehen als ein Biedermann inmitten seines sich vergnügenden oder gaffenden Volkes (in der Saalecke stand ein Riesenkerl von Schweizer, der kein Auge vom König ließ) – aber wenn Ludwig durch jene Tür in seinem Rücken da schreiten und in ein gewisses Zimmer treten würde, wo auf den Tischen Karten vom Rheinland, der Pfalz und Schwaben ausgebreitet lagen, so war er der Gebieter Frankreichs, der Herr der Geschicke des westlichen Deutschlands! …

Verwirrt durch den plötzlichen Anblick und wie um sich zu fassen, ging der Deutsche im langsam und stumm flutenden Volke weiter in den nächsten Saal »der Venus«, wo lange Tafeln aufgestellt waren, beladen mit Flaschen voll Wein und Likör, mit Burgund- und Champagneweinen und Likören aus blühenden Abteien und Königsgütern. Der Wirt »Zum König von Portugal« prüfte mit einem Blicke die Marken. Körbe aus Silberfiligran und Alabasterschalen waren gefüllt mit rohen oder auch kandierten Früchten: Orangen, Zitronen, grünen Stachelbeeren, Pfirsichen mit Karamel, getrockneten Kirschen und eingemachten Kastanien. Man konnte von Dienern sich reichen lassen, selbst nehmen, essen, trinken oder davontragen, was man wollte. Dieser Saal schien mit seinen süßen Schätzen vornehmlich für den Gebrauch der Damen bestimmt. Nebenan im kleinen Saal »des Überflusses«, wo eine Abundantia gemalt hing, aus deren umgestürztem Füllhorn die Menge der Perlen, Medaillen und Edelsteine floß, war ein Ausschank für deutsches Bier, das aus silbernen eisumlegten Fäßchen kam. Tafelwasser, Sorbets und Fruchtsäfte aber gab es in beiden Sälen, auch heiße Getränke, Tee, Schokolade, Zitronenpunsch und Kaffee. Diese Getränke flossen aus verschiedenen Hähnen eines Tischbrünnchens jedes in die zubestimmte Falte einer großen silbernen Muschel und wurden dann an einem Punkte des gefransten Muschelrandes von einem böhmischen Kristallglas, einem chinesischen Täßchen oder einer Schale aus sächsischem Porzellan abgefangen. Aber man sprach den Genüssen so reich besetzter Tafeln nur maßvoll zu, die Besucher aus dem Volke aus Scheu, so gern sie sich von Herzen erlabt hätten, der Hofadel aus Übersättigung. Nur ab und zu stürzte eine Spielergruppe von zwei oder drei Grafen oder Marquis herbei, sie ließen sich von den Dienern bestimmt umgrenzte und kennerisch benannte Wünsche erfüllen, verzehrten, ohne das Volk zu beachten, das Gereichte und entfernten sich ebenso wie sie gekommen waren, schwätzend, als ob sie unter sich wären. Johannes Weingard ließ sich ein Fruchteis geben, verzehrte die eingeeisten und verkremten Kirschen und Aprikosen in einer tiefen Fensternische und schaute dabei in den Garten und Park des Schlosses hinaus, über dem eben ein erstes Mondviertel aus dem schwindenden Tagschein in das aufkommende Nachtdunkel trat. Dadurch gewann er seine Ruhe zurück. Die seiner vorgefaßten Meinung so wenig entsprechende Erscheinung des Königs, die sich wider seinen Willen im Sturm seine Zuneigung erobert hatte, erhielt den ihr gemäßen Platz in seinem Herzen, und er fühlte sich jetzt stark genug, der zugleich angenehmen und furchtbaren Wesenheit des Allgewaltigen wieder entgegentreten zu können. Seine Pfälzer Prinzessin hatte er noch nicht gesehen.

Als er in den Dianensaal zurückkam, hatte man dort den Billardtisch entfernt und ein Tänzchen gerüstet. Der König hatte seinen Spielstock aus der Hand gegeben, saß aber noch auf der Emporenbrüstung, hinter der die älteren Damen Platz nahmen, um dem Tanze zuzuschauen. Des Königs eine Hand spielte mit einer silbernen Kissenquaste, mit der andern und dem Arme stützte er den schräg geneigten Oberkörper. Sein Auge ging durch den Saal und blieb ein bißchen auch auf Weingard haften. Einen Augenblick länger als auf dem und jenem Gesicht der Leute aus seinem Volke, die helle Hautfarbe und das blonde Haar und vielleicht noch anderes Unterschiedliche mochten ihm auffallen. Es war dem Heidelberger, als sei ein Strahl auf ihn gerichtet. Aber dann glitt der Strahl ruhig weiter, gleichmütig anderen Menschen oder Dingen zu.

Und in diesem Augenblicke erkannte Johannes, empfand er, sah er, hörte er die pfälzische Prinzessin, Madame von Frankreich! Er erkannte eine Stimme wieder, die das nonnenhafte alte Fräulein von Bourbon unverfänglich neckte. Und Madame, die auf der Empore stand, erfaßte in eben dem Augenblicke auch die Anwesenheit Weingards, sie erkannte ihn und schien sich sogleich auch klar zu sein über das Ziel seiner Reise und den Zweck seines Hierseins. Denn Ernst beschattete sofort ihre Züge. Das Ziel war sie, und der Reisezweck –? O Gott! Aber sie freute sich darüber, daß man ihr einen Heidelberger geschickt hatte, mit dem sie einmal offen über die Lage der Dinge in der Pfalz reden konnte, sie, die nur auf den überängstlichen Pfalzgesandten am französischen Hofe angewiesen war! Und sie freute sich, den alten Küferknecht Hans wiederzusehen, denn sie gehörte nicht zu jenen vom Adel, die stolz wie alte Soldatenpferde waren. Aus der Art, wie die Prinzessin die Augenlider fallen ließ, las Weingard: »Hans, wir sehen uns wieder.« Und sie las aus einem, nur von ihr zu beobachtenden, sonst unmerklichen Neigen seines Körpers: »Eurer fürstlichen Hoheit wegen bin ich ja von Heidelberg gekommen.«

Aus der Hofgesellschaft lösten sich Fräulein von Fontanges und die Prinzessin von Conti, Ludwigs Tochter von seiner ersten Mätresse, Fräulein von Lavallière, los. Fräulein von Fontanges, aus dem Hofstaat der Prinzessin Madame von Frankreich, war ein anbetungswürdiges Weib. Sie würde an einem Versailles nachahmenden deutschen Kleinhofe die erste Dame, das Entzücken der Kavaliere und unvermeidbar die Mätresse des Fürsten gewesen sein. Aber hier neben der Prinzessin von Conti verhielt sie sich nur wie der Mond zur Sonne. Der Fontanges Schönheit war zu eindeutig, zu sehr benenn- und beschreibbar, die Wünsche, die sie erregte, waren zu einfach und rätsellos für den, dem sie erregt wurden, sie beschäftigte das entzückte Auge, doch nicht die spürende Vorstellungslust. Aber die Prinzessin Conti! Sie war zwanzig Jahre alt und schon Witwe. Sie konnte aber auch noch Mädchen sein oder vielleicht eine Allerweltskurtisane – für Männer vom Grafen an aufwärts, versteht sich – ihre Erscheinung deutete alles an, sprach nichts aus und nährte jede Phantasie mit allen Vermutungen und Zweifeln. Aber sie war entzückend, es gibt kein anderes Wort, sie gehörte zu jenen ganz seltenen Frauen, über die das Füllhorn der Grazien versehentlich geleert wurde, so daß die Mitschwestern an Reizen zu kurz kamen, Frauen, die ohne das geringste Dazutun Männer und sogar Frauen für sich gewinnen. Man wußte nicht, ob sie Nonne oder Hetäre war, genug, sie machte alle Männer rasend, und die Kavaliere am Hofe flüsterten untereinander: Die Conti besitzen – eine halbe Stunde nachher laß ich mich gern aufhängen! Sie aber schritt lächelnd durch alle Gefahren des Hofes und die gelegten Hinterhalte – wie sie jetzt lächelnd, leicht und schwebend Hand in Hand mit Fräulein von Fontanges auf das von randlichem Marmor eingefaßte Holzparkett des Saales trat. Und dann tanzten die beiden Frauen – es war wie Vogelflug. Weingard fühlte sein Herz von dem köstlichen fürstlichen Kinde angerührt, brüderlich oder wie man sonst will, als er die unverhohlenen Blicke der Zuneigung, Zärtlichkeit, Bewunderung seines Vaters, des Königs, auf ihm ruhen sah. Wie ein junger Liebhaber schaute der königliche Vater die Prinzessin an, in allen Ehren, er sah seine erste Geliebte, die Lavallière, im Liebespfande wieder, er, selbst gleichsam für einen Augenblick jung gezaubert, sah sie so wie sie gewesen war, bevor seine zweite Mätresse ihm jene holde erste vergiftet hatte.

Die Prinzessin Conti war in einem schlichten hell-, nicht himmelblauen anliegenden Seidenkleide, aus dessen Halsausschnitt sinnverwirrend schöne Schultern stiegen. Der Tanz schrieb ihr Stehen vor, grade, als von einer schwindsüchtigen Kerze im Lüster über ihr eine Traufe sich bildete, das heiße Wachs schnell ablief und ihr auf das Schulterblatt tropfte. Johannes Weingard sah das Fleisch zucken und sich röten, aber die Prinzessin rührte sich nicht von der Stelle, da ihr, von der Fontanges eben umschwebt, Halten vorgeschrieben war, und noch viel weniger gab sie ein Zeichen des Schmerzes von sich. Das glühende Wachs lief zunehmend eilig von der Kerze ab. Da liebte Johannes Weingard, der Wirt aus der Rittergasse in Heidelberg, für einen verlorenen irrsinnigen Augenblick das französische Königskind, liebte dieses holde Weibsgeschöpf, obgleich es ihm sternenfern war.

Jetzt wandten sich Augen und Ohren aller im Saale Anwesenden, auch des Königs, auf die große Standuhr, die, unbekümmert wie alles Mechanische, in das Leben des Augenblicks und des Salons hereinfiel und sich betätigte, wie ihr vorgeschrieben war. Zwei hölzerne Hähne krähten dreimal und regten dabei die Flügel. Zu gleicher Zeit öffneten sich Türchen auf beiden Seiten des Gehäuses und hervorschritten weibliche Figuren, wie Amazonen gekleidet, die ihre silbernen Schilde vor sich hertrugen als klöppellose Glöckchen, auf die zwei Amore abwechselnd die Viertel mit goldenen Keulchen schlugen. Jetzt tat sich die Mitte des tempelartigen Häuschens auf und heraustrat eine Goldfigur Ludwigs, des Königs, in Haltung und Tracht eines römischen Augustus. Über ihm erschien eine gelbe Wolke aus Alabaster, aus der eine elfenbeinerne Viktoria herabstieg; sie trug eine goldene Lorbeerkrone in der Hand, die sie ein Weilchen über das Haupt des Königs hielt – eine liebliche Puppenszene, die ein Glockenspiel so fein, wie wenn Tröpfchen auf einen glatten Wasserspiegel fallen, begleitete und verherrlichte. Dann wurde der ganze schöne kunstreiche Spuk schnell ins Innere des Gehäuses zurückgenommen, und die Uhr schlug. Schlug neun.

Der König sah wie ein vergnügter Knabe und selbst stolz auf das, was sein Uhrmeister Anton Morand da gemacht hatte, zwischen dem Werk und den Leuten hin und her, gewiß auch geschmeichelt von der schönen Rolle, die seinem Bilde allemal um die volle Stunde zufiel. Aber es hatte neun Uhr geschlagen, und das bedeutete das Ende der Abendgesellschaft. Der König rutschte von der Brüstung herab und wurde, schnell ein anderer geworden, gleichsam in das Innere seines Schlosses durch eine hinter der Empore plötzlich sich öffnende Tür zurückgenommen, während Publikum und Gesellschaft, Hof und Volk durch die anderen Türen langsam abströmten.

Johannes Weingard, der sich in der Nähe des Saalausgangs hatte festsetzen wollen, wurde vom Strome mit die Treppe hinabgeführt. Erst unten in der Halle, die, nach hinten maueroffen, doch mit vergoldeten Eisenschranken gegen die große Terrasse des Gartens geschlossen war, konnte er Fuß fassen. Und sieh, da wurde Madame Royale von Frankreich, Prinzessin von der Pfalz, in einer rotsamtenen und vergoldeten Sänfte heran- und zu ihrer Wohnung getragen, die links unten von der Halle gegen die Gartenterrasse hin gelegen war. Sie ließ sofort vor Weingard halten, die Sänfte niedersetzen und rief inmitten des Stimmengewirrs französisch Redender auf deutsch aus: »Guten Abend, Küfer Hans, wie geht es dir? Ich darf dich doch wohl noch so anreden? Was bringst du mir Gutes von Heidelberg?«

»Nichts Gutes, fürstliche Gnaden!«

 

Madame Elisabeth Charlotte hatte gewünscht, daß Weingard ihr noch denselbigen Abend sofort Bericht erstatte. Sie hatte sich auf die mondhelle Terrasse tragen lassen und hatte dann mit Weingard eine Laube des Parkes nicht weit vom Becken der Latona aufgesucht. Sie hatte ihren Hofmeister von Wendt und zwei Damen ihres Hofstaats, die Fontanges und die Montespan, holen lassen, auf daß sie mit in der Laube oder nahe bei ihr sich aufhielten. Sie hatte Weingard halblaut vor der Fontanges gewarnt, die als Kind einer elsässischen Mutter Deutsch verstehe. Sie sei ihr als Späherin in ihren Hofstaat gesetzt. Die Fontanges sei augenblicklich die Mätresse des Königs, aber im Begriffe, von der Montespan verdrängt zu werden. Wendt – Hans kenne ihn wohl noch von Heidelberg her – sei ein alter Trottel, zahnlückig und halbtaub, aber er besitze das volle Vertrauen von Monsieur von Frankreich, Herzog Philipp von Orleans, ihrem Manne, um das er sich auch mehr bemühe, als sich für ihren ehemaligen Erzieher schicke. Damit Hans Bescheid bezüglich der Umgebung wisse.

Dieses hatte sie gefaßt und völlig beherrscht vorgebracht. Sie schickte die Fontanges fort, die Hündchen zu holen. Und nun überließ sie sich in der Laube, wo vor der Hagebuchenhecke und in einer Nische aus vergoldetem Lattenwerk eine schlanke Diana im milden Mondlichte stand, ungehemmten, mit Gewalt hervorbrechenden Tränen. »Ach, meine arme Pfalz! Die stärksten besten Rebstöcke haben die Soldaten herausgerissen und damit die Lagerfeuer genährt? Die Obstbäume abgesägt, die Holzbrücken verbrannt? Steine in die Äcker gepflügt und Pferdekadaver in die Brunnen geworfen? Davon habe ich hier doch nichts gehört! Nicht ein Wort gehört! Hier höre ich nur von Eroberungen und Siegen und daß es in dieser Stadt ein bißchen gebrannt habe und daß in jener das Rathaus eingestürzt sei. Und ich habe schon gesagt, als ich glaubte, es handle sich nur um die üblichen Kriegsschrecken, ich wollte Blut und Leben hingeben, wenn ich dadurch die Pfalz vor den Greueln des Krieges bewahren könnte! Was soll ich aber jetzt anbieten? …

Oh, wie furchtbar, wie furchtbar für mich! Das alles geschieht in meinem Namen! Und dabei will ich ja doch gar nichts von der Pfalz! Ich verzichte darauf, zu fordern und ein Recht auszunützen, falls ich eins habe. Aber sie fordern, sie fordern, angeblich für mich, in Wirklichkeit für sich und das Königreich. Selbst von dem baren Geld, das mir beim Tode meines Papas, des Herrn Kurfürsten, zukam, habe ich nicht einen Heller gesehen, und ich bin in ewiger Geldverlegenheit. Meinen Anteil am Tafelsilber in Heidelberg, das du so oft mit aufgetragen und wieder weggeschlossen hast, habe ich hier nicht vor Augen bekommen, obgleich es eintraf. Monsieur, mein Gemahl, hat es den adligen Buben und der ganzen Canaille von Grafen geschenkt, mit denen er im Palais Royal in Paris die Nächte verbringt, ich will nicht fragen wie. Ich werde in das Lasterhaus keinen Fuß mehr setzen! …

In meinen Namen! Was werden die Pfälzer von ihrer Prinzessin Liselotte denken? Sie saugt uns aus, die Liselotte, sie peinigt uns, und wir haben sie so geliebt! So sind die Fürsten! So sind unsere Fürsten! In Deutschland sind sie wie unsere Gutsherren, und kommen sie nach Frankreich, so werden sie Halbgötter! Unsere Liselotte ist da auf einer goldenen Abendwolke im Westen verschwunden, sie thront in Versailles! …

Ach, wenn meine guten Heidelberger wüßten, was es mit dem Thronen in Versailles auf sich hat! Was es auf sich hat mit dem Nach-Frankreich-Gehen! Überhaupt mit dem Außer-Landes-Gehen! Geh über die Grenze, und du bist nur noch ein halber Mensch. Du lässest dein Recht hinter dir, verstehst du das, Hans, dein Recht? Zuhause bist du ein Mensch, der sein Recht fordern darf, in der Fremde darfst du allenfalls um Gnaden bitten, ob du ein Fürstenkind oder ein Leineweber bist. Man sollte zuhause bleiben. Je älter ich werde, desto mehr denke ich an Papa, der tot ist. Papas Sorge war Frankreich. Er war bereit, sich den Frieden mit Frankreich zu erkaufen. Aber Frankreich kann keinen Frieden mit Deutschland halten. Nur mit einem starken Deutschland kann es Frieden halten. Denn ein schwaches reizt Frankreichs Begehrlichkeit und macht es ihm allzu leicht, sich ein neues Stück von Deutschland anzueignen. Elsaß hat es sich vom Reiche, Flandern von Spanien genommen. Es hat schon über den Rhein gegriffen und sich Freiburg und den Breisgau angeeignet, es wird Baden nehmen, es wird die Pfalz nehmen – in meinem Namen! – Heidelberg und Frankfurt und Köln und Aachen, es wird das Elsaß bis nach den Niederlanden ausdehnen, es wird alles nehmen, alles nehmen, was zu nehmen man ihm nicht verwehrt. Und man wird es ihm nicht verwehren können, denn man ist schwach und uneins, und Frankreich achtet nur die Macht, die Stärke und die Geschlossenheit, die es selbst hat. Und so wird es alles nehmen, ich weiß es, und es ist wohl in der Ordnung so.«

Ihre Zähren strömten, und sie schwieg. Man hörte den Überfall des nahen Beckens der Latona und bald auch die ferneren vielen Wasser des Parkes rauschen. Plötzlich, wie aus dem Boden gesprungen, war die schöne Fontanges da und trat in die Laube.

Erstaunlich geschwind veränderte sich der Prinzessin Gesicht, als die Feindin erschien. Ihre Tränen versiegten, ihre Wangen wurden wie von einem heißen Winde getrocknet. Natürliche Heiterkeit stand auf ihren Zügen. Sie begrüßte mit großem Aufwand spielender Zärtlichkeiten ihre Hunde. Aber für die Tierchen war es nachtschlafende Zeit, sie waren offenbar aus dem Schlafe geholt worden, und sie verkrochen sich matt und mißmutig unter der Fürstin Rock. Und die Fontanges lächelte schlau.

Madame stellte ihrer Hofdame ihren Besucher nicht vor, o nein. Aber als setze sie ein durch die Dazwischenkunft der Fontanges unterbrochenes Gespräch fort, frug sie ihn: »Und den Zwerg Perkeo gibt es noch im Schloßkeller, Herr Wirt? Ist er noch gesund, der Krumme?« Und der schnell verstehende Weingard sagte: »Er behütet weiter das große Faß und ist mit bloßem Bewundertwerden als Lohn zufrieden.« Und die Fontanges lächelte wieder schlau.

Aber – ärgerte das Lächeln der Dame die Prinzessin, oder war sie überhaupt dieses Tones und des Versteckenspielens vor einer Dienerin satt – sie sagte auf französisch: »Mademoiselle de Fontanges hat beim Abendempfang Seiner Majestät wunderschön getanzt. Sie wird müde sein. Ich entlasse sie für heute abend.« Mademoiselles schönes Gesicht veränderte sich jäh, aber dann nahm es wieder sein Berufslächeln an, sie verneigte sich und ging.

Die knabenhaft herbe Montespan schlief auf ihrer Marmorbank, und Monsieur de Wendt schlief fest und schnarchte leise. Sein schon vom Dienen, Gehorchen, Lächeln ausgeleertes altes Gesicht sah mit halbgeöffnetem schiefem Munde und kraftlos hangendem Unterkiefer unbeschreiblich dumm aus.

Elisabeth behielt nun den heiteren Ton bei und sagte: »Man kann nicht immer traurig sein. Es ist wider meine Natur, hilflos zu trauern. Ich habe soviel geweint, seit sie mit der Pfalz so umgehen. Aber man wird vom ewigen Weinen noch häßlicher als man schon ist.« Und sie drückte in Selbstironie ihre Stupsnase noch platter.

»Eure Gnaden sind dieselbe geblieben«, sagte in Ehrfurcht zärtlich Johannes, »darf ich es sagen: der Wildfang von Heidelberg?«

»Hans, Hans, was haben meine Fräuleins und ich für Streiche gemacht!« rief Elisabeth leise. »Hier macht man keine Streiche. Hier gibt es Abenteuer, meistens in Amouren, aber keine Streiche. Weißt du noch, Hans, wie du uns wiederholt herausgehauen hast, wenn wir's zu toll getrieben hatten, und die Schuld auf dich nahmst? Das war ritterlich von dir! Oh, was für Streiche!« Der Herzogin von Orleans perlten noch in nachlebender Erinnerung die hellen Lusttränen aus den Winkeln der vor Lachen zugekniffenen Augen. Ach, die Jugend in Heidelberg!

»Benutzt man den Brunnen im Schloßhof noch – er ist so tief, daß, wenn man einen Fauststein hineinwirft, nach zwei oder drei Sekunden erst der Schall oben seine Ankunft unten meldet, ein Schall so stark, als hätte man eine Kanone abgeschossen? Lebt der hundertjährige Rosenstock im Bibliothekswinkel noch? Lassen noch immer die roten Sandsteinmänner am Ottheinrichsbau ihre Arme oder Beine fallen? Singt das Glockenspiel auf dem Rathaustürmchen unten in der Stadt noch immer: Ein feste Burg – aber das Glöckchen der dritten Note ist verstimmt? Und Er hat sich jetzt in der Rittergasse ein großmächtiges Hotel Zum König von Portugal eingerichtet. Er, der Küfer Hans vom Schloß – aber so erzähl Er doch, Mensch!«

»Sie benutzen den Brunnen noch, aber die Prinzessin Liselotte hat soviel Steine hineingeworfen, daß der Schall jetzt schon nach einer Sekunde oben ankommt. Der Rosenstock blüht noch. Die Sandsteinmänner werfen noch mit ihren Gliedern um sich, und das Glockenspiel singt noch immer falsch – aber alles das vielleicht nicht mehr lange. Die Franzosen werden den Brunnen ganz ausfüllen, sie werden den Rosenstock durchsägen und das Rathaustürmchen mit dem Glockenspiel herabstürzen. Und die Stadt abbrennen. Und die Heidelberger werden ihren Wanderstab nehmen und werden auswandern und ins Elend gehen … Wenn wir es nicht verhindern, Madame! Denn deswegen haben die Heidelberger mich gesandt, in ihrer Verzweiflung gesandt an Eure fürstlichen Gnaden, den König von Frankreich zu vermögen, Heidelberg leben zu lassen.«

»Ach, mein Lieber, den König von Frankreich vermögen! Der große Mann ist in allem, was Politik angeht, unzugänglich wie ein Fels. Ach, vermögen! Ihr guten Heidelberger! Was denkt ihr euch, was die Madame Royale von Frankreich vermag! Der König ist das Höflichste und das Liebenswürdigste, was es in Frankreich und überhaupt auf der Welt gibt, im Salon, mit Frauen, mit dem Volke – in Geschäften aber ist er von Stein und Eisen. Nichts vermag etwas über ihn und die fürchterlichen Männer, die er um sich hat, die Louvois und Chamlay. Sie sind von Eisen allesamt! Kein Schrei der Menschen dringt an ihr Herz! Sie haben nur den einen Gedanken, Frankreich groß zu machen. Frankreich groß zu machen. Frankreich groß machen, ausdehnen, erweitern – sie tun es natürlich dort, wo der Widerstand am kleinsten ist. Ach, warum ist der Ort grade in Deutschland? Ach, warum grade in meiner Pfalz?«

»Wenn die Madame von Frankreich, die Schwägerin des Königs, verzweifelt, wie soll dann der Wirt aus Heidelberg hoffen dürfen?!«

»Ich werde versuchen, Hans, mit dem König zu sprechen«, sagte sie leise, verzagt und traurig.

»Bald, ach bald!« drängte Johannes Weingard. »Es kann sehr bald zu spät sein.«

Die Hündchen unter Madames Rock schnarchten leise, das Mondlicht floß über den Park, und man hörte nahe und fern, laut und leise zahllose Brunnen fließen und rauschen.

Die Schräge herab und um das Becken der Latona herum, das man im Ausschnitt des Laubeneingangs sehen konnte, kam eine weibliche Gestalt. Ihr Kleid aus glatter Seide schimmerte weiß und bläulich im Mondlicht. Und von der andern Seite hörte man männliche Tritte sich nahen. Und dann wurde ein melancholisches Liedchen gesungen:

L'amour, la nuit et la mort …

und man hörte ein Trittepaar im leise knirschenden Gartenkies vergehen.

»Die Prinzessin Conti und der Graf von Grammont«, flüsterte Madame. »Ich kenne jede Schrittweise am Hofe. Gestern war es der Herzog von Vendôme.«

Später, im Schlafe, träumte Weingard: Heidelberg brannte. Die Stadt brannte unten im Tale. Das Schloß brannte oben am Hange. Aber wie ein Fluß unterirdisch durch Höhlen und Klüfte der Kalkfelsen, so kam der künstliche Fluß von Versailles durch Leitungen, Rohre, Schalen, Steinleiber und Erzmünder daher und fiel vom Königstuhl auf den Brand. Und löschte das Feuer des Schlosses und der Stadt. Madame von Frankreich aber freute sich gar nicht sehr über die Rettung von Väterschloß und Heimatstadt, sondern aus den Winkeln der zusammengepreßten Augenlider perlten Tränen des nach innen schluchzenden stummen Schmerzes; denn in dem rettenden Wasser waren ihre Hündchen ertrunken …

*

 

Der König trat ein. Louvois, Chamlay und Vauban verneigten sich tief. Dem dicken Kriegsminister Louvois machte die Verbeugung einige Schwierigkeit, Chamlay, der junge Generalquartiermeister der Feldheere, wurde leicht damit fertig, am leichtesten aber der schon ergrauende lange und äußerst schlanke, gleichsam körperlich genau ausgerechnete Festungsbaumeister Vauban.

Der König ließ den Herren Zeit, das, was sie in ihren Gruß legen wollten, ganz auszudrücken. Aber auch er machte eine Verbeugung, wie es sich gebührte, und keiner von den dreien hätte Grund gehabt, sich zu beklagen.

Der König sagte zu Chamlay: »Ich habe Sie von Mainz rufen lassen, Herr Chamlay – wie finden Sie Versailles?«

»Ich wundere mich über den neuen Akt der Liberalität Eurer Majestät, die Eisentore des Parkes haben ausheben zu lassen. Nun strömt das Volk ungehemmt in die Gärten.«

»Was wollen Sie, Chamlay, das Volk will sein Vergnügen haben. Obgleich die Canaille in der Dreiquellenallee mir bereits den Marmor der ›Abendstunde‹ von Desjardins beschädigt hat. Und Sie, Vauban, auch Sie mußten von der Arbeit an den Rheinforts herein – ich kenne Sie genug, um zu wissen, daß Ihr erster Gang nicht zu mir, sondern in die Gärten gewesen ist, zu sehen, welch neues Bildwerk aufgestellt wurde.«

»In der Tat, Eure Majestät! Und welch ein entzückender Marmor auf der Terrasse der Latona ist der neue Le Hongre ›Die Luft‹! Ein Zephir bewegt leicht den Schleier um das halbnackte junge Weib. Welche Jugend, welcher Scharm …!«

»Zu den Geschäften!« rief der König.

»Die Lage ist die«, begann Louvois, nachdem alle sich gesetzt hatten: »Speyer, Worms, Mannheim, Heidelberg, Mainz sind in den Händen des Königs. Die Politik der Überraschung hat sich bewährt, mag der arme Reichstag von Regensburg noch darüber zetern, daß wir ohne Kriegserklärung einmarschiert sind. Der Kaiser und die Kräfte des Reiches sind festgelegt vor Belgrad. Wir haben den Türken vermocht, keinen Frieden mit dem Kaiser zu schließen. Das Reich liegt offen da. Auf dem rechten Rheinufer besitzen wir bereits Freiburg und Philippsburg. Es liegt nur an uns, mehr zu haben. Trotzdem werden die festen Plätze und die Städte überrhein stets ein unsicherer Besitz sein. Ja, auch der Städte auf dem linken Rheinufer, mit Ausnahme von Straßburg und den elsässischen Plätzen, die wir fest in der Hand haben und die Vauban uns jetzt nach dem Willen Eurer Majestät mit prächtigen Forts schützt, können wir nicht immer sicher sein. Eure Majestät weiß, daß die Eroberung, oder sagen wir: geschickte Aneignung, des Elsaß doch nicht unbemerkt in Europa vor sich gegangen ist, daß außer dem Kaiser, der grollt, auch die Niederlande und selbst England murren. Deshalb mein Gedanke, daß die Politik der Vorgänger an meinem Platz, der Herren Kardinäle Richelieu und Mazarin, langsam und stetig nach Osten vorzustoßen, unmerklich und bei jeder Gelegenheit einen Fuß vor- und niemals einen zurückzusetzen, sich aufgebraucht habe. Daß es Frankreich nicht mehr auf neues Land ankommen solle, sobald wir die Grenze Galliens, den Rhein, überall erreicht haben. Mein Gedanke ist also denn, ganz klar und deutlich gesprochen, daß man zwischen Frankreich und das Reich eine Wüste legen solle, die ein feindliches Heer nicht so leicht durchschreitet, in der es bei einem Vormarsch keine Stütze und bei einem Rückzug keine Anklammerungspunkte findet. Von Quartieren und Verpflegung zu schweigen. Deshalb muß alles in diesem Landgürtel, dessen Breite zu bestimmen ist, verschwinden. Es gäbe auch die Möglichkeit, den Rhein einzudämmen, ihn hierhin und dorthin zu führen und ihn so zu veranlassen, seine Kiesel über das ganze Land zu schütten und eine Quarz-, Schotter- und Sandwüste zu erzeugen. Einzig die Festung Mainz in dieser Gürtelsahara aufrechtzuerhalten, selbstverständlich in französischer Macht, möchten wir raten. Denn Mainz im Rheinknie ist der natürliche vorgeschobene Posten Frankreichs, Beobachtungs-, Wacht- und je nachdem Angriffs- oder Verteidigungsposten. Mainz darf Frankreich niemals räumen. Der Name Mainz muß jedem französischen Ohr so geläufig und heilig werden wie Reims und Saint-Denis. Wir raten bezüglich Mainz noch mehr, nämlich einen Ausleger von Mainz drinnen im Reiche zu behaupten. Gemeint ist Erfurt. Jetzt genau vor fünfundzwanzig Jahren hat Frankreich, Frankreichs weitausschauender König Ludwig, dem Erzbischof und Kurfürsten von Mainz militärische Hilfe gegen seine widerspenstige Stadt Erfurt geleistet. Wir müssen die lustige Tatsache, daß in dem Landkartenmosaik Deutsches Reich das ferne Erfurt zu Mainz gehört, nützen. Wo Franzosen einmal, und sei es als Freunde, als Bundesgenossen, als Helfer oder als Flüchtlinge, ihren Fuß hingesetzt haben, da ist ein ewiger französischer Anspruch in den Boden geschrieben, denn der Grund, wo ein Franzose seinen Fuß hinsetzt, ist heilig. Frankreich hat die Stadt Erfurt im Herzen Deutschlands ausgewählt, um ihr gut zu sein, dann wird es nämlich dem Reiche übel sein. Das wäre unser Vorschlag bezüglich Mainz' und seines Anhängsels Erfurt. Im Landgürtel an der Grenze aber muß alles vom Erdboden verschwinden, die Städte, Dörfer, Häuser und Weiler, wie sie daliegen. Die Bewohner sollte man nach Frankreich in gewisse menschenleere Gegenden führen, es wird keine Härte für die Leute sein, denn sie werden es als ein großes Glück ansehen, in Frankreich wohnen zu dürfen. Sie sollen aber alles mit sich führen – nicht nur dürfen, sondern müssen – denn Frankreich braucht jede Schmiede und jeden Mühlstein, die dort im Schutt müßig liegen würden, und wir werden noch das Holzwerk der Dächer und die Eisenteile aus jedem Rahmenwerk in unseren Festungen verwerten können. Deutschland hat mehr Menschen als Frankreich, das ist eine traurige Tatsache, der Frankreich mit allen Mitteln, mit allen, begegnen muß. Mein Gedanke, dem Monsieur Chamlay beigetreten ist, unser Gedanke also ist der, Frankreich in eine natürliche Festung zu verwandeln – wozu man der Beihilfe des Herrn von Vauban bedarf, weshalb ich Eure Majestät gebeten habe, ihn rufen zu lassen – keine weiteren Eroberungen zu machen, was den Ohren der Welt angenehm klingen wird, und doch Frankreich einen starken Zuwachs an Bewohnern und damit an Macht zu verschaffen. Denn diese Deutschen, denen wir den Vorzug, französische Bürger werden zu dürfen, bald einräumen müßten, sind, darüber ist die ganze Welt sich einig, fleißige und ihren jeweiligen Herren stets sehr ergebene Leute.« Er schwieg.

»Sind Sie fertig, Herr von Louvois?« frug nach einer Weile der König.

»Jawohl, Sire.«

»Wünscht jemand von den anderen Herren etwas zu sagen –? Nun denn«, sagte der König, in seinem Sessel sich vorneigend und die Fingerköpfe der zum Korbe zusammengestellten beiden Hände aufeinander tanzen lassend, »Ihr Vorschlag, Herr von Louvois, spricht sich, scheint mir, von genialer Kühnheit frei, die noch die Politik des Kardinals gekennzeichnet hat. Mit einziger Ausnahme des Gedankens an Erfurt, aber den hat möglicherweise auch schon der Kardinal gedacht, als er in meiner Jugend mich veranlaßte, dem Mainzer Erzbischof die Truppen dorthin zu Hilfe zu schicken. Es gab einst Feldherren wie Condé und Turenne, und sie entschieden die Kriege durch offene Feldschlachten …«

»Sire«, warf Chamlay ein, »ich möchte im Gegenteil glauben, daß wir uns glücklich schätzen dürfen, daß die Zeit der großen Feldherren vorüber sei und die Politik also des unberechenbaren Bestandteils ihrer Kriegführung entraten könne. Die Zeit von heute setzt an die Stelle des Einfalls die Überlegung, an die der Stegreiferfindung die Planmäßigkeit.«

»Jawohl«, sagte der König, »an die Stelle der offenen Feldschlacht die Verteidigung hinter dem Festungsgürtel. Die Herren werden ja wahrscheinlich recht haben, aber die Übung der Condé und Turenne war größer. Man wird uns vorwerfen, nicht mit gebräuchlichen und ehrlichen Mitteln Politik gemacht zu haben.«

»Not kennt kein Gebot, Sire«, sagte der Kriegsminister. »Wenn mein Feind übermächtig ist, so fange ich an, mit Händen und Füßen um mich zu schlagen, und verschmähe den Gebrauch der Zähne nicht. Deutschland hat mehr Macht und mehr Menschen, das muß Frankreich wettmachen durch Geschlossenheit, Kraft und, wenn man will, Verschlagenheit.«

»Ich glaube, da wir die Angreifer sind, verträgt es sich nicht mit der Lehre vom Denken, von unserer Not zu sprechen.«

»Majestät machen sich großmütig zum Anwalt des Feindes«, sagte Louvois. »Vielleicht darf darauf hingewiesen werden, daß der Feind und Kaiser reichlich Anwälte und Verteidiger findet, wie immer in der Welt der, dem angeblich oder vermeintlich Unrecht geschieht. Denn alle Welt tut selbst zwar gern Unrecht, entrüstet sich aber über das Unrecht, das andere tun. Wir haben das am allgemeinen Murren im Falle unserer Besetzung Straßburgs erlebt. Aber die Zeit läßt die Menschen an einen andern Zustand der Dinge sich gewöhnen, und Unrecht wird allmählich Recht. Doch das sind Sorgen Deutschlands, nicht Frankreichs.«

»In der Kriegführung und in der Politik wie im Spiele«, sagte der König, »muß ich möglichst genau wissen, was mein Gegner denkt. Grad von vorn geht nur die rohe Kraft vor – beim Kartenspiel wenigstens hilft sie gar nichts. Deutschland leistet es sich, politischen Gedanken zu leben, die nach meiner Ansicht verfrüht sind. Es ist ein Volk von freien Menschen, aus der überbetonten Freiheit des Einzelnen geht der Gedanke der Selbständigkeit der kleinen Verbände und Zwergstaaten hervor – sehr schön, nur darf man nicht einen Nachbar haben, der das Recht der Einzelnen dem Rechte der Nation unterordnet. In Frankreich sucht, in Deutschland flieht alles das Zentrum. Möglich, daß dieses Dezentralisieren einmal Heil und Lehre der Staatskunst wird, dann aber hat Deutschland diese Lehre zu früh verwirklicht. Das eine ist für heute und wahrscheinlich noch für einige Zeit sicher: der Gedanke der Selbständigkeit der kleinen Räume, der Deutschland schon die Niederlande und die Schweiz – wir sind damit keineswegs unzufrieden – gekostet hat, trägt die Grenzen des Auslandes immer weiter in das Gemorsch der selbständigen Staaten vor. Wir lieben die Idee der Autonomie – bei Deutschland. Wir schützen seine autonomen Glieder, zum Beispiel die Schweiz. Frankreich beschützt die Protestanten, falls es deutsche Protestanten sind, die eigenen muß es verbrennen. Beschützt jene, obgleich es die allerchristlichste katholische Macht ist, darin zeigt es Weitherzigkeit und Liberalität, die so sehr an uns gefallen. Man muß anfangen, die Welt statt durch Heere durch Worte zu besiegen. Ein gut geprägtes Wort ist eine Feldarmee wert. Welches Wort haben wir, wenn wir uns für die Wüstlegung entschließen?«

»Glacis vor Frankreichs natürlicher Festung an seiner Rheingrenze«, sagte plötzlich der bisher schweigsame Vauban.

»Gut ›Glacis‹, das sieht man! Aber das ›natürlich‹ muß irgendwo anders stehen. ›Natürliche Rheingrenze‹ etwa, das prägt sich ein, obgleich nichts daran ist. Denn es ist klar, daß Frankreichs Naturgrenze gegen Nordosten die Vogesen sind, wo ja auch die französische Sprache aufhört. Aber ›Natürliche Rheingrenze‹ ist ausgezeichnet. In fünfzig Jahren, wenn man das Wort nur immer wiederholt, glauben Deutsche und sogar Franzosen daran.«

»Eure Majestät sind also mit unserem Vorschlag einverstanden?« kam Louvois auf seine eigenste Angelegenheit zurück.

»Ich habe nichts gesagt«, antwortete der König. Er stand auf und trat ans Fenster, das in den Park ging. Unten sah er Madame mit einem fremden Manne aus dem Volke, der ein deutscher Landsmann von ihr sein mochte, auf dem großen Parterre der Hauptterrasse spazieren, gefolgt von ihren fünf Hunden und in einigem Abstande den beiden Damen Montespan und Fontanges. Der König war verstimmt.

»Wenn ich Ihren Vorschlag annähme, Herr von Louvois, so käme mir das wegen Heidelbergs ein wenig hart an. Da ist meine Schwägerin …«

»Wenn der Madame la Palatine altmodisches winkliges Schloß in Heidelberg dran glauben muß, so wohnt sie doch jetzt in Eurer Majestät Weltwunder in Versailles! Ich wüßte nicht, welches größere Glück eine deutsche Frau …«

»Schweigen Sie, Chamlay! Und überhaupt«, wandte er sich an den General, »was sagt denn unser Herr von Vauban dazu? Oder denkt er nur an seine Violine, die er, wie ich höre, auch ins Feld mitnimmt?«

»Wie sollte man im rauhen Feldlager leben können, Majestät«, sagte Vauban fein lächelnd, »wenn man inmitten dieses abscheulichen Getues, wie es das Laufgräbenziehen und Festungsbauen ist, nicht ein bißchen süßes Violinspielen hätte? Bedenken Eure Majestät, ich war doch ein Architekt, ein Kirchen- und Kapellenbauer, ehe Eure Majestät glaubten, daß ich besser bombenfeste Unterstände …«

» Enfin«, sagte der König, »was haben Sie vom Gesichtspunkt des Praktischen aus zu sagen?«

»Was ich zu sagen habe vom Gesichtspunkt der Ausführbarkeit der Vorschläge der Herren Kriegsminister und Generalquartiermeister aus«, sagte Vauban, wie eine Katze auf ihre Füße auf die Elemente seines eigentlichen Berufes fallend, »ist dies: Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, wenn die Herren Louvois und Chamlay vom Städtezerstören, -umwerfen, -rasieren, -dem-Boden-gleichmachen, vom Landwüstlegen gesprochen haben, wie sie das eigentlich machen wollen? Eine Stadt ist in ein paar hundert Jahren gebaut worden! Alles vielfältige und ungezählte menschliche Werk in einem Lande ist wie die uralten Bäume der Wälder gewachsen. Schließlich wären es doch meine Arbeitssoldaten und Schanzleute, die, wenn ein solcher Befehl käme, dazu da wären, ihn auszuführen …«

»Und wenn nun ein solcher Befehl käme, Herr General«, unterbrach ungeduldig und schroff der Kriegsminister, »wie würden Sie ihn ausführen?«

Vauban sah etwas überrascht über den barschen Ton Louvois' diesen und dann den König an. Auch der König sah, ein wenig befremdet darüber, daß eine Frage des Kriegsministers über ihn, den König, hinweg unmittelbar an den General der Bauten und Werke gegangen war, Louvois an. Aber weil Seine Majestät schwieg, so antwortete Vauban, den König ansehend: »Da gäbe es kein anderes Mittel als das Feuer.«

»Feuer –?«

»Ja, man müßte das Feuer zu Hilfe nehmen. Es ist erstaunlich, wieviel Schaden Feuer selbst Steinbauten zufügen kann, wenn nur etwas Holz in ihnen ist …«

»Es wäre also an sich möglich, eine Stadt durch Abbrennen umzulegen?« frug der König.

»Eure Majestät sind also …?!« rief Louvois. Doch der König erhob die Hand wider ihn, zum Zeichen, daß er schweigen solle. Und es drückte auch aus, daß er durchaus nichts, durch – aus – nichts – bitte! – gesagt habe.

»Ja«, sagte Vauban, »möglich wäre es schon mit Hilfe des Feuers.« Er sagte es fast kleinlaut, denn welcher Architekt, nicht wahr, kann Freude bei der Aussicht auf Einreißen empfinden, da seine ganze tiefe Lust am Berufe doch das Errichten ist? »Und es wäre mit Brecheisen und Hebelbalken nachzuhelfen, wenn die Ruinen erkaltet sind«, sagte er noch, sich abwendend und fast angeekelt von der Möglichkeit solcher Arbeit, die der des Henkers und Abdeckers verwandt war.

Die Herren des Kriegsrates waren aufgestanden, weil der König stand, sie setzten sich wieder, als der König sich von neuem setzte.

»Ich lege Wert darauf, sagte Ludwig, »daß meine Ratgeber die Gesichtspunkte, nach denen ich die Politik Frankreichs führe, kennen und verstehen und sie womöglich billigen. Frankreich hat sein goldenes Zeitalter der Geschichte und Deutschland sein schwarzes. Es war nicht immer so, zu Zeiten der Staufer war es wahrscheinlich umgekehrt. Soll Frankreich edelmütiger sein, als die Geschichte von ihm fordert? Deutschland ist eine Kolonie Frankreichs« – überrascht schauten die Kriegsräte den König an. »Ja, Kolonie!« beharrte Ludwig. »Unser Kaiser Charlemagne eroberte das Sachsen- und gewann das Bayerland als Kolonie Frankreichs. Die Kolonie wurde selbständig, wie das zu gehen pflegt, ja, sie brachte die römische Kaiserkrone an sich, die von Rechts wegen dem älteren und gebildeteren Lande, Frankreich, gehörte. Damals hatte die Kolonie ihre große Zeit. Aber die Kolonie verfiel, wie das auch Kolonien zu geschehen pflegt, wenn sie sich nicht richtig zu regieren wissen. Es ist recht, daß jetzt Frankreich seine große Zeit habe. Die Kolonie ist aus der Neigung des Mutterlandes zur Ostbewegung hervorgewachsen. Haben nicht die Deutschen Könige ihren Sitz, ihre Krönungs- und Grabstätten immer weiter östlich getragen? Ich nenne die Namen: Aachen, Speyer, Frankfurt, Bamberg, Wien. Die Deutschen haben sich nach Osten ausgedehnt, wie das richtig war: nach den Ländern östlich der Elbe, nach Böhmen und den baltischen Küsten und jetzt nach Ungarn. Sie sollen weiter nach Osten rücken, aber Frankreich, das auch seinen Ausdehnungsraum braucht, nachrücken lassen. Die baltischen Länder, sie sind das Elsaß Deutschlands. Frankreich muß unbedingt bis an den Rhein vorstoßen, mögen die Deutschen bis an die Düna gehen. Polen? Was geht uns Polen an! Polen ist unser Freund, weil es Deutschland im Rücken sitzt. Die Nächsten sind sich immer feind, wie Spanien und Frankreich, wie Frankreich und Deutschland, wie Deutschland und Polen, wie Polen und Rußland. Die Übernächsten sind sich immer freund wie Spanien und Deutschland, wie Frankreich und Polen, wie Deutschland und Rußland. Warum Frankreich polnische Politik macht? Weil Deutschland noch stark ist. In dem Augenblick, wo Deutschland endgültig schwach ist, können wir Polen entbehren. Wollte Deutschland auf der europäischen Bank nur weiter nach Osten rücken, so würden wir ihm Polen opfern. Frankreichs Grenze ist der Rhein, vielleicht die Weser, allenfalls die Elbe. Mit dem Streifen zwischen Rhein und Weser als Grenze und dem zwischen Weser und Elbe als Vorland, als ›Glacis‹, wie Herr von Vauban in seiner Sprache sagt, wäre Frankreich völlig gesättigt. Warum sollte nicht Deutschlands Herz in Posen oder in Kalisch schlagen? Die Deutschen würden aus den polnischen Strecken schon etwas Ordentliches machen, wie sie es aus Schlesien zu tun im Begriffe sind. Sie sind die geborenen Kolonisten. Sollte Deutschland stark und uns furchtbar bleiben – heute in seinem Jammerbild ist es uns noch viel zu stark und hindert zwar nicht, aber hemmt und verlangsamt unsern Zug nach dem Osten – und sollte es einmal Polen verschwinden machen, nun, so wird Frankreich, nach dem Gesetz vom Übernächsten als Freund, der Freund Rußlands werden. Und das kann so weitergehen, meinetwegen bis zum Mongolen oder Chinesen. Jetzt ist schon der Türke Frankreichs Freund und bekriegt ihm den Kaiser. Frankreich aber ist immer der Erste und unsterblich.«

»Gedanken eines Königs!« rief Louvois. »Frankreichs Geschick ist in guten Händen!«

»Frankreich unsterblich!« rief Chamlay; »dann wollen wir Franzosen gern sterben!«

»Aber vorerst noch leben und kämpfen und alles vor dem König niederlegen und einebnen, was eine solche sonnenweite Politik hindern könnte«, sagte, nun auch lächelnd und strahlend, wenn auch seiner Art nach gemäßigt, der General Vauban.

»Also soll die Pfalz, damit der Weg frei werde nach Osten, vorerst eine Wüste werden, und sollen Speyer, Worms, Mannheim, Heidelberg durch Schwert, Hebel und Feuer umgelegt werden, Sire?«

»Ich habe nie etwas anderes gedacht«, sagte lächelnd der König.

*

 

»Mir scheint, Eure Gnaden, es hat keinen Zweck mehr, zu warten. Mir scheint, Heidelberg hat sich vergeblich die Kosten meiner Reise gemacht. Drei Monate bin ich da. Noch immer hat mich Seine Majestät nicht empfangen.«

Johannes Weingard und die Herzogin von Orleans standen vor dem Tiergarten. In einiger Entfernung warteten vier Schweizer, die Träger der zur Erde niedergelassenen roten Sänfte. Noch etwas weiter entfernt gingen die Damen Montespan und Fontanges in nichtssagendem, die Dienststunde füllendem Gespräche.

Die Herzogin schwieg. Sie fütterte durch das Gitter die beiden kleinen sandfahlen Gazellen aus der Sahara mit Blumen, mit Wicken- und Erbsenblüten, am liebsten aber fraßen die Gazellen die Rosen.

»Hast du auch alles versucht, Hans?«

»Ich glaube, alles. Ich habe versucht, den Herrn Louvois zu sprechen. Ich ging zu dem Zweck zum Hofminister Duc d'Enghien. Der empfing mich in Gegenwart seiner Mutter, ich habe beiden Herrschaften unser Anliegen und unsere Not klagen dürfen, sie hörten mich allergnädigst an. Die Prinzessin von Conti kam dazu, sie hat tief den elenden Zustand der Pfalz bedauert, ich habe Tränen in den Augen der hohen Frau gesehen, und ich meinte, sie beschloß still bei sich, unter der Hand bei dem König, ihrem Herrn Vater, Fürbitte einzulegen. Doch es scheint vergeblich gewesen zu sein. Der Duc d'Enghien setzte aber durch, daß Herr von Louvois mich empfing. ›Könnt Ihr Französisch?‹ frug mich Louvois. – ›Ja, Herr.‹ – ›Was wollt Ihr?‹ – ›Ich bin der Mann, der von der Regierung zu Heidelberg geschickt worden um Zusicherung des Versprechens von höchstem Orte, daß der Stadt nichts Übles geschieht. Denn gewisse Zurüstungen der besetzenden Truppen in Heidelberg und uns zu Ohren kommende halbe Äußerungen der Herren von der Generalschaft lassen Bürgervolk und Regierung Schlimmes befürchten.‹ – ›Was bildet sich die Regierung zu Heidelberg ein? Stadt und Land sind des Königs, und es ist dort keine Regierung mehr!‹ Herr von Chamlay stand dabei, und ich redete ihn an: ›Herr, Ihr habt seinerzeit, bevor Ihr in Heidelberg einzogt, der Stadt Versprechungen gemacht, wenn sie sich gutwillig ergäbe. Eure Ehre steht auf dem Spiele!‹ Aber Herr Chamlay hat mit Daumen und Mittelfinger ein Schnippchen geschlagen und hat Herrn von Louvois angeschaut. Und schon überlegte Herr von Louvois, solchermaßen in die Enge getrieben, an einer Antwort – da kam ein Kammerherr und meldete, Seine Majestät der König wünsche, daß die Herren zum Billardspiel kommen. Worauf beide fast fortliefen. Ich rief hinterher: ›Die Pfalz! Die Pfalz!‹ Aber die Herren antworteten: ›Das Billard! Das Billard!‹ – – Ich glaube, es bleibt nichts übrig, als daß Eure Hoheit sich selbst bei Seiner Majestät verwenden.«

Die Herzogin fütterte den Gazellen immer wieder Rosen in die nassen Mäulchen. Die Tierchen schauten aus schwarzen hintergrundlosen Augen nach den Händen der Spenderin. Jetzt sagte Elisabeth: »Höre, Hans. Als man mir zu Fontainebleau, lange bevor du kamst, sagte, man gehe in die Pfalz, mein Erbe einzutreiben, für mich dort zu arbeiten, da habe ich geantwortet: ›Was ist denn dorten zu tun? Laßt mich hingehen, wenn etwas zu tun ist!‹ Aber man gab mir den Bescheid: ›Madame, wo denkt Ihr hin? Ihr wollt Euch doch nicht der Gefahr aussetzen am Haupte der Armee?‹ Ich aber habe gesagt, wenn es ihnen ernst damit sei, daß sie nur für mich ins Feld gingen, dann sollten sie mich an der Spitze der Armee gehen lassen, ich fürchte mich nicht. Oder noch besser und lieber ohne Armee, die ganz überflüssig sei, mich zu meinen Pfälzern schicken, die würden mir schon mein Recht geben. Aber das war natürlich unmöglich, denn ich bin hier nicht nur in der Fremde, ich bin auch in der Gefangenschaft. Mich hält ein höflicher Mann hier gefangen, der König, er verbietet nichts mit rauhen Worten, aber er hat eine Art, Sorge für mich zu zeigen wegen der Reisegefahren, der Krankheiten, der von vielen Truppen überlasteten Straßen, oder auch nur, mich eine betrübte Miene sehen zu lassen, daß ich dann von selbst weiß: er will es nicht. Bereite ihm nicht den Schmerz, es selbst sagen zu müssen.

Trotzdem bin ich zum König gegangen. Beim König muß man um Zulassung bitten, auch wenn man zum Hofe gehört, verstehst du, und muß es auf einen Zettel schreiben, weshalb man Gehör begehrt. Und ich habe in meiner Herzensangst einfach darauf geschrieben: Pfälzische Affären, und das war eine Dummheit. Denn der König hat schriftlich geantwortet: die Pfälzer Affären seien so schwierig, daß Männer sich augenblicklich schwer mit ihnen die Köpfe zerbrächen, er könne es nicht verantworten, wenn es auch noch Frauen täten. So ist er, höflich und verbindlich, aber es heißt: nein.«

 

Als Johannes Weingard der Herzogin den aus Heidelberg eingegangenen Brief, der die Zerstörung von Speyer, Worms, Mannheim und Oppenheim berichtete, vorgelesen hatte, saßen beide schweigend da. Weingard, die Augen in der Muschel der Rechten, hielt mit der herabhangenden Linken das Papier, den Boten des Furchtbaren. Elisabeth Charlotte war wie versteinert. Vom nahen Trianon tönte fröhliches Lärmen der Hofgesellschaft herüber, denn der König Ludwig besichtigte in großem Staate das Schlößchen im Parke, das die Architekten Mansart und de Cotte ihm als schlüsselfertig übergeben hatten. Zum erstenmal während ihrer langen Anwesenheit in Frankreich und am Hofe hatte die Pfälzerin sich einer Veranstaltung der Hofgesellschaft entzogen, nachdem ihr die Kunde von einem aus der Heimat eingetroffenen, überaus wichtigen Briefe geworden war. Und nun saß sie da, zu schwer getroffen, um noch denken, zu traurig, um weinen zu können.

Die Herzogin von Orleans und ihr Gast befanden sich in einer Nische der Hecken nahe einem Winkel des Kreuzes, den der große Kanal im Parke bildete. Den Wendt und die Damen hatte die Herzogin nach Trianon entlassen. Sie sagte schließlich, aus ihrer Erstarrung gleichsam aufwachend: »Ich begreife doch unsere Pfälzer und Deutschen nicht. Denn Knüppel, Gabeln, Messer und Feuerbrände hätten sie doch gehabt …«

» Vive le roi!« tönte es schwach von ferne herüber, der König mochte die Treppe des Schlößchens hinan schreiten.

»Ach, Hoheit«, sagte Wingard, »Deutschland ist nach den dreißig Jahren Krieg zu eingeschüchtert gegenüber dem Auslande, zu mut- und kraftlos. Was geschah vor fünfundzwanzig Jahren, als die kleine französische Truppe dem Kurfürsten von Mainz gegen Erfurt zu Hilfe zog? Als sie ins Mainzische kam, bargen die Bewohner ihre Habe vom Pferd bis zum Backtrog in der Kirche, sich selbst aber flüchteten sie in den Odenwald. Und doch kamen damals die Franzosen als Bundesgenossen ihres Mainzer geistlichen Herrn! Nein, Deutschland kann nicht mehr, und Frankreich weiß das. Und nun wird Heidelberg an der Reihe sein.«

»Mir scheint wohl bestimmt«, sagte die Herzogin nach einer Weile, in die Bäume über dem Kanal starrend, »alles zu verlieren. Alles Land verheert der König, alles Geld hat Monsieur an sich genommen, die Erinnerung, die ich Davongegangene in meiner Heimat hinterlassen habe, zerstört der Chamlay mit dem ausgestreuten Gerede, ich wünschte meine Ansprüche ans Pfälzer Haus befriedigt zu sehen. Ja, ich glaube jetzt, man hat mir den Kurfürsten, meinen Vater, vorzeitig genommen. Als der Kurfürst, weil mein Bruder keine Kinder hatte, noch einmal zu heiraten wünschte, um dem Lande einen männlichen Erben zu geben und sich von meiner Mutter wollte scheiden lassen, was für eine Aufregung war da hier! Ich habe sie alle erregt gefunden, den Hof, von oben bis unten. Monsieur sagte mir, daß diese Sache dem König gar wunderlich vorkomme. Daß solch ein Exempel eine unerhörte Sache sei. Oh, die Entrüstung und das Geschrei und Moralischtun grade hier! Während ich doch heute sehe – ach, was war ich damals blind, auch ich grollte Papa – daß man nur den Augenblick heransehnte, wo Papa tot sei und mein Bruder ihm kinderlos folgen werde; denn es war auf mich und meine angeblichen Rechte abgesehen. Ich fürchte, Papa ist aus Kummer und Herzeleid gestorben. Hätten ihn der große Mann und seine Minister nicht durch ihren Gesandten in Heidelberg, der als Aufpasser dorten schaltete und waltete, als wäre er zuhaus, bis aufs Blut geärgert, wir hätten ihn vielleicht länger auf der Welt gehabt, und ich hätte ihn wohl auch einmal wieder zu sehen bekommen. Er hat sich damals wegen der Unverschämtheit des Gesandten durch mich an den König gewandt, wie jetzt die Heidelberger dich geschickt haben. Aber ich habe damals nichts erreicht, und ich fürchte, ich werde auch jetzt nichts erreichen. Alles ist hier vorher beschlossen, und alles weiß man gut und besser. Man ist hier so stinkhoffärtig, daß es nicht vorzustellen noch zu sagen ist. Sie glauben, der Verstand und die Gerechtigkeit sind der Krone von Frankreich eingenäht. Monsieur, mein Gemahl, bildet sich ein, daß kein Vergleich zwischen ihm, dem Herzog von Orleans, und einem deutschen Kurfürsten sei, und manchmal fühle ich, wie sie von mir als einem fürstlichen Aschenputtel denken. Wäre nicht der große Mann selbst, der mich ehrt und zu mir, wenn ich nur nicht nach Geschäften frage, freundlich ist, ich würde es schwer hier aushalten … Ach, was man da alles von der französischen Liberalität prahlt! Alle Vergnügen sind so gezwungen! Über das bin ich, seit ich hier im Lande bin, so viel Schlimmes gewohnt, daß ich glauben könnte, im Paradiese zu sein, wenn ich nur mal wieder an einem Orte sein dürfte, wo die Falschheit nicht so im Schwange ist und die Lüge nicht so regiert. Aber sie glauben, hier ist das Paradies, und traurig sein darf man nicht. Und nun ist es mir unglücklicherweise angeboren, daß mich die Traurigkeit schwerer anfällt als andere. Man weiß, daß ich nicht dunkelmütig von Natur bin. Und in der Tat, wenn ich schon traurig sein muß, dann will ich lieber gleich sterben. Man sagt, daß man einem alles nehmen kann außer ein fröhliches Herz. Wie ich noch in Deutschland war, meinte ich das wohl auch. Seit ich aber in Frankreich bin, scheint mir der Satz nicht mehr wahr.«

Es erschien, von einem Schweizer geleitet, ein Bote. Weingard hatte befohlen, daß, wenn er bei der Herzogin von Orleans weile, im Gasthof eintreffende Briefe ihm sofort zu überbringen seien.

»Aus Heidelberg!«

Weingard riß das Schreiben auf.

Bald tanzten die Zeilen vor seinen Augen, stückweise im Überfliegen nur nahm er den Inhalt des Briefes auf … Um sechs Uhr früh ertönten drei Kanonenschüsse, das verabredete Zeichen, daß nun das Werk der Zerstörung in Schloß und Stadt beginnen solle … Ein Artilleriefeldwebel holte aus dem Zeughaus einige hundert Pechkränze hervor, ließ sie durch seine Kanoniere auf den hölzernen Treppen, in Sälen und Stuben des Schlosses verteilen und anzünden … Zuerst brannte die Wachstube neben dem viereckigen Turm … Bald schlugen überall die Flammen aus den Fenstern und Dächern heraus … Nur an ein paar Stellen ging das Feuer nicht an, so im Bibliotheksgebäude … Auch der Kaisersaal des Ottheinrichbaus … Alle übrigen Gebäude aber brannten bis in die Keller hinab aus …

»Was ist, Hans, dein Gesicht ist bleich?«

»Schlechte Nachricht aus Heidelberg …«

»Sag es nur gleich, Hans, daß sie das Schloß abgebrannt haben. Aber sie werden doch die Stadt haben stehen lassen –?«

»Auch die Stadt nicht, Madame. Am oberen Neckartor haben sie angefangen, denn es wehte grade Wind das Neckartal hinaus in die Rheinebene … Bald stand das Feuer auf dem Kornmarkt … Die Flußmühle und die Neckarbrücke brennen … Die Brücke stürzt ins Wasser, und ihre flammenden Trümmer (denn sie ist geteert) treiben gen Mannheim … Der General Montclar selbst soll ausgerufen haben: Der Satan muß die Staatsräte zu Versailles besitzen! … Der Oberst Tessé führte die Nachhut und jagte die Soldaten an den Häusern vorbei, die durch Zufall nicht brannten oder nur zu brennen schienen. Denn französische Offiziere haben ihren Quartiergebern geraten, unschädliches Feuer mit nassem Stroh, das viel Rauch entwickelt, selbst anzuzünden, die Brennkommandos würden dann vorüberziehen im Glauben, das Haus brenne schon … auch mein Haus haben sie verbrannt, ›als Lohn für seine unverschämte Sendung nach Paris‹, hat Mélac gesagt … Das Tal hat gewirkt wie ein Kamin, das Feuer hat Zug gehabt, die Brenner haben eilen und sich selbst retten müssen … als die Flammen unten knatterten und die Giebel einzustürzen begannen, gingen die Minen oben los, der Karlsturm und der dicke Turm hoben sich mit Donner in die Luft …«

»– Nichts vom Schloß, wenn es sein kann, Hans!« sagte die Herzogin fast tonlos, die Hand fest aufs Herz gedrückt. »Und was schreibt deine Frau von sich? Wo ist sie hingegangen?«

»Sie schreibt aus Eberbach neckaraufwärts. Sie meint, wir sollen auswandern und aufs neue beginnen. Wir sollen uns in Stuttgart treffen, denn Heidelberg liegt öde …«

*

 

Erschüttert und verstört ließ Christian das Buch auf sein Knie sinken. Er saß auf einer Bank des Burgweges und hatte beim Lesen über es weg Sicht auf die roten Ruinen, also war es gewaltig bebildert. An diesem letzten Tage seines Aufenthaltes hatte ein Buchhändler es ihm verkauft, das ungelehrte Büchlein, die schlichte Erzählung, geschichtswissenschaftliche Bücher über den Gegenstand hatte Christian etliche gelesen. Aus den offenen Fenstern eines Studentenhauses, das inmitten blühender Bäume lag, klang der Gesang von Stimmen sorgloser junger Männer heraus. Im bergansteigenden Walde schmetterten Finken. Auf einer Bleiche sang ein Mädchen beim Wäschespreiten. Weder Finken noch Mädchen noch Studenten wußten etwas vom einstigen schrecklichen Geschehen an diesem Orte. Liebespaare kamen vorbei, ließen die Stimme sinken, wenn sie sich näherten und wieder ansteigen, wenn sie vorbeigegangen waren. Aber der Verstörte hätte ohnedies kaum aufgemerkt … Darf man Geschichte lesen, als ginge sie einen etwas an, oder soll man in sie blicken durch eine dicke Scheibe des Abstandes, durch die kein Laut, kein Schmerzensschrei, kein Jammerton dringen kann?

O der ganze verflossene Monat Geschichtsschule in Heidelberg! In Heidelberg, das eine muntere Stadt war und die berühmteste und schönste Ruine Europas sein eigen nannte! Da ragte sie auf, und alle taten so, als ob die Ruine als Ruine erbaut sei, und bewunderten die Schönheit der Ruine. Da standen schwärmende Deutsche, und das brannte sie nicht – da erschienen reisende Franzosen, und sie schämten sich nicht – da fanden englische Weiber das Getrümmer lovely und ahnten nichts von der Grausamkeit der Erzeuger von soviel Lieblichkeit – da waren Amerikaner übers Wasser gekommen und priesen Deutschland glücklich, zu dessen efeuumrankter Schönheit die Franzosen soviel beigetragen hatten – – und Christian meinte, man dürfe auch mal auf eine halbe Stunde den Verstand über soviel Weltalbernheit verlieren. Oder hatten ihn die Völker des Westens verloren, die Deutschen einbegriffen? War Geschichte noch Geschichte? Dann mußte jeder von ihr lernen! Er hörte sagen: die Völker lernten nie aus ihrer Geschichte, er hörte es als eine Weisheit sagen. Hatten sie an der Wolga nicht aus ihrer Geschichte gelernt? Aus den Kirgisenüberfällen? Aus den Kalmückenmorden? Aus Pugatscheffs Gewalttaten und den beständigen Ränken der Petersburger Regierung und der Saratoffer Gubiérnija? Auf der Hut zu sein, stets wach zu sein und auf der Lauer, auf dem Ausguck vor Asien zu stehen, die eine Hand über dem Auge und die Waffe in Reichweite der andern? Auf Völkerwacht sein, die Kosaken in der ersten Reihe den Uralfluß, den sie Jaïk nannten, entlang und die Deutschen in der zweiten längs der Wolga, das Gefühl davon war ihre andere Natur geworden. Kommt dann ein Feind, so soll er es mit uns nicht leicht haben …

Aber hier hatte man es ihm leicht gemacht, die Schwäche fordert heraus. Du sollst mit deinen Waffen nicht prahlen und nicht rasseln mit deiner Wehr, sondern dich tragen in gelassener Kraft, unversucht zu reizen, mit Heiterkeit und einem Scherzwort gar stehen an deiner Hofmark Zaune, aber auch mit großartigem Mißtrauen gegen das Böse im Menschen …

Aber man kann nicht stets mißtrauisch und auch nicht immer traurig sein, nicht andauernd lieb wie es ein zärtliches Mädchen verlangt, noch auch nur artig, was fortwährend zu sein schon Bruno Kädrich vor mehr als einem Jahre für eine Unmöglichkeit erklärt hatte. Auch der Mißtrauische muß manchmal gläubig, der Verwundbare dickfellig, der Tiefsinnige leichtsinnig und der mit dem guten Gedächtnis vergeßlich sein, so fordert es das alles überwältigende Leben und oft auch nur die gute Lebensart. Und die Geschichte, strenge Lehrerin und grausame Zuchtmeisterin, entließ den Schüler aus ihrem Banne … Neu ist der Weg, und da lag wieder eine Straße nach draußen. Alle Straßen, die hinausführen, sind schön, darum sind die Vorortstraßen schön.

Also sagte der Reisende wieder einmal Lebewohl zum lieblichen Orte, kehrte dem Gebirge, an dem Heidelberg hing, den Rücken, wandelte gleich dem Fluß das Tal hinaus, wanderte dem Wasser folgend westwärts rheinzu und wurde gleich dem Neckar abgelenkt nach Nordwesten … Die Dörfer Neckarau und Seckenheim am Wege sind auch einstmals in Aschen gesunken – er weiß es schon …

Aber wie es Mannheim ergangen war, das sich da aus Rheindunst und aus Brodem breiter Fabriken erhob, eine großmächtige Stadt, gebietend in Werkstätten und Kontoren, das weiß er noch nicht! Mannheim, das noch gründlicher, greulicher, wenn das möglich ist, als Heidelberg und Worms zerstört worden ist und das ein noch gräßlicheres Geschick erlitten hat als Speyer! Denn sind in Speyer wenigstens Trümmer stehengeblieben, des Domes, des Reichsgerichts, der Kirchen von Sankt Guido und Sankt Peter, so hat für Mannheim der harte Befehl von Louvois vorgelegen, es vollständig dem Erdboden gleichzumachen; kein Stein dürfe auf dem andern bleiben, der einen Kurfürsten verlocken möchte, dort eine neue Niederlassung zu gründen; Einwohner, die sich etwa noch sehen ließen, solle man mit der Kugel vertreiben. Der Pflug wurde über das Gelände der Stadt gezogen und ihr Name nicht mehr erwähnt! Was sagt er nun?

Laßt ihn in Frieden, er kann nichts mehr hören …! Da lag am Neckarvorlandkai ein Leerkahn eines entladenen Schlepp-Zugs, Christian ging auf das Boot, gab dem Schiffer ein paar gute Worte und Münzen, er durfte mitfahren.

Der Schleppzug ging sofort ab. Mannheim blieb in Dunst und Nebel, Dampf und Rauch zurück, in einem Schwalch, den Natur und Arbeit erzeugten. Das Auge sah schon nichts mehr davon, auch das Ohr nahm aus dem Dunstreich wenig und immer weniger von Rufen, Pfiffen, Hammergeklopf und Kettengerassel auf. Ein allgemeines Brausen war noch ein Weilchen an einem grauen Himmelsort, und vertönte …

Da fühlte Heinsberg etwas an sein Bein rühren, die Nase eines Hundes, des Kahnspitzes. Hund und Gast prüften einander eine Zeitlang mit Blicken, und jeder war zufrieden. Der Hund nieste einmal, den Kopf schleudernd, dann stieß er einen kurzen Bellton aus. Tropfnaß war das Deck, die geteerten Bohlen lagen satteldächig und schwachgeneigt über dem hohlen Bootsbauche, und wenn man sie betrat, hallte es dumpf darunter. Seinen Schritt so überbetont zu hören war mißlich, Christian hatte auch bald die Scheu vor dem Außenbord überwunden und ging auf dem ungeschützten schmalen Laufsteg außenseits auf und ab. Der Kahn lag ziemlich hoch im Wasser, Christian meinte, die stahlblecherne kiellose Unterseite auf dem Wasser gleiten zu hören. Der Strom ging mit dem Schiffe, aber das Schiff lief schneller als der Strom, auch flußab gebrauchte der Schlepper Dampf. Das Kraftboot eräugte man vom Ende des Zuges her nicht, Heinsberg befand sich auf einem Kahn des letzten von drei Kahnpaaren, man sah in einiger Entfernung vor dem Bug nur das Stahlseil aus dem Nebel kommen. Der Zug fuhr nach Dampfzeichen der Pfeife des Schleppers, der Schiffer jedes Kahnes stand, aufmerksam in den Nebel starrend, auf der Ruderbühne und lief auch mit dem großen, in Hüfthöhe eben mit dem Boden eingebauten Rade, das mit einem Kranz von Handgriffen besetzt war. Am Wassergeräusch war zu merken, daß die Fahrt schnell ging. Nicht bis zum vorauflaufenden Boote konnte man sehen. In der grauen Enge schien die Welt ungeheuer groß …

Warnend tutete vorn das unsichtbar laufende Schleppschiff – gleich darauf glitt im Nebel geistergleich ein Zug mit tiefliegenden Kähnen zuberg vorüber. Jetzt brauste es zur Linken dumpf im grauen Brodem – darin würden wohl Hafen und Stadt Worms liegen! Nun schwebte gespensterhaft ein nah an den Strom gebautes Städtchen vorbei, es dürfte Gernsheim sein, auch einst in Aschen gesunken und daraus … genug, genug von diesem Kapitel!

Die Wimpern schmerzten, soviel Naß hing daran.

Die Wolle des Mantels war beperlt, das Laufdeck naß und glitschig, Traurigkeit und Langeweile befielen das Herz.

Der Nebel sollte – ach ja! – zu Ende sein … Er verdünnte sich auch allmählich, er wurde heller und gelber, Sonnenschein kündigte sich an – und es war Christian, als empfinde er, was der Körper tat: näherrücken den Freunden und dem Lindenwirtshaus, nach dem er offenes Heimweh hatte …

Der Kahnspitz machte sich bemerkbar, er wollte von dem Fahrgast, mit dem er zufrieden war, etwas unterhalten, geneckt oder gestreichelt werden. Aber Heinsberg klopfte dem Hunde nur ein wenig den Pelz, er fühlte sich dem Spitz Willy nicht mehr fern, und es war ihm, als schulde er dem schon nahen Hunde bereits eine neue Treue.

Doch nun hielt der helle gelbe Nebel stand.

Kurz hinter Mainz, das man links brausen gehört hatte, drehte plötzlich der Schiffszug im Strome. Es hieß, er werde liegenbleiben bis zum Ende der Nebelzeit. Die Durchfahrt durchs Loch sei gesperrt, und der Binger Flußsee stecke voll von Schiffen. Was sollte Heinsberg tun?

Er frug, in welcher Gegend man wohl sei. Er hörte, der Zug liege etwa zwischen Hattenheim und Winkel, vielleicht auch erst unter Rauenthal und Kiedrich, genau könne man es nicht sagen.

Ob man ihn ans rechte Ufer rudern wolle. – Wenn der Fahrgast keine Angst habe, daß sie in der Unsichtigkeit überrannt würden? Sie könnten kein Zeichen geben. – Er habe keine Angst. – Dann 'rein in den Kahn!

An der Stelle, wo das Schiffchen landete, standen keine Häuser. Er schritt aus. Bald wurden die Brennesseln im Straßengraben zahlreicher und stärker, ein Zeichen, daß der Wanderer sich einer Menschensiedlung näherte.

Nein, auch an Land noch keine Sicht, heller gelber Nebel überall. Man mußte, wollte man dem garstigen entkommen, aufwärts steigen. In die Höhe! Wandern wir über den Berg, das Waldgebirge! Taunus würde es heißen und weiter nach Westen Krummerrück und Teufelskädrich, von dorther senkte sich der Niederwald langsam hinab zur Linde. Über den Berg hin nach Hause! Nach Hause?

So stieg er eilig geradeaus und hinauf aus dem plötzlich unerträglich gewordenen Nebel fort. Er schlug den ersten besten Pfad zwischen zwei Wingertmauern ein und fühlte, wie das Gelände sich hob, der Nebel sich auflockerte, sah wieder in der Welt dies und jenes Ding – da stand ja etwas zu lesen, auf einem Pfahl der Gemarkung: Bleischildchen … Bleischildchen? Jetzt sollte er den Vater Kädrich bei sich haben, der wüßte auswendig, wohin die Lage »Bleischildchen« gehört und wüßte noch einiges mehr von ihr. Man soll nur mit Fachleuten verkehren, für jeden Wissenskreis mit einem. Für Asien mit Freund Doktor, für die Pfalzgeschichte mit gewissen Leuten in Heidelberg und Speyer – aber nichts mehr davon! – für den Wein mit Kädrich, für Prschewalski mit Bruno, nicht zu vergessen für die Mäuse im Weinberg mit dem guten Willy.

Christian ging in Gedanken und merkte nicht, daß er völlig aus dem Nebelreich herauskam. Erst als da rechts und links keine Reben mehr, sondern Kartoffeln in den Feldern standen, wurde er des Ortes gewahr. Er wandte sich um. Das Weinland war noch völlig zugedeckt.

Da stand eine dunkle Masse, der Wald. Er trat hinein. Gleichmäßiges grünes Licht überall. Auch hier alles feucht. Der Tritt wurde sanft und dumpf. Des Barhäuptigen Kopfhaare fühlten sich, als er mit flacher Hand darüberstrich, seidig an, und seine Kleider waren leicht gequollen.

»Ei, sieh da«, dachte Christian, »da bin ich ja im Walde, zum erstenmal im Leben im hohen Walde! Ei freilich, das sind keine Wälder da, die bleichen Pappelauen auf den Wolgainseln. Der Wald! Soviel Stämme! Wahrscheinlich hundert! Soviel Blätter! Tausend, auch hunderttausend … Schön ist es im Walde … Ha, wie frisch sich das atmet! … Und so still ist es hier! Alles umstellt, man kann nicht weit sehen … Man kann nicht ausreißen. Alles zeigt auf einen und sagt: Wir meinen dich, und du meinst uns … sei was du bist … Sie haben recht, die Bäume, sie wenigstens halten's so … Wie würdet ihr Bäume euch in der Steppe benehmen? Aber die Steppe würde euch nicht ertragen, sie ist dem Grase freundlich … Das Gras gehört zu den Tieren, die Bäume zum Menschen. Die Rinder können mit den Bäumen nichts anfangen. Das Gras mögen die Ameisen besteigen, die Feldmäuse knicken, die Rinder und Kamele fressen – mit dem Holz der Bäume behaust sich der Mensch und behelmt mit ihm seine Türme.

Und dann kommt der Feind und steckt den Dom in Brand, und die Helme … – aber nein, nein, nein! Nichts mehr davon! Nichts mehr von diesem Kapitel!

Der Wald gehört zum Menschen, die Steppe zu den Tieren, das Meer zu niemandem. Aber über See und Steppe kreuzen die Unsteten. Schiffsgeschwader durchziehn die blauen Flächen, und die in Kiellinie fahrenden Flotten der leinwandgedeckten Wagen queren die blonden Ebenen. Aber der Wald hegt das Auge ein und hemmt den Fuß, im Walde muß man ruhen und bleiben …

Christian ließ sich auf den Waldboden nieder, der ihn schwellend aufnahm, bald lag er rücklings da. Ein neues Gefühl ergriff und durchdrang ihn, es glättete das Harte und Widrige in seiner Seele und rundete Freundliches und Feindliches zusammen. Aus der Berührung mit der Erde strömte ihm frische Kraft zu, und vom grünen Himmel über ihm regnete Frieden. Ruhe zog in ihn ein. Das Feindliche und das Freundliche in der Welt begriffen sich auf einmal eins aus dem andern. Er dachte an die kleine Olga in Bellmann, die sich auf des Vaters Heimkehr freute, gleich darauf an die vergebens aus Heidelberg nach Versailles, von wo sie nie zurückgekommen, um den Vater noch einmal zu sehen, verhandelte Prinzessin Liselotte … Die Kädrichtöchter waren in Chiwa ins Unbekannte verkauft worden, und ob Fräulein Kädrich sich wohl fragen würde: Wird der Freund aus Rußland einmal wiederkehren? … Der aber lag irgendwo, er wußte selbst nicht wo, im Taunuswalde glücklich auf dem Moospolster, die verschränkten Hände unter dem Kopfe, schaute in den grünen Blätterhimmel und horchte auf die Stille.

Draußen und fern erklangen Kuhglocken, ein Wagen knarrte bei langsamem Schritt der Ochsen unsichtbar einen Feldweg dahin, und hohl ertönte eines Kuckucks Ruf. Im Walde klopfte der Buntspecht an altem taubem Holze, und in diesem selben toten Baume arbeitete der Bohrkäfer und tat mit dumpfem Klopfton an der Wand einem Weibchen im andern Gange seinen finstern Ort kund, damit sie bohrend, feilend, grabend in der Holznacht zur Hochzeit sich einfinde. Es regnete leise und knisternd, denn die nahe Buche ließ die Schuppen von den neuen Knospen fallen, und ganz fein hörte man die Rinde knallen und sah ein Stückchen abgesprengte Borke fliegen.

Durch den Mooswald, auf dem der Menschenriese lag, torkelte eine Ameise. Bald hörte Christian sie und ihre Genossen in dem Moospolster knisternd kriechen, laufen, beißen und sägen, und es war ihm leicht, sich vorzustellen, wie es da in diesem Mooswalde der Ameisen für Ameisenohren hallen und schallen mochte. Eine Schnecke zog am feuchten Tage ihre Schleimstraße daher, und plötzlich sah der Waldträumer überall Tiere. Als hätten sie sich beim Nahen des polternden Menschungeheuers versteckt, verkrochen, totgestellt und kämen nun hervor, nachdem sie den auf seinem Moose Stillgewordenen fortgegangen glaubten. Eine Meise suchte die Rinde des kranken Baumes, den oben der Specht behackte, nach Kerbtierchen ab, und in dem Lichtkörper zwischen vier Bäumen stand eine blaue Libelle, von Zeit zu Zeit nach einem Mückchen fort- und dann an ihren Ort zurückschnellend. Sieh, auch da unter den Tieren war mörderischer Kampf, aber wir sind nicht verpflichtet, uns darum zu kümmern und auch noch das Leid dieser Welt auf uns zu laden, die der Menschen erregt uns genug Sorge und Grauen. Bei seiner Wanderung durch die pfälzische Flur hatte er, Bilder von rohen Gewalttaten im Hirn, schon von jedem Kirchturm in der Runde die Sturmglocke läuten hören, bereits aus jedem stillen Hof die gelbe Flamme lecken sehen, Männer mit nacktem Eisen hinter Männern laufen und Männer ohne Eisen hinter jungen Frauen. Hinweg, Erinnerung! …

Während er so dalag, Kind im Walde, entspannt und gelöst und des grausamen Weltgetriebes vergessend, begannen, da er sich nicht bewegte, die kleinen Tiere des Waldes ihn als zum Walde gehörig zu betrachten, die Ameisen richteten bereits über ihn, der ihre alte Laufstraße gestört hatte, hinweg eine neue ein zwischen ihrem Nest aus Fichtennadeln und einem Baume, auf dem sie ein Milchgut hatten und die Blattläuse melken gingen – da vernahm er Schritte, das Ohr am Boden hörte er ein kleines Erdbeben heranrollen. Ein alter Mann und eine betagte Frau kamen hintereinander den rötlichen Nadelpfad zwischen den Fichten drüben daher. Es waren Bauersleute, die zwei, und sie gingen wohl einen unerlaubten Weg, denn der Alte blieb wiederholt horchend stehen, und die Frau sah sich dann um. Holzdiebe? Fallensteller? Sie erblickten Christian nicht, der unter Buchen auf einer kleinen Matte ruhte. Die Alten bogen ab. Hinter einem Walle von Stechpalmen verschwanden sie.

Christian machte sich von seinem Lager auf und folgte dem Paare. Nicht von einem Argwohn geführt oder aus einer sträflichen Neugier, sondern weil ihm die Alten zum Walde zu gehören schienen – würde er nicht auch einem Reh nachgegangen sein, um zu erfahren, wo das Rudel stand, oder einem Dachs, um den Bau zu sehen? Er folgte der Spur, im sonst weglosen Kiefernwalde geleitet durch niedergetretenes Ehrenpreis – jetzt tat sich eine Lichtung auf, besetzt mit Taubnesseln, Glockenblumen und Wachtelzweigen. Und eine gewaltige vielhundertjährige Eiche stand mitten in dem von Licht und Himmel erfüllten Trichter des Nadelwaldes.

Zwischen den Bergen »Kalte Herberge« und »Hohe Wurzel« im Waldgebirge hatte Gertrud Kädrich, so erinnerte Christian sich jetzt, gesagt, gäbe es einige heilige Bäume, über die man sich, wenn niemand Fremdes in der Nähe sei, alte Worte zuraune, und in Frühlings- und Herbstnächten träfen die Waldhüter auch wohl Leute unter den Bäumen an, die vorgäben, auf nichts anderes als auf den in der Krone brausenden Sturm zu lauschen …

Christian blieb hinter einer Wand von Fichten stehen. Da sah er die beiden Greise die Hände zum uralten Baume erheben und murmeln, und er glaubte wohl das Wort »unser Roß« zu verstehen. Aus einem schwarzen gedeckelten Weidenkorbe am linken stakigen Arme nahm die Frau ein Nest voll Nüsse und drei schöne, schon ein wenig fahle überwinterte Äpfel heraus und legte die Gaben in das dichte Gras und die Kräuter. Und die zwei gingen fort, denselben Weg, den sie gekommen waren, schweigend, hintereinander, der Alte voran. Und der Gott im Baume schickte alsbald seine Haustierchen, die Eichhörnchen, um die Nüsse einzuholen.

Feiervoll schaute Christian nach der Richtung hin, in der das Bauernpaar fortgegangen war. Sehr alt kam ihm auf einmal alles im Walde vor. Die beiden Greise und ihr Tun, der einsame Ort und namentlich die Bäume. Er sah geradezu die in die Bäume hineingewachsene lange Zeit. Diese Eiche vollends, sie war wohl Zeuge der ganzen Geschichte des Volkes, das dieses Land bewohnte. Sie war gewiß schon alt gewesen, als sie einst in der Pfingstnacht die Asche von Bingen und den Burgen auf sich niederrieseln gefühlt hatte, und auch die Leute von Bellmann waren vielleicht vor der Ausfahrt nach Rußland heimlich vor dem Baume erschienen, hatten Äpfel und Nüsse geopfert und gebetet, die Pferde möchten sich kein Fußgelenk auf der langen Fahrt nach Lübeck vertreten.

Die Sonne kam aus dem Wolkengrau. Es war, als hätte der Wald auf sie gewartet. Von Licht brodelte die Freiheit. Von der Sonne Gewalt überschauert stand der Baum im Trichter der tief beasteten Fichten. Die Vögel verstummten in Strauch und Tann. Tagnebel und Nachttau waren rasch aufgesaugt, träge schien die hohe Tagesstunde über dem Walde zu liegen. Die heilige Eiche umflatterten Bläulingsschmetterlinge mit weichen Flügelschlägen. Die Libellen hatten sich vermehrt, sie hingen schwirrend in den Lichtröhren, die durchs Gezweig schräg hinab ins Walddunkel gesteckt waren. Viele zarte Lichtröhren standen da, schräg und alle gleichgerichtet, allmählich gleichsam gläsern werdend und jede besetzt von einem fliegend stehenden blauen schwingenstarken Raubwesen, das seine aus dem Allraum ausgeschnittene Wohnung mit dem Rechte des Zuerstgekommenen bissig hütete.

 

Stunden später ging Christian auf roter Nadelstreu. Es duftete nach warmem Harz. Die Augen erfrischten sich am Dunkel. Eine sanfte Höhe hinan hellte sich die Waldfinsternis auf – da war plötzlich der Blick über kräftig absinkendes und weit dahinflutendes taliges Gelände frei.

Ein brauner großer Sperber hing hoch über dem Waldland im Raume. Als er im Schweben und Hangen schrill vor Daseinsfreude und Jagdlust schrie, verstummten jäh die aus unbenennbarer Richtung dumpf gurrenden Holztauben.

Roh und frisch gezimmert stand vor dem Ausblick ein Tisch für Waldarbeiter. Das Holz der Platte schien noch nicht begriffen zu haben, daß es nicht mehr auf den Wurzeln stehe, es schwitzte wie noch lebend Harz aus in dunkler Erinnerung, daß das in dieser Jahres- und zu dieser Tageszeit zu geschehen habe. Christian setzte sich, streckte seine Beine, in denen die Wanderung nachflutete, unter das Tischbrett hin von sich fort und die eine Hand über die Platte hin aus – da fühlte er, wie er zart angeleimt wurde, und er duldete die Haft.

Den Kopf in die eine Hand gestützt, schaute Heinsberg über Wipfel und Wälder. Er saß mit dem Blick nach Osten und dachte: Da hinab, geradeaus und weit hinunter, lebt Alexandra, Alexandra Heinsberg … meine Frau … sie wartet auf mich … sie wartet nicht ungeduldig und nicht untätig, sie wird in dieser Stunde, wo an der Wolga die Sonne schon absteigt, daran denken, in der Sommerküche Feierabend zu machen, und legt sich die Arbeit für morgen zurecht … Ob sie schon die Sonnenblumen ausgesät haben? Aber vielleicht ist die Steppe von der Schneeschmelze nicht abgetrocknet und noch unwegsam … Was wohl Michel macht? Kleine Dummheiten vielleicht. Der Junge ist immer unterwegs, immer mit Geräusch tätig, ganz anders als sein Vater, aber wie Bruno. Vorlaut sind sie alle beide. Die Jungens passen zusammen und in die Welt … Wer mag wohl Alexandra zur Hand gehen? Der alte Rohleder soll ihr sein Kamel zum Pflügen leihen … Oh, meine Puppe Olga! Oh, meine kleine Puppe! … Ob die Wolga viele Pappeln auf dem Werder im Eisgang gebrochen hat? … Jetzt knien die Tataren zum Nachmittagsgebet hin, es wird drei Uhr sein … In Deutschland schlagen die Preise auf. Der Doktor sprach schon im vorigen Jahr von wachsenden politischen Spannungen. Rußland rüste stark gegen Österreich. Aber um Gottes willen keinen Krieg, keinen Krieg! … Der Doktor fürchtet für seine neue Reise. Wollte er nicht an den Ararat gehen und zu den Kaukasusschwaben? … Ob wohl Gertrud den Doktor heiraten wird? Es wäre das Natürlichste von der Welt. Den Pfarrer haben sie ja gleich dabei … Wie dunkel es rückwärts im Walde ist! Die Fichten lassen Sonnenstrahlen durch, und die stehen schräg darin, die Sonne ruht im Waldköcher ihre Lanzen aus … Alexandra, du hast so schöne Zähne, schöne weiße Zähne in deinem braunen Gesicht. Die von Gertrud Kädrich können es mit den deinen nicht aufnehmen. Ob die Kädrich mit denen aus Warenburg auf der Wiesenseite verwandt sind? Möglich, aber man muß nicht alles wissen wollen … Und ein bißchen Heimweh nach der Wolga fühl' ich auf einmal auch …

Oh, der Wald! Er hatte einen kleinen Umweg durch ihn machen wollen, aber das grüne Reich hielt ihn fest. Er übersah, daß man in einem feuchten Lande wie Deutschland auf ein Obdach für die Nacht bedacht sein muß. In der Steppe, freilich ja, da ist es anders! Die Nacht kommt, wo du bist, und du bleibst, wo die Nacht kommt. Du raffst ein paar strunkige Kräuter zusammen, machst ein Kissen aus dem Häufchen Iris, Beifuß und duftendem Thymian, gehst in einem kleinen Umkreis auftrampelnd umher, um Schlangen zu scheuchen, die nachts gern unter einen warmen Körper oder in ausgezogene Stiefel kriechen, breitest deinen kamelwollenen Radkragen aus, legst und wickelst dich hinein und schläfst ein unter der Sternennacht. Ein gewaltiges Erdbeben für einen Schlangenleib haben deine Trampeltritte erzeugt, es gibt ganz gewiß auf eine Viertelstunde in der Runde keine Schlange mehr. Der Schakal wird heulen, ach der gute Schakal! Er wird heulen und vor seinem eigenen Heulen, wenn es einen Totenhügel als Widerhallswand findet, erschreckt die Flucht ergreifen. Und wie würde er erst laufen, wenn man noch Willy hinter ihm herschicken würde! … Der Wolf frißt im Sommer lieber Schaffleisch …– –

Christian Heinsberg war nicht wenig erstaunt, sich beim Erwachen nicht in der Steppe, sondern im Walde am Brettertisch zu finden.

Die Sonne war bereits ein erhebliches Stück auf ihrem Tagesbogen abgestiegen, Schatten quollen ihr entgegen aus den untersten Tiefen der Täler und stiegen höher im Maße, wie das Licht fiel …

Alexandra ist tüchtig. Mach dir keine Sorge um die kleine Heinsbergwirtschaft. Alexandra besorgt das Schulmeistergut, sie hat braune sehnige Arme, ihr Gesicht ist braun wie Kamelwolle, ihre Augen darin so braun … braun sind auch die von Gertrud … Wie weit mag es wohl bis zum Lindenhaus sein? …

Blauer Rauch und Nebel umnesselte die Gehänge. An den Köpfen des Hochlandes hingen große blendendweiße Wolken, die Licht in den schon abenddunkeln Wald hineinspiegelten und ihn erhellten. Sie lagen, unten eben abgeschnitten, oben hohe Bootsdome zeigend, Schiffen gleich, im Luftmeer schwimmend, angepflockt an den Bergköpfen.

Grün ruhte in den Ufern seiner Berge das Meer der Wälder, überschauert von den Wellchen der Wipfel, die leicht im sanften Wehen der Nachmittagslüfte fluteten. Was in der Nähe nur ein leichtes Rascheln war, das kam aus der Ferne als sanftes Rauschen und geheimes Brausen her. Und als dann ein Hirsch seine Geweihstangen an den dünnen Hölzern junger Bäume rieb, klang es wie aus der Urgeschichte herüber.

Die Fernen hüllten sich jetzt völlig in Blau. Der Wind legte sich, das Wipfelrühren kam zum Stehen. Rauch von einem Feuer der Waldhüter stieg dünn und kerzengerade bis in sehr große Höhe, er schien sich im Steigen nicht zu bewegen; dann aber war es mit einem Male, als würde der Rauchfaden in den Fingern einer unsichtbaren Riesenhand gezwirbelt. Der steil an einer Weltsenkrechten aufgestiegen war, warf sich plötzlich auf einer unsichtbaren Ebene hin und her.

Zuerst hatten die Tiefenschatten wie Teiche, dann wie Seen im taligen Lande gelegen, die Seen vereinigten sich zu einem kleinen Meer des Dunkels, das Land des Lichtes wurde kleiner, jetzt lagen nur noch goldene Inseln in einer steigenden Sintflut der Nacht. Aber in der Luft stand ein von der Dunkelflut nicht erreichter Lichtararat: eine goldene Wolke aus Blütenstaub der Kiefern lag über dem Nadelhaine, in dem die roten jungen Stempelblüten auf unbewegten Bäumen gen Himmel weiblich warteten. Tau begann zu fallen, von ihm beschwert sank der Fruchtstaub auf die Blüten nieder zur Baumhochzeit; und die Wolke, die in sich schwand und der sich auch die Sonne entzog, war nun nicht mehr da.

Der Mann aber, der am Brettertisch vor den Bäumen gesessen hatte, war rotgelb mitgesegnet worden.

Die Hummeln waren schon in ihre Betten in den Glockenblumen gestiegen oder unter die Moospfühle geschlüpft. Der Träumer brach auf. Im Walde begann es zu düstern. Der Tritt raschelte im alten Laube. Der Wald war still und schien tot.

Ein blasser Streifen wurde unter der düstern Baumkronendecke sichtbar, ein helleres Lichtband, von den vielen senkrechten Linien der Stämme geteilt – Licht von einem Dorfe oder Widerschein eines Städtchens am Himmel und das Ende des Waldes, dachte Christian. Aber es war der Mond, wie er bald wußte, als er eine halbe Stunde draufzu gewandert war. Also nächtigte Christian im Walde …

Nach einem langen tiefen dunkeln Schlafe wachte Christian auf. Die Sonne schien auf sein Krautbett. Er sprang hoch und fühlte sich frisch, jung, neu, ein anderer, besserer vielleicht.

Im Morgenlicht wanderte er alsdann, nachdem er sich im Morgentau auf großblättrigem Unkraut gewaschen hatte, auf einem Feldkarrenweg zwischen Äckern entlang dem Walde westwärts. Er fühlte sich gesund, ganz gesund, vom Gesunden ist nichts weiter auszusagen. Man würde nicht mehr von Unsicherheiten erschüttert, nicht mehr von Traurigkeiten gelähmt werden. Und fällen darf uns nur noch das Übermächtige und der Tod …

Aus den Dickungen in den Tiefen der Landschaft rief der Kuckuck, und vor dem Morgenmann flüchtete der bronzefarbene Fasan mit seinen beiden Hennen kreischend und schwirrend aus der jungen Saat ins grüne Blätterhaus. Da steckte eine Ricke das schwarze nasse Schnäuzchen durch die morgenfeuchten Blätter des Waldrandes, trat bald mit ihren Jungen aus der Deckung heraus, und dann folgte der Bock. Der Wanderer kam auf dem Feldweg daher, die Rehe stutzten und windeten mit den zierlichen Köpfen auf hohen schlanken Hälsen nach ihm hin, unbeweglich, starr wie erzene Bilder – dann aber sprangen sie, ein wenig mißtrauisch geworden, in gemächlich genommenen Bögen der Deckung zu, blieben vor der Laubwand noch einmal stehen … starr, mit steilen Lauschern … und verschwanden jetzt mäßig eilig ins Holz; und über ihren nachgetragenen weißen Spiegeln schloß sich das Blattgrün. Und alles ohne Laut.

Ein Wölkchen zog langsam dahin, und noch langsamer schritt die Sonne ihren Tagesbogen aus. Hier waren auch Dörfer zu sehen, Häuser und Kirchen an die Berglehnen hingespielt. Die Felder waren besamt, die Flur bereit, der Ackersmann hatte das weitere Geschäft dem Besteller der Welt überantwortet.

Christian kam endlich über die Bergkante ans Rheintal. Noch brodelte der Nebel im Flußkanal. Die Landschaft war ihm fremd. Da lag das Haus und stand die Linde hell und weithin sichtbar am Rande einer Fläche grauen Brodems auf einem Bergland von jetzt unbedeutender Höhe.

Ihm klopften Herz und Pulse, als er den sich sanft zur Linde hinabsenkenden Pfad verfolgte. Das Haus stand offen aus Türen und Fenstern. Aber ein lebendes Wesen ließ sich nicht blicken, grade wie damals, als er zum erstenmal vor dieses Gebäude gekommen war.

Doch da sprang aus seiner Sonnenbleiche mitten auf dem Plattenpfad Willy auf, Willy der Hund, der Spitz. Er hatte vorher ungefüge dagelegen, fast zerstört von Leibesruhe, sofort fiel er aufspringend körperrichtig und lebensgemäß auf seine Beine, bläffte ein wenig, stierte mit kurzem Gesicht, wendete – aber nun hatte er Christian erkannt, er rannte gestreckt, er rannte geschossen, er sprang am Freunde hoch, bellte, juchzte und wußte sich vor Wiedersehensfreude nicht zu lassen. »Willy, ach Willy, was haben sie mit dir gemacht?« rief Christian, klopfte den kahlen Rücken, streichelte das Tier und meinte, Willy, der früher ein Wolltönnchen gewesen sei, kaum wiederzuerkennen, jetzt, nachdem man ihn zum Frühling geschoren, nachdem der Kopf viel zu groß erscheine und die herrliche Fahne sich in eine arme Quaste verwandelt habe. Aber Willy machte diesem unnützen Klagen dadurch ein Ende, daß er entsprang und gestreckt, geschossen, mit lappender Zunge und flatternden Ohrenden den Pfad zum Hause hinabstürzte. Denn mit der Kunde, daß der zurückgekehrt sei, sollte ihm doch niemand zuvorkommen.


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