Adolf Pichler
Der lateinische Bauer
Adolf Pichler

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Die Naturforscherversammlung, die unsere sonst so ruhige Stadt mit Scharen fremder Gäste überschüttet hatte, war verrauscht. Gern wäre ich für etliche Tage in die Einsamkeit der Alpen gewandert, ich mußte jedoch wenigstens eine Woche an Ort und Stelle bleiben, um als Dekan der philosophischen Fakultät die neu eintretenden Hörer aufzunehmen.

Da saß ich denn vormittags in der Kanzlei, anstatt durch die schöne Herbstlandschaft zu streifen und guckte durchs offene Fenster in den botanischen Garten, wo Astern und Georginen, die der Reif noch nicht versengt hatte, farbig prangten, und Silberfäden durch die klare Luft schwammen.

Am Tage, wo die Frist ablief, war der 50 Zudrang am größten. Ich erledigte ein Meldungsbuch nach dem andern, ohne mir viel Zeit zu nehmen die jungen Herren, die herumschwirrten, näher anzusehen.

Der letzte reichte mir sein Heft.

Ich blätterte es durch und las den Namen: »Norbert Pimpacher«, »Norbert Pimpacher,« murmelte ich, und tausend Erinnerungen der Jugend erwachten in mir. Ich sah den jungen Mann, der unbefangen vor mir stand, an; es hätte nicht viel gefehlt, wäre ich aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen.

Ja, das war mein guter Norbert, er war es! – Siebenundzwanzig Winter gingen über unsere Scheitel, seit wir uns trennten!

»Der Vater,« begann er schüchtern – auch die Stimme war's! – »läßt Sie schön grüßen!«

»Ja wohl,« erwiderte ich, »hat er Ihnen vielleicht erzählt, was wir für treue Gesellen in Wald und Flur gewesen? Das ist lang, lang her, und doch kommt mir vor, als wär's heute!«

»Er meint fast, Sie hätten ihn ganz 51 vergessen, weil Sie gar nie bei ihm einkehrten, und doch fuhren Sie mit der Eisenbahn oft genug vorüber.«

»Vergessen nie, aber versäumt! Ist er nicht Bauer? Kameraden haben mir manches von ihm erzählt!«

»Bauer, freilich Bauer,« erwiderte er und setzte mit einem Anflug von Stolz bei: »aber ein Bauer, den mancher Herr beneiden könnte.«

»Schreiben Sie dem Vater – doch nein, schreiben Sie ihm nicht,« rief ich lebhaft und fügte, das Meldungsbuch zurückgebend, bei: »ich denke, wir sehen uns noch.«

Die letzten drei Wochentage hatte ich nun frei, ich fuhr am nächsten Morgen auf der Eisenbahn ins Unterinnthal, und wenn ich diesesmal meinen Hammer zurück ließ, mögen es meine geologischen Kollegen entschuldigen.

Zu Kufstein stieg ich aus und wendete mich dem Dörflein zu, das nicht weit vom Bahnhof zwischen Obstbäumen zerstreut liegt. Etwa eine Viertelstunde davon vereinigen sich mehrere Höfe zu einem Weiler. Hieher lenkte ich den 52 Schritt, ernst und sinnend auf die Felder und Höhen blickend, wo ich mit der Büchse in der Hand manches kleine Abenteuer bestanden, in manchem Liedchen das Weh und die Lust des Jünglings ausgesungen hatte. – Kleine Leiden und Freuden, und doch so unendlich groß und wichtig, vielleicht der einzige reine Schatz unseres Daseins. Denn verleiht uns auch das Bewußtsein männlicher Pflichterfüllung ein Gefühl ernster Würde, so brennen doch die Narben aus dem Kampf mit den oft so gemeinen Mächten des Daseins.

Man hatte unterdes manches neue Haus gebaut und so manches verändert, ich fand mich daher nicht gleich zurecht. Eines war so sauber und zierlich, daß ich stehen blieb, um es anzuschauen. Das Giebelfeld, über dem sich zwei schuppige Drachenköpfe die grimmigen Zähne wiesen, füllten goldgelbe Maiskolben aus, Bündel von rotgefärbten verschlangen sich dazwischen zu den Buchstaben M und N gerade unter der Spitze des Dreieckes. Den Söller, der wie die Fenstereinfassung und alle Gesimse hellgrün angestrichen war, schmückte eine Zeile 53 Blumentöpfe hinter einer Verzäunung von Latten, bis zu denen die Ranken des Weinstocks emporklommen. Aus den zackigen Blättern schimmerten kleine blaue Trauben und an den sonnigen Stellen große hyacinthrote; jene trifft man nicht selten in den Körben der Fruchthändler unserer nordtirolischen Städte, diese nur an der Etsch, wo sie vor allen anderen reifen. Während ich das alles mit Wohlgefallen betrachtete, trat eine Dirne aus der Thür, ich fragte sie, wie der Hof heiße, denn nach meiner Meinung mußte das Pimpachergut nahe sein, ich hätte es hier gesucht, allein der Bau entsprach nicht meiner Erinnerung.

»Beim Pfaffen!« erwiderte sie.

»Beim Pfaffen?« rief ich verwundert, »der Widum erhebt sich neben der Kirche von Zell.«

Lachend begann sie wieder: »Beim Pfaffen, ja! Das ist der Spitzname, der jetzt gilt, weil der Bauer zu Brixen aus der Theologie durchgebrannt ist.«

»Ja, wo ist denn der Pimpacher Hof?« fragte ich neuerdings.

54 »So hieß das Haus früher,« entgegnete sie.

Nun wußte ich, wie ich daran war, und erkundigte mich sogleich, wo denn der Bauer verweile.

Sie wies mich in den Garten rückwärts.

Er trieb neben dem Zaune mit dem Fuß den Schleifstein, mit der rechten Hand schärfte er ein Beil, der linke Arm hing steif herab, er war einmal beim Ausraupen vom Kirschbaum herabgefallen. Das Rascheln des dürren Laubes ließ ihn meinen Tritt im Kies überhören, so konnte ich mich unbemerkt hinter eine Laube stellen. Ich betrachtete ihn mit einer Art Rührung. Das Haar um Stirn und Schläfe war dünner geworden und mit Grau vermischt, ebenso der Bart; die Jährchen hatten manche Furche in das redliche Gesicht gegraben, den Ausdruck der Treuherzigkeit vermochten sie nicht zu zerstören. Im Gebüsch pfiff eine Meise, er lockte sie herbei und lächelte, als sie, die Täuschung gewahrend, scheu davon flog. Während er so spielte, intonierte ich mit voller Kraft:

»Wohlauf denn getrunken
Den funkelnden Wein!«

55 Bei den ersten Tönen horchte er staunend, dann ließ er mit einem Schrei die Hacke fallen und lief zur Laube. Er erkannte mich auf der Stelle, Thränen stiegen in unsere Augen und nach brüderlichem Gruße zerrte er mich zum Haus, immerfort rufend: »Moidel, der Pichler ist da!«

Und die Moidel rannte aus der Küche und wischte, als sie meiner ansichtig geworden, einen Rußstrich von der Wange und die schmalzige Hand, mit der sie gerade Nudeln eingetunkt, an der Schürze ab und hieß mich willkommen. Sie war runder geworden, aber noch immer ein hübsches festes Weiblein, das schwellende Goderl unter dem Kinn stand ihr gar nicht schlecht, und die Äuglein glänzten so munter, wie vor zwanzig Jahren, wo wir zum letztenmale am Brunnen geplaudert, und sie mir heimlich das Pulver auf der Zündpfanne mit Wasser befeuchtet hatte.

Der Lärm lockte ein Moidele Nr. 2 herbei, das mich fremd anstarrte. War Norbert Nr. 2 dem Vater aus dem Gesichte geschnitten, so 56 konnte das Moidele die Mutter nicht verleugnen, eine prächtige Unterländerin, so daß man fast hätte wünschen mögen, jung zu sein, um an ihr eine rechte Freude zu haben. Aber ein Liedlein singt:

»Tulipan und Rose blüht
Leider nie zusammen,
Und den alten Dornbusch wirft
Gern man in die Flammen.«

Schnell war in die Laube, an der sich Windling, gelbe Kapuzinerlein und rote Bohnen emporschlangen, ein Tisch mit Stühlen gerückt, auf blankem Zinnteller schimmerte eine Flasche Roter und daneben Käse, Butter und Obst jeder Sorte, das Moidele, als vom Vater gezogen, besonders rühmte, wobei der Alte vergnügt schmunzelte.

Der Leser errät leicht, um welche Gegenstände sich das Gespräch drehte. Ist man einmal 50 Jahre alt, so redet man nur noch von der Zukunft der Kinder und der eigenen Vergangenheit. Weitläufig, einander oft mit Fragen unterbrechend, erzählten wir uns, was wir erlebt, Gutes und Schlechtes, wie's eben kam: meine 57 Schicksale gehören auf ein anderes Blatt, die Norberts verdienen wohl kurze Aufmerksamkeit.

Ich entrolle nur eine Idylle. Sollte hier und da die Behandlung derselben ungleich sein, so vergesse man nicht, daß mir der Faden dazu aus verschiedenen Händen geliefert worden ist. Zu statten kam mir die eigene Kenntnis der wackern Leute und der Umstand, daß ich manche Woche in dieser Gegend zugebracht hatte.


Es war ungefähr eine Stunde nach dem Abendläuten. Tiefe Nacht ringsum; nur längs dem Grate des wilden Kaisers verbreitete sich ein magisches Dämmern; die Wolken verwandelten ihr Grau allmählich in Silber, erst ein Lichtblick wie von einem großen Stern, dann tauchte die volle Mondscheibe über den Felsen empor. Ihr mildes Licht machte einen jungen Menschen sichtbar, der fast unbeweglich wie der heilige Johannes auf dem steinernen Pfeiler neben ihm, sich auf das Geländer lehnte und dem Spiel der Wellen, die hell flimmerten zuzuschauen schien, und doch mengte sich von 58 Zeit zu Zeit in ihr Rauschen ein leiser Seufzer, den hellen Glanz des Auges trübte eine Thräne, die wohl nicht durch die scharfe Herbstluft veranlaßt wurde.

Es war unser Norbert. Im verflossenen Schuljahr hatte er zu Innsbruck die philosophischen Studien vollendet. und ein besseres Zeugnis über seine Sitten, als über die erworbenen Kenntnisse mitgebracht.

Wie so mancher Student, dem sich in ähnlicher Lage die juridischen oder medizinischen Hörsäle verschlossen, wollte auch er Theolog werden, ohne daß er gerade für dieses Fach eine besondere Vorliebe gehabt hätte, ebensowenig als er Abneigung dagegen fühlte. Zudem war es in Tirol so gebräuchlich, daß die Bauernsöhne sich zu Brixen die Weihen holten, um dann der Stolz der ganzen Verwandtschaft zu sein, die da meinte, daß der Geistliche einen Extraschlüssel besitze, um Vettern und Basen das Himmelsthor aufzuthun. Die Juristen galten ja doch nur als Bauernschinder, und was vermag der Doktor neben dem 59 Hochwürdigen, der mit Stola und Weihwedel jeden Teufel von Gog bis Belzebub zu vertreiben weiß. Wer Brixen seitab liegen läßt, ist in der öffentlichen Meinung der Bauern vervehmt, und leider läßt man es manchmal nicht bloß beim moralischen Zwang bewenden, man hängt dem Widerspenstigen den Brotkorb so hoch, daß er ihn nur in Kanonenstiefeln erreicht!

Das war bei Norbert eben nicht der Fall, doch hatte man bisher nach altem Brauch als selbstverständlich vorausgesetzt, er wähle das Priesterkleid, und diesem Umstand verdankte er manchen blanken Silberzwanziger, den ihm seine Base, die dicke Braumeisterin, als Drangeld für die Vaterunser, die er einst für ihr Seelenheil beten sollte, zugesteckt hatte.

So lebte er bisher mit jenem gedankenlosen Leichtsinn, der Jünglinge über ihre Zukunft oft so schrecklich verblendet, in den Tag hinein.

Er war heute traurig, er wußte selbst nicht, was ihn von seinen Freunden fort in die Einsamkeit getrieben hatte, wenn nicht vielleicht jene Warnungsstimme der Ahnung, die vor dem 60 letzten entscheidenden Schritt in jeder Brust spricht, deren leisen Ton aber die wenigsten beachten, bis sie nach der That als rächendes Gewissen unabweisbar den Frevler oder Unbesonnenen aus der Ruhe stört. Es waren schon die letzten Tage des Septembers angebrochen, ein Volksspruch sagt:

»Um Maria Geburt
Zieh'n Studenten und Schwalben furt.«

Eigentlich sollte er sich schon auf dem Wege nach Brixen befinden, zögernd hatte er aber Tag um Tag den Ferien zugelegt; es war ja so schön, und morgen wollte er zum letztenmale auf Jagd und Vogelfang ausziehen. Von den fernen Bergforsten rauschte und sauste es herüber; der Herbstwind war in der Höhe erwacht und blies voller und voller, während im Thal sich noch kein Blättchen regte. Das Rauschen schwoll mächtiger an, beklommen horchte er auf, es drang wie Klagetöne durch das Dunkel, als sollten die Blumengeister des Lenzes fortziehen aus dem Thale, nächtlich, unsichtbar; vom Hochland starrten die Spitzen der Gletscher 61 herab, wie die Speere eines langen Heeres, das der Winter in die Ebene niederführte. Wie stimmte die ganze Umgebung zu Norberts Empfindungen!

Plötzlich hallten Tritte vom Pflaster der Stadt, Lärm, Lachen, wie von einer Schar lustiger Trinker; der Schwarm beugte links ein und zog durch das schmutzige Gäßchen ins »Auracher Löchl«. Das ist ein Wirtskeller, dessen Räume tief in den Felsen des Festungsberges zurückgehen; daher findet man hier den Gerstensaft lauter und kühl, wie sonst nirgends, und die Besucher kommen aus allen Gegenden, ihn zu kosten.

Wir hatten uns hier am Schluß der Ferien, der wichtigsten der ganzen Studienzeit, weil sie zwischen den philosophischen Kursen und den Brotfächern, deren eines nun jeder wählen sollte, lagen, zum Abschied bestellt – aus allen Dörfern des Unterlandes von Kössen bis hinauf nach Rattenberg.

»Edite, bibite, collegiales,
Multa post secula pocula nulla!
«

62 schallte der Chor lustig ins Weite, daß die ehrsamen Nachbarn schlaftrunken aus den Federn fuhren und durch das Fenster lugten, ob der Himmel einfalle oder der Teufel los sei. Auch zu Norbert drang die heitere Weise und weckte ihn aus den Träumereien, in die er versunken war. Er konnte dem Zuge nicht widerstehen; erst mit langsamen Schritten, dann rasch ging er dem Keller zu, mit ein paar Sprüngen über die Treppe hatte er die Zechstube erreicht. Wir saßen bereits kameradlich an der langen Tafel, und nebenbei hinter dem kleinen Schenktische im Winkel etliche Rechtspraktikanten, die in der Erinnerung alter akademischer Zeiten gern mitgethan hätten, wäre nicht ein Strich auf der Konduitenliste zu fürchten gewesen.

Den obersten Platz nahm unter uns jener Wilhelm ein, der bei allen soliden Leuten anrüchig war; man konnte ihm zwar keine schlechten Streiche nachsagen, es hieß nur, er sei kein guter Christ, weil er nie den Rosenkranz bete – kurzum, es lag etwas in seinem Wesen, was den verborgenen Instinkt der 63 Trivialität im Herzen der Philister zum Widerspruch herausforderte. Übrigens hätte man dem jungen Mann seine Gottlosigkeit nicht angesehen, so mild und klar war das Auge, mit dem er in die Nacht hinausblickte, als dächte er irgend einer Paradoxie nach, die der Professor zur Belustigung des Kollegiums vergebens mit logischen Spießruten verfolgen sollte. Der Krug vor ihm war noch unberührt, keine Pfeife dampfte in seinem Mund; ja er sah sogar das hübsche Lenerl kaum an, wie es mit der klappernden Geldtasche am Gürtel herumging. Ein unbewußter Ernst lag auf seinem Gesicht, der den entschiedensten Gegensatz zur ausgelassenen Heiterkeit der Genossen bildete, und doch horchte jeder mit Achtung auf das, was er bisweilen kurz und bündig sagte, hier und da einen Witz, scharf, zweischneidig und treffend, daß alle laut auflachten. Er bemerkte Norbert zuerst, der sich im Schatten der Thüre gehalten hatte und mit vollem Behagen dem Treiben seiner Freunde zusah. Dieser trat nun ein und wurde jubelnd begrüßt.

64 Nun ging es mit Fragen und Späßen kreuz und quer, bis er Platz genommen hatte und eben auch zur Springflut ihres jugendlichen Mutwillens ein Tröpflein beitrug. Da räusperte sich einer und sang:

»Rundgesang und Becherklang
Lasset froh ertönen.«

»Nein!« schrie ein anderer, »singen wir:

Es geht der Humpen rings herum!

Stoßt an, jedem im Kreise ein Lebehoch!«

Da faßten wir einander Hand in Hand; derjenige löste die Kette, dessen Name in der Reihe erscholl, und leerte mit kräftigem Zug das Glas, während ihm die anderen zusangen. Es kam an Norbert. Da begannen seine Nachbarn:

»Schenkt ein und trinkt aus;
Freund Norbert soll leben,
Sein Schätzchen daneben;
Es lebe das ganze Norbertsche Haus.«

»Ja, wie heißt denn eigentlich dein Schätzchen?« fragte einer nebenan.

Norbert schwieg.

»Nun, so plagt ihn nicht so!« rief eine 65 Stimme dazwischen, »der fromme Mann geht ja in die Theologie, da muß er den Strauß von der Mütze nehmen und das Mädel aus dem Herzen jagen; den Strauß kann er sich trocknen und als Merkzeichen für das Kapitel vom Ehestand in sein Lehrbuch des Kirchenrechtes einlegen.«

»Ihr zerreißt euch am Ende den Mund umsonst,« sagte Norbert einigermaßen befangen; »ich geh' ja gerne in die Theologie.«

»Wie der Pudel ans Gras!« unterbrach ihn einer, »warum willst du denn nie aus den Ferien fort, als wäre jede Minute, die du daheim zubringst, unbezahlbar, oder als ob du deinen Spitznamen ›Leim‹ durch die That rechtfertigen wolltest.«

Unter der Thür stand Lenerl. Sie blinzelte schalkhaft mit den Augen, ich trat zu ihr und faßte sie scherzend um den Leib. Mit einer leichten Drehung wand sie sich los, zog mich am Arm nieder, flüsterte mir heimlich etwas in das Ohr und husch! war sie kichernd über die Treppe hinunter.

66 Norbert hatte zugesehen; um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, wies er mit dem Finger auf mich und rief:

»Da schaut einmal, unser Botaniker weiß die nettesten Blümlein zu finden!«

»Das hast du schlecht gemacht,« antwortete ich ihm lachend, und wendete mich an die Kameraden. »Wollt ihr wissen, wie Norberts Dienl heißt? Trommelt und paukt: Marie.«

Über Norberts Wangen floß Feuer, betroffen stellte er den halb erhobenen Krug nieder, die andern hämmerten im Takt auf den Tisch, daß die Gläser tanzten, und brachten ein tolles Vivat!

»Aber, wer ist sie denn eigentlich?« fragte Sebi, ein lustiges Bürschchen mit kugelrundem Kopf und breiten Lippen, der die saftigsten Schnadahüpfeln zu singen wußte: »ich kenne alle Moideln weitum, welche ist's?«

Norbert sah mich bittend an; wollte ich ihn auch nicht verraten, sollte er doch nicht so leicht loskommen.

Ich begann, seinem Blick ausweichend, mit 67 Emphase: »Ihr kennt sie alle, gewiß ist ihr schon jeder nachgestiegen, im Unterland wurde noch nie so schöner Flachs gesponnen wie ihr blondes Haar – –«

»Dann ist's Klausens Moidele!« schrie Veit, ein flotter Bursch aus Kufstein, und griff einen lauten Akkord auf der Guitarre, die am blauen Band an seinem Halse hing.

»Klausens Moidele,« entgegnete ich ironisch, »das ist also die deinige, bravo!«

»Bravo!« riefen unter schallendem Gelächter alle, »also Klausens Moidele und der Veit!«

Verlegen wischte dieser mit der Hand die Stirn. Ich sah im Kreise herum, ob vielleicht noch einer ein Moidele anzugeben habe; durch Veits Voreiligkeit gewitzigt, schwieg jedoch jeder.

»Also mit Klausens Moidele ist's nichts,« fuhr ich fort, »das Moidele, das ich meine, hat blaue Augen –«

»Einen roten Rock, einen blauen Mantel und die Lilie in der Hand,« unterbrach mich Sebi, »am Ende ist's wohl gar die Mutter 68 Gottes auf dem Seitenaltar, die man bei der Prozession herumträgt.«

»Richtig! Sebi,« entgegnete ich, »die ist's, und da du ebenfalls dich der heiligen Theologie überliefern willst, so kannst du dich mit Norbert in ihre Liebe teilen.«

Wie Spieler den Ball von Hand zu Hand werfen, neckte nun einer den andern und ließ sich gerne wieder necken: ungemessener Jubel der Jugendlust, die brausend überflutet, bis sie dann das Schulgesetz durch hergebrachte Fesseln des Pedantismus zu hemmen sucht. Stunde um Stunde verging, für uns gab es keine Uhr, wir hätten gezecht und geschwärmt, bis die Morgensonne in den Gläsern spiegelte; da erschien plötzlich die lange Gestalt des Gerichtsdieners Obertreuer an der Thüre: »Meine Herren, Polizeistunde!« Dieses Wort wirkte wie ein verwandelnder Zauberruf, alle Gesichter wurden plötzlich ernst. Man erinnerte sich, warum man zusannnengekommen war: Abschied zu nehmen von einander für lange Zeit, vielleicht für immer. Denn nicht nur Tod und Ferne 69 trennt die Herzen der Jünglinge, die lang mit Begeisterung eine Bahn wandelten; wie oft geht uns ein Freund verloren, dem andere Kreise des Lebens eine andere Weltanschauung bedingen; wir sehen noch die alte Gestalt, sie ist aber stumm geworden für uns wie eine Mumie.

Dieser Gedanke schien auch auf die Stimmung der Versammelten zu wirken. Der hatte sich dieses, ein anderer jenes Berufsziel vorgesteckt, alle fühlten wir wehmutsvoll die Bedeutung des Augenblickes. Das Schweigen nach dem wilden, tobenden Lärm hatte etwas feierliches, als hätte jeder im Jugendgenossen einem Teile der eigenen Jugend lebewohl zu sagen. Die Krüge wurden frisch gefüllt, wir standen auf und brachten, Brust an Brust gelehnt, einander das letzte Lebehoch.

Dann begann Wilhelm mit kräftiger Stimme ein Lied, die andern fielen ein und zogen singend auf die Straße hinaus:

»Wohlauf denn getrunken
    Den funkelnden Wein. 70
Lebt wohl denn, ihr Lieben,
    Geschieden muß sein!
Lebt wohl denn, ihr Berge,
    Du väterlich Haus,
Es treibt in die Ferne
    Mit Macht uns hinaus.«


Die höchsten Schichten des Nebels, die sich an den Bergspitzen aufkräuselten, durchströmte schon der Glanz der Sonne. Norbert schritt langsam durch die prächtige Lindenallee, die hinter der Zellerburg zum Leonhartskirchlein führt, hier und da fiel ein Blatt, welk und bereift, auf seinen Pfad. Er sah aus wie Papageno; auf seinem Rücken hing wenigstens ein Dutzend Vogelhäuschen, die übereinander gestöckelt, mit Spagat künstlich befestigt waren. In den Holunderstauden neben der alten Schanze, die mit ihrem eingesunkenen Kamm und den halbverschütteten Gräben an die Heldenkämpfe von 1809 erinnerte, schnalzte schon da und dort ein Rotkehlchen und schüttelte den Tau nieder, wenn es an den schwarzen Beeren pickte; aus den tiefern Büschen antwortete 71 bereits Meise und Zeisig dem Rufe der eingeschlossenen Lockvögel. Bald erreichte er einen kleinen Bergkopf, der an der einen Seite die Stoppelfelder, auf der andern den Innstrom und die daran liegenden Erl-Auen beherrschte. Dort befand sich eine Tanne, recht geeignet für den Anflug fernher streifender Zugvögel, weil sie von allen Seiten frei stand. Er öffnete die Leimtasche, zog die Ruten aneinander ab und steckte sie dann in die Bohrlöcher. Die Lockvögel verteilte er geschickt zwischen den Zweigen und verdeckte sie mit Laub, damit die andern Vögel die gefährlichen Käfige nicht bemerken sollten. Der Rest der Ruten wurde sorgsam in den Büschen am Fußpfad angebracht, ob vielleicht eine Drossel oder Amsel, Käfer und Würmlein suchend, aufsitze.

Plötzlich herrschte lautlose Stille, die Lockvögel duckten sich scheu in den Käfigen, denn hoch oben, kaum sichtbar, schwebte ein Falke in weitem Kreise, sein gellender Schrei setzte all die Sänger durch Thal und Au in Angst. Der Student blieb neben dem Baume stehen. Am 72 Hochgebirg stieg das Sonnenlicht langsam nieder und hatte schon die andere Seite der Ebene erreicht; thalaufwärts ragten die Bergkuppen empor und leuchteten goldrot in der Verklärung des Morgens, eine hinter der andern, eine unabsehbare Kette, die sich an den Hauptstock des Stubaier Ferner anlehnte.

In dieser Richtung führt die Straße nach Brixen – zu den weißen Sälen, voll Schulstaub und Gelehrsamkeit, dachte Norbert. Während er so die Gegend überblickte, als wollte er jeden Ast, jedes Laub dem Gedächtnisse unverlöschlich einprägen, regten sich die Büsche, die den Pfad verdeckten, als ob etwas leicht an die Zweige streifte. Bald hörte er eine Mädchenstimme: »Da bleibt man ja überall kleben.« Er eilte hinzu. »Sieh da,« rief er lachend, »welch ein Vogel, nicht der schlechteste meiner Treu! Marie, du bist mir ja auf den Leim geraten.«

Das Mädchen erwiderte heiter: »Am Fang läge mir nichts, wenn man nur das kleberige Zeug aus den Kleidern brächte.«

73 »Da will ich schon helfen!« rief er dienstbeflissen, »und die die Flecken vom Gewand putzen.« Er ging zur Hütte, und brachte eine Handvoll Asche, mit der man die Vögel vom Leime reinigt, daß er ihnen nicht die Federn verklebe. Eifrig begann er nun zu streichen und zu bürsten, wo nur das kleinste Fleckchen an dem saubern Gewand zu sehen war. Auch über dem Knöchel war eine Rute hängen geblieben, er nahm sie rasch hinweg und wollte hier sein Geschäft fortsetzen. Marie trat aber scheu zurück und meinte: das wolle sie schon selbst besorgen.

Er richtete sich auf und blickte tief in ihr reines, blaues Auge: »Warum bist du denn eigentlich hergekommen?«

»Ich wollte,« erwiderte sie, einige freie Haarringel, die von Tau schimmerten, an den Wangen zurückstreichend, »ja, ich wollte mit dem Rechen das abgefallene Laub auf einen Haufen bringen, damit es der Knecht zur Winterstreu hole.«

74 »Da hast du ja den Rechen vergessen,« bemerkte Norbert.

»Ja so,« rief sie einigermaßen verlegen, »nicht darum war es. Warum richtest du denn auch dein Gefäng mitten auf dem Weg auf, daß man kleben bleibt und sich auf nichts mehr besinnt? Ich wollte nachsehen, ob sich das Galtvieh hierher verlaufen habe.«

»Das ist ja,« sagte er, »noch auf der Alm.«

»Warum mußt du aber auch in einem fort fragen, als ob du Mauthbeamter wärst,« entgegnete sie, die Stirn schüchtern senkend; »ich hätte noch gern gewußt, was du machst; du wirst ja bald Theolog?«

Er nahm sie bei der Hand: »Gehen wir in die Hütte, sonst stehen wir als Vogelscheuchen da.« Sie folgte ihm.

Es war ein lieblicher Anblick, wie sie unter dem Blätterdache stand, das Auge voll Unschuld und die Wangen rot von Morgenfrische; um die Stirne schlangen sich fast wie eine Aureole die goldblonden Zöpfe, nach Landessitte 75 hinter dem Scheitel, von einer Silbernadel festgehalten; die Preiselstaude senkte die Äste mit den Scharlachträubchen herab, als wie einen Schmuck von Korallen für das jungfräuliche Haupt. Norbert dachte an jene schöne Sage vom heiligen Wasser, wo die Muttergottes den Hirten im Gebirge erschien und den heilkräftigen Quell zeigte, oder an jene Notburga, die fromme Bauerndirne, deren Bild weitum durch das Unterland auf den Altären prangt. Wie sich beide freundlich anblickten, voll Innigkeit, wußten sie gar nicht, wie unendlich lieb sie sich hatten, und sie hätten es sich auch nicht getraut zu sagen, wären sie sich auch dessen bewußt geworden; – Freunde und Freundinnen aber kannten sich besser aus und scherzten oft darüber. »Siehst du, Norbert,« begann endlich das Mädchen, »ich bin deinetwegen recht in Sorgen. Ich habe zwar die größte Freude, wenn ich daran denke, wie du einst heimkehren wirst als neugeweihter Priester im schwarzen Rock, den blauen Perlkragen am Halse und die Schnallenschuhe an den Füßen. Ich stelle mir 76 oft vor, wie dir diese Tracht stehen werde – die langen Haare wird man dir freilich scheren – dann werde ich niederknieen müssen, und du wirst mir mit gehobener Hand den Segen geben. Das ist alles so herrlich; aber ich fürcht' halt nur eins, und das kann auch nicht ausbleiben: du wirst dann gegen mich nicht mehr so freundlich sein. Auch du! werd' ich zu dir nicht mehr sagen dürfen, sondern Sie, oder wenn es hoch hinauskommt Ihr, als wären wir uns landfremd, und ich bin doch deine Base, denn deines Geschwisterkindes Seppels Schwiegertochter ist mit meines Vetters Weib –«

Da lief Norbert hinaus, die Lockvögel schrieen aus voller Kehle, und eine ganze Schar von Zeisigen war angeflogen, fast auf jeder Rute ein Vogel oder gar zwei und drei.

Er hatte für den Augenblick Marie und den Stammbaum vergessen und beschäftigte sich einzig mit der Abnahme seines Fanges. Nach einer Weile kehrte er zurück, in der linken Hand ein zusammengefaltetes Tuch, zwischen den Fingern der rechten eine Spiegelmeise an den 77 Füßen eingeklemmt. Sie flatterte ängstlich, dann, über das Hemmnis ihres Fluges erzürnt, richtete sie sich hoch auf und hackte ihm, aus Leibeskräften schreiend, auf die Faust. Es ist ein wilder Vogel, wie ein Krieger mit dem schwarzen Helm, von dem hinter den weißen Wangen Streifen gleich Sturmbändern zum spitzigen Schnabel niederlaufen.

»Das ist ja prächtig,« sagte Norbert zu Marie, »du sollst die Meise behalten, und wenn sie pfeift, so denke daran, wie ich dir zu lieb einst manches lustige Schnadahüpfel losließ.«

Sie wollte den Vogel mit sanftem Finger über den Rücken streicheln, er duckte sich und hieb ihr scharf ins Gelenk, so daß sie zuckend und erschreckt zurückfuhr. Norbert lachte und steckte den Gefangenen in ein kleines Vogelhaus.

»Wo hast du denn die Zeiseln?« fragte das Mädchen nach einer Weile. Er schlug das Tuch auseinander, sie erblickte ein paar Dutzend erwürgter Vögel, die an den durchstochenen Schnäbeln mit einer Schnur verknüpft waren.

78 »Wie konntest du die armen Tiere umbringen!« rief sie aus.

»Es ist jetzt Herbst,« antwortete er, »da gehen sie auf den Erlsamen, und werden dabei fett.« Er blickte sie an, in ihren Zügen zeigte sich Mitleid und ein stiller Vorwurf für ihn, so daß er sein Tuch rasch zusammenfaltete. Sie fuhr fort: »Norbert, du solltest jetzt keinen Vogel mehr töten; ich sage das nicht aus Zimperlichkeit, wie jenes Stadtfräulein, das aus der Küche lief, wenn ein Huhn geschlachtet wurde; ich meine nur so: du wirst Geistlicher, und ein Geistlicher soll ja weder Menschen noch Tieren etwas zuleide thun. Glaubst du nicht auch?«

Norbert nahm schweigend die Ruten ab und band die Lockvögel zusammen. »Das thu' ich dir zu lieb,« sagte er zu dem Mädchen, das mit holder Freundlichkeit an seine Seite getreten war – »und eigentlich hast du auch recht!« murmelte er nach einer Pause.

Sie stiegen nun langsam bergab und kamen, obgleich sie bald da, bald dort stehen blieben, 79 nur zu bald auf den Weg, der einerseits nach Langkampfen, andererseits zum Hause Norberts führte. Er nahm das Mädchen schüchtern bei der Hand. »Seh' ich dich nicht mehr?« fragte sie kleinlaut.

Er stand unschlüssig, denn ihm fiel ein, daß er eigentlich schon am nächsten Tag zur Aufnahme in Brixen sein sollte; dann aber dachte er wieder: was liegt wohl daran, wenn ich um einen Tag zu spät komme? Übrigens ist ja auch Langkampfen auf meinem Weg, da kann ich immerhin bei Mariens Vater einsprechen. Der letzte Grund überwog. »Morgen,« sprach er, »reis' ich fort; ich werde bei euch einkehren. Sei also in der Früh zuhause.«

»Machen wir es so,« rief das Mädchen freudig. »Ich geh' heut noch auf die Alm und lasse das Vieh abführen; erwart' uns morgen beim Jochbrunnen am Pendling, da treiben wir dann die Kühe thalauf, und du kannst mir dabei helfen.«

»Gut,« sagte Norbert, »ich werde dort sein – vor elf Uhr kommt ihr doch nicht.« Er 80 drückte ihr die Hand und sprang über den Stiegel am Zaun. Sie blieb stehen und horchte noch, als er bereits durch die hohen Lärchen hinschritt, wie er hell und lustig ein Lied pfiff.

»Morgen also am Jochbrunnen!« rief er vom Vorsprung der Schanze zurück und schwang den Hut.

»Ja, gewiß!« erwiderte sie mit fast erstickter Stimme.

Er sprang hinab und entschwand ihr ganz unter den Linden, doch hörte sie noch einen Juchzer, den er losließ, von den prallen Wänden der Zellerburg widerhallen. Erst als nichts mehr zu sehen und zu hören war, ging auch sie langsam fort.

Norberts Mütterlein war indes geschäftig gewesen, seinen Reisekoffer vollzupacken. Wie sie nun Stück um Stück die Wäsche hineinlegte, wozu sie selbst den Flachs gebrochen, den Faden gesponnen und gebleicht hatte, wurde ihr gar schwer ums Herz; sie dachte an die lange Zeit, wo sie ihn nicht sehen sollte: Winter, Lenz und Sommer. Von Innsbruck war er doch 81 bisweilen heimgekommen, er begleitete sie zu Weihnachten in die Christmesse und lobte dann das Birnbrot, das sie ihm vorsetzte, oder er färbte zu Ostern, wie einst in den Knabenjahren, die Eier und ätzte mit Scheidwasser Figuren und Sprüchlein darauf, so daß alle Nachbarn daran eine Freude hatten. Welche Wonne füllte erst ihre Brust, wenn ihn an Festtagen der Dechant zur Tafel lud, und dann hier und da jemand fragte: »Ist es wahr, der Hochwürdige hat euern Studenten zu Tisch behalten?« Das sollte nun alles nicht mehr sein; denn Brixen war von Kufstein zu fern. Als sie nun dieses überlegte, wurden ihre Augen trüb, sie nahm die Brille von der Nase und fing an, emsig zu wischen und zu putzen. Dadurch wurde aber der Blick nicht heller; sie setzte sich auf den Koffer und weinte heftig in die Schürze. Da trat der Vater herein, teilnehmend blickte er auf sie und drückte sich, als wolle er ihren Schmerz nicht stören, langsam und ohne Geräusch hinter den Tisch. Sie richtete sich auf und fuhr, über die Truhe 82 gebeugt, in der Arbeit fort. Er rauchte schweigend seine Holzpfeife aus und klopfte, als sie verglommen, die Asche auf den Sims.

»Eigentlich,« begann er auf einmal, »gefällt mir die ganze Sache nicht recht. Der Norbert führte sich zwar immer redlich auf; war er auch bisweilen fidel, wie die Studenten sagen, so liegt das doch noch weitab vom Lumpen, allein – etwas fehlt ihm doch zum Geistlichen, ich kann es nicht sagen, aber ich fühle deutlich, daß ihm etwas abgehe.«

Das Mütterchen sah ihn groß an. Er fuhr nun mit erhobener Stimme fort: »Siehst du, er hat in der Rechenkunst eine zweite Klasse; wäre das nicht, so könnt' er Beamter –«

»Was fällt dir ein,« unterbrach ihn das Mütterchen. »da müßte er ja in die Schreibstube; für ihn taugt nur Feld und Wald, und die stehen ihm als Priester offen. Wie herrlich muß es sein, wenn er mit dem hochwürdigsten Gut, um die Schulter den prächtigen, goldgestickten Rauchmantel, mit der Fronleichnamsprozession durch die Kornfelder geht; die 83 Gemeindeältesten – und vielleicht auch du darunter – tragen an den vier Stangen den Thronhimmel über ihm; da bleibt er dann wohl vor seines Vaters Äckern stehen und segnet sie noch insbesondere.«

»Das wäre alles recht,« meinte der Alte, »mir geht aber seine zweite Klasse, die ihm so manchen anderen Ausweg versperrt, immer im Kopf um. Vorgeworfen habe ich es ihm nie, denn er ist sonst gut und ehrlich, er kann nichts dafür, daß ihm der Herrgott den Verstand nicht besser aufgethan hat. Überhaupt läßt sich da nicht viel reden; jeder muß es selbst versuchen. Ich weiß gut, wie sehr mir einst der Soldatenrock gefiel, daß ich vom Pflug der Trommel nachlief; kaum trug ich aber den grauen Kittel am Leib und den Schießprügel auf der Achsel, so hätt' ich beides schon wieder gern weggeworfen. Gott verzeih mir die Sünde, ich jubelte fast, als mich nach einem halben Jahr ein Säbelhieb dienstuntauglich machte. Darum red' ich auch dem Norbert nichts ein, er thue was immer, wenn er nur brav bleibt; denn 84 das Herz macht den Menschen und nicht der Rock.«

Da kamen einige Nachbarn, denen bald andere folgten. Sie wollten von Norbert Abschied nehmen, der war aber noch nicht heimgekehrt. Die Alten vertieften sich bald in ein Gespräch, die Bursche horchten, die Hände in den grünen Hosenträgern, den Reden der Väter. Es wurde vielerlei verhandelt über Ernteaussichten und Wochenmarkt, und ob das Almvieh heuer gedeihe. Bald darauf trat Norbert ein. Er mischte sich unbefangen in die Unterhaltung und erzählte mit der größten Lebhaftigkeit von den neuen Versuchen, die der landwirtschaftliche Verein im Hofgarten zu Innsbruck mit verschiedenen Früchten veranstaltet habe. Es schien fast, er verstehe sich besser auf Düngungsmethoden und Dreschmaschinen, als auf Sinus, Tangenten, Quadrate und philosophische Fragen.

Endlich mahnte die steigende Dunkelheit zum Aufbruch. Jeder wollte noch dem künftigen Theologen ein herzliches Wort sagen, dieser bot 85 rings die Hand und mit lauten Glückwünschen schied endlich der Schwarm.

Auf der Schwelle wandte sich ein Schulkamerad Norberts noch um, er hatte den Abend sehr wenig gesprochen und rief nun zurück: »Norbert! der Hans, ich und der Jagg haben gelobt, dir, wenn du die erste Messe liest, einen Maibaum vor das Haus zu pflanzen, den höchsten, den wir im ganzen Walde finden. Behüt' dich Gott.« Er ging rasch hinaus. Eltern und Sohn waren nun allein. Da wurde alles Mögliche besprochen, und um ja nichts zu vergessen, jede Sache vom guten Mütterchen mehrmals vorgebracht. Der Vater sagte, es sei ja auch morgen früh Zeit, weiteres zu bereden, obwohl im Grund gar nichts mehr zu verhandeln übrig war. Nun traten die Knechte ein und knieten an den Bänken nieder. Norbert betete den Rosenkranz vor und alles ging zur Ruhe.


Die Sonne schien bereits in das Thal, als der Student durch den Knecht geweckt wurde, 86 der vor seinem Fenster die Sense dengelte. Rasch stand er auf, aller Trübsinn war von ihm gewichen, sei es nun, daß Mariens Bild vor seiner Seele stand, oder daß ihn die Aussicht auf eine Wanderung nach Süden heiter stimmte. Er trat zu seinen Eltern in die Stube. Der Vater war ruhig wie immer, die Mutter blickte auf den Sohn, und als sie ihn so froh und wohlgemut sah, fühlte auch sie neue Zuversicht. Sie wiederholte noch einige Aufträge; da griff der Alte plötzlich in die Tasche und zog eine alte Uhr hervor, die in einem Silbergehäuse lag, durch dessen zierlich geflochtene Schnörkel roter Lack glänzte. Er reichte sie dem Jüngling. »Sie ist von meinem Großvater,« setzte er hinzu, »ein gutes Werk mit Stahlschrauben; ich kann wohl auf den Kirchturm schauen oder wenn ich auf dem Felde bin, wird ja zur Essenszeit die Glocke gezogen; ein Student aber soll sich vor allem anderen stets erinnern, wie kostbar die Zeit sei, damit er keine Minute versäume.«

Der Sohn nahm schweigend das Geschenk.

87 »Begleiten kann ich dich nicht,« fuhr der Bauer fort, »ich habe notwendig auf dem Neubruch zu schaffen; wenn du wieder kommst, wirst du deine Freude haben, wie der Acker schön und eben liegt, den jetzt ästige Baumwurzeln durchkriechen. So, nun hast du gehört, wie ich es meine, lebe wohl.« Da spritzte das Mütterchen noch Weihwasser auf seine Stirn und bezeichnete sie mit dem heiligen Kreuz; er drückte ihr zitternd die Hand und ging stumm, ohne sich umzusehen, aus dem Haus, denn es gelang ihm nur schwer, seine Rührung noch länger zu bezwingen.

Der Morgenwind wehte ihn frisch an, als sollte er mit dem Herbstnebel die trüben Gedanken verscheuchen; die Schönheit von Wald und Feld gaben ihm allmählich seine ursprüngliche Stimmung wieder. Schnell hatte er den Saum des Waldes erreicht, durch den der Steig zum Pendling emporführt. Den Weg unterbrach ein Bergrunst, über den sonst einige unbehauene Balken führten. Er sah schon von weitem, daß eine alte Tanne, wo er oft 88 zu rasten pflegte, nicht mehr stand, nur ein Stumpf ragte noch mit langen Schiefern über die Haselstauden. Der Sturm hatte den Stamm so gebrochen, daß er mit dem Wipfel noch den anderen Rand des Abgrundes erreichte. Die Brücke war unter der Wucht seiner Zweige eingestürzt. »Was für ein herrlicher Wegmeister der Wind ist!« rief Norbert lachend, »einen Steg bricht er ab und baut aber dafür gleich einen neuen.« Er trat auf die gestürzte Tanne, die über dem Runst hing, ohne zu bedenken, was er wage. Als er wie ein Seiltänzer über die Mitte des Baumes hinüberging, begann dieser heftig zu schwanken und Steine rollten nieder. Mit einem Sprung, um den ihn der kühnste Gemsenjäger beneidet hätte, erreichte er den andern Rand, während der Schwung seines Fußes den Stamm völlig aus dem Gleichgewichte brachte, daß er, krachend und sich auf den breiten Ästen überwälzend, in die Schlucht hinabstürzte. Norbert schnalzte mit der Zunge, wie es die Bursche zu machen pflegen, wenn sie den Gegner ins Gras gerungen haben oder ein 89 Schnadahüpfel beginnen wollen. Bald darauf sang er ein bekanntes Liedlein, das recht gut für einen Senner getaugt hätte.

»Der Gamsbock am Schrofen,
    Und 's Dirnl im Thal:
A lustiger Jäger
    Will boad's auf a mal.«

Ungefähr um zehn Uhr erreichte er den bestimmten Platz. Hier war es schattig und kühl; er setzte sich auf den grünbemoosten Brunnentrog, in den das lautere Alpenwasser aus den Holzröhren niederplätscherte. Hier und da guckte ein Berghuhn aus dem hohen Farrenkraut und flatterte verschüchtert davon. Plötzlich klang ein leises, melodisches Summen in abgebrochenen Sätzen von der gegenüberstehenden Felswand, es war der Wiederhall von Alpenglocken. Norbert sprang rasch auf und ging thalein. Bald begegnete er der Leitkuh, dem schönsten Stück der Herde. An den vergoldeten Hörnern waren Laubgewinde und Blumen mit wallenden Atlasbändern festgebunden, daß sie wie ein Triumphbogen zusammenneigten. Darunter befand sich auf der breiten Stirn ein 90 Tirolerschütz befestigt, den der Senner auf der Alm aus Zirbelholz geschnitzt hatte; so oft die Kuh den Kopf schüttelte, bewegte er sich am Drahte mit. Vom Nacken hing am breiten gestickten Ledergurt eine große Glocke; die Kuh schien in diesem sonderbaren Aufputz ein Gefühl des Stolzes zu haben; denn so oft eine aus dem Zug vordrängen wollte, kehrte sie sich um und zeigte ihr die Hörner. Nach dem Rindvieh folgten die Ziegen und Schafe; der Geisbub zerrte den Bock am Stricke daher, damit er nicht durch ungeeignete Galanterie die Ordnung der Herde störe. Es war ein stattlicher, schwarz-zottiger Kerl mit frech aufgedrehtem Schwänzlein und langen Hörnern, um die ein Kranz von Vergißmeinnicht und Immergrün gewunden war. – Norbert mußte weichen, um den Zug vorüber zu lassen; zuletzt kam Marie an der Seite des Senners um die Waldecke. Sie bot ihm einen freundlichen Gruß; jener gab ihm allsogleich eine ungeheure Peitsche, damit er neben dem Vieh hertrabe und kein Stück vom Weg abkommen lasse. So erreichten sie gegen Mittag 91 das Dorf. Die Bauern standen schon bei den ersten Häusern, des Einzugs gewärtig, voran der Wirt mit einer ungeheuren Schnapsflasche, aus der er ein Stengelglas füllte. Er reichte es dem Senner zum Gruß und fragte lachend: »Was hast du denn heut für einen Kühbuben angestellt?«

»Ja, die Marie,« antwortete dieser, das Glas absetzend, »die Marie hat den Studenten aufgedungen – sollst leben, du bist doch das schönste Mädl in Langkampfen!«

Marie nippte ein wenig aus dem dargebotenen Glase.

»Geh,« rief der Senner, »verzieh nicht so das Maul, – hätt' es dir Norbert zugebracht, würdest du schon austrinken.«

Die Bauermädchen in Tirol verachten sonst den Schnaps eben nicht; es ist sogar der Brauch, daß die Buben beim Fensterln ein Fläschchen Liqueur mitbringen.

Der Zug setzte sich bald wieder in Bewegung, und nach einer Weile hielten sie vor Mariens Haus. Der Student half noch dem 92 Mädchen und dessen Vater im Stalle; er kettete die Rinder an und steckte duftiges Heu in die Krippe. Beim Mittagessen erzählte Mariens Bruder von dem großen Schießen, das am nächsten Morgen zu Angeth beginnen sollte.

»Da könntest du mich begleiten,« wandte er sich an Norbert, »wir brechen abends auf, vielleicht geht auch der Zieler Jochele mit.« Angeth war freilich nur zwei Stunden entfernt und es war vorauszusehen, daß ein rüstiger Reisender eher um die Welt herumkommen würde, als Norbert bei so kurzen Tagmärschen nach Brixen, indes nahm er die freundliche Einladung unbedenklich an. Während jener den schweren Stutzen sorgfältig in stand setzte, ging er mit Marie. Sie hatte ihm noch so vieles heimlich aufzutragen, und weil er ihr Vetter war, führte sie ihn unbedenklich über die Treppe in ihr Kämmerlein. Hier war alles so nett und sauber. Die braunen Holzwände, durch blaue Leisten zierlich in Felder abgeteilt, zeigten da und dort fromme Sprüche, die mit 93 hellem Zinnober in großen Frakturbuchstaben vom Schullehrer hingemalt waren. Zu Häupten des breiten Himmelbettes hing ein kleines Altärchen, darauf die unbefleckte Jungfrau zwischen Georginen und Astern, ringsum allerlei Flitter, Täfelchen und Schnitzwerk, wie es das Mädchen bei Katechesen und Prüfungen oder auch von wandernden Ordensbrüdern erhalten hatte. Der Jüngling betrachtete das alles mit wahrem Behagen. Auf einem Gestelle standen glasierte Scherben mit Blutnelken und Rosmarin, von denen in Tirol die Bräute einen Strauß zur Kirchfahrt mitzunehmen pflegen. Da hält ein Mädchen viel darauf, daß es die Blumen selbst gepflanzt und für den Ehrentag gepflegt habe.

»Schau, schau!« rief Norbert, mit dem Finger hindeutend, »hast du darauf auch schon gedacht?« und seine Stimme bebte wie von heimlicher Beklommenheit.

»Das nicht,« erwiderte Marie, »wozu sollte ich auch? Wenn du deine erste Messe liest, will ich ein Kränzchen davon tragen. Ich 94 möchte dich um etwas bitten und hab' es schon lange auf der Zunge.«

Norbert sah sie forschend an.

»Ich würde,« fuhr sie fort, »bei deiner Primiz gar zu gern die geistliche Braut vorstellen.«

»Meine Hand darauf,« rief der Student, »du wirst es und keine andere!«

Um ihre Wangen spielte ein sanftes Lächeln, als wäre ihr die schönste Zukunft verkündet. So bescheiden war dieses kindliche Herz, daß es ihm genug schien, an jenem Ehrentag die Braut des neugeweihten Priesters, die katholische Kirche symbolisch darzustellen; kein anderer Wunsch, kein anderer Gedanke erwachte in ihr, denn das stand wie eine hehre Notwendigkeit vor ihrer Seele, daß Norbert Geistlicher werden müsse. Marie pflückte ein Zweiglein Rosmarin und Nelken, das sollte Norbert mitnehmen auf die Reise und auch in Brixen nicht wegwerfen, als Zeichen dessen, was er ihr versprochen. Da pfiff es vor dem Fenster, Hans war bereit; noch einmal drückte Norbert Marien die 95 Hand, noch einmal blickte er in ihr Auge und verließ dann das Haus. Sie aber, als sein Schritt verhallt war, kniete vor dem Muttergottesbilde nieder, und heiße Thränen flossen auf ihren Busen; sie betete, daß ihn die himmlische Jungfrau auf allen Pfaden geleite und schirme, damit er rückkehrend sein Wort lösen könne.

Die beiden Jünglinge schritten wacker vorwärts, an der Esche vor dem Dorfe harrte der Zieler Jochele, ein Bündel unter dem Arme, darin das Festgewand, in dem er um die Scheibe tanzen sollte.

»Du wirst doch morgen auch mitschießen?« redete er den Studenten an.

»Das gerade nicht,« antwortete dieser, »ich gehe nach Brixen in die Theologie.«

»Nun, ein Schuß nach dem Frühstück kann dir nichts schaden. Möcht' doch sehen, ob du imstande bist, einen Stutzenlauf zu richten; du liefst zwar den ganzen Tag mit der Büchse im Wald herum, das Wild soll sich aber, nachdem 96 der erste Schrecken vorbei war, ganz wohl befunden haben.«

»Du Schwätzer, mit dir schieß' ich doch, wenn es gilt,« erwiderte Norbert rasch.

»Ei, ja freilich! Ich erinnere mich, wie du einmal einen Hasen erschossest, der hatte an jenem Tage besonderes Glück; er machte so nahe vor dir ein Männchen, daß du ihn ebensogut hättest bei den Ohren packen können. Wenn man dich auf einen Tannenwipfel setzte, würde vielleicht ein Hirsch zu dir hinaufklettern, um die Ehre zu haben, von deinen Meisterschüssen zu fallen. Gilt's eine Maß Wein, du fehlst die Scheibe und wär' sie so groß wie ein Stadelthor?«

»Zehn soll es gelten!« rief Norbert, »einen Schuß thu' ich noch, eh' ich fortgeh' und« –

»Und ich stelle mich vor die Scheibe,« unterbrach ihn Jochele lachend, »da bin ich am sichersten vor der Kugel. Doch Spaß beiseit', ich lasse dich beim Schießen einschreiben, nach Brixen kommst du auch nachmittags früh genug.« –

97 So erreichten sie Angeth. Sie kehrten bei einem Bekannten ein und schwatzten noch auf ihrem Lager im Heustadel tief in die Nacht von den Dingen, die da kommen sollten, bis einer nach dem andern schlummerte.


In aller Früh begann ein reges Leben auf dem Schießstand. Schwegelpfeife und Trommel erklangen frisch und munter, denn das ist die Schlachtmusik des Tiroler Landsturmes, die auch zum unblutigen Spiele um die Festpreise erklingt. Stutzen um Stutzen krachte, daß es weithin durch die Bergschluchten hallte; bei jedem Glücksschuß sprang hinter der Scheibe der hölzerne Hanswurst empor. Wenn der Rauch verschwand, trat der Zieler Jochele in seiner roten Jacke vor, tanzte so oft um die Scheibe, als die Zahl der eingeschossenen Kreise betrug und jauchzte jedesmal zu Ehren des glücklichen Schützen. Wenn aber, wie es auch bisweilen geschah, ein Bursch' mit dem Gewehr nicht recht umzugehen wußte, so schlug Jochele einen Purzelbaum und zeigte dem Unglücklichen 98 den Rücken, dem ein Bock von schwarzem Tuche aufgenäht war. Ein allgemeines Gelächter erscholl dann, so daß sich der Fehlende beschämt zurückzog, und wie die Schützen im Notfall immer Ausreden haben, die Schuld auf Wind, Licht oder Pulver schob.

In einem solchen Augenblick trat Norbert mit Hans ein: der Schützenmeister sagte ihnen, daß sie, als spät eingeschrieben, noch zu warten hätten, sie möchten sich indes unter den andern umthun oder die ausgesetzten Preise betrachten. Auf einer breiten, aus Fichtenzweigen geflochtenen Pyramide steckten zwei grünweiße Seidenfahnen mit dem roten Adler von Tirol; jene rechts war statt der Fransen mit Dukaten umrandet und die links mit blanken Zwanzigern. Zwischen beiden stand als drittes Best ein horngeschnitzter Becher mit Silberfassung, er ruhte auf einem Gestell aus struppigen Adlerklauen. »Das wär' eine Freud!« meinte Hans und konnte die Augen nicht abwenden; Norbert schwieg, es mochte ihm ein wenig bange sein, daß er vor dieser Menge 99 trefflicher Schützen und mit ihnen um das Best schießen sollte.

»Trefft nur gut,« sagte ein Alter, und faßte ihn treuherzig bei der Hand, »seht Ihr die Scheiben dort am Getäfel? Manche ist über hundert Jahr alt, und der Kernschuß auf jeder angemerkt, ebenso der Name desjenigen, der ihn gethan. Mancher findet einen seiner Vorfahren verzeichnet und will nicht schlechter sein als dieser; deswegen strengt er sich an, ein guter Schütz zu werden.« Da wurde Hans aufgerufen, er trat vor und schoß; es war, als wollte Jochele gar nicht aufhören, um die Scheibe zu tanzen, die Kugel war tief in den vierten Kreis gedrungen. Nun traf Norbert die Reihe, aus der Zielerhütte kam der Ruf: »Die Maß Wein, die Maß Wein.« Der Student ließ sich nicht beirren, fest ergriff er das frischgeladene Rohr, er zielte scharf und lang, Blitz und Knall! – er atmete tief auf, als er den Kolben von der Wange absetzte. Jochele stand unbeweglich vor der Scheibe, wie der hölzerne Hanswurst über ihr; dann riß er 100 sie rasch vom Pflock und eilte zum Schießstand. –

»Eine blinde Henne hat ein Weizenkorn gefunden: das Centrum!« schrie er von weitem, niemand wollte es glauben, am wenigsten der Student, bis sich alle durch den Anblick überzeugten; ja einige Zweifler bohrten da noch mit dem Finger in das eingeschossene Loch, alle standen verdutzt. Da ergriff ihn Hans bei der Hand und sprach: »Von jedem andern thät es mich verdrießen, wenn er mich abgeschossen hätte, daß es aber dir gelungen ist, Norbert, das freut mich, als ob ich selbst das Best heimtragen dürfte.«

»Wer das Glück hat, führt die Braut heim!« murmelte ein Schütz nebenan.

»Es ist Zufall!« sagte ein anderer unwillig, denn keiner mochte auf so schnöde Weise den Preis verloren sehen – »nur Zufall!«

»Zufall?«schrie Norbert dreist, »ich werde die noch übrigen zwei Schüsse thun, denn dreimal hat jeder das Recht, da wollen wir sehen.« Es wurde geladen, er schoß drei 101 Kreise; denn ist der Schütz einmal im Zuge, verläßt ihn das Blei nicht! sagt ein Spruch, der sich hier bewährte. Da meinte jener Alte: »Norbert taugt ebensowenig für die Theologie als eine Trommel zu einer Kirchenglocke.«

Das Schützenglück des Studenten wurde auf das lebhafteste besprochen, er sollte auf diese und jene Frage über das Wie und Warum Aufschluß geben; er vergaß ganz auf Brixen und trank in der Aufregung ein Glas roten Tirolerwein um das andere. Das Hauptbest war gewonnen, er zeigte den regsten Anteil bei jedem Knall und prüfte wie ein Altmeister Schuß und Richtung, wem die zweite Fahne oder der Hornbecher gehören solle. Und abends! Da durfte er als erster Schütz beim Feste nicht fehlen. So verfloß Stunde um Stunde unbemerkt, schon dämmerten im Thal die Schatten und nur noch das Kaisergebirge glühte in Purpur; da schlug der Schreiber dreimal auf den Tisch und das Schießen war beendet. Jochele nahm die Scheibe auf den Rücken, hinter ihm Schwegler und Trommler, dann 102 Norbert mit freudestrahlendem Gesicht, die Goldfahne in der Hand, ihm folgte der alte Schütz mit der silbernen und Hans mit dem Hornbecher; darauf die andern, herrlichen stolzen Gestalten, an Kraft würdige Gestalten Tirols. Sie zogen durch die breite Gasse des Dorfes. In dem Augenblick, als sie vor das Thor des Wirtshauses, wo ihnen das Mahl bereitet war, hinkamen, fuhr ein glänzender Wagen rasch vorbei; niemand achtete darauf.

Als Norbert bei der Tafel obenan saß, und die Schützenchöre mächtig erklangen, daß es von der Wölbung des Saales hallte, dachte er wohl im stillen: wär doch Marie dabei! Er flüsterte Hans leise den Auftrag ins Ohr: das Gold dem Vater zu übergeben, die Fahne aber sollte Marie in ihrer Kammer unter dem Muttergottesbilde aufstellen. Der Vater! Des Jünglings Brust erfüllte Stolz und Freude – er dachte nicht daran, was der gute Alte sagen würde, wenn er ihn statt in Brixen, wo er schon eingetroffen sein sollte, hier als Schützenkönig fände. Er dachte nicht daran; daß es 103 nicht geschah, dafür sorgte die Gesellschaft redlich – jeder trank ihm zu, Lärm und Lustigkeit waren gegen Mitternacht auf das höchste gestiegen, so daß man kaum das eigene Wort verstehen konnte. Als es zwölf Uhr schlug, griffen einige Schützen zum Stutzen, warfen ihn über die Schultern und eilten, ein kurzes B'hüt Gott! rufend, davon. Der kalte Luftstrom. der durch die offene Thür floß, brachte die übrigen zur Besinnung und bald war die Gaststube leer.

Die Frühstunden sind es, in denen uns jedes Verschulden, das der im Taumel verbrachte Tag nicht zum Bewußtsein kommen ließ, am schwersten aufs Herz fällt; wir sehen kalt und nüchtern die Sachen, wie sie wirklich sind, ohne daß die Phantasie den trügerischen Schein darüber zu breiten vermag. Die Empfindungen, mit denen Norbert erwachte und das leise Ticktack der Uhr vernahm, die neben dem Bett auf dem Tische lag, waren keineswegs so heiterer Art, als jene, mit denen er sich niederlegte. Er raffte sich heftig auf: Der 104 Glücksschuß, das Abendgelag, alles ging in seinem Kopfe wüst wie ein Fiebertraum durcheinander. Sein Blick traf die Fahne. Ihre Farben schienen ihm verblaßt, der Schimmer des Goldes getrübt; ein trauriger Herbsttag zeigte alles fahl und verblichen. Das Ticktack der Uhr hämmerte an sein Ohr, wie die Stimme des Gewissens, mahnend an versäumte Pflichten. Er empfand die bitterste Reue; klar stand es vor ihm: die Aufnahme in Brixen ist vorüber, wie willst du dein »Zu spät« entschuldigen, was sollst du sagen?

Unter solchen Gedanken kleidete er sich hastig an; er war noch nicht fertig, da klopfte es, Hans schob den Kopf durch die Thürspalte: »Nun, Gott sei Dank!« murmelte er, »der Dampf ist ausgeschlafen. Willst du kaltes Wasser?«

Norbert schüttelte den Kopf und ergriff gähnend den Hut.

»Wir haben noch einen traurigen Gang,« begann Hans wieder, »schon nach dem Betläuten hat der Kooperator hergeschickt, seit 105 Wochen ist er krank, und wird wohl auch nicht mehr gesund – er will mit dir reden. Nachts wurde er plötzlich schlechter, das Zügenglöcklein vermeldet ihn, wie mir der Bader zugeraunt, gewiß bald dem Totengräber.«

Norbert meinte, da müsse wohl ein Irrtum sein.

Hans fuhr fort: »Schon gestern, als es ihm noch ganz leidlich war, fragte er nach dir, die Häuserin traute sich jedoch ob dem Gekrach nicht in den Schießstand, und der Schütz, dem sie es auftrug, hat es im Rummel vergessen.«

Sie traten in das Freie. Norbert ging schweigend an der Seite von Hans. Er kannte den jungen Priester, den die Bauern als leutescheu nicht sonderlich beachteten, schon lange und erinnerte sich nun mancher sonderbaren Rede, die er von ihm über den geistlichen Stand vernommen. Jetzt wurde er noch nachdenklicher.

So gelangten sie an den Widum. Auf dem Gang vor der Thüre knieten die Weiber, sie beteten den Rosenkranz, wie die Männer 106 in der Stube die Absätze laut angaben. Als Norbert eintrat, flüsterte ihm eine zu: »Schleun' dich nur, er hat schon die Seel auf der Zunge, wär nur sein Vater da!«

Beklommen griff Norbert nach der Klinke, der Priester lag im Bett ausgestreckt, den Rücken auf Polster gestützt, atmete er schwer. Über sein fahles Gesicht beugte sich der Pfarrer mit dem Kruzifix und sprach leise Worte des Trostes, die jener wenig zu beachten schien. Sein halbgeschlossenes Auge war mehr nach innen gewendet; als er jedoch das Knarren der Thür hörte, öffnete er es weit und starrte stumm hinaus. Der matte Blick fiel auf Norbert, er hob den Arm und faßte krampfhaft seine Hand.

»Laß dir raten von einem Sterbenden,« begann er, »laß dir raten, Norbert, geh' nicht in die Theologie, und wenn du um Brotrinden betteln müßtest, geh' nicht und werd' nicht so unglücklich, wie ich es war.« Er lehnte sich matt zurück und schloß die Augen wieder. Erstauntes Flüstern ging durch das Zimmer, 107 der Geistliche verdoppelte sein Gebet, griff zum Sprengwedel und ließ die geweihten Kerzen anzünden, um den Teufel, der ihn noch am Thor der Ewigkeit versuche, zu verscheuchen.

Norbert trat betroffen zurück, er wagte nicht fortzugehen und kniete neben den Bauern nieder, um mit ihnen zu beten.

Der Priester war nicht im Orte geboren, sondern zu Wörgl. Man hatte eilig hingeschickt, den Vater zum letzten Abschied zu holen, endlich fuhr rasch eine Kalesche vor, schwere Tritte nahten, der Alte trat weinend an das Bett des Sohnes. Mit letzter Kraft richtete sich dieser auf und stammelte – jedes Wort fast unter der Macht der nahen Ewigkeit. »Vater, eh' ich aus dieser Welt scheide, muß ich reden mit dir. Du hast mich elend gemacht für dieses Leben, – elend, elend, elend und wenn mir in jenem Gott verzeihen soll, daß ich heimlich ein schlechter Priester war, so muß meine selige Mutter vorbitten, die mich nicht aus falscher Eitelkeit gezwungen hätte, geistlich zu werden. – Gott erbarme dich meiner, 108 erbarme dich meiner. – Vater stirb du leichter als ich, der Fluch meines verfehlten Lebens soll nicht auf dir lasten und dich in die Hölle drücken. Aber meinen Bruder zwinge nicht – sonst . . .« – Er verstummte, kalter Schweiß floß von seiner Stirn. »Jesus nimm mich auf!« – seufzte er plötzlich, das Seufzen ging über in Stöhnen, er verschied.

Der alte Bauer ergriff heulend seine Hand, es war eine jener furchtbaren Scenen voll des tiefsten Leides, bei dem selbst Engel sich verhüllen und Gott mitleidig bitten, er möge sie vorübergehen lassen, wie einst der Erlöser in Gethsemane.

Norbert stand auf der Straße; er wußte nicht, wie er heruntergekommen war, ohne von jemand Abschied zu nehmen, kaum der Richtung des Weges bewußt, rannte er vorwärts.

* * *

Bei ihm daheim war es recht einsam geworden. Der Vater that die Arbeit wie früher, doch wollte ihn der Anblick seiner schönen Felder 109 nicht mehr recht freuen, oft blieb er auf dem engen Pfad stehen, wehmütig fragte er sich: »Wem sollen sie einst gehören, da mein einziger Sohn Priester wird? Er wird zwar auch ein Säemann, und streut das heilige Korn auf den Acker Gottes, aber – – –« So sann er oft lang, bis er auf einem Umwege zum Mütterchen zurückkehrte. Tag für Tag verging gleich ohne Abwechselung, der Allerheiligenabend brach an, ernst und trüb, es sollte auch heuer auf die Gräber schneien.

Der Alte hatte an der Thür einen Blick auf die Wolken geworfen und das Wetter geprüft, nun setzte er sich an den Tisch und spaltete Kien, das Mütterchen spann am Ofen auf das emsigste, keines sprach ein Wort, nur die Katze auf dem Polster nebenan schnurrte mit dem Rad um die Wette. Sie mochten an den Sohn denken, der bereits vor fünf Wochen fortgezogen, aber noch keine Zeile geschrieben hatte. Schon dunkelte es stark, der Alte zündete einen Span an und steckte ihn fest in den Eisenring; am Fenster gingen die Leute vorüber, 110 die vom Abendsegen nach Hause kehrten. Da klopfte ein Finger leise an die Thüre; der hochwürdige Vikarius trat mit dem Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus!« herein. »In Ewigkeit Amen!« entgegnete ehrerbietig das Mütterchen und rückte geschäftig einen Lehnstuhl zum Ofen. Seitdem ihr Sohn in Brixen Theologie studierte, war ihr jeder Priester noch lieber als vorher; – so wird Norbert auch einst aussehen, dachte sie im stillen, und alle Leute müssen sich neigen vor ihm, als dem Gesalbten des Herrn. Und der hochwürdige Vikarius war doppelt willkommen; weswegen sollte er sie heute noch besuchen, außer um Nachrichten von dem Sohne zu bringen? Wirklich zog er zwei Briefe aus der Tasche. Während er sie auseinanderfaltete, fragte er den Alten mit einem forschenden Blicke: »Meint Ihr nicht, daß Euer Sohn für die Theologie nie so rechten Beruf hatte? Das Forstwesen würde ihm vielleicht mehr entsprechen, es kam mir so vor, wenn ich ihn frank und frei mit der schwarzen Mütze und dem kurzen Rocke, die 111 Büchse über der Schulter, durch Feld und Wald streifen sah.«

»Herr Vikar,« rief der Alte, sich rasch aufrichtend, »Norbert wird doch in Brixen sein, oder ist er unter die Grenzjäger gegangen?«

Das Mütterchen trat entsetzt einen Schritt zurück. Begütigend sprach der Vikar: »Darüber seid ruhig, doch ich will Euch über den Sachverhalt kurz unterrichten. Vom Scheibenschießen wißt Ihr und hattet der Folgen wegen Angst genug. Man wollte ihn zu Brixen nicht mehr aufnehmen, denn zum Unglück fuhr gerade, als er mit der Fahne durch das Dorf zog, der Direktor des Seminariums vorbei, der dann sehr erstaunt war, in dem Spätling den Schützenkönig von Angeth zu erkennen.«

»Laßt mich aufrichtig reden, hochwürdiger Herr!« unterbrach ihn der Vater, »ein junger Mensch hat nicht viel Zeit zu versplittern, um das und jenes anzufangen und fahren zu lassen. Es hätte mich sehr erfreut, seiner ersten Messe beizuwohnen, es wäre mir über alles gegangen auf dieser Welt; hat man ihn aber zu Brixen 112 abgewiesen, so werden zwar die Leute Schlimmes darüber reden, ich aber will den Finger Gottes darin sehen. Wenn er mit freiem Entschluß etwas Ordentliches beginnt, werd' ich ihn nie hemmen; das Meßgewand paßt nicht für jede Schulter. Nicht wahr, was ich immer befürchtet, ist eingetroffen, man hat ihm die Aufnahme versagt?«

»Er hat meine Verwendung nachgesucht,« sprach der Priester gelassen, »und sieh da, mein Wort hat so viel gewirkt, daß ihm die Aufnahme nachträglich bewilligt wurde.«

Die Mutter, die bereits alle Hoffnung zerflossen sah, schöpfte wieder Mut: »Gott sei gelobt!« rief sie lebhaft, »ich will gern drei heilige Messen als Dankopfer lesen lassen, eine zu Ehren der Muttergottes, die andere zu Ehren seines Namenspatrons, und die dritte für die armen Seelen im Fegfeuer, denen wir ganz sicher diesen Segen schuldig sind.«

»Wenn aber die Theologie doch nicht eigentlich der Beruf Eures Sohnes wäre!« sprach nach einer Weile der Priester mit 113 bedeutungsvollem Nachdrucke, indem er den ersten Brief einsteckte.

Sie schwieg nachdenkend, bald aber sagte sie ruhig und gefaßt: »Die größte Lust meines Lebens wär' es gewesen, Norbert als Geistlichen zu sehen, er sollte einmal mein Grab einsegnen und für meine Seele beten. Gott verhüte aber, daß es gegen seinen Beruf sei; lieber säh' ich ihn tot vor mir, als so unglücklich, wie den verstorbenen Kooperator, der noch geisten soll, bis er seinen Vater nachgezogen hat ins Grab. Gott tröst' ihn!«

Sie blickte scheu um und schlug ein Kreuz.

Jetzt nahm der Vikar den zweiten Brief und las:

»Sie haben, hochwürdiger Gönner, gewiß ausführlich von den Ereignissen am Totbette des armen Kooperators, sowie von dem Anteil, den ich unfreiwillig daran genommen, gehört. Die Erinnerung daran verfolgte mich auf dem ganzen Weg nach Brixen, ich will die Bilder, die sie wachrief, ebensowenig schildern, als die Gefühle, die mich beunruhigten. Nur die Scham 114 trieb mich vorwärts, und jetzt darf ich es wohl gestehen, daß mich die Aussicht, man werde mich wegen Verspätung abweisen, fast wie eine angenehme Hoffnung beschäftigte. Hätte sie sich erfüllt, ich wäre in die weite Welt hinausgelaufen und nicht eher heimgekehrt, bis ich fertig und vollendet als ein Mann in geehrter Stellung vor des Vaters graues Haar hätte hintreten dürfen.

Ihrem gütigen Einschreiten verdank' ich es, daß man mich dennoch aufnahm, und ich in den ersten Kurs eintreten konnte. Desungeachtet kann ich nicht Theolog bleiben.

Erhaben und großartig sind die Pflichten des Priesters; wer sich ihnen widmen will, thue es ohne Rückhalt. Ich vermag das nicht, ich fühle in meinem Herzen einen zu mächtigen Zug nach der Welt, ihren Freuden und Leiden, als daß ich unüberlegt mich und andere auf immer unglücklich machen sollte. Auf der anderen Seite betrachtete ich freilich den Schmerz der Eltern, die schmähliche Nachrede, die mich lange verfolgen würde, ja ich suchte mich selbst dadurch 115 fest zu halten, daß ich die äußeren Vorteile erwog, welche einem Priester seine hohe Stellung bietet. So habe ich lange zweifelhaft gerungen. Der gestrige Tag brachte meinem inneren Kampfe die Entscheidung. Es wurden einige Kandidaten zu Priestern geweiht, und ich hatte als Ministrant an der heiligen Handlung teilzunehmen. Das Volk füllte den Dom, durch die weiten Hallen wogte der Orgelschall, jeder Ton schlug an meine Seele, daß sie sich bald aufschwang in glühender Andacht, bald aber vor der göttlichen Majestät sich in ihrer Nichtigkeit demütigte. Am Altar stand der graue Bischof und betete. In dieser Stunde flehte ich um Erleuchtung in meinem Zweifel. Da erschienen durch die Thüre der Sakristei die drei Kandidaten. Zwei trugen im Antlitz die Züge jenes starren Friedens, den die ihres Zieles gewisse Entsagung giebt; der dritte war bleich und gebeugt, seine Brust arbeitete sichtbar unter einer schweren Last, das fühlte ich auf das tiefste mit. Er war sonst ein lebensfroher Jüngling, sein Blick traf mich 116 zufällig – mich schüttelte der Frost. Nach kurzem Gebet warfen sie sich an den Stufen des Heiligtums auf den Boden nieder, man überdeckte sie mit einem großen, schwarzen Tuche, zum Zeichen, daß sie der Welt abgestorben seien. Vom Chor ertönte der Bußpsalm:

»Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich wohl von meiner Missethat, entsündige mich mit Ysop, daß ich rein werde, wasche mich, daß ich schneeweiß werde. Ich wache nachts auf meinem Lager und benetze das Bett mit Thränen, mein Gott, bleibe nicht fern. Schaffe in mir, Gott! ein neues Herz, und gieb mir einen neuen gewissen Geist.«

Bei diesen Worten regte sich die Decke wie ein Bahrtuch, unter dem ein Scheintoter aufsteht; sie sank zurück, der dritte Kandidat sprang auf und rief, daß es durch die Wölbung gellte: »Ich kann nicht, ich kann nicht!« – er eilte durch das erstaunte Volk zur Kirchenthür hinaus, ich ließ das Rauchfaß fallen und 117 lief ihm nach. Die Nacht verbrachte ich schlaflos, in drei Tagen bin ich zu Hause! Meinen Eltern wage ich nicht zu schreiben, ich vertraue auf Ihre Nachsicht, Ihre gütige Vermittelung!«

Der Vikar legte den Brief zusammen.

»Der Herr sei gepriesen!« sprach der Alte mit Fassung, »ich danke Euch, Hochwürdiger.«

»Der Mensch denkt, Gott lenkt!« seufzte das Mütterchen; da ging die Thüre auf und Norbert trat ein, nicht mehr der leichtsinnige Jüngling; – die kurze Zeit hatte ihn zum Manne gereift. Die Eltern boten ihm schweigend, aber freundlich die Hand. Er nahm die Mütze ab, zog den schwarzen Studentenrock aus, eine Tracht, die jetzt ohnehin mit seinem Äußeren in Widerspruch stand, und reichte alles der Mutter mit den Worten: »Diese Kleider schenkt einem armen Studenten. Theolog bin ich nicht mehr, Jurist oder Mediziner will ich nicht werden; ich bleib' bei euch und baue mit dem Vater das Feld, das ich eigentlich nie hätte verlassen sollen. Der Knecht leiht mir eine Lodenjoppe, bis mir die Mutter eine auf den Leib gemessen 118 hat. Gott sei Dank, jetzt ist's überstanden, und ich weiß, was ich bin!«


Nach drei Jahren kam wieder die Zeit der Ferien. Von allen Seiten kehrten die Studenten heim, wie die Zugvögel im Herbste. Auch Wilhelm verließ Wien. Er traf im August an einem heißen Nachmittag zu Kufstein ein. Als er nun im kahlen Gastzimmer beim Traubenwirt auf- und abging, begann im Bretterverschlage nebenan ein Knabe die ersten Elemente der lateinischen Grammatik herzusagen. Eine tiefe Baßstimme, die ihm bekannt klang, verbesserte die Fehler der Aussprache, die der Schüler etwa machte. Wilhelm hielt einen Augenblick still:

»Habt Ihr einen Studenten?« fragte er den Wirt.

»Ja, mein Seppel,« erwiderte dieser, »bereitet sich vor, im Oktober das Haller Gymnasium zu besuchen. Er ist recht fleißig, geben Sie nur acht, wie fertig er schon latein spricht.«

Wilhelm lachte über die Rede des Wirtes, 119 der Lehrer im Verschlage nebenan wurde auf seinem Sitze unruhig, hastig gab er dem Knaben eine Aufgabe und sah zur Thür hinaus.

Wie erstaunte der Fremdling, als Norbert, völlig in einen Bauer verwandelt, auf ihn zueilte. Sie grüßten sich auf das herzlichste, wie Brüder nach langer, langer Trennung; denn waren auch seit ihrem Abschied kaum drei Jahre verflossen, so hatte doch diese kurze Zeit die wesentlichsten Veränderungen hervorgebracht.

Zur Seite stand der Knabe und gaffte verwundert die beiden an; Norbert erzählte, daß er aus Gefälligkeit übernommen, den Knaben hie und da zu unterrichten. weil man in Kufstein sich besser auf das Bier, als auf das Latein verstehe. Dann wandte er sich an den Wirt: »Seid nur nicht ungehalten, heute entführe ich Euch diesen Herrn, er muß mein Gast sein!« Auf dem Wege erzählte er dem Freunde alles, was wir bereits wissen. Sie gingen über die Brücke, wo Norbert vordem so traurig gestanden hatte, und erreichten bald das 120 Haus. Hier saß der alte, treffliche Vater auf der Bank, behaglich sein Pfeifchen schmauchend, auf dem Flur war das Mütterchen beschäftigt, da und dort noch etwas zu vollenden, denn es war Samstag, und da mußte auf morgen alles nett und sauber sein. Sie traten in die Stube, überall die gleiche Reinlichkeit von der Decke bis auf den Boden; jeder Besucher mußte bemerken, daß hier Wohlstand herrsche, den eine sorgliche Hand in Ordnung zu halten wisse. Durch das von Reben umschlungene Fenster konnte man die Felder, die zum Hause gehörten, überblicken, sie zeichneten sich vor anderen durch kluge Bewirtschaftung aus. Ein zierliches Geviert war mit verschiedenen Arten von Getreide, Rüben und Futterkräutern bepflanzt, eine Musterkarte für ökonomische Versuche. Abseits standen ein paar mächtige Nußbäume, dazwischen einige jüngere Stämmchen, man konnte leicht bemerken, daß sie andere Obstsorten trugen, als die in der Gegend bereits eingeführten. Norbert ließ den Freund allein und kehrte dann mit Marie zurück, als wollte er 121 ihm gleichsam sein schönstes Besitztum, die Perle des Hauses zuletzt zeigen.

»Wahrlich,« rief Wilhelm, der das hübsche Weibchen mit freundlichen Blicken musterte, »der Himmel läßt es dir an Segen jeder Art nicht fehlen!«

»Spotte du immerhin,« erwiderte der junge Bauer vergnügt, »ich habe doch früher als du sämtliche Kollegen absolviert.«

»Wann hast du geheiratet?« fragte Wilhelm.

»Heuer im Lenz! Nachdem mir am Georgiabend die Eltern das Gut übergeben hatten, machte der alte Vikar am Morgen drauf das Kreuz über uns. Wärst du doch bei der Hochzeit gewesen, wie ging's da lustig zu! Der Hans und der Jagg haben mir Tannen vor das Haus gestellt mit Band und Flitter, wie es nur bei einer Primiz der Brauch ist, dazwischen war ein Bildl aufgehängt, wie ein Geistlicher im Chorrock mit einem Bauerdirnd'l tanzt. Den Spruch drunter weiß ich noch. –

»Bist nit still!« flüsterte Marie.

122 »Nun ja, besser hört er's von mir als beim Auracher:

»Der Pimpacher Bua
Hat ins Schwarze 'nein troffen
Und ist aus der Kirchen
Zum Moidele g'loffen.«

hat mich nie gereut. Ich kann jetzt wie jener Dichter singen:

Portum inveni, spes et fortune valete.«

Über Wilhelms schönes Gesicht flog der Hauch einer stillen Trauer, er faßte die Hände der beiden und sagte mit einem Tone, dem man leicht die innere Bewegung anmerkte: »Mög' euch Gott immer so glücklich erhalten, ihr Lieben!«


Gott hat sie auch glücklich erhalten, fast schicksalslos nach Bauernart, weil sie in ihrem bescheidenen Kreise blieben. Wilhelms Stern, der kometengleich ins grenzenlose strebte, sollte bald erbleichen. Norbert erkundigte sich nach ihm.

»Er war mit mir nach Wien gereist, entschwand jedoch dort bald wie ein schimmerndes Meteor in den vornehmen Schichten der 123 Gesellschaft, für die ihn Adel, Schönheit und bei einem nicht großen Vermögen jene Unabhängigkeit von Sorgen, die uns andere zwangen, auf den Erwerb durch Lektionen zu denken, befähigte. Nur zufällig sahen wir uns noch, wobei er stets mit inniger Treue seiner Heimat Tirol und der Jugendfreunde gedachte: auch deiner. Von ihm habe ich dein Schicksal erfahren, denn das Briefschreiben hast du dir natürlich als überflüssig längst abgewöhnt.«

Norbert versuchte nicht sich, zu entschuldigen, sondern zeigte lächelnd seine schwieligen Hände.

Ich fuhr fort: »Aus der Leerheit sinnlichen Genusses, der bald durchschauten Eitelkeit jener glänzenden Kreise, riß ihn endlich seine Faustnatur, und er versenkte sich neuerdings in die tiefsten Studien. In den unvergleichlichen Märztagen wirkte er mit voller Begeisterung und noch gehoben durch den geheimen Liebesbund mit der Tochter eines ungarischen Grafen, die ihn fast zu wilder Leidenschaft anfeuerte. Du weißt, daß ich im April den Säbel gürtete, um an die von den Welschen bedrohte deutsche 124 Grenze zu ziehen; durch Krankheit gelähmt, mußte er in Wien bleiben. Als ich im Oktober zurückkehrte, vernahm ich, er sei in die ungarische Armee eingetreten und bereits Major. Hier und da las ich seinen Namen noch in einem Bericht, endlich verscholl er ganz; zwei Jahre später erfuhr ich von dem ungarischen Dichter Lisnyai Kalman, der, als ehemaliger Honved dem Regiment Don Miquel eingereiht, zu Innsbruck im Spital lag, er sei in einer der blutigen Schlachten gefallen. Laß mich von der Trauer, mit der mich diese Nachricht erfüllte, schweigen, du weißt ja selbst, wie hoch wir ihn alle hielten.«

»Und was wir von ihm erwarteten,« rief Norbert nach einer Pause, »was hätte aus dem werden können?«

»Werden?« fragte ich mit bitterer Ironie, »werden? Vielleicht ein Dichter, den man wohl konfisziert, aber nicht gelesen hätte, vielleicht ein Bachhusar, wenn er das Jus fortgesetzt, oder ein Monsignore, hätte er sich dazu hergegeben, als Professor einen philosophischen Eiertanz zwischen den Dogmen der Scholastik 125 aufzuführen. Für seine Expansivkraft war kein Raum . . . er starb als Freier, und der freie Sturm der Pußta jagt über sein Grab. So braucht er im schmachvollen Nachmärz den Kankan der Reaktion um den Bleisarg der Freiheit nicht mit anzuschauen, knirschend, daß durch keine That zu helfen sei; er brauchte nicht Gift zu schlingen und sich vom Groll zu nähren und noch Gott zu danken, daß er ihm die Kraft des Zornes verliehen, als einziges Gegenmittel, ihn zu retten aus der tollen Niedertracht jener Tage. Er brauchte . . . doch genug!«

Ich schwieg unmutig. Marie blickte mich erschrocken an, Norbert faßte teilnehmend meine Hand und bemerkte: »Du bist halt noch immer der Alte.«

»Freilich haben mich die Jahre nicht gescheiter gemacht,« fuhr ich ruhiger fort, »sei's denn! Ich will mich auch nicht mehr ändern. Glücklich vor allem muß man dich wegen deiner Stellung preisen, und dazu hast du so viele Bildung erworben, um ihren unschätzbaren Wert zu begreifen.«

126 »Das empfinde ich jetzt doppelt und dreifach,« erwiderte er, »wenn ich das Treiben der Leute, mit denen ich an einem Strang hätte ziehen müssen, anschaue. Noch immer giebt es Priester, vor denen ich den Hut abnehme: welch ein wackerer Mann war der verstorbene Vikar, wie trefflich ist nicht unser Dekan, aber andere. Schalt man früher manchen wegen seines Geizes, wie den Seelsorger dort hinter dem Berg, den man jüngst als Geldsorger das Haberfeld trieb, so verdirbt jetzt auch noch gar viele unlauterer Fanatismus, der nichts mehr weiß von der Wahrheit und Nächstenliebe der Evangelien. Ich sag dir's aber, auch den dümmsten Bauern geht allmählich der Knopf auf; doch Sitte und Rechtsgefühl leiden in der ärmsten Hütte unter dieser Agitation. und fast möchte man sich des ehrlichen Namens eines Tirolers schämen.«

Zornig schlug er auf den Tisch.

Ich kannte diese Dinge zur Genüge, um sie weiter zu verfolgen, sie führten mich jedoch auf Sebi mit dem Apfelköpflein und dem breiten Maul und so fragte ich, was aus ihm geworden?

127 »Da mahnest du mich an den rechten,« brummte er unwillig. »Als er ausgeweiht wurde, war ich schon etliche Jahre Bauer. Eines Abends, da ich gerade dengelte, stieg er bolzensteif in den Kanonenstiefeln den Weg herauf und ließ sich von den Kindern andächtig die Hand küssen. Sogleich erhob ich mich in der Einbildung, er wolle mich als alten Kameraden heimsuchen, ging ihm entgegen und bot ihm die Hand. Er glotzt mich an, betroffen frag' ich: ›Kennst mich nimmer, Sebi, hab' ich mich so geändert?‹ – ›Mit dir hab' ich eigentlich nichts zu reden, ich muß in den Widum, als davongelaufener Theolog solltest du wissen, daß ein Bauer Priester nicht duzen darf.‹

»Mir flimmerte es vor den Augen, ich schrie ihm nach: ›Du Pharisäer, siebenfach geweihter! Hat unser Herr auch seine Freunde verleugnet? Der davongelaufene Theolog würde sich schämen, ein Priester zu sein wie du! Jetzt schau, daß du weiter kommst, wir haben uns auf der Welt nicht mehr zu grüßen!‹

»Er beschleunigte den Trab, wahrscheinlich 128 fürchtete er, ein Scheit auf den Buckel zu kriegen – seitdem ist's aus mit uns, aus! Jetzt hat er eine Pfarre, bringt die ganze Gemeinde hintereinander, macht sich an die Weiblein und hetzt sie gegen die Männer, gilt aber beim Konsistorium alles. Kurz und gut er ist ein rechter!«

Der Bäuerin schien die Wendung des Gespräches, die alle Heiterkeit verbannte, peinlich, sie schenkte frisch ein und sagte freundlich: »Laßt das Greinen gut sein! Veit vergeßt ihr ja ganz, und ich möchte doch auch etwas von ihm hören, schon deswegen, weil er als Student mir manchen Strauß gebracht. Darfst es schon wissen, Alter; deswegen warst du mir doch stets der liebste.«

»Der Veit?« Über den wußte ich Auskunft. »Die Juristerei wollte ihm nicht behagen, so trieb er nebenbei Naturgeschichte und pfuschte besonders den Krähen als gewaltiger Vertilger von Heuschrecken, über die er auch ein Büchlein schrieb, ins Handwerk. Nebenbei schmiedete er Verslein, zu Innsbruck gab es schwerlich ein Mädchen – bürgerlich oder romantisch, der er 129 nicht ein Lied gewidmet hätte. Es gelang ihm durch die Prüfung zu schlüpfen, und so kam er als Lehrer an das Gymnasium zu Vincovze in Kroatien. Dort besang er die hochbusige Tochter des tschechischen Feldwebels; eines Tages marschierte dieser, zwar nicht den Tagesbefehl, wohl aber all die feinen Blättlein, die er der Schönen zugesteckt, unter dem Arm auf seine Stube und fragte ihn, den grauen Bart drehend, was all die gemalten Herzlein, Pfeile, Tauben und Vergißmeinnicht, die den Text zierlich einfaßten, zu bedeuten hätten? Er brauche sich nicht zu genieren, um das Mädchen zu bitten, mit Vergnügen solle er sie zur Frau erhalten.

»Unser Veit, der nie so viel Mut gehabt, um ein Mädchen zu werben, hatte noch weniger hier nein zu sagen und war im Grunde froh, endlich zum Amt ein Weib zu kriegen. Er heiratete. Vier Wochen nach der Hochzeit schrieb er mir einen Brief, der wörtlich so anfing: ›Alter, Dich bedauere ich, daß Du zu Innsbruck hockst und dort Steine klopfst, folglich meine Kathinka nicht bewundern kannst. 130 Ich sage Dir, es giebt auf der ganzen Welt keine Kathinka mehr wie diese, und diese Kathinka ist mein!‹ Ihr seht also, es fehlt nicht an Honig. Heuschrecken sammelt er selbst und so wird wohl auch ein – Johanneslein nicht ausgeblieben sein.« –

Wir sprachen nun von andern Schulkameraden, wie sie durch die Welt zerstreut waren, Scherz und Ernst wechselten, schließlich zogen wir freilich die Rechnung, daß mehr als ein Drittel von denen, die beim Auracher mit uns das Valet feierten, bereits in die Ewigkeit abberufen sei.

Es war schon spät, wieder stieg über das Kaisergebirg der Vollmond, wie an jenem Abend; der kalte Herbstwind wehte in das flackernde Licht, ich erhob den Becher:

»Den Manen unserer toten Freunde.« Stillschweigend drückten wir uns die Hand und schieden für heute.

 


 


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