Adolf Pichler
Ein Brautpaar
Adolf Pichler

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Am Vorabend von Fronleichnam ging Thomas zwischen den Beeten seines Gartens hin und her, musterte die Blumen und dachte wohl manchmal: »Wär' sie noch da, müßt' sie mir den Strauß binden und dürfte selbst das Schönste für sich zum Kranze wählen. Aber recht geschieht ihr, ganz recht und noch einmal recht.« Sein Gesicht verfinsterte sich zusehends wie die Wolken ober der Frauhitt, und der Donner, der droben zu rollen begann, fand lebhaften Widerhall in seinem Unmute.

Und Stanzl? Die dachte nicht an ihn. Sie war in ihrer Stube, sorgsam plättete sie jedes Fältchen des weißen Gewandes, hier und da schweifte ihr Blick zu den Rosenknospen, die in einer Schale mit Wasser lagen und morgen in ihrem Kranze prangen sollten. Der Herr Pfarrer hatte ihr eine hohe Ehre zugedacht, sie sollte mit drei braven Mädchen die Madonna tragen, welche, die Augen demütig gesenkt, die Hände gefaltet, die Mondsichel zu Füßen, gegen die vergebens eine Schlange zischelt, in der Kirche stand.

Das Krachen der Böller kündigte den hohen Tag an. Im Dorf waren Altäre aufgerichtet, Kinder streuten grüne Zweige und allerlei Blumen, wo das Sanktissimum einkehren sollte. Die Glocken begannen zu läuten, erst eine, dann alle im Chor, weit auf flogen die Kirchtore, und der Priester, die funkelnde Monstranz in der Hand, schritt würdevoll heraus. Vier Greise trugen den purpurnen Thronhimmel, von dem schwere Quasten niederhingen, dann folgten paarweise die Honoratioren, darauf die Schützen mit den Klängen des berühmten Marsches, die so schrecklich sind, daß 1809 ein Bataillon Franzosen davor durchgebrannt sein soll; dann die Männer mit den langen Röcken, Rosenkränze zwischen den Fingern, endlich die Mädchen, – wie schön war Stanzl!

»Ah!« murmelte Thomas, der mit einigen Strolchen über die Kirchhofmauer spähte, als er sie erblickte. »Ah!« wiederholte er noch einmal und spürte die Fäuste eines Kameraden zwischen den Rippen, der ihn so zu schweigen zwang.

»Ah!« spöttelte dieser, »deine Magd trägt mit den besten Bauernmädchen die Mutter Gottes, das ist eine Ehre auf all die Unehre, die du ihr angetan. Schau nur, dir gönnt sie keinen Blick mehr!« Dennoch hatte ihn ihr Auge gestreift, ein leichter Schatten flog über ihre Stirne, flüchtiges Rot färbte die Wangen.

Er biß in die Lippe. Es war wirklich so, der Pfarrer hatte das ledige Mädchen den besten gleichgestellt und sie dadurch so erhoben, daß es fast einer Legitimation gleich galt. Es war wirklich so!

Er hatte geglaubt auf Stanzl ein Recht zu haben, wie auf eine Sache, und sie danach angefaßt; sie lehrte ihn handgreiflich, daß nur sie selbst über sich zu verfügen habe; die Haltung des Pfarrers und der Gemeinde bewiesen ihm, daß auch andere sie als vollberechtigt und ebenbürtig ansahen. Er würde also dem Bauernhochmut nichts vergeben, wenn er ihr die Hand böte. Fast verwünschte er seine Frechheit, eine Art Reue beschlich sein rohes Gemüt, – bei einer Wendung des Zuges stand sie ihm gegenüber, und er mußte hören, wie ein Bursch nebenan flüsterte: »Die Stanzl ist halt die Schönste in ganz Hülzen.« Doch empfand er dumpf, daß hier kein Ausgleich mehr möglich sei, der Stolz des Erben vom Pütrichhofe und der Trotz des Mannes, der sich von ihr gebändigt sah, wie er es nie verzeihen durfte, erwachte in ihm. Finster drückte er den Hut in die Stirn und verließ den Platz. Etliche Gläser Likör, denn gemeinen Schnaps trank er nicht, um auch dadurch zu zeigen, wer er sei, stellten seine gute Laune wieder her, um so mehr, da sich auch Schmeichler, die nicht zahlen wollten, einfanden und ihn priesen über das grüne Kraut.

»Ja,« meinte einer, »für dich sind halt die Bauernmädeln eben gut genug zum Abschmutzen, du holst eine Frau aus der Stadt, vielleicht gar ein adeliges Fräulein aus dem Eisburgschlößl nebenan, verdienst's auch!«

Eine neue Flasche wurde entkorkt.

Werfen wir auch noch in Stanzls Seele einen Blick. Solange sie auf dem Pütrichhofe war, hatte sie in Thomas nie etwas anderes gesehen als den Sohn ihres Dienstherrn, vielleicht daß sie einmal, wenn sie sich mit der Zukunft beschäftigte, auch daran dachte, er könne nach dem Tode des Alten ihr Gebieter werden. Seine Untugenden und losen Streiche kümmerten sie nicht, es war Sache des Vaters, ihn zu erziehen, ihr Verhältnis zum Hause faßte sie allmählich nur mehr vom Gesichtspunkte eines Vertrages, das bezeichnet die Erlebnisse eines so jungen Gemütes mehr als hinlänglich. Hätte er der Verlassenen, die nach dem Tode der Mutter niemand besaß, auch nur ihre Klagen anzuhören, wenn seine Roheit sie tiefinnerst verwundete, einige Teilnahme gezeigt, vielleicht wäre aus der Dankbarkeit die Liebe entsprungen; so jedoch lernte sie ihn, sobald er sich mit ihr zu beschäftigen begann, als einen gemeinen Feind kennen, niedrig genug, ihr auch noch das zu rauben, was ihr allein Halt und Selbstbewußtsein verlieh. Als sie den Pütrichhof verlassen, entging es ihr nicht, daß er ihre Nähe suche. Ohne danach zu fragen, ob ihn jetzt vielleicht edlere Absichten leiteten, fühlte sie sich fast verletzt. Gleichgültigkeit, ja sogar Haß kann am Gluthauch der Liebe schmelzen – aber Verachtung – darüber hinaus gibt es nichts mehr. Vielleicht hält es manche Leserin für ein lächerliches Paradoxon, wenn wir behaupten, sie hätte sich eher mit ihm ausgesöhnt und seine Hand genommen, war' es seiner Überkraft gelungen, sie zu bewältigen, als jetzt, wo sie ihn wie einen Knaben, der verbotene Trauben naschen will, gezüchtigt hatte. Diese Szene schied sie unter jeder Voraussetzung von ihm, würde sie von ihm geschieden haben, selbst wenn sich bereits in ihrer Brust Liebe für ihn geregt hätte.

* * *

So verging der Sommer. Im Spätherbst kehrte Sever, der beim Bau der Festung in Ingolstadt gearbeitet, wieder zurück. Sie sah ihn ebenso zufällig in der Kirche als er sie, beide waren sich fast fremd geworden und kümmerten sich nicht weiter umeinander. Wahrscheinlich sagte sich jedes im stillen, er oder sie hat mich gar nicht mehr erkannt, ist doch zu viel Zeit seit dem letzten Beisammensein verstrichen.

Da ließ Stanzls Dienstherr eine Stallmauer, die einzufallen drohte, abbrechen und neu aufführen. Die Arbeit wurde Sever, der sich eines guten Rufes erfreute, übertragen, und so führte ihn denn der Zufall mit Stanzl zusammen. Sie plauderten, sie blickten sich an, er mochte an der sauberen Dirne, sie an dem wackeren Burschen, der stets voll guter Laune mit Mörtel und Kelle hantierte, Gefallen finden, alte kindliche Erinnerungen erwachten und wurden wohl auch im Gespräch berührt. So wurden sie vertraut, ohne daß ein ausgesprochenes Verhältnis sich gebildet hätte.

Zu Martini feierten Maurer und Zimmerleute, deren Arbeit der Winter einstellte, ein kleines Fest. Weib oder Geliebte – jeder brachte mit, was er hatte, und wer auch kein Band geknüpft, durfte ein Mädchen einladen, damit es nicht an Tänzerinnen fehlte. Sever, der sein Herz weder in der Fremde zurückgelassen, noch in Tirol verloren hatte, dachte an Stanzl fast mit dem Gefühle des Mitleids, denn er wußte, daß sie bisher zwar sehr viel gearbeitet, aber wenig Vergnügen genossen habe. Sie nahm seine Einladung mit aufrichtiger Freude an, wollte sie doch auch einmal hören, ob die Hülzinger außer der Kirchenmusik und dem berühmten Marsche zum Tanz aufspielen könnten. Ihr Dienstherr, bei dem sie Sever bescheiden ausbat, hatte nichts einzuwenden; »wird was draus,« meinte er, »so ist es ja ganz recht, beide sind gesund und arbeitsam und zum übrigen mag Gott helfen.«

So gingen sie denn Sonntags mit Einbruch der Dämmerung zum Wirt. Allmählich wurde auch hier die uralte Geschichte neu, über das »wie« habe ich nichts erfahren, was die Neugierde reizen könnte, und so nehmen wir für diese Nacht von beiden Abschied, wo er an der Haustür dem verschämten Mädchen ein Bussel raubte.

Tags darauf paßte er hinter dem Zaun, bis sie in den Stadel gehe, Heu für das Vieh zu holen. Durch ein Astloch erblickte er sie und rief nach ihr. Sie näherte sich errötend, und so machten sie es wie Pyramus und Thisbe, aber glücklicher als diese, mit der Hochzeit richtig. Sie sollte nach drei Jahren – bei unseren Arbeitern geht das nicht so Knall und Fall – gefeiert werden, bis dahin hoffte er sich zu dem wenigen, was er besaß, etwas zu ersparen, und sie, an Feierabenden eine kleine Ausstattung fertig zu kriegen.

Sever, der in jeder Beziehung ehrenhaft dachte, wollte das Mädchen nicht ins Gerede bringen und ging, anstatt die Liebschaft durch das Astloch fortzusetzen, alsogleich zum Bauer, dem er seine Angelegenheit kurz und bündig vortrug.

»Gedacht hab' ich mir's,« antwortete dieser, »aber nicht davon geredt. Das Mädchen hat keine Eltern, und so kommt es mir zu, sie als christlicher Hausvater in acht zu nehmen. Ich widerspreche nicht, obwohl ich meine beste Magd verliere, denn ihr paßt ja ganz gut zu rechtschaffenen Eheleuten. Auch mit den drei Jahren bin ich einverstanden, ich werd' es bei der Gemeinde befürworten, und dann mag der Böller krachen. Du bist übrigens gescheit genug, um zu begreifen, daß ich weder eine Lallerei, noch eine Lapperei gern sehe. Magst also am Feierabend auf meinen Hof kommen und bei Stanzl sein; dann aber gehst zur rechten Zeit heim, und sie arbeitet und du arbeitest die Woche durch, wie es sich für fromme Leute schickt. So, steht in einer Legende, haben es der heilige Joseph und die Mutter Gottes in ihrer Brautschaft auch gemacht und hat sie keine schlechte Nachrede troffen, und sind doch die Juden weit ärger gewesen als die Hülzinger.«

Sever war es zufrieden, aber Thomas nicht.

Dieser ergrimmte heftig, daß nun der Rauharbeiter Stanzl haben solle, die den Erben des Pütrichhofes zurückgestoßen; Neid mischte sich zur Eifersucht oder überwog diese, er hatte so ungefähr die Empfindung, als wäre er auf dem Viehmarkt, feilschte um ein prächtiges Rind, ein anderer käme ihm zuvor und führte es mit einem kleinen Zuschlag vor seiner Nase weg.

Auf ihre Entscheidung kam es nicht an, sie war in seinen Augen wieder Sache, und Sever sollte es büßen, daß er den Vorlauf gewagt.

Für jetzt ließ er alles auf sich beruhen, nahte doch der Frühling, wo jener wieder nach Ingolstadt als Maurer wandern sollte.

Im Herbst versuchte er es dem Dienstherrn Stanzls gegenüber mit spitzen Reden, wurde jedoch so derb abgefertigt, daß er sich ferne hielt. Die Brautleute benahmen sich überall so anständig, daß sie eher für Geschwister gelten mochten, und vermieden auf diese Art jede üble Nachrede, ja, man sprach kaum von beiden. So wurde die Aufmerksamkeit des Pütrichsohnes, der sich einem wüsten, ausschweifenden Leben ergab, ziemlich abgelenkt, er schien Stanzl, die ohnehin sehr selten und nur im Vorüberstreifen mit ihm zusammentraf, fast vergessen zu haben.

Da nahte der letzte Herbst. Sever gab sein Gesuch um die Heiratsbewilligung ein, und nun erst wurden die Jungen entfesselt. Man erinnerte sich des »Gekrönten« wieder, Thomas wurde von allen Seiten geneckt, er mußte sich sogar, als er Zoten riß, von einem Bauern im Wirtshause sagen lassen: »Wie wohl tät's dir, du Lump, wenn dich die Stanzl gemögt hätt'. Was du seitdem Geld verputzt hast, ist mehr als das Heiratsgut der reichsten Bauerndirne, und das hätt' sie dir durch ihre Sparsamkeit erhalten. Zieh du überhaupt kein braves Mädel wie Stanzl in deinem unflätigen Maul herum, oder wir schlagen dir drauf.« Thomas mußte schweigen, aber sein Herz schwoll von Gift.

Er ging beiseite, bezahlte die Zeche und humpelte schwerfällig fort. In der engen Gasse, die zur Kirche emporführt, erblickte er eine kleine Strecke Weges vor sich Sever, wie er schleunig vorwärts schritt. Da er nicht wagen durfte, ihn anzugreifen, wollte er ihn wenigstens verhöhnen, das könne der arme Rauharbeiter dem großmächtigen Dorfmagnaten nicht verbieten. Jener hatte bereits das Gitter erreicht, das den Friedhof abschloß und ein kleines Plätzchen begrenzt, wo sich vor und nach dem Gottesdienste die Burschen gruppieren, teils plaudernd, teils die Mädchen erwartend. Dieser Platz schien Thomas der geeignetste. Er sang:

»Schaut Sever nur und Stanzl an,
          Juchhe!
Die Bettler woll'n Hochzeit han,
          Juchhe!
Sie laden ein den Floh, die Laus,
          Juchhe!
Und kaufen sich ein Schneckenhaus,
          Juchhe!«

Sever hatte ihn beim ersten Laut erkannt, änderte jedoch seinen Schritt nicht, sah sich auch nicht um, weil er es nicht der Mühe wert hielt, mit dem Burschen anzubandeln. Das ermutigte Thomas noch mehr und er kreischte sein Schandliedl so laut, daß einer der Burschen rief: »Sever, leid'st das?«

Dieser kehrte sich um und maß Thomas mit einem finstern Blick. »Ob ich es leide?« wandte er sich an die Burschen, »wär' es nicht eine Schmach, wenn ich den Saububen bei den Wascheln kriegen wollt', den schon mein Mädel geschüttelt hat?«

Lautes Gelächter erschallte. Thomas hatte verspielt und drückte sich verblüfft davon. In einer Winkelkneipe erwarteten ihn seine Saufbrüder, dort erzählte er, was ihm widerfahren, und forderte sie auf, ihm zur Rache behilflich zu sein, da er ihnen bereits mit mancher Halbe die Gurgel gewaschen.

»Wahr ist's!« schrie einer aus dem Chor, »schämen müssen wir uns insgesamt, aber wart', heut' passen wir dem Sever auf, wenn er von der Stanzl geht, und prügeln ihn, daß er drei Wochen ins Spital muß. Dann aber gehen wir ins Wirtshaus und Thomas wichst uns dafür Punsch auf.«

»Soviel ihr mögt!« schrie dieser im Vorgenuß der Rache, der langersehnten Rache.

Sie wußten genau die Stunde, wo Sever gewöhnlich von Stanzl Abschied nahm. Etwa hundert Schritt vom Haus des Bauern legten sie sich an einem Zaun auf die Lauer, das Dunkel der mondlosen Nacht verhüllte sie völlig. Nichts Arges vermutend, schritt Sever vorüber. Da sprang Thomas auf und sang:

»Schaut Sever nur und Stanzl an,
          Juchhe!«

Sever ergrimmte. »Wart', du Hundsfott,« schrie er, »dieses Mal will ich dich züchtigen!« Lautes Hohngelächter antwortete, überall stürzten die Buben hervor und fielen ihn an. Er riß einen Zaunstecken los und schlug, sich verteidigend, blindlings zu.

Ein gellender Schrei ertönte, Sever sprang rasch über den Zaun und enteilte.

Am nächsten Morgen erfuhr er, man habe Thomas mit zerschmettertem Schienbein heimgetragen, der alte Pütrich sei bereits zu Gericht. Sever sah die Sache sehr ruhig an, er wußte, daß Selbstverteidigung erlaubt sei und getraute sich einen Eid abzulegen, er habe nicht beabsichtigt, Thomas so schwer zu schädigen. Bald wurde ihm die Vorladung gebracht. Wie staunte er, als die Klage dahin lautete, er habe seinem Gegner aufgelauert, ihn angefallen und zu Boden geschlagen. Nur dadurch sei dieser noch ärgerer Mißhandlung entrissen worden, daß jene Burschen herbeieilten und ihn über den Zaun versprengten. Sever mochte erwidern, was er wollte, alle Zeugen waren gegen ihn. Das ganze Dorf sprach zu seinen Gunsten, der üble Leumund der Ankläger verringerte den Wert ihrer Angaben, das rettete ihn nur vor dem Zuchthause, aber nicht vor einer Strafe, die damals nicht selten über Raufbolde verhängt wurde. Er ward auf vierzehn Jahre zum Militär abgestellt!

O goldene Träume der Zukunft, wohin entschwandet ihr! Hätte Sever beim Militär eintreten wollen, er würde, da Ersatzmänner sehr gesucht waren, eine Summe von mehr als tausend Gulden erhalten und nur acht Dienstjahre gehabt haben. So verlor er durch einen Bubenstreich die beste Zeit seines Lebens, konnte während derselben nichts ersparen und sah das schönste Ziel in unberechenbare Ferne gerückt. Wenn dem harten, vielgeplagten Mann bei diesem Urteil die Tränen in die Augen schossen, so war es ebensosehr das eigne Schicksal, das ihm dieselben auspreßte, als die Erinnerung an Stanzls Los, für das er sich gewissermaßen verantwortlich fühlte. Er fand sich im Gewissen verpflichtet, sie ihres Wortes zu entbinden, und ging, um dies zu tun, am letzten Abend, der ihm noch vergönnt war – tags darauf mußte er mit einem Transport nach Italien – schweren Herzens zu ihr. Sie hatte ausgeweint. »Lieber Herrgott!« – war, als sie das Unglück erfahren, ihr Nachtgebet, auf das sie jedoch nicht wie gewöhnlich sanft einschlief – »lieber Herrgott, warum hast du mir das getan? Hab' ich nicht genug gelitten mein Leben lang? Aber ich will nicht klagen; was du mir bisher auferlegt, schlug mir ja zum Guten aus; nur gib mir Kraft, es zu leiden, gib mir vor allem Kraft zum letzten Abschied von Sever!«

Sie erwartete ihn vor der Kammertür und winkte ihm mit der Hand, zu folgen. Beklommen trat er ein. Auf dem Tische lag der Kranz aus künstlichen weißen Rosen, der sie bei der Hochzeit schmücken sollte, sie ergriff Severs Hand, beide blickten sich stumm und schmerzlich in die Augen, er wollte reden, vermochte aber kein Wort zu stammeln. Sie schien seine Gedanken zu erraten. »Komm,« sagte sie, »wir wollen unser letztes Wort nicht hier sprechen,« und ergriff den Kranz. Rasch, ohne umzuschauen, eilte sie zur Kirche, Sever schritt eilig nach. Der geweihte Raum war bereits dunkel, am Hochaltar glomm die ewige Lampe und warf ihren zitternden Schimmer durch die Halle, auf dem Seitenaltar stand das Bild der Himmelsjungfrau mit dem Sternendiadem, das Stanzl beim Fronleichnamsfeste im feierlichen Zuge getragen hatte. An der Mauer ringsum hingen Votivtäfelchen, Wachsfiguren und Inschriften zum Danke für so manche Gnade, die das Volk hier zu erwerben glaubt.

Sie traten auf die Stufen des Altars. Stanzl hängte den Kranz auf und wendete sich dann zu Sever:

»Die Mutter Gottes mag ihn aufbehalten, bis du zurückkehrst und ihn mir ins Haar schlingst.«

Sever preßte sie schluchzend an die Brust, drückte einen Kuß auf ihren Mund und eilte stumm fort. Sie kniete vor dem Gnadenbilde nieder, die Hände gefaltet, tief gebeugt betete sie inbrünstig, bis der Küster die Kirche schloß und sie sich entfernen mußte.

Thomas hatte übrigens durch seine Niederträchtigkeit nichts gewonnen, jeder ehrliche Mensch mied seinen Umgang; als er sich Sonntags zu anderen Bauernburschen an den Wirtstisch setzen wollte, jagten ihn diese schimpflich davon. Er wurde wilder und ausgelassener von Tag zu Tag. Da starb sein Vater; nicht der Tod desselben, wohl aber das Erbe, das er jetzt als eigen antrat, bewirkte eine Veränderung seines Benehmens. So wie er früher verschwenderisch gewesen, wurde er jetzt karg und geizig, kein Dienstbote wollte mehr bleiben, weil er die Laus um den Balg prelle. So herrschte auf dem Pütrichhofe weder Zufriedenheit, noch Freude. Ans Heiraten dachte Thomas kaum; erst nehme man ein Weib ins Haus, dann komme ein Haufen Kinder nach, daß jeder Tisch dafür zu klein sei; Gott Vater möge diesen Segen behalten, ihm sei er zu kostbar.

Er konnte sich übrigens auch nicht beklagen, daß ihm die Mädchen nachsetzten, ihren Zumutungen entrann er leicht mit seinem krummen Fuße – der blieb ihm als Andenken an Severs Schlag –, nicht einmal die ärmste Dirne trug Sehnsucht nach ihm. Nur von einer alten Pfarrhäuserin erzählte man, sie habe ihn heiraten wollen. Weil ihr der Hochwürdige ein hübsches Säckchen Taler hinterlassen, war Thomas nicht abgeneigt, sie zu nehmen. Sie konnten sich aber nicht verständigen, wer die Hochzeit ausrichten solle, und so zerschlug sich das Geschäft.

Stanzl sprach von ihrem Unglück mit keinem Menschen, still und gefaßt arbeitete sie wie früher; hätte sie sich um andere Leute gekümmert, wäre ihr vielleicht die allgemeine Achtung ein Trost gewesen. Zu jeder heiligen Zeit brachte der Briefbote ein Schreiben ihres Sever; er redete wenig von Lieb' und Treue, erkundigte sich aber genau, ob es ihr wohl gut gehe, und erzählte dann, wohin ihn der Marsch überall geführt, von Städten, Ländern und Flüssen. Nur einmal kam ein Brief, nachdem der andere kaum vierzehn Tage alt geworden. Er verkündete ihr kurz, der Major habe ihn zum Unterjäger ernannt.

So verfloß Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, endlich waren die vierzehn Jahre voll. Es drohte Krieg, die Ausgedienten wurden nicht entlassen, und so mußte auch Sever noch ein Jahr aushalten, es kam ihm länger vor als die vierzehn, die er bereits ertragen. – Die Stunde der Befreiung schlug auch ihm. Als er Gewehr und Bajonett ablegte, dachte er nur an die Maurerkelle und den Hammer, die er jetzt führen werde, um nicht mehr zwangsweise kaiserliches Brot, sondern das eigene zu essen. Sorgfältig wickelte er den Abschied in Papier und steckte ihn in die Brusttasche. In eine abgetragene Montur gekleidet, den Zwilchsack auf dem Rücken, machte er sich auf den Weg. Zu Bozen schrieb er an Stanzl und bezeichnete ihr Tag und Stunde seiner Ankunft. Als er hinter Steinach den wohlbekannten Grat des Joches, der ober Hülzing hinzieht, erblickte, jauchzte er seit fünfzehn Jahren zum erstenmal wieder auf und erschrak dabei fast über sich selbst. Hätte er nicht an Stanzl geschrieben, so wäre er trotz der Ermüdung die ganze Nacht marschiert, um sie zu überraschen. So blieb er in Steinach. Der nächste Tag war das Pfingstfest. Andächtig wohnte er in der Pfarre dem Hochamt und der Predigt bei und machte sich, nachdem er ein mäßiges Frühstück genommen, auf den Weg. Überall blühten die Kirschbäume, die Lerchen sangen, als wäre es ihm zu Ehren, er steckte frohen Mutes ein grünes Zweiglein auf den Hut. Zu Schönberg hielt er Rast und aß Mittag. Erst um vier Uhr brach er auf, um nicht bei Tag anzukommen und so zudringlicher Neugier auszuweichen. An der Ecke, wo die Straße abwärts zieht, stand ein Kreuz zwischen zwei Zirbeln, die jetzt längst niedergeschlagen, zerhackt und auf dem Herde verbrannt sind. Von dort erblickt man durch einen Ausschnitt des Waldes zuerst das Mittelgebirge und Hülzen mit seiner alten Kirche. Sever hemmte den Schritt, sein Herz pochte heftig an die Rippen, ihm unbewußt schlich eine Träne über die braune Wange. Er zog den Hut, faltete die Hände und, den Blick zum Kreuz erhoben, dankte er inbrünstig, daß ihn der Herrgott aus so vielen Gefahren glücklich heimgeführt, und empfahl ihm seine Zukunft. Dann schritt er vorwärts.

In der Schupfen, einem Wirtshause etwa eine Stunde von Innsbruck, wollte er noch einkehren; etwa hundert Schritte, ehe er sie erreichte, kam ein Weibsbild bäuerlich gekleidet des Weges, er sah sie verwundert an – sie ihn –

Sever! Stanzl!

Nachdem sie sich von der ersten Überraschung erholt, betrachteten sie einander, in die Freude des Wiedersehens mischte sich Wehmut, denn jedes trug vom andern ein schönes Bild in der Seele, das schöne, glänzende Bild der Jugend.

»Gelt, Stanzl,« begann Sever, mit der Hand über das dünne Haar an den Schläfen streichend, »ich bin älter geworden!«

»Ich auch nicht jünger,« erwiderte sie treuherzig, »und wärst du hundert Jahr', wollt' ich dich immer an den Augen kennen!«

Er hatte freilich das vierzigste Jahr schon beträchtlich überschritten, sie war in dasselbe soeben eingetreten; ihr Gesicht hatte den Reiz der Jugend verloren, um Wangen und Lippen lagen Fältchen, fast so viel als an der reinlichen weißen Halskrause.

Sie vergaßen alles; die heilige Treue, die sie für einander trugen, sollte der Boden sein, wo die alte Liebe neue Blüten trieb – fort und fort bis ins graue Alter.

Überlassen wir sie den Gefühlen der Erinnerung und einer freudigen Gegenwart; auch ihre Gespräche in der Schupfen, wo Sever eine Halbe vom Bessern aufstellen ließ, und beim Heimweg haben wir überhört, nur des Planes für die Zukunft sei kurz gedacht.

Sever wollte sich zu Hülzen bloß kurze Zeit aufhalten und dann schnell nach Schwaben, um dort als Maurer zu verdienen; nach seiner Rückkehr im Spätherbst war die Hochzeit angesetzt. Er hatte einiges Geld von früherer Zeit erspart, auch ihr Kasten barg einen alten Strumpf – dieser pflegt nämlich das Portefeuille armer Knechte und Mägde in Tirol zu sein – einen alten Strumpf bis zur Ferse voll Zwanziger – etwa hundert Gulden, das konnte für den Anfang ausreichen. Vor seiner Abreise reichte Sever dem Gemeindeausschuß das Gesuch um Heiratsbewilligung ein, bis zu seiner Rückkehr konnte es erledigt sein, die Ausstattung lag ja schon von früherer Zeit fertig in Stanzls Kasten.


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