Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 7. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Henriette oder das Findelkind.

Ein großer Mann, bei Gott, ein großer Mann! rief der alte Hauptmann Düfort in seinem Lehnstuhl, als ihm seine Tochter die Beschreibung der Schlacht von Torgau im Leben Friedrichs vorlas, das Nachbar Robert auf einer Emigranten-Auktion gekauft hatte; da gieng es hizig her, so hizig als bei Fontenoy, wo mein lieber Moriz mich zum Offizier machte. Ich hätte ihn mit diesem königlichen Helden im Kampfe sehen mögen; er wäre würdig gewesen, sich mit ihm zu schlagen. Teufel! er fuhr auf uns, warf das Ohrkissen von sich. Jeder Kanonenschuß, den sie thun, fährt mir durch die Seele. Du wirst sehen, liebe Jette, diese Belagerung bringt mich ins Grab. Großer Gott! so mußte ich denn einen Bürgerkrieg erleben? o mein Vaterland, mein armes Vaterland!

Der gute Alte sprach von der Belagerung der Stadt Lyon, von der das Gütchen, das er bewohnte, nur einige Meilen entfernt lag. Sie wurde wirklich mit der größten Wuth beschossen, und war ihrer Uebergabe nahe. Mit weinenden Augen suchte Henriette ihren Vater zu beruhigen. Er schüttelte 2 den Kopf: Du weißt nicht, liebes Kind, was ein Bürgerkrieg ist: die Menschen erlauben sich da Greuel, vor denen selbst die Teufel erröthen. Erinnerst Du dich nicht mehr, wie sie es vor zweihundert Jahren machten? Du selbst hast es mir ja im Leben deines Schuzheiligen, unsers großen Heinrichs, vorgelesen. Ja, der hätte in unsern Tagen leben sollen; dann wäre es nie so weit mit uns gekommen. Du allein, liebes Kind, hältst mich noch auf dieser Welt zurük. Ist einmal dein Bräutigam wieder da, und ich habe euere Hände in einander gelegt, so mag der Tod mir an euerm Hochzeittage . . . . Nein das nicht; da würde ich euch euere Freude verderben; aber gleich in der folgenden Woche mag er mir zum Abzuge blasen. Mein Tornister ist gepakt: er wird mich jeden Augenblik marschfertig finden. Nein, lieber Vater; ihr sollt noch lange Zeuge unsers Glückes seyn. Der Alte erseufzte: euers Glückes? nun ja, Gott gebe euch Glük; er allein hat noch welches zu geben . . . . Schon wieder? ey so schieße! zitterte nicht mein Stuhl: das war glaub' ich eine Mine: schröklich! schröklich! wie froh bin ich, liebe Jette, daß deine gute Mutter diese Tage des Jammers nicht erlebte! wie viele Thränen würde sie über das Schiksal ihrer Vaterstadt vergossen haben! Gottlob, daß sie keine Verwandte mehr darinnen hat! Doch sind nicht alle Menschen, die hinter ihren Mauern weinen und bluten, unsere Verwandten? 3

Henriette. Auch meines Menards Vaterstadt ist es. So sehr ich mich nach seiner Rükkunft sehne, so danke ich doch Gott, daß er noch abwesend ist: er würde gewiß auch theilgenommen haben am blutigen Kampfe.

Der Alte. Er muß nun unterweges seyn; seine Reise, sagte er, könne schwerlich über ein Jahr dauern, und dreizehn Monate sind vorbei.

Henriette. Dreizehn Monate und zehn Tage. Vielleicht war er auf einem der beiden Schiffe, die, wie wir vorgestern in der Zeitung lasen, aus der Levante in Marseille eingelaufen sind.

Der Alte. Wenn das ist, so können wir morgen Briefe von ihm haben. Horch, man pocht. Wer das noch seyn mag? Vermuthlich Nachbar Robert. Geh, Jette, nimm das Licht, und mache ihm auf. Gewiß hat er etwas Neues, er pflegt sonst nicht so spät zu kommen.

Henriette gieng, und ehe sie die Thür erreichte, wurde zum zweitenmal angeklopft. Gedult, lieber Robert, ich komme schon. Jezt öfnete sie die Thür, und im gleichen Momente legte eine verhüllte Weibsperson ihr ein länglichtes Körbchen vor die Füsse und verschwand.

Wie angedonnert stand Henriette da: sie hatte den Muth nicht, über die Schwelle zu treten, um der Flüchtigen nachzusehen, und die Kraft nicht, die Thür zu verschließen. Ein leises Gewinsel schrekte 4 sie auf. Bebend warf sie nun die Thür zu, und schob den Riegel. Ein wiederholter Wimmerton zog ihr Auge auf das Körbchen, und sie erblikte ein paar kleine Händchen, die den weißen Flor, der es bedekte, wegschoben. Vor Schrecken ließ sie das Licht zur Erde fallen, und sank auf ihre Kniee. Die Stimme ihres Vaters, die ihr aus der Stube entgegenscholl, wekte sie aus ihrer Betäubung; sie raffte sich auf, tappte nach dem Lichte und dem Körbchen, und taumelte damit in die Stube. Sie konnte nicht sprechen. Um Gottes willen was fehlt dir, mein Kind? rief der bestürzte Vater ihr zu. Ein tiefer Seufzer entströmte ihrem ängstlich klopfenden Busen; er gab ihr die Sprache wieder. Ach Vater, lieber Vater! stammelte sie. Der Alte wollte sich aus seinem Lehnstuhl erheben, allein die Beine versagten ihm; er sank kraftlos zurük. Er griff nach der Schelle, die auf dem Tische stand, um die Magd herbeizurufen, die schon zu Bette lag. Die Schelle fiel zu Boden; das Getöse, das sie machte, brachte Henrietten vollends zu sich, und erschrekte das Kind: es fieng an zu schreien. Lieber Gott! was ist das? rief der Alte. Ohne ihm zu antworten wankte Henriette in die Küche, und kam blaß wie eine Leiche mit dem angestekten Lichte zurük. Rede doch, Mädchen; Gott sei uns gnädig, wie du aussiehst! was ist dir begegnet? Henriette warf sich neben ihn auf einen Stuhl; sie erzählte ihm mit erstikter Stimme ihre Begebenheit. Sonderbar! 5 erwiederte der Alte mit kaltem Blute: geh, bring mir das Würmchen her. Henriette hohlte das Körbchen; es lagen einige Windeln und andere Geräthschaften von sehr feiner Leinwand darinn. Izt wollte sie das Kind auf den Arm nehmen, und fand unter seinem Kopfe ein versiegeltes Päkchen; sie riß es auf; es enthielt hundert Louisd'or und den Namen Nina; er war mit drukähnlichen Buchstaben geschrieben, vermuthlich um die Handschrift desto besser zu verbergen. Armes Geschöpf! sagte Düfort, deine Eltern müssen unglüklich seyn; ob sie strafbar sind, dürfen wir nicht fragen. Vermuthlich, liebe Jette, war es die Mutter selbst, aus deren Händen du dieses heilige Pfand empfiengst. Sie muß uns kennen, wie würde sie sonst es uns anvertrauen; sie soll sich in ihrer Erwartung nicht betrügen. Geh, sieh, mein Kind, ob noch Milch im Küchenschrank ist; wir können das arme Würmchen die Nacht über nicht ohne Nahrung lassen. Morgen wollen wir sehen, was weiter zu thun ist. Henriette holte einen Becher mit Milch, und labte damit das Kind; dann brachte sie ihren Vater zu Bette, warf sich in seinen Lehnstuhl, und sezte das Körbchen neben sich auf einen Schemel, den sie mit Stühlen umschanzte. Halb wachend und halb schlummernd erwartete sie so den Anbruch des Tages, indeß die kleine Nina, sanft wie die Unschuld, an ihrer Seite ruhete.

Jettchen! mein Plan ist fertig, die ganze 6 Nacht habe ich daran gezimmert und gehobelt; will sehen, was du dazu sagst. Fürs erste müssen wir das Kind nicht aus den Augen lassen; man hat es unsern und keinen andern Händen anvertraut. Fürs zweite kannst du seine Wärterin nicht seyn, du hast zu viel mit mir und mit der Wirthschaft zu thun. Da meynte ich nun, wir nähmen deine Jugendgespielin, Nachbar Roberts Nichte, ins Haus, und machten sie zur Kindermuhme. Es ist ein sanftes, frommes, reinliches Weib, und dabei eine arme Wittwe; es wäre also noch obendrein ein gutes Werk, wenn wir ihr freie Kost und monatlich einen Thaler Lohn verschafften. Wir räumten ihr das obere Stübchen ein, wo sie des Würmchens still und ruhig pflegen könnte, und du wärst doch immer bei der Hand, um ein Auge auf sie zu haben. Nun was dünkt dich von meinem Projekte?

So redete der Greis zu seiner Tochter, als er sah, daß sie den Lehnstuhl verließ, um die Fensterladen zu öfnen. Gut, schön, lieber Vater, antwortete das Mädchen, indem sie dem Bette zusprang, und dem Alten ihren Morgenkuß auf seine benarbte Wange drükte. Euer Einfall ist herrlich; sobald Liese auf ist, will ich sie zu Coletten schicken; wie wird das gute Weib sich freuen, wenn sie nicht mehr als Taglöhnerin ihr kümmerliches Brod suchen muß. Vor allen Dingen aber, lieber Vater, will ich euch euer Bein verbinden. 7

Düfort. Nun ja, mein Kind, du verdienst den Himmel an mir; Gott wird dir gewiß deine Treue belohnen.

Henriette. Hat er mir nicht schon mehr gegeben, als ich verdiene? einen Bräutigam, der mich liebt, und dessen schönes Vermögen . . . .

Düfort. Sieh, mein Kind, ich wollte lieber er wäre nicht so reich; in unsern Tagen ist es eine gefährliche Sache reich zu seyn.

Henriette. O! mein Menard hat nichts zu fürchten: er war immer ein guter Patriot.

Düfort. Dieser Name bedeutet nun etwas ganz anders; schwerlich würde er jezt für einen Patrioten gelten!

Henriette. Wenn er nur erst zurük wäre; es ist so weit nach Alexandria.

Düfort. Freilich hätte sein alter Vetter besser gethan, wenn er in seinem Hause zu Marseille, als bei seinem Faktor in Egyptenlande gestorben wäre.

Ueber diesem Gespräche verband Henriette ihres Vaters Bein: es war ein offener Schaden, der von einer Schußwunde herrührte, die seit einigen Jahren wieder aufgebrochen war. Dann half sie dem guten Alten in seinen Armstuhl, und legte seine Kissen zurechte. Nun, sagte sie, will ich Coletten rufen lassen; sie hüpfte zur Thür hinaus, und der ehrliche Alte sah ihr mit einem segnenden Blicke nach. Colette erschien; frohgerührt nahm sie die 8 angebotene Stelle an; das obere Stübchen wurde zurecht gemacht. Henriette holte aus dem Leinenschrank ihrer Mutter alles hervor, was sie von Kindergeräthe finden konnte, und ehe die Glocke zwölfe schlug, war die kleine Nina in ihrer neuen Heimath installirt. Das holde unschuldige Geschöpf blikte Henrietten freundlich ins Auge, als sie es mit einem Kusse seiner Wärterin in den Arm legte, und der graue Kriegsmann band es ihr mit eben der feierlichen Miene auf die Seele, womit er einst seinen Rekruten den Eid vorsprach. Liese horchte unter der halb offenen Thür, und schüttelte boshaft-lächelnd den Kopf.

Düforts Gütchen bestand in einem Hofe mit einer hübschen Wohnung und einem großen Garten, den er selbst benuzte, und in mehrern Aeckern und Wiesen, die er für hundert Laubthaler verpachtet hatte. Es lag am Ende eines schönen Dorfes, das aber wegen seiner Entfernung von der Landstraße von Fremden wenig besucht wurde. Die Municipalität unterhielt einen Amtsboten, der an gewissen Tagen auf die nächste Station nach Montlüel abgieng, und zu gleicher Zeit der wenig beschäftigte Briefträger der ganzen Gemeinde war. Dieses Ehrenamt verwaltete Robert, ein abgedankter Feldwebel und Düforts Hausfreund, der ihm seine Zeitungen mitbrachte, und dann bei einem Gläschen Wein mir ihm über ihren Inhalt deliberirte. Bei dieser 9 Gelegenheit theilte er ihm auch die ungedrukten Neuigkeiten mit, die er auf der Post erfuhr, und die seit einiger Zeit keinen andern Gegenstand hatten, als die Belagerung der Stadt Lyon. Durch ihn vernahm der Hauptmann ihre Uebergabe, und die ersten Greuelscenen, die darauf folgten. Der gute Alte beantwortete seine Erzählung blos durch einige verbissene Flüche; als aber Robert weg war, füllten seine Augen sich mit Thränen, Todesblässe dekte sein Gesicht, und zum erstenmal schlug er seiner Tochter das Gläschen Kirschwasser ab, das sie ihm nach der Mahlzeit darreichte. Wofür, liebes Kind? sagte er; ich habe ja sehr wenig gegessen, und ohne dein Zureden würde ich gar nichts berührt haben. Mein Appetit ist weg, und . . . . aus Schonung für das arme Mädchen wollte er den Gedanken nicht ausreden. Henriette brachte ihm die kleine Nina; er küßte das Kind: ein liebes Geschöpf; verlaß mir den kleinen Engel nicht. Jette, sei du seine Mutter. Sie trug das Kind fort, kam wieder, langte das Leben des großen Friedrichs hervor, und fieng an darin zu lesen. Der Greis, der ihre Absicht errieth, zog seine blassen Lippen zum Lächeln, und zwang sich aufmerksam zu scheinen. Henriette, die ihm von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blik zuwarf, wurde bald gewahr, daß er ihr aus bloßer Gefälligkeit zuhörte. Sie legte das Buch weg, langte ihre Zitter von der Wand, 10 und spielte den Uhlanenmarsch des Marschalls von Sachsen. Nun erheiterte sich seine Stirne; seine erloschenen Augen funkelten, und er nikte mit dem Kopfe den Takt zu der kriegerischen Melodie. Damals war es gute Zeit, liebe Jette, sagte er, als sie zu spielen aufhörte: den Mann hättest du im Treffen sehen sollen, zumal bei Fontenoy. Er war krank und konnte sich kaum auf dem Pferde halten; alles schien verloren. Man sprach vom Rükzuge, und er, wie ein sterbender Löwe, raffte alle seine Kräfte zusammen, und jagte den brittischen Leopard in die Flucht. Doch das habe ich dir schon oft erzählt.

Ein Besuch des konstitutionellen Pfarrers, Morant, unterbrach das Gespräch. Er trat triumphierend in die Stube. Wissen Sie schon, Bürger Hauptmann, daß die stolze rebellische Stadt endlich gefallen ist? Die Nation wird eine schrökliche Rache an ihr ausüben. Die Nation? sagte Düfort leise, und rükte knirschend seine Müze auf ein Ohr. Nun erzählte der Priester weitläuftiger, was der Alte schon wußte. Wüthende Schadenfreude sprühte aus seinem blutrothen Gesichte. Auf einmal erblikte er Henrietten, die sich gleich bei seiner Ankunft entfernt hatte, und mit der kleinen Nina auf dem Arm im Garten umhergieng. Was haben Sie da für ein allerliebstes Kind? – Eine Freundin hat es meiner Tochter anvertraut, antwortete der Alte. – Vermuthlich aus der Stadt? – Vermuthlich, erwiederte 11 er etwas verwirrt. – Haben Sie es schon lange?– Seit vier Tagen, versezte Düfort und gähnte. –Sie sind schläferig, Bürger Hauptmann, nun es ist kein Wunder; es war heute ein schwüler Tag. Leben Sie wohl, in Ihrem Alter muß man den Schlaf annehmen, wann er sich meldet. Sollte ich etwas Neues erfahren, so werde ich Ihnen Nachricht geben.

Die Stunde der Abendmahlzeit erschien. Nur die wiederholten Bitten seiner Tochter konnten den trauernden Alten bewegen, ein paar Pfersiche zu essen, die sie für ihn im Garten gebrochen hatte. Er lenkte das Gespräch auf den Pfarrer; ich konnte mich kaum enthalten, dem blutgierigen Menschen meine Müze an den Kopf zu werfen. Zum Glücke fiel mir noch zu rechter Zeit ein, daß wir ihn schonen müssen. Meinetwegen mag er Marats Bildniß am rothen Brustlaze tragen; ich beneide ihm seinen Patron nicht. Allein wenn er, gleich ihm, von der Vertilgung einer ganzen Stadt, wie von der Zerstörung eines Raupennests redet, so siedet mir das Blut in den Adern, zumal wenn ich bedenke, daß dieser Unmensch ein Diener Gottes heißen will. Hörst du nichts, Jette? (es klopfte jemand leise an der Hofthüre). Man pocht; soll ich nachsehen, lieber Vater? Ja, mein Kind, allein frage erst, wers ist, ehe du aufschließest. Henriette gieng mit dem Lichte hinaus, und fragte: wer ist draußen? Ein armer blinder Mann und seine Führerin bitten euch 12 inständig um eine Nachtherberge in einem Stalle oder auf dem Heuboden. So antwortete eine süße schmelzende Stimme, die Henrietten ans Herz drang. Wartet nur einen Augenblik, erwiederte sie in einem theilnehmenden Tone, ich muß meinen Vater fragen. Ey warum nicht? sagte der Alte: wer eine Hütte hat, soll sie nie dem Armen verschließen. Geh bringe sie zu mir herein. Henriette gehorchte mit Freuden. Ein ansehnlicher Mann von mittlerm Alter, in einem abgetragenen aber reinlichen Ueberrocke mit einem in die Augen gedrükten runden Hute, über das Gesicht hängenden Haaren und einer Violine am Knopfloche, trat am Arme eines jungen Weibes in die Stube. Sie hatte, wie das Landvolk dieser Gegend, ein weißes Tuch um den Kopf geschlagen, das ihr Kinn und Stirne verhüllte, große schwarze Augen blizten unter diesem Schleier hervor, ihre Kleidung verrieth aber nicht sowohl eine Bäurin, als eine gesittete Dienstmagd aus der Stadt. Sie grüßte den ehrwürdigen Alten mit einer stummen Verneigung; der Mann nahm seinen Hut ab; seine Augen waren geschlossen, und schienen zugeschworen. Bedekt euch, armer Mann, und sezt euch nieder, ihr werdet müde seyn, sagte Düfort; führt ihn auf jene Bank. Er wies der Führerin mit der Hand eine an der Wand stehende Bank an. Wo kommt ihr guten Leute so spät her? Ach! lieber Herr, antwortete das junge Weib, man hat uns in zwei Dörfern 13 die Herberge versagt, weil man uns für Landstreicher hielt.

Henriette. Abscheulich.

Düfort. Wer seyd ihr denn eigentlich?

Das Weib. Mein Mann war Bedienter und ich war Kinderfrau bei einer adelichen Herrschaft. Vor zwei Jahren verlor mein Mann das Gesicht durch die Blattern; wir wurden aber darum nicht verstoßen: er bekam das Gnadenbrod, und ich behielt meinen Dienst. Allein vor acht Tagen mußte unser armer Herr mit seiner Gemahlin flüchtig werden: das Schloß wurde mit Soldaten umringt, und wir wurden ausgetrieben.

Düfort. Die Unmenschen! und wo wollt ihr guten Leute denn nun hin?

Der Mann. Ich habe einen Bruder in dem Städtchen Nantua: dort gedenken wir ein Obdach zu finden. Meine Frau versteht sich auf allerhand Arbeiten, die, nebst meinem Instrument, uns hoffentlich Brod geben werden.

Düfort. Geh, liebe Jette, sieh, ob noch was zu essen vorhanden ist, wir müssen die armen Leute nicht ungesättigt schlafen gehen lassen.

Henriette eilte davon, und brachte nach einigen Augenblicken einen Teller mit kaltem Braten herein, den sie neben das Körbchen mit Obst hinsezte, das noch von der Mahlzeit auf dem Tische stand. Dann holte sie eine Flasche Wein; spülte 14 ein paar Gläser, und bot ihren Gästen zu trinken an. Sie sind sehr gütig, liebe Mademoiselle, sagte das junge Weib mit ihrer zephyrischen Stimme; ein tiefer Seufzer hinderte sie mehr zu sagen. Ein paar schöne Thränen rollten über die Wangen des edlen Mädchens. Die Fremden mußten sich an den Tisch sezen, der vor des Alten Lehnstuhle stand; das junge Weib schnitt ihrem Manne die Speisen vor, und beide aßen.

Wo nun euer armer Herr mit seiner Gattin herumirren mag, sagte Düfort; Gott wolle sie schützen. Vermuthlich hatte er gedient? Ja wohl, antwortete der Blinde; er war Ludwigs-Ritter. Das war ich auch, sagte Düfort seufzend; ich erhielt das Kreuz auf dem Schlachtfelde bei Bergen. Sie haben mirs weggenommen, und auf meinem Bilde dort mußte ichs überkleksen lassen, aber diese Ordenszeichen (er wies auf seine Schramme im Gesicht und auf sein verbundenes Bein) konnten sie mir nicht wegnehmen; nun erzählte er ihnen, wie er bei Fontenoy zum Offizier gemacht, und vom Marschall von Sachsen mit einem Degen beschenkt wurde; wie er bei Hastenbek eine Batterie erstieg, und eine Grenadier-Compagnie erhielt; wie er bei Roßbach gefangen ward, und dort den großen Friedrich zu sehen bekam, dessen Anblik ihn, wie er sagte, für seine Gefangenschaft reichlich entschädigte; wie er hierauf nach Magdeburg abgeführt, aber nach drei Monaten 15 ausgewechselt ward, und endlich, wie er auf dem Rükzuge bei Minden einen Schuß in das rechte Bein bekam, der ihn zum Invaliden machte. Seit dieser Zeit, fuhr er fort, lebe ich hier auf diesem Gütchen, das meinem seligen Weibe gehörte. O! meine Freunde, das war ein Weib, sanft und gut, wie ein Engel. Hätte ich meine Augen verloren, auch sie würde mich durch die Welt geführt und mich mit ihrer Hände Arbeit ernährt haben.

Nina weint! rief jezt Henriette, indem sie aufsprang und zur Stube hinausschwirrte. Das junge Weib fuhr zusammen, ein Thränenguß entstürzte ihren Augen.

Düfort. Was habt ihr, gute Frau, was fehlt euch?

Das Weib. Ach nichts, lieber Herr. Vergeben Sie mir; unser Schiksal . . . .

Der Mann. Fasse dich, mein Kind, wir müssen unserm Wohlthäter mit unserm Kummer nicht zur Last fallen.

Düfort. Zur Last? Das könnet ihr nicht. Hatte ich etwa nie Kummer? Aber hier, meine Freunde, (die Hand auf das Herz legend) hier kneipt es, hier brennt es, wenn man helfen mögte und nicht helfen kann. Die heilige Brüderschaft der Leidenden war nie größer, als jezt, aber Gedult, es wird, es muß besser kommen. Dieses flüstert mir immer eine geheime Stimme ins Ohr, wenn ich den 16 Muth verlieren und dem großen Steuermann dort oben vorwerfen will, daß er seinen Posten verlassen habe.

Nina ließ sich bisweilen noch hören, doch lauter hörte man Henrietten, die sie in den Schlaf lullte. Sobald meine Tochter zurükkömmt, fuhr der Alte fort, soll sie euch zu Bette führen. O! es ist ein trefliches Kind; meine Freunde, das Ebenbild ihrer Mutter und der einzige Trost meines Alters. Ich darf sie wohl loben, fuhr der Greis fort, weil sie nicht mehr zugegen ist. Von fünf Kindern, die meine Marianne mir gebahr, ist sie das jüngste und einzige, das mir übrig blieb. Der Tod ihrer Brüder, wovon der älteste in Amerika fiel, kostete mich bittere Thränen, und nun danke ich Gott, daß sie mir vorangegangen sind. In unsern Tagen der Trübsal ist es ein Unglük Vater zu seyn, und wäre meine Jette nicht an einen braven jungen Mann verlobt so . . . . Der Blinde holte einen tiefen Seufzer; sein Weib wankte auf ihrem Stuhle, und hielt die Hand vors Gesicht. Weinet ihr, gute Frau, habt ihr etwa auch Kinder? fragte Düfort gerührt. Das Weib schluchzte, und schwieg, und Henriette trat in das Zimmer. Gehe, meine Tochter, begleite sie in unser Gaststübchen: es ist doch in Ordnung? – Ja, lieber Vater. Sie ergriff ein Licht. Das junge Weib ließ ein paar große heiße Tropfen auf des Alten dargereichte Hand fallen, die ihr Mann fest an seine 17 Brust drükte. Dann folgten beide schweigend ihrer Führerin. Düfort rief ihnen nach: auf Wiedersehen; morgen ehe ihr verreiset, frühstücken wir noch miteinander.

Als Henriette zurükkam, sagte ihr Vater: ich muß mich sehr betrügen, oder unsere Gäste sind mehr, als sie scheinen wollen. Das glaube ich auch, erwiederte Henriette. – Bemerktest du den edlen Anstand des Mannes nicht, und das geistreiche Auge, den feinen Ton der Frau? – Ja wohl bemerkte ich es. Als ich ihr eine gute Nacht gab, ward ihr blasses Gesicht auf einmal glühend; ihre Arme schnellten empor, als wollte sie mich umfassen; doch plözlich ließ sie sie fallen, stand erschrocken vor mir, und zerfloß in Thränen. Die guten Leute! seufzte Düfort; vermuthlich sind es Schlachtopfer, die dem Schwerdte der Würger entgehen wollen. Doch laß dir ja nichts merken, mein Kind, das Geheimniß der Unglüklichen ist heilig; man entweiht es, wenn man den Schleier berührt, der es decket; wir haben sie schon zuviel gefragt; das bedenke ich nun erst. Morgen müssen wir behutsamer seyn.

Henriette stand mit der Sonne auf, schlich hinab in die Küche, und bereitete das Frühstük. Es schlug sechs Uhr, und die Fremden ließen sich noch nicht hören. Laß sie schlafen, sagte ihr Vater, auch für die Seele ist der Schlaf ein Balsam; er zieht einen Vorhang über die Bilder des Kummers, und 18 eine Stunde länger seines Unglüks vergessen, ist kein geringer Gewinn. Die Glocke schlug sieben und die Fremden zeigten sich noch nicht. Nun schlich Henriette an die Thüre des Gaststübchens, und horchte; sie hörte nichts. Sie blinzte durch das Schlüsselloch, und sah nichts. Sie klopfte leise an die Thür; man antwortete nicht. Sie öfnete sie mit der größten Behutsamkeit: niemand war im Zimmer. Sie zog den Vorhang des Bettes weg, es war leer.

Staunend und bebend lief sie zu ihrem Vater hinunter, und hinterbrachte ihm die unerwartete Kunde. Düfort hörte sie schweigend an; schüttelte einigemal den Kopf, und indem er den Laubthaler, der schon eine Stunde für seine Gäste bereit lag, unwillig in die Börse schob, sagte er mit bedenklicher Miene: dahinter stekt was, das ich nicht begreife. Dem sey wie ihm wolle; die Leute sind ehrlich; sie müssen es seyn, wenn ich nicht glauben soll, daß es gar keine ehrliche Leute mehr giebt; allein wie kamen sie zum Hause hinaus, ohne von jemanden gesehen zu werden? Ich schlief erst lange nach Mitternacht ein; es ist also kein Wunder, daß ich nichts gehört habe. Henriette befragte Coletten und Liesen; keine hatte die Fremden weder gesehen noch gehört. Endlich fand sie, daß die Thür, welche aus der Küche in den Garten, und aus diesem aufs Feld führte, unverriegelt war, ungeachtet sie selber beim Schlafengehen den Riegel vorgeschohen hatte. Sie 19 theilte ihrem Vater ihre Entdeckung mit. Der Alte achtete wenig darauf: irgendwo müssen sie freilich hinaus seyn; allein das Räthsel ist darum nicht aufgelöst.

Nun kam Liese herein: ich wollte sehen, sagte sie, ob die Leute nichts mitgenommen haben. Es fehlt nichts, und das wundert mich. Hier ist ein Papier, das auf dem Tische lag. Sie gab es Henrietten. Es war ein mit Bleistift geschriebenes Briefchen. Henriette las und weinte; sie reichte den Brief ihrem Vater hin, der sein Vergrößerungsglas hervorlangte, und ihn ebenfalls für sich las. So hatte Liese nicht gerechnet. Des Lesens unkundig, hoffte sie, daß man den Brief laut lesen, oder doch wenigstens von seinem Inhalte sprechen würde. Sie blieb noch eine Weile stehen, und als Vater und Tochter sie schweigend ansahen, trabte sie unwillig zur Stube hinaus. Der Brief enthielt folgendes:

»Die Stimme unsers Verhängnisses übertäubt die Stimme unsers Herzens: sie gebietet uns, dieses Heiligthum der Gastfreiheit zu verlassen, ohne seinen großmüthigen Bewohnern noch einmal unsern Dank zu stammeln. Noch einmal, denn Sie müssen ihn gestern in unsern Thränen, in unsern Seelen gelesen haben. Mehr, als wir sagen können; mehr als wir sagen dürfen, sind wir Ihnen, edler Mann, und Ihrer würdigen Tochter schuldig. Nicht nur ihrer Mutter Herz, wie 20 Sie sagten, sondern auch ihres Vaters reines menschenholdes Herz hat sie geerbt. O! es kostete mich einen schweren Kampf, dem allmächtigen Drange zu widerstehen, der mich im Augenblicke des Abschieds an ihren Busen zog. Nicht immer; (das muß ich hoffen, wenn ich nicht unaussprechlich elend seyn soll) nicht immer wird diese Wollust mir versagt seyn. Leben Sie wohl, bester Mann; leben Sie wohl, edle theure Henriette. Unser Segen, das Einzige, was Unglükliche geben können, bleibt auf ihrer geweihten Schwelle zurük. Vergessen Sie Ihre unbekannten Gäste nicht; wir tragen Ihr Bild an einem Orte, wo unsere Verfolger, und selbst die Hand des Todes es nicht erreichen können.«

Nun, mein Kind, was sagte ich gestern? so schreibt keine Dienstmagd; wer weiß, wen wir beherbergt haben? Gewiß sind es ein paar edle Flüchtlinge, die ihr Heil unter einem fremden Himmel suchen müssen. Nun, Gott wolle Sie begleiten. Du mußt dieses Blatt wohl aufheben; es wird dir Glük bringen. Wenn der Kummer an deinem Herzen nagt, so lege es auf dein Herz; und du wirst Linderung fühlen. So sprach der alte Düfort zu seiner Tochter, als Liese weg war. Er zergliederte, er commentirte jedes Wort des deutungsvollen Briefes, und in jedem Worte fand er einen sonnenklaren Beweis seiner Muthmaßung.

Nun hatte das Leben des großen Friederichs gute 21 Ruhe; so oft der ehrliche Alte mit seiner Tochter allein war, sprach er mit ihr von den beiden Unbekannten. Er labte sich an dem Gedanken, ihnen einen Liebesdienst erwiesen zu haben. Ich glaubte nicht, sagte er, daß wir noch eine solche Freude aufbehalten wäre. Vielleicht erfahren wir doch noch, wer sie waren. Sie müssen weit herkommen; wenigstens kenne ich in unserer ganzen Nachbarschaft keinen angesehenen Mann, der des Gesichts beraubt ist. Henriette stimmte ihm in allen Stücken bei. Wachend und träumend schwebte die zwiefache Erscheinung, besonders das holde Weib, ihr vor Augen, an dem sie täglich einen neuen Zug von äußerer oder innerer Schönheit entdeckte.

Düforts Appetit kam wieder, er fieng wieder an, mit der kleinen Nina zu spielen, und ihr den Uhlanenmarsch vorzupfeifen, oder sich seine Silberlocken von ihr zerzausen zu lassen. Ein Augenblik zerstörte diesen Frieden seiner Seele. Am Abend des dritten Tages nach dem Besuche der Fremden, kam Morant zu ihm hereingestürmt. Höllische Freude lachte aus seinen Zügen. Nun, Bürger Hauptmann, kann ich Ihnen ganz frische Neuigkeiten mittheilen. Eben komme ich aus der Stadt: ich hatte ein schauderhaft majestätisches Schauspiel erwartet; allein, bei Gott! was ich sah, übertraf alle meine Erwartung. Die Rebellen werden zu Duzenden unter die Guillotine geschleppt, die wie eine Schneidemühle 22 unaufhörlich fortspielt. Weil aber die Hinrichtungen dennoch Monate lang dauern würden, so ist man auf ein gar prächtiges Mittel verfallen, die Farce abzukürzen. Man treibt die Gefangenen schaarenweise zusammen, und läßt sie durch ein wohlgenährtes Musketenfeuer niederschießen, oder durch Kanonen, die mit gehaktem Eisen geladen sind, zu Boden donnern. In Ihrem Leben, Bürger Hauptmann, haben Sie so was nicht gesehen, ob Sie gleich in vielen Schlachten und Belagerungen waren. Grimm und Entsetzen hemmten dem Greise den Athem. Endlich sagte er mit dumpfer zitternder Stimme: schweigen Sie, Herr, wenn Sie mich nicht morden wollen. Ich fürchtete den Tod nie, und bald werden Sie hören, daß ich ihm traulich die Hand reichte. Ich habe Tausende bluten gesehen, und Tausende röcheln gehört; aber immer hat mein Herz mit den Blutenden geblutet, und die Sterbenden beklaget, nur ein Satan konnte dem Schauspiel, das Sie mir beschrieben, mit trockenem Auge zusehen. Ich schwöre Ihnen, Herr, weit eher hätte ich mich mit unter die Gefangenen gestellt, als mein Gewehr gegen Wehrlose abgefeuert. Mein Blut hätte sich gewiß mit noch mehr unschuldigem Blute vermenget.

Also halten Sie diese Leute für unschuldig? unterbrach ihn der Pfaffe. Ich bin ihr Richter nicht erwiederte Düfort, dem das Verfängliche dieser Frage nicht entgieng; ihre Richter sind vielleicht noch 23 nicht geboren. Allein ich habe mehr als einem Standrechte beigewohnt, und würde manchen Unschuldigen gemordet haben, wenn ich die Beklagten ungehört verdammt hätte. Doch genug, es ist mir nicht wohl; ein kalter Schauer nach dem andern überläuft mich. Morant nahm seinen Abschied. Sein Blut kochte, und er würde die Apostrophe des Alten nicht ungeahndet verschlukt haben, wenn nicht ein allmächtiger Talisman seine Rachgier gefesselt hätte.

Der Greis befand sich würklich übel; er wollte nicht essen. Desto heftiger aber war sein Durst. Fiebergluth röthete seine Wangen, und blizte aus seinen Augen. Die ganze Nacht brachte er schlaflos zu. Als am folgenden Morgen Henriette ihn verbinden wollte, rief sie staunend: ey! lieber Vater, euer Bein ist geheilt, die Wunde hat sich völlig geschlossen. Der Alte lächelte: gut, mein Kind. Er legte sich auf die Seite, und sagte: vielleicht kann ich nun ein wenig schlafen, ich wills einmal versuchen. Wirklich schlummerte er nach einigen Minuten ein. Henriette sezte sich neben sein Bett, und wehrte ihm die Fliegen. Sein Athem ward immer schwerer und schwerer. Endlich wachte er auf. Eure Brust ist umfangen, sagte Henriette; ich will euch eine Schaale Thee machen. Nun ja, liebes Kind. Als er den Thee getrunken hatte, sprach er: geh, meine Tochter, hole mir die kleine Nina; ich habe sie heute noch nicht gesehen.

24 Henriette brachte das Kind. Er liebkoste es; er küßte seine Händchen. Nina lallte ihm mit holdseliger Miene entgegen. Glükliche Unschuld! das Loos der Menschheit ist dir noch unbekannt; du kennest den Tod und ein weit größeres Uebel, das Leben, noch nicht! Noch einmal, gute liebe Jette, wie es auch kommen mag, so verlaß mir das arme Würmchen nicht. Ein heftiger Keuchhusten erstikte seine Worte; er winkte ihr mit der Hand, das Kind fortzutragen. Henriette brachte es seiner Wärterin.

Als sie zurükkam, lag ihr Vater rüklings hingestrekt. Sein Gesicht war blau, wie eine Viole. Um Gotteswillen, Hülfe! rief Henriette, indem sie ihn bei den Schultern ergriff, und aufrüttelte. Der Kranke erholte sich: er richtete sich mühsam auf, und versuchte es, aber umsonst, den Schleim auszuwerfen, der seine röchelnde Brust anfüllte. Henriette faßte seine Hand: Gott! euere Hand ist eiskalt. Das macht, ich sterbe, flüsterte er leise. Gott segne dich, liebes Kind, er sey dein Vater. Er sprach es, und sank ihr leblos aus den Armen. Henriette warf sich über ihn hin; sie schrie ihm in die Ohren; sie küßte seinen noch zum Segnen geöfneten Mund; seine Seele war entflohen.

Die beiden Mägde stürzten herein. Colette küßte schluchzend die Hand ihres Wohlthäters. Liese stand erschrocken, aber kalt am Fuße des Bettes. 25 Henriette fiel neben dem Leichnam auf die Kniee, und faltete die Hände. Ihr Mund schwieg. aber unaussprechliche Worte ihres Herzens flogen dem Vollendeten nach. Ihr Schmerz bedarf keiner Schilderung, und ihr Biograph bedarf keiner Entschuldigung, daß er den Schleier des Tymantes über ihr Antliz wirft.

So lange die Gebeine des Redlichen noch über der Erde weilten, wich sie nicht von seiner Seite. Bald betete sie an seinem Sarge; bald nezte sie sein freundlich ruhiges Gesicht mit ihren Thränen. Stillklagend begleitete sie seine Hülle zu ihrer Ruhestätte. Alle Greise der Gemeinde folgten der Leiche des siebenzigjährigen Bruders; indeß die Nationalgarde des Dorfes von Robert angeführt mit gesenktem Gewehr vorangieng. Sie umringten das Grab, und als der Sarg hinunter gesenkt wurde, gaben sie eine dreifache Salve. Morant wollte Henrietten einige Worte des Trostes sagen. Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm so laut, als sein Gewissen zurief: du hast ihn getödtet! Seine Zunge erstarrte, er schlug die Augen nieder, und schlich sich davon.

Nach der Ceremonie kam Robert zu Henrietten: liebe Mademoiselle, sagte er schluchzend, Sie haben viel verloren und ich auch; der selige Herr Hauptmann war . . . . war mein . . . . warum sollte ichs nicht sagen dürfen? war mein Freund. Nie werde ich ihn vergessen. Sie, liebe 26 Mademoiselle, habe ich oft auf meinen Armen getragen; Sie kennen mich, und wissen, daß ichs redlich mit Ihnen meyne. – Das weiß ich, lieber Robert. – Nun, so darf ich Ihnen schon sagen, was mir aus dem Herzen liegt. – Warum nicht, mein Freund? – Sehen Sie nur; Sie und Colette und die Magd wohnen nun allein auf dem Hofe; er liegt am Ende des Dorfes, und Sie wissen, in was für Zeiten wir leben. Wenn Sie mir ein Stübchen einräumen können, so will ich hereinziehen. Den Tisch behalte ich bei meiner Tochter; sie wohnt ja ohnehin nur zwei Schritte von hier. Es ist blos, damit die Leute sehen, daß ein Mann im Hause ist. Der Herr Hauptmann hat schönes Gewehr; mit seiner Doppelbüchse und seinen Pistolen wollt' ich ihrer vier nicht fürchten.

Henriette hatte noch nicht Zeit gehabt, über ihre Lage nachzudenken. Roberts Bemerkungen fielen ihr auf, und Sie nahm sein Anerbieten an. Sie war ihres Vaters einzige Erbin, und hatte seit Kurzem ihr ein und zwanzigstes Jahr zurükgelegt. Sie bedurfte also keines Vormundes, und war niemanden Rechenschaft schuldig. Schon am folgenden Tage zog Robert ein. Sein Stübchen bekam die Gestalt einer Rüstkammer. Außer den Waffen des Hauptmanns, womit er die Wände auszierte, brachte er sein eigenes Arsenal mit, das in einem mit Flor umwundenen Säbel und einem Stuzer bestand. Henriette bot ihm den Degen ihres Vaters an, mit 27 der Bitte, daß er ihn seinem Freunde zu Ehren tragen sollte. Gott bewahre! liebe Mademoiselle, antwortete er, indem er ihn ehrerbietig aus ihrer Hand nahm: was denken Sie? den bin ich nicht würdig zu tragen. Aber neben mein Bett will ich ihn aufhängen, und des Morgens meinen ersten und des Nachts meinen lezten Blik darauf heften. Dieser Degen ist ein Heiligthum, das Sie Ihren Kindern und Kindeskindern hinterlassen müssen.

In den ersten Tagen ihres Kummers dachte Henriette wenig an ihren Bräutigam. Das Bild ihres Vaters erfüllte ihre ganze Seele. Allmählich aber trat auch Menards Bild wieder hinter der Wolke hervor, die es umhüllte. Sein Stillschweigen überzeugte sie, daß er noch nicht in Europa gelandet seyn müsse. Ihre Unruhe wuchs mit jedem Tage, und nur die Sorge für die kleine Nina konnte sie einigermaßen zerstreuen. Da sie nun keine Kinderpflicht mehr auszuüben hatte, so überließ sie sich der Mutterpflicht gegen dieses holde Geschöpf, das sich immer mehr und mehr an sie anschmiegte, und ihr selten vom Arme kam.

Dieses veranlaßte Coletten, die ohnehin mit der zänkischen Liese nicht zum besten auskam, Henrietten anzubieten, die Küche und den Garten zu besorgen, und ihr diese überflüssige Magd zu ersparen. Henriette gab diesem Vorschlag um so williger Gehör, da auch sie häufig Ursache hatte, mit 28 ihr unzufrieden zu sein. Liese ward also reichlich belohnt und verabschiedet. Als Henriette sie entließ, sagte sie mit frecher Stimme: Sie entfernen mich, weil ich Ihnen im Wege bin; allein ich weiß doch, was ich weiß, und es soll Sie wenig nüzen, mich fortgeschikt zu haben. Henriette gab ihr keine Antwort, und bald war beides, die Drohung und die Dirne vergessen. Diese nahm ihre Zuflucht zu Morant, der ihr bei einem seiner Anhänger einen andern Dienst verschaffte.

Henriette hatte bereits vierzehn Tage in stiller Einsamkeit verlebt, als sie einen Besuch vom Pfaffen erhielt. Sie empfieng ihn mit kalter Höflichkeit. Er bot ihr alle Dienste an, die ihre jezige Lage fordern möchte. Ich danke Ihnen, antwortete sie; freilich ist meine Lage traurig; allein ich will nicht hoffen, daß sie mich nöthigen werde, jemanden beschwerlich zu fallen. Um die Pausen der Unterredung auszufüllen, beschäftigte sie sich von Zeit zu Zeit mit der kleinen Nina, die sie auf dem Schooße hatte. Ein allerliebstes Kind, sagte Morant; werden Sie es noch lange behalten? Henriette erröthete: ich weiß nicht, wann seine Mutter es wieder abholen wird. – Sie ist ihre Freundin? – Wenn sie es nicht wäre, so würde sie mir dieses Pfand nicht anvertraut haben. Der Pfaffe schwieg, und befreite endlich Henrietten von seiner lästigen Gegenwart.

29 Dieser Mensch war ein Exkapuziner. Kaum hatte die erste Nationalversammlung die Thüren der Klöster geöfnet, so hatte er das seinige verlassen, und sich ohne Zurükhaltung in den Strudel der Revolution geworfen. Bei der Wahl der konstitutionellen Geistlichkeit wußte er es durch seinen jacobinischen Anhang dahinzubringen, daß er zum Pfarrer des ansehnlichen Dorfes ernannt wurde, das Düfort bewohnte. Auch hier gab es zwo Partheien, die er bald gegen einander hezen, bald wieder auszusöhnen wußte, je nachdem sein Vortheil es heischte. Seitdem Robespierre und seine Trabanten die Nation tyrannisirten, war er ein Terrorist. Allein erst bei der Belagerung von Lyon nahm er die Maske ganz ab. Die Hälfte seiner Gemeinde machte er zu seinen Proselyten; die andere bessere Hälfte verabscheuete ihn; allein sie mußten ihren Haß verbergen, und den Ariman anbeten, damit er ihnen nichts Böses zufügte. Um sein Amt bekümmerte er sich wenig; hätte er seine Rechnung dabei gefunden, er würde den Priesterrok jeden Augenblik mit einem Husarenpelze vertauscht haben. Allein er betrachtete ihn als einen Dekmantel, der seinen Ehrgeiz privilegirte, und ihm die Herrschaft über die Gemüther des Landvolks versicherte, dessen Dummheit er im geheimen Cirkel seiner Vertrauten mit eben der Frechheit verspottete, womit er gegen die Religion zu Felde zog. Er sehnte sich nach der Stunde, die, wie er sagte, 30 ihn bevollmächtigen würde, seine lezte Fessel zu brechen, und trug alles dazu bei, den sogenannten Sieg der Philosophie zu vollenden. Dieser Zeitpunkt war nahe; schon wankten die Altäre; bald sollten sie einstürzen.

Zween volle Monate waren über die Frist verflossen, welche Menard zu seiner Rükkunft anberaumt hatte, und noch ließ er nichts von sich hören. Henriette fieng an, sich den schwärzesten Besorgnissen zu überlassen. Tag und Nacht schwebte das Bild des Geliebten vor ihrer Seele; bald sah sie ihn von der leidigen Seuche hingerafft, die Alexandria so oft zu einem großen Leichenhause macht; bald erblikte sie ihn auf einem Brett seines zertrümmerten Schiffes, die Wuth der Wellen bekämpfend; bald fiel er durch die Hände der Banditen, welche die Straßen von Marseille nach Lyon so oft mit Blute besprizten. Nie mahlte ihre Phantasie, die ihre Bilder aus dem Herzen schöpfte, ihn an der Seite einer andern Geliebten. Menard war treu; er mußte es seyn, denn er hatte ihr Treue geschworen. Sie hatte niemanden, in dessen Schooß sie ihren Kummer ausschütten konnte; der einzige Vertraute ihres Herzens war nicht mehr. Dieses verdoppelte ihre Marter; sie konnte nie um den Bräutigam weinen, ohne zugleich um den Vater zu weinen. Endlich ward es ihr unmöglich, ihren Schmerz länger zu verbergen. Sie beschloß, ihn dem wackern Robert zu 31 entdecken, der ihren Bräutigam kannte, und oft, wenn er dem Hauptmann die Zeitungen brachte, sich mit ihm in politische Controversen einließ; denn Robert war in einem andern Sinne Patriot, als Menard, ohne darum ein schlechterer Bürger zu seyn. Der ehrliche Veteran trauerte mit ihr. Etwas muß vorgegangen seyn, sagte er, weil Sie keine Briefe von ihm haben; allein wir müssen uns gerade nicht das Schlimmste vorstellen. Nach einem kurzen Stillschweigen fuhr er fort: wie wäre es, wenn ich in die Stadt gienge, und ganz in der Stille Nachricht einzuziehen suchte? Er hat keine Verwandte mehr in Lyon, antwortete Henriette, als eine alte Tante, die den Sommer auf einem Gute zu St. Rambert zuzubringen pflegt, und jezt weniger, als jemals in der Stadt wohnen wird: allein aus dieser Quelle wird wenig zu erfahren seyn. Sie mißbilligte unsere Heirath, weil sie gern eine ihrer Enkelinnen mit meinem Geliebten verbunden hätte. O! lassen Sie mich machen, versezte Robert; ich will zuerst den Plaz recognosciren, ehe ich mich hinein wage. Robert ist nicht auf den Kopf gefallen. Bis morgen Abends, denke ich, sollen Sie alles wissen, was die Tante weiß. Anstatt meine Briefe zu Fuße in Montlüel abzuholen, miethe ich einen Gaul, reite nach St. Rambert, und nehme dann auf dem Rückwege meine Depeschen mit. Gut, mein Freund, nur muß die Tante nicht muthmaßen können . . . – 32 Ei! das versteht sich; über dieses ist es noch eine große Frage, ob ich nöthig haben werde, die Tante selber zu sprechen. Es giebt gewiße Umwege . . . . Kurz lassen Sie mich schalten. Henriette ließ ihm seinen Willen, und am folgenden Tage in aller Frühe machte er sich auf den Weg.

Je höher die Sonne stieg, je banger klopfte Henriettens Herz. Ihr Haus ward ihr zu enge. Mit der kleinen Nina auf dem Arme gieng sie gegen Abend tiefsinnig im Garten umher. Das holdselige Wesen schmiegte von Zeit zu Zeit sein Gesicht an das ihrige, oder schlang seine kleinen Arme um ihren Lilienhals. Diese Liebkosungen der Unschuld wekten sie dann aus ihren düstern Träumen, und sie küßte das Kind mit der zärtlichsten Inbrunst. Izt blieb sie vor einem Traubengeländer stehen, und pflükte einige Weinbeeren, deren Saft sie der Kleinen in den Mund flöste. Sie hatte den Rücken dem Buchenzaune zugekehrt, der den Garten umschloß. Als sie sich umwandte, erblikte sie eine Mannsperson, die plözlich den Kopf aus dem Gebüsche zurükzog. Sie achtete wenig darauf, und sezte ihren Spaziergang fort. Sie langte Menards Bildniß aus ihrem Busen; ließ Nina damit spielen, und drükte es wechselsweis an ihren und an des Kindes Mund. Indessen fieng es an zu dämmern, und sie kehrte mit ihrer lieben Bürde nach dem Hause zurük.

33 Kaum hatte sie die Stube betreten, so kam Colette hereingestürmt: haben Sie ihn gesehen Mademoiselle, haben Sie ihn gesprochen?

Henriette. (erschüttert.) Ist er zurük?

Colette. Freilich muß er zurük seyn, weil ich ihn gesehen habe.

Henriette. Wo sahst du ihn denn?

Colette. Das will ich Ihnen erzählen: ich kam mit einem Bunde Krummet aus dem Baumgarten, da sah ich ihn den Fußpfad heran reiten, der hinter dem Dorfweg auf die Straße führt. Ich erkannte ihn; ey, willkommen Herr Menard! rief ich. Er antwortete mir nicht, und jagte spornstreichs vorbei.

Faselst du? sagte Henriette, und doch ergriff sie ein geheimes Zittern.

Colette. Faseln? ich faseln? als ob ich Herrn Menard, ihren Bräutigam, nicht kennte? ich sah ihn ja wohl zwanzigmal bei Ihnen hier aus und eingehen; ich sah ihn noch das leztemal unter der Thür Abschied von Ihnen nehmen, als er übers Meer verreiste: o er drükte Sie so fest an sein Herz!

Henriette. Ach, Colette, du folterst mich!

Colette. Sie weinen? Sie haben ihn also nicht gesehen?

Henriette. Nein, ich weiß nicht, was du sagen willst.

Colette. Heilige Mutter Gottes! so war es sein Geist. Ach, liebe Mademoiselle; gewiß ist er 34 todt! ja, ja, sonst hätte er mir doch ein Wörtchen geantwortet.

Henriette war auf einen Stuhl gesunken; ihr Herz klopfte krampfhaft; der Odem entgieng ihr; sie reichte Coletten mit bebender Hand die kleine Nina, die ihr ängstlich ins starre Auge blikte.

Nun trat Robert in die Stube: gute Botschaft, liebe Mademoiselle, gute Botschaft! Ihr Bräutigam ist zurük.

Colette. Da sehen Sie's, daß ich recht hatte.

Robert. Aber wie? Sie sind ja blaß wie der Tod.

Henriette. Es ist nichts, guter Robert, es wird gleich vorbei seyn.

Robert sah Coletten an; sie gab ihm einen bedeutenden Wink, und schwieg. Es ist also wahr, flüsterte Henriette nach einer Pause; habt ihr ihn gesehen, mein Freund?

Robert. Das nicht, aber . . . .

Colette. Ich, ich habe ihn gesehen.

Robert. Du, wo das?

Colette stellte sich in Bereitschaft, ihr gehabtes Abentheuer zu erzählen. Henriette wehrte ihr mit der Hand: laß deinen Vetter sprechen. Sezt euch, mein Freund.

Robert. (im Niedersizen) Des Rosenwirths kleine Stutte ist ein herrliches Thier; leicht wie ein Vogel und fromm wie ein Lamm; schon um zehen 35 Uhr war ich in St. Rambert. Ich kehrte in der nächsten besten Schenke ein; sie wimmelte von Soldaten. Hier, dachte ich, bleibst du nicht lange. Ich foderte ein Glas Wein; die Wirthin brachte mirs. Sagt mir einmal, Bürgerin, wohnt nicht hier eine gewisse Madame Menard, die Wittwe eines Lyoner Kaufmanns?; Ja wohl, sagte sie, dort in jenem schönen grauen Hause; sie wies mir das Haus durchs offene Fenster. Gut, Bürgerin, sagte ich; wißt ihr nicht, ist ihr Neffe von seiner Reise zurük? Ich kenne Ihren Neffen nicht, sagte sie; allein seit einigen Tagen sehe ich einen jungen Menschen bei ihr aus- und eingehen; der wird es wohl seyn. Gut, sagte ich; ich leerte meine Flasche, und stand auf, um nach meinem Gaule zu sehen. Dann schlenderte ich, mir nichts, dir nichts, dem grauen Hause zu. Das Weib hatte recht: es ist bei meiner Treue ein stattliches Gebäude. Ein junges Mädchen saß vor der Thür, und kämmte einen allerliebsten kleinen Pudel. Ich defilirte drei- oder viermal die Straße auf und ab, und kam ihr immer näher. Jezt blieb ich bei ihr stehen. Guten Tag, mein schönes Kind, sagte ich; sie hat hier einen sehr hübschen Hund, ist er zu verkaufen? das Mädchen lachte: je nein, er gehört meiner Herrschaft, sagte sie. So so, sagte ich, nicht wahr der Madame Menard? Richtig, sagte sie; kennt ihr sie? Nein, sagte ich, aber ich kenne ihren jungen Vetter, der vorigen Winter übers Meer verreiste.

36 Ey, sagte sie, der ist wieder zurük. So, sagte ich, nun das ist mir lieb; seit wann? Es sind noch nicht acht Tage; sagte sie. Ist er zu Hause? sagte ich. Nein, sagte sie; er ist gestern in die Stadt geritten, und wird erst morgen oder übermorgen zurükkommen. So so, sagte ich; und da ich nun wußte, was ich wissen wollte, gieng ich meiner Wege. Sobald mein Gaul abgefüttert war, trabte ich davon; langte in Montlüel meine Briefschaften ab, und eilte was ich konnte, um Ihnen diese gute Zeitung zu überbringen.

Diese gute Zeitung? sagte Henriette mit einem tiefen Seufzer, und heftete einen irren Blik auf den Ueberbringer. Nun ja, versezte er; Sie werden sie doch für keine böse Zeitung halten? Sie schien ihn nicht zu hören. Freilich, fuhr er fort, ist es nicht fein von Herrn Menard, daß er noch nicht hier war und . . . . Er war hier, unterbrach ihn Colette, aber ohne seine Braut zu besuchen; und nun erzählte sie ihrem Vetter, was ihr begegnet war, indeß Henriette in dämischer Betäubung da saß, und langsam eine Spätrose entblätterte, die sie von ihrem Busen genommen hatte. Endlich wiederholte sie mit dumpfer kaum vernehmlicher Stimme Colettens Worte: er war hier, aber ohne seine Braut zu besuchen. Kalter Schweiß rann von ihrer Stirne. Robert erschrak: ich sagte ja schon, liebe Mademoiselle, daß er Unrecht hat. Allein beruhigen Sie 37 sich; vermuthlich wollte er Sie erst belauschen, und dann an einem schönen Tage unvermuthet überraschen.

Henriette. An einem schönen Tage . . . . o, er hat diesen schönen Tag zu lange verschoben; nie, nie wird mir wieder ein schöner Tag aufgehen.

Robert. Ey, was denken Sie, liebe Mademoiselle? Sie müssen ihn nicht so voreilig verdammen; wer weiß, was für Ursachen ihn bisher zurükgehalten haben? Sagten Sie mir gestern nicht selber, daß seine Muhme ihre Heirath mißbillige; vielleicht hat diese ihn gehindert.

Henriettens Gesichtszüge schwollen; alle ihre Nerven zukten. Diese, ja wohl diese, rief sie im Tone des Entsetzens, ihr habt die Hülle von meinen Augen gerissen. Sie wird den reichen Erben in ihr Nez gezogen haben. Die Thränen rieselten stromweis über ihre Wangen. Nina, die Colette noch immer auf dem Arm hielt, sah sie weinen und bog sich mit ängstlichem Geschrei der Verzweifelnden entgegen. Henriette strekte ihre Hände nach ihr aus: Du erinnerst mich an meine Pflicht, rief sie; wie es auch kommen mag, sagte der Sterbende, so verlaß das arme Würmchen nicht; ich will seiner Stimme gehorchen und für dich leben. Sie preßte das Kind an ihr Herz und küßte es mit zitternder Inbrunst. Nina legte das Gesicht an ihren Busen, und schlief nach einigen Minuten sanft ein. Der Odem der Unschuld hauchte Frieden in Henriettens Seele: 38 ha! sagte sie leise, indem sie das Kind anlächelte; du schläfst, holder Engel, auch mir winkt ein Busen, an den ich mich schmiegen, an dem ich Trost und Ruhe finden kann. Sie übergab das Kind Coletten und wünschte allein zu seyn. Ehe Robert sie verließ, hob er einige Blätter der zerrissenen Rose von der Erde: Diese will ich aufbewahren, sprach er, und wenn er schuldig ist, so will ich sie dem Verräther vor die Füße werfen, und sagen: sie kommen von dem blutenden Herzen deiner Braut: deine Seele verwelke wie diese Blätter.

Auf den stürmischen Abend folgte eine schlaflose Nacht. Henriettens Gemüth schmekte zwar die hohen Tröstungen der Tugend; allein von ferne heulte doch noch der Orkan, und ihr Herz konnte sich nicht an den Gedanken von Menards Untreue gewöhnen. Bisweilen zweifelte sie noch daran; sie rief die Vergangenheit zurük, um durch sie die Gegenwart zu widerlegen. Er war so bieder, so zärtlich, sagte sie zu sich selbst; ist es denn möglich, daß er sich so schnell verändern konnte?

Sobald der Tag grauete, holte sie die Briefe hervor, die Menard ihr aus Marseille und Alexandria geschrieben hatte. Sie las einen nach dem andern durch: alle athmeten die treueste Liebe, und du solltest zum Verräther geworden seyn? rief sie, indem sie jedes Blatt mit Thränen überschwemmte. Welch eine Hölle liegt in diesem Gedanken! weg, weg mit 39 ihm! wenn ich ihm nachhienge, so würde er mich verleiten, an der Tugend zu zweifeln. Gleichwohl war der Grausame vierzehn Tage im Lande, war er hier, hier an der Schwelle meiner Thür ohne hereinzutreten: er war hier ohne seine Braut zu besuchen.

Zween Tage lag ihre Seele in diesem grauenvollen Kampfe. Ihr Schmerz war still, aber nur desto fressender; er nagte an der innersten Knospe ihres Herzens.

Am dritten Abend saß sie in ihrer Gartenlaube, und heftete ihre thränenvolle Blicke auf Menards Bildniß, das sie noch immer am Halse trug, als Morant sich ihr näherte. Sie schob das Bild unter ihr Busentuch, und gieng ihm einige Schritte entgegen. Bleiben Sie, Bürgerin, sagte er, lassen Sie uns in die Laube sitzen, an diesem einsamen Orte kann ich mich am besten eines unangenehmen Auftrags entledigen, den ich abgelehnt haben würde, wenn es noch Zeit gewesen wäre. Lesen Sie diesen Brief, den ich so eben erhalte. Mit einer heuchlerischen traurigen Miene übergab er ihr das Blatt. Henriette sah die Miene nicht, sie sah nur den Brief, an dessen Aufschrift sie Menards Züge erkannte. Mit bebenden Händen entfaltete sie ihn, und las.

»Ich wende mich an Sie, Bürger, als an einen Freund des ehrwürdigen Düfort, um Ihnen einen Auftrag an seine Tochter zu geben, dessen ich mich 40 blos aus Schonung gegen die Unglükliche nicht persönlich entledige. Sie wissen, daß ich sie liebte, daß ich vor meiner Reise nach Alexandria mich mit ihr verlobte. Ich eilte auf den Flügeln der Liebe nach meinem Vaterlande zurük. Allein schon in Marseille mußte ich Dinge erfahren, die mich in Erstaunen sezten. Henriette, so versicherte man mich, sey in meiner Abwesenheit Mutter eines Kindes geworden, das sie nach einigen Monaten Mittel fand, unter einem fremden Namen in das väterliche Haus aufzunehmen. Ich hielt diese Nachricht für Verleumdung und schrieb an einen vertrauten Freund, der sie mir mit Umständen bestätigte, die mir keinen Zweifel hätten übrig lassen sollen. Dem ungeachtet sezte ich nach meiner Ankunft in Lyon meine Nachforschungen fort; ich besuchte selber insgeheim ihr Dorf, und vernahm aus dem Munde glaubwürdiger Zeugen die Bestätigung meiner Schmach. Noch mehr: ich wollte mich mit eigenen Augen von der Wahrheit überführen: ich beschlich die Treulose in ihrem Garten, und sah, wie sie ihren angeblichen Fündling mit einer Zärtlichkeit, mit einer Inbrunst herzte, deren nur eine Mutter fähig ist. Henriette Düfort hat mich hintergangen. Ich trage Ihnen, Bürger, nicht auf, ihr deswegen Vorwürfe zu machen; nein, sie sollen ihr blos zu erkennen geben, daß meine gekränkte Ehre mir gebietet, sie auf ewig zu fliehen. Stellen Sie ihr zugleich das beigeschlossene 41 Bildniß zu: es gehört, mir nicht mehr, da die, deren Züge es trägt, nicht mehr die Meinige seyn kann. Leben Sie wohl, Bürger, ich reise unverzüglich nach Marseille zurük, und wenn Sie meinen Brief erhalten, werde ich diese Gegend bereits verlassen haben.

Gruß und Bruderliebe.

Während Henriette diesen Brief las, überzog eine leichte Röthe ihr blasses Gesicht: als sie damit fertig war, gab sie ihn dem Pfarrer zurük. Mit trockenem Auge und in einem gefaßten Tone sagte sie: Menard war meiner nicht werth. Nein, er war es nicht, rief der Pfaffe, bei allem, was heilig ist, er war es nicht! Das werde ich ihm schreiben. Thun Sie das nicht, unterbrach ihn Henriette; allein, wenn ich Sie bitten darf, so senden Sie ihm dieses. Sie löste Menards Bildniß vom Halse und übergab es ihm. Sagen Sie ihm, daß ich es auf meinem Herzen trug, als er es durchbohrte. Nein, sagen Sie ihm nichts, er möchte denken, daß ich ihn um Mitleid anflehe, und ich bedarf seines Mitleids nicht. Ich freue mich, edle Dulderin, daß ich Sie bewundern kann, ohne Sie zu beklagen, erwiederte Morant, und nahm seinen Abschied. Ihre reine Seele stand in ihrer ganzen Würde vor ihm; er konnte den furchtbaren Glanz nicht länger ertragen.

Menards Untreue war das Werk des listigen Pfaffen; er war es, der den Zunder des Argwohns 42 in sein Herz legte. Düforts schöne Tochter bezauberte sein lüsternes Auge, Düforts Gütchen war auch nicht zu verachten. Die neuen Geseze erlaubten die Priesterehe, und Morant wollte nicht der Lezte seyn, der das Privilegium benuzte. Er schlich sich bei dem alten Hauptmann ein, und zog bisweilen mit ihm im Brett. Dieser bekümmerte sich wenig um den Zwiespalt, der die französische Geistlichkeit theilte, und würde dem constitutionellen Pfarrer sein volles Vertrauen geschenkt haben, wenn er nicht, zumal in den lezten Zeiten, überspannte Grundsätze geäußert hätte, die das Herz des biedern Greises empörten. Dennoch duldete er ihn, theils aus Klugheit, theils aus Mangel einer andern Gesellschaft. Der Gutsherr, der den alten Kriegsmann sonst fleißig besuchte, war gleich im Anfang der Revolution ausgewandert, und der ehrliche Robert konnte seiner Geschäfte wegen selten mehr, als ein Abendstündchen bei ihm zubringen.

Menards Anwerbung um Henrietten zerstörte den Plan des Priesters noch ehe er ganz reif war. Der junge Kaufmann hatte sie bei seiner Tante kennen gelernt, deren Enkelin mit Henrietten in demselben Kloster erzogen wurde. Die beiden Mädchen sezten auch nach ihrer Rükkehr in den Schooß ihrer Familien ihre Verbindung fort, und Henriette brachte einst mehrere Wochen bei ihrer Gespielin auf dem Landhause der Großmutter zu. 43 Hier entspann sich Menards Liebe, der die alte Tante nichts in den Weg legte, so lange ihr Neffe nicht reich war; als er aber zu einer unvermutheten Erbschaft gelangte, wandte sie alle Mittel an, seine Heirath zu hintertreiben. Seine Standhaftigkeit vereitelte ihre Ränke. Allein seine Reise fachte die Hoffnung des Priesters wieder an. Er unterhielt ein Verständniß mit Liesen, die er zu seiner geheimen Kundschafterin machte. Sie unterrichtete ihn von allem, was sie von der räthselhaften Erscheinung der kleinen Nina wußte, und was sie nicht wußte, ergänzte sie durch Muthmaßungen und Lügen.

Morant triumphirte: er glaubte nun ein unfehlbares Mittel in Händen zu haben, sich den lästigen Bräutigam vom Halse zu schaffen. Er war weit entfernt, Henriettens Tugend zu verdächtigen; aber ein Verdacht gegen Henriettens Tugend konnte ihn zu seinem Zwecke führen, und er hätte den Besiz dieser reizenden Beute im Nothfalle noch durch ein größeres Bubenstük erkauft. Um die Zeit, da er glaubte, daß Menard in Marseille ankommen könne, ließ er einen anonymen Brief, mit verstellter Hand geschrieben, an ihn ablaufen, darinn er ihm als ein unbekannter Freund die wahrscheinliche Untreue seiner Braut ankündigte, und die Umstände anführte, woraus er und das öffentliche Gerücht diese Muthmaßung gründeten.

44 Menard war kein gemeiner, aber auch kein vorzüglicher Mensch. Von Natur argwöhnisch ließ er sich durch das fein gesponnene Lügensystem seines unbekannten Freundes erschüttern, aber nicht überzeugen. Ein Blik auf Henriettens Bildniß zeigte ihm das heilige Gepräge der Unschuld: ein Blik in ihre Briefe, welche die reinste Zärtlichkeit athmeten, brachte die Verleumdung zum Stillschweigen. Allein bald zischte die Schlange ihm von neuem in die Ohren, und sprizte ihr Gift auf das Bildniß und auf die Briefe. Endlich faßte er den Entschluß, dem Pfarrer, den er oft bei Düfort gesehen hatte, seine Unruhe zu vertrauen, und ihn zu beschwören, ihm die Wahrheit zu melden. Dieses war es, was Morant wünschte und erwartete. Im Tone der tiefsten Betrübniß und zugleich mit einer geheuchelten Schonung gegen Henrietten bestätigte er seine erste Verleumdung mit dem Beisaze, daß ihr Fehltritt wahrscheinlich den Tod ihres Vaters beschleunigt habe. Menard eilte nach Lyon, fest entschlossen, mit der Ungetreuen zu brechen: zuvor aber wollte er sich noch eine mündliche Unterredung mit dem Pfarrer verschaffen.

Er begab sich insgeheim nach dem Dorfe. Morant spielte seine schwarze Rolle als ein Meister. Liese wurde gerufen: sie unterstüzte seine Aussage mit einer Menge kleiner Umstände, die den eifersüchtigen Liebhaber in seiner Ueberzeugung bestärkten. 45 Zudem, sagte sie, können Sie, wenn Sie wollen, sich mit eigenen Augen von der Wahrheit überführen. Ich gieng so eben an ihrem Garten vorbei, und sah sie durch die Gitterthür mit ihrem Kinde auf dem Arme. Menard konnte der Versuchung nicht widerstehen; er belauschte Henrietten hinter dem Zaune im Augenblicke, da sie der kleinen Nina die zärtlichsten Liebkosungen verschwendete. Mit der ganzen Wuth der getäuschten Liebe kehrte er nach St. Rambert zurük, wo seine Tante, Morants geheime Mitverbrecherin, alle Kunstgriffe weiblicher Arglist aufbot, um die Erbitterung ihres Neffen zu unterhalten, und seine Rükreise nach Marseille zu beschleunigen: aus Furcht er möchte seinen raschen Schritt bereuen, oder Henriette Mittel finden, sich zu rechtfertigen.

Das arme Mädchen hatte sich, so wenig, als Vater Düfort, einfallen lassen, daß die Aufnahme eines hülflosen Kindes ihrer Ehre nachtheilig werden könne. Diese Sorglosigkeit, der Unschuld heiliges Merkmal, und das Geheimniß, das die ganze Geschichte umwölkte, hatten gleichwohl der Schmähsucht Stoff zu allerhand Muthmaßungen gegeben, die sich in der Finsterniß fortpflanzten, und von der boshaften Liese fleißig genährt wurden. Freilich war es nur der Auswurf des Dorfes, an den sie sich wandte, und der ihrer Verleumdung Gehör gab. Die wenigen Rechtschaffenen, denen sie zu Ohren 46 kam, verwarfen sie mit Abscheu, und hegten zu viel Ehrfurcht für Henriette, um sie davon zu benachrichtigen. So geschah es, daß das edle Mädchen in frommer Sicherheit ihren Gang fortgieng, und, ohne es zu wissen, das Schandzeichen mit sich herumtrug, das die Bosheit ihr hinterrüks aufgeheftet hatte.

Henriettens Körper war nicht so stark, als ihre Seele, er erlag unter einem Heldenkampfe. Kaum war Morant fortgegangen, so erzitterten alle ihre Gebeine; der kalte Hauch des Todes wehte sie an; Schauer auf Schauer strömten wie flüssiges Eis durch ihre Adern. Sie mußte sich zu Bette legen. Ein gewaltiges Fieber beraubte sie schon am dritten Tage aller Besinnung. Colette und Robert und seine redliche Tochter lösten sich an ihrem Lager ab, und ihre Zähren fielen in die Arzneien, die der herbeigerufene Arzt ihr verordnete. Selbst das Winseln der kleinen Nina, die sich aus Colettens Armen loszuwinden und an den fühllosen Busen ihrer Pflegemutter sich anzudrängen strebte, wekte sie nicht aus ihrer Betäubung.

Nach einigen Tagen löste sich zwar das Band ihrer Zunge, allein ihre Reden waren wehmüthige Phantasien, welche die Geschäfte ihrer Seele verriethen. Bald sprach sie mit ihrer Nina: nein, liebes Kind, nie, nie werde ich dich verlassen. Du kostest mich viel, sehr viel; aber um desto theurer bist du mir geworden. Bald redete sie ihren 47 treulosen Geliebten an: o Menard, Menard, Menard! Das Herz, das du zerrissen hast, war ganz dein: ach, und du konntest daran zweifeln! du konntest der Verleumdung dein Ohr leihen! indem dein treues Mädchen für deine Erhaltung betete, konntest du sie der Untreue beschuldigen!

Einst besuchte sie Morant; er stand wie ein Verbrecher an ihrem Bette: sie erblikte ihn. Armer Menard! sagte sie mit wehmüthiger Stimme; wie du aussiehst! ich wußte wohl, daß du dein Unrecht bereuen würdest. Mein Verbrechen war ein Werk der Liebe, aber zu spät, ach! zu spät erkennest du meine Unschuld. Wohlan, ich vergebe dir: hier hast du meine Hand: (sie reichte sie ihm dar) ach! ich hoffte sie dir vor dem Altare zu reichen. Fühlst du, wie sie kalt ist? ich strecke sie aus dem Grabe hervor, um dir zu vergeben. Der Elende schwand wie ein Gespenst zur Stube hinaus, und kam nicht wieder.

Nach drei Wochen siegte die Natur. Henriette erwachte aus ihrem Todesschlummer, und fragte nach ihrer Nina. Wonnezitternd brachte Colette sie zu ihr. Henriette küßte sie und sagte: ich soll und will für dich leben. Ihre Genesung war langsam, aber doch mit jedem Tage sichtbarer. Der Winter kam, ehe sie sich ganz erholte; doch störte nur selten ein Gedanke an Menard die himmlische Ruhe, die das Gefühl ihrer Unschuld 48 in ihrer Seele verbreitete. Nun fieng Morant wieder an, sich ihr zu nähern. Mit der Flamme ihres Lebens loderte auch seine Liebe wieder auf; allein er wagte es noch nicht, ihr seinen Wunsch zu eröfnen. Der feierliche Ernst, der auf ihrem noch blassen Gesichte thronte, schrekte ihn zurük. Als er aber Menards Heirath mit seiner Baase in Marseille erfuhr, hoffte er, sich dieses Umstandes zu seinem Vortheile bedienen zu können, und entschloß sich, sein Stillschweigen zu brechen.

Ruhig und gelassen, wie das Sinnbild der Gedult, saß Henriette eines Abends an ihrem Kamin, und hatte ihr Busenkind auf dem Schooße, als Morant mit einer bescheidenen, beinahe demüthigen Miene, ins Zimmer trat. Seine Besuche waren ihr lästig; allein sie hatte sie dulden gelernt. Auf ihren Wink rükte er sich einen Stuhl neben sie hin. Nina, die ihn schon mehrmals gesehen hatte, lächelte ihn freundlich an. Ein allerliebstes Geschöpf, sagte er, an dem sie den Himmel verdienen. Henriette unterdrükte einen Seufzer, und küßte das Kind.

Morant. Arme Kleine! du bist in gute Hände gefallen. Gewiß hat deine Mutter das Herz deiner Pflegerin nicht.

Henriette. Wer kann das wissen? kann sie nicht todt seyn, oder im Kerker schmachten?

Morant. Wie dem auch sey, so hat Nina 49 eine Mutter gefunden, und es steht nur bei Ihnen, edle Henriette, ihr auch einen Vater zu geben.

Henriette sah den Pfaffen starr an; sie verstand seine Rede nicht ganz, aber ein ahnungsvoller Schauer ließ sie ihren Sinn errathen. Schon lange, fuhr er fort, haben Ihre Verdienste mich mit der wärmsten Ehrfurcht erfüllt. Ich erstikte meine Wünsche, weil ein Anderer Ihr Herz besaß; nun aber, da Sie frei sind, da jener Elende seinem Verbrechen durch die Heirath mit seiner Baase die Krone aufgesezt hat, nun . . . .

Henriette erblaßte; ein schwarzer Flor fiel über ihre Augen, ihr Herzblut stokte.

Morant. Vergeben Sie mir, ich habe Sie überrascht, denn ich kenne den Adel und die Stärke Ihrer Seele zu gut, um Ihre Bestürzung einem Ueberreste von Liebe gegen einen Verräther zuzuschreiben. Können Sie meine Hand annehmen, so wird Ihre und meine Glükseligkeit sie an ihm rächen.

Henriette. (tiefstöhnend) Meine Glükseligkeit!

Morant. Ja, theures Mädchen, Ihre Glükseligkeit. Diese soll mein einziges Bestreben seyn, und ich hoffe, es werde mir gelingen. Ich bin Ihnen nicht fremd; Sie kennen mich schon drei Jahre. Dennoch habe ich die Vermessenheit nicht, Sie jezt schon um Ihre Entschließung zu bitten. In acht Tagen werde ich sie bei Ihnen abholen. Er stand auf und ergriff ihre kalte Hand. Sie hatte die Kraft 50 nicht, sie zurükzuziehen; er führte sie zum Munde. Nur noch ein Wort: mein Amt war bisher für meine Bedürfnisse hinreichend, es kömmt aber nur auf mich an, mir ein weit einträglicheres zu verschaffen, wenn ich einen Stand aufgeben will, dem eine zweite noch größere Katastrophe bevorsteht. Ihr Entschluß wird den meinigen bestimmen. Leben Sie wohl, tugendhafte Henriette, und erinnern Sie sich, daß ich mich zu einer achttägigen Marter verdammt habe, die Sie mit Einem Worte abkürzen können.

Es war hohe Zeit, daß der Pfaffe sich entfernte. Henriette war einer Ohnmacht nahe. Menard und Morant schwebten ihr wechselsweise vor, oder vielmehr einer verwandelte sich in den andern, um mit einem glühenden Dolch ihr Herz zu zerfleischen. Die Liebkosungen der kleinen Nina, die ihr schon so oft ein tröstender Engel war, brachten sie zu sich; sie preßte das Kind an ihren Busen; nein! nein! rief sie schluchzend, der Würger meines Vaters kann dein Vater nicht werden.

Henriette brauchte keine Bedenkzeit, um sich zu entschließen. Sie hatte stets eine geheime Abneigung gegen Morant gefühlt. Der wilde Grimm, womit er gegen diejenigen eiferte, welche den Götzen des Tages nicht opferten, die grausame Freude, womit er die Triumphe der Schreckensregierung feierte, hatten dem sanften guten Mädchen oft ein Grauen eingeflößt, das die Scene ihres Vaters in 51 Abscheu verwandelte. Die Zeit minderte diesen Abscheu, ohne ihn zu vertilgen. Ueber dieses kannte sie Morants Credit. Er hatte sich der Gunst der Untertyrannen gerühmt, welche damals die Blutrache der siegenden Parthei ausübten; sie wußte, was sie vom beleidigten Stolze des Priesters und von seiner verschmähten Liebe zu befürchten hatte; sie beschloß also, ihn mit der größten Schonung zu behandeln. Ihr bangte vor einer mündlichen Unterredung: eine schriftliche Antwort, dachte sie, würde ihn weniger entrüsten, und ihr allemal die Gefahr und die Marter ersparen, Zeuge der Ausbrüche seines Zornes zu seyn.

Drei rastlose Tage und Nächte überlegte sie, was sie ihm schreiben wollte: endlich entwarf sie mit zitternder Hand folgende Zeilen, die sie ihm durch Coletten zuschikte.

»Ich halte es für Pflicht, Bürger, Ihnen die Mühe zu ersparen, meine Antwort auf Ihren Antrag bei mir abzuholen. Ich habe das Innerste meines Herzens geprüft; es ist noch voll des Vergangenen; aber verschlossen für Gegenwart und Zukunft. Seine Leiden haben es für die Liebe getödtet, es kann durch sie nicht mehr glüklich werden, noch glüklich machen. Wären jene heiligen Freistätten, welche die trauernde Unschuld vor der Welt verbargen, noch vorhanden, so würde ich mich in eine derselben verschließen, und in ihrem Schooße den Rest meines 52 Lebens verseufzen. Nun soll die väterliche Hütte meine Klause seyn; sie wekt in mir eben so traurige und eben so heilige Gefühle, als ein Kloster. Lassen Sie mich also, Bürger, meinem neuen Berufe getreu bleiben. Nur noch ein einziges Band heftet mich an das Leben; ein zweites zu knüpfen ist mir unmöglich. Meine Erklärung kann Sie nicht beleidigen, und da sie unwiderruflich ist, so wird es edel von Ihnen und für Ihre und meine Ruhe nöthig seyn, jedem Versuche, mich auf andere Gedanken zu bringen, zu entsagen.«

Henriette Düfort.

Dieser Brief versezte den Priester in eine seltsame Stimmung. Er zürnte mehr auf sich selbst, als auf Henrietten. Da sie aber ohne das Bubenstük, wodurch er ihr Herz für die Liebe verschloß, einem Andern zu Theil geworden wäre, so war er bald wieder mit sich selbst ausgesöhnt. Mit Henrietten wußte er nicht, was er anfangen sollte. Ihre abschlägige Antwort war bestimmt: allein sie war nicht beleidigend. Wenn sie nicht die seinige werden wollte, so wäre es ihm für seine Rache weit lieber gewesen, wenn sie ihn stolz abgewiesen, oder einem glüklichern Liebhaber aufgeopfert hätte.

Einige Tage verstrichen, ehe er einen Entschluß faßte. Endlich machte er Henrietten einen Besuch. Sie empfieng ihn mit ungezwungener Höflichkeit; allein der empfangenen Vorschrift gemäß, folgte 53 Colette ihm auf dem Fuße, und wich nicht aus der Stube. Morant ergrimmte; er mußte alle seine heuchlerische Mönchskunst aufbieten, um seinen Zorn zu verbergen. Nach einem halbstündigen Gespräche, das manche träge Pause unterbrach, entfernte er sich. Zweimal versuchte er es, Henrietten zu schreiben. Sie sandte ihm seine Briefe uneröfnet zurük. Er legte einen in Lyon auf die Post, den Robert ihr überbrachte. Aufschrift und Siegel waren ihr fremd; sie öfnete ihn. Er enthielt die Vorwürfe der verachteten Liebe und die Drohungen des ergrimmten Stolzes. Henriette verbrannte das Blatt, ohne es zu beantworten. Nun schrieb er ihr nicht mehr; er schien sie vergessen zu haben. Auch in ihrem Herzen vernarbten sich allmählich die blutigen Spuren ihrer Leiden, und der himmlische Friede kehrte in ihre einsame Hütte zurük.

An einem Sonntage saß Henriette an ihrem Tische, und las in einem Andachtsbuche. Auf einmal wurde sie durch ein wildes Getöse aufgeschrekt und ans Fenster gelokt; sie sah einen Trupp Soldaten auf das Dorf zukommen, welche das Bild des guten Rousseau vor sich her trugen, und aus ihren dampfenden Branntweinkehlen die patriotischen Modelieder hervorbrüllten. Es war ein Kommando der sogenannten Revolutionsarmee, welche damals in ganz Frankreich ihre philosophische Kirchenverbesserung vornahm. Henriette bebte vor dem Anblicke der 54 zügellosen Rotte zurük, die geradeswegs nach der Kirche zog, wo Morant die Gemeinde versammelt hatte. Der Anführer des Haufens bestieg die Kanzel und hielt gegen den Aberglauben und Pfaffentrug eine jakobinische Kapuzinade, die er mit einem Aufruf an das souveraine Volk beschloß, daß es aus seinem dämischen Schlummer erwachen, die Altäre und Götzen der Dummheit zerstören, und hinfort nur der Vernunft und Freiheit dienen solle. Nun trat Morant auf: er entsagte nicht nur seinem Amte, sondern auch seiner Religion, und bat seine Pfarrkinder um Verzeihung, daß er sie bisher durch Fabeln und Mummereien getäuscht habe. Ein fürchterliches: es lebe die Republik! erschütterte das gothische Gewölbe. Die Soldaten zertrümmerten den Altar, hieben das Crucifix und die Heiligenbilder in Stücken und verbrannten sie mit den gottesdienstlichen Büchern auf dem Kirchhofe. Die Kirche wurde zum Tempel der Vernunft eingeweiht, und die feierliche Ceremonie im Pfarrhause durch so reichliche Trankopfer beschlossen, daß die Apostel der Vernunft alle Mühe hatten, von der Stelle zu kommen, und ihren vandalischen Kreuzzug weiter fortzusetzen.

Mit ernstem Unwillen erzählte Robert die schändliche Scene Henrietten, die sich die ganze Zeit über nicht aus der Stube gewagt hatte. So was, sagte er, habe ich noch nicht erlebt, und wollte, daß ichs nicht erlebt hätte; allein unser Pfarrer mag 55 nun wahr geredet oder gelogen haben, so ist er ein Schurke, dem ich die Zunge aus dem Halse reißen möchte. Nicht doch, guter Robert, sagte Henriette, laßt ihm seine Zunge; er wird sie noch brauchen, um seine Aufführung Gott und der Vernunft abzubitten. Bald hätte ich etwas vergessen, fuhr Robert fort; als der Spuk in der Kirche vorbei war, stellte der Kommissar, der die Soldaten anführte, den Morant als Präsidenten des Wachsamkeitscomite vor, und empfahl ihm die Verdächtigen unsers Dorfes. Sorge nicht, Bruder, antwortete der Elende, du wirst mit mir zufrieden seyn.

Henriette erblaßte; sie erinnerte sich der Drohungen, die Morants lezter Brief enthielt, und eine bange Ahnung durchbebte ihre Glieder. Sie vertraute dem ehrlichen Kriegsmanne die Anwerbung des Pfarrers und ihre Besorgnisse. Sollte ich, sagte sie, ein Opfer seiner Rache werden, so schwöret mir, lieber Freund, daß ihr meine Nina nicht verlassen wollet. Robert reichte ihr seine benarbte Hand: sie soll verdorren, wenn ich mein Gelübde breche. Nun stellte ihm Henriette ein Kästchen zu, welches die hundert Louisdor und den Zettel enthielt, die sie bei dem Kinde gefunden hatte. Diese Summe ist zum Unterhalt meiner Nina bestimmt; verwahret sie wohl, mein Freund, in jedem Fall ist sie bei euch besser, als bei mir aufgehoben. Robert nahm das Kästchen in Empfang; bei mir, 56 sagte er, wird man es nicht suchen, und wenn man es sucht, so soll der Teufel selbst es nicht finden.

Henriettens Ahnung traf nur allzubald ein. Schon am folgenden Tage ward sie vor das Comite gefodert, das izt im Pfarrhofe seine Sitzungen hielt. Mit wankendem Schritte betrat sie die unheilige Stätte. Morant und sechs Bauern, ehemalige Pächter des entflohenen Gutsherrn und nunmehrige Besitzer seiner Güter, waren die Glieder der furchtbaren Feme. Setze dich, Bürgerin, sagte der Renegat. Henriette sezte sich. Hast du nicht, fuhr er fort, vor etwa drei Monaten einen blinden Unbekannten mit seiner Führerin beherbergt?

Henriette. Ja, auf Befehl meines guten Vaters.

Morant. Hatten die Leute einen Paß?

Henriette. Ich habe nicht darnach gefragt.

Morant. Wußtest; du vielleicht wer sie waren?

Henriette. Ich weiß blos, daß es ein Paar Unglükliche waren, die uns um ein Nachtlager in der Scheune oder auf dem Heuboden baten.

Morant. Gleichwohl habt ihr ihnen eines eurer besten Zimmer eingeräumt.

Henriette. Weil mein Vater ein Menschenfreund war.

Morant. Man sagt, sie hätten einen Brief zurükgelassen.

57 Henriette. Ein Billet, darin die Frau für die genossene Wohlthat dankte.

Morant. Diese Wohlthat war ein Verbrechen, oder hast du vielleicht dem Gesetze gemäß ihre Aufnahme der Municipalität angezeigt? Man las ihr das Gesez vor, welches verbot, irgend einem Fremden ein Obdach zu geben, ohne die Municipalität davon zu benachrichtigen.

Henriette. Ich kannte dieses Gesez nicht: zudem war es des Nachts um neun Uhr, als die Fremdlinge unser Mitleid anflehten.

Morant. Du hättest es wenigstens dem Maire anzeigen sollen. Wer Landstreicher insgeheim beherbergt, macht sich verdächtig. Du schiebest die Schuld auf deinen Vater, allein du bist seine Mitschuldige, weil du seine strafbare Willfährigkeit deinen Obern verhehlet hast. Wenn das Vaterland redet, so muß die Natur verstummen.

Henriettens Angesicht flammte: ihr Busen schwoll unter den Schlägen ihres empörten Herzens. Sie warf dem Pfaffen einen verächtlichen Blik zu, und sprach mit bitterm Lächeln: auch dieses neue Gesez kannte ich nicht.

Morant biß sich auf die Lippen, und sagte zu seinem Collegen, es wäre überflüssig Zeugen abzuhören. Die Bauern nikten Beifall, und Morant sagte zu Henrietten: du kannst dich entfernen. Sie verließ das Zimmer; auf dem Hausflur 58 begegnete ihr Liese, die den Richtern eine Schleifkanne mit Wein und einen Schinken zur Herzstärkung zutrug. Die Nichtswürdige grüßte sie mit höhnischer Miene. Henriette wandte ihr Gesicht weg, und eilte nach Hause.

Kaum hatte sie sich von dem ausgestandenen Schrecken ein wenig erholt, und auf jeden Fall alle ihre vorräthige Baarschaft zu sich gestekt, als ein Diener der neuen Inquisition mit zwei Nationalgarden in ihre Stube trat, und ihr Hausarrest ankündigte. Du kannst, sagte er, deine nöthigsten Kleidungsstücken zusammenpacken, denn deine Zimmer werden versiegelt, und du wirst morgen nach Lyon abgeführt werden, hier ist dein Urtheil; er las es ihr vor. Henriette hörte es schweigend an, und blieb wie eine Marmorsäule vor dem Unglüksboten stehen. Auf einmal schauderte sie zusammen: und meine arme Nina, die wird man doch bei ihrer Wärterin lassen? Wenn das Kind dein ist, so kann es bis zu Endigung deines Processes im Hause bleiben, zu dessen Hüter Robert ernannt ist. Sind seine Eltern dir unbekannt, oder du beharrest auf der Verschweigung ihres Namens, so wird es in das Kindelhaus nach Lyon geliefert. O, es ist mein, es ist mein Kind! rief Henriette; ihr Gesicht war mit Thränen überschwemmt, aber diese Thränen und der Strahlenblik ihres Auges gaben ihm einen himmlischen Glanz. Der Kommissär schrieb ihre Erklärung 59 nieder, und Henriette unterschrieb sie mit hastiger Behendigkeit, als ob sie gefürchtet hätte, durch das geringste Zögern ihre Nina zu verlieren. Nun pakte sie einige Kleider und Wäsche zusammen, und übergab sodann ihre Schlüssel dem Kommissär, der überall, außer an dem Wohnzimmer und in den Stuben Roberts und seiner Nichte, die Siegel anlegte. Jezt entfernte er sich, und ließ einen seiner Trabanten als Wache zurük, mit dem ernstlichen Befehl, die Arrestantin nicht aus den Augen zu lassen.

Lange lag Henriette mit gefalteten Händen sprachlos in ihrem Lehnstuhle; die Quellen ihrer Thränen waren versiegt; eine dunkle Wolke schwebte vor ihren Augen. Endlich sprang sie auf, und eilte nach dem Kinderstübchen, wo Colette starr und blaß auf ihrem Bette saß, und die kleine Nina auf dem Schooße hielt. Kaum erblikte das Kind sie, so entwand es sich seiner Wärterin, und strekte ihr die kleinen Hände mit freudigem Lallen entgegen. Von heute an bist du ganz mein, rief Henriette mit dem innigsten Accente der Liebe, indem sie das reizende Geschöpf an ihre Brust drükte. Colette, gute Colette, auch du mußt mir schwören, den Engel nicht zu verlassen. Colette fiel auf ihre Kniee; nur im Tode, schluchzte sie, und hob ihre bebende Hand gen Himmel. Der Wächter, ein junger Bauer von der Nationalgarde des Dorfes, der 60 Henrietten gefolgt war, wischte sich die Augen. Robert war abwesend: er war schon in der Frühe mit seinen Briefschaften nach Montlüel abgegangen, und konnte erst nach Tische zurükkommen.

Es ward Mittag; Colette trug die kleine Mahlzeit auf, und Henriette hieß ihren Wächter mit sich zu Tische sitzen. Sie aß wenig, und war nur immer mit ihrem Gaste beschäftigt; sie legte ihm vor, und da er ihr nicht unbekannt war, so fieng sie ein gleichgültiges Gespräch mit ihm an. Ihres Nöthigens ungeachtet, berührte er die Speisen kaum: sein Auge war stets wehmüthig auf Henrietten geheftet. Als Colette die Stube verlassen hatte, sah er sich schüchtern um, und sagte dann leise: man verfährt grausam mit Ihnen, liebe Mademoiselle, Sie haben ja nichts als ein Werk der Barmherzigkeit verrichtet. Wollen Sie sich mir anvertrauen, so rette ich Sie diese Nacht. Ich habe schon zween Emigranten an die Grenze gebracht; ich kenne die verborgensten Fußsteige, und auf einigen abgelegenen Höfen giebt es noch ehrliche Leute, die uns beherbergen werden. Ich habe wenig zu verlieren, und finde überall Brod. Henriette drükte dem wackern Jüngling die Hand. Ich danke euch, lieber Gontier, für euern guten Willen; kann ich ihn nicht vergelten, so wird Gott es thun. Allein euer Anerbieten kann ich nicht annehmen. Ferne sey es von mir, einen Menschen unglüklich zu machen.

61 Gontier unterbrach sie: unglüklich? ich werde ja Sie hindern, unglüklich zu werden. Ich stehe Ihnen mit meinem Kopfe dafür, daß man uns nicht ertappen soll. Ich habe keine Eltern mehr; niemand wird mir nachweinen. Ich werde Sie gerettet haben, und das wird mir Glük bringen. Kömmt es besser, so können wir ja Beide wieder in unsere Heimath zurükkehren. Er wiederholte seinen Antrag, und gab sich alle Mühe, Henriettens Bedenklichkeiten zu heben. Sie blieb unbeweglich: über dieses, mein Freund, sagte sie, kann und darf ich das Kind nicht verlassen, das meiner Pflege anvertrauet ist, und das ich jezt mehr als jemals, wie das meinige betrachte. Durch meine Flucht würde ich mir wahrscheinlich auf immer die Hoffnung rauben, es wiederzusehen.

Der Jüngling schwieg. Nach einer Weile sagte er: Sie haben kein Geld zu sich gestekt, Mademoiselle, und der Kommissar hat Sie nicht daran erinnert; ich gab genau Achtung darauf; allein ich hatte das Herz nicht, etwas zu sagen. Unter diesen Worten hatte er ein kleines Gebetbuch aus der Tasche gezogen; er nahm zwei Assignaten von fünf Franken heraus, und legte sie auf Henriettens Teller; verschmähen Sie das Wenige nicht, liebe Mademoiselle, es thut mir wehe genug, daß ich nicht mehr habe.

Henrietten brach das Herz: sie hob ihre Hände gen Himmel: Gott! rief sie, wie schön 62 belohnest du mir die Leiden dieses Tages; auch dieser gehört zu den Gerechten, um deren Willen du den Untergang meines Vaterlandes nicht vollenden wirst. Ich würde euer Geschenk annehmen, lieber Freund,. wenn ich dessen bedürfte, sagte sie mit himmlischer Freundlichkeit: allein ihr müßt mir erlauben, euere Assignaten einzuwechseln: ich werde sie als ein Liebesandenken aufbewahren, das meinen Glauben an Tugend befestigen wird. Sie zog ihre Brieftasche heraus, und drükte ihm zwei Assignaten von gleichem Werth in die Hand: die seinigen wickelte sie in ein besonderes Papier, und schob sie heiterlächelnd, als ob sie ein liebes Kleinod verwahrte, in die Brieftasche.

Roberts Zurükkunft unterbrach das rührende Tête à Tête. Der gute Alte knirschte, als er beim Eintritt in das Zimmer die Wache und die versiegelte Schranke erblikte. Henriette gieng ihm mit unbewölkter Stirne entgegen. Es ist ein kleiner vorübergehender Sturm, mein Freund; Gottlob, daß mein Vater ihn nicht erlebt hat. Ich verlasse mein Haus, um so ruhiger, da ihr zum Hüter desselben ernannt seyd. Auch meine Nina ist euerer Aufsicht anvertraut: ich kann sie in keinen bessern Händen zurüklassen. Wenn ihr mich und das Kind liebet, so werdet ihr die größte Behutsamkeit in euern Reden und Handlungen beobachten: wie leicht könnte euch sonst mein Schiksal zu Theil werden! Ich darf euch das alles vor diesem rechtschaffenen jungen Mann 63 sagen; ich betrachte es als eine Wohlthat der Vorsehung, daß die Reihe mich zu bewachen, gerade ihn traf. Wenn es möglich ist, so besuchet mich bisweilen in der Stadt: ich denke nicht, daß man euch den Zutritt in mein Gefängniß versagen werde.

Robert zwang sich seine Thränen zu verbergen. Henriette suchte ihn aufzumuntern, und theilte den Rest des Abends zwischen ihm und ihrer Nina. Es war, als ob das Kind die Trennung von seiner Pflegemutter ahnete; Hundertmal schlang es seine kleinen Arme um ihren Hals, und wenn eine stille Thräne über ihre Wangen rollte, so wischte es weinend sie weg. Henriette trug es zu Bette, als es eingeschlafen war, neigte sie einige Minuten lang ihr Gesicht über das seinige. Der Anblik der ruhig schlafenden Unschuld war ein sympathetischer Balsam für ihr blutendes Herz, es hob sich gestärkt empor, und wälzte den Felsen ab, der es zermalmete. Sie drükte einen leisen Kuß auf die Stirne des kleinen Engels, und eilte davon.

Sanft und heiter entschlief Henriette; sanft und heiter erwachte sie. Es war schon heller Tag. Sie kleidete sich hurtig an, und bereitete das Frühstük. Robert und Gontier waren ihre Gäste; beide sprachen wenig. Henriette allein war munter. Sie hatte im Traum ihren Vater gesehen; mit himmlisch liebreicher Miene hatte er ihr zugenikt, und seine segnende Hand auf ihren Scheitel gelegt. 64 Henriette, die Klosterschülerin, hatte den Glauben an Träume mit nach Hause gebracht, ohne daß die guten Bücher, womit der vorige Pfarrer sie versah, diesen so tief gewurzelten Glauben ganz aus ihrer Seele vertilgen konnten. Das verklärte Antliz ihres Vaters, dessen weiße Locken wie silberne Strahlen um seine Schläfe schimmerten, schwebte ihr noch immer vor den Augen, und ihre entzükte Phantasie verbreitete über ihre eigenen Züge jenen empyreischen Glanz, den Raphaels Genius in das Antliz seiner Madonnen legte, und der, selbst in einer profanen Seele, das Gefühl der Andacht aufwekt.

Robert und Gontier staunten sie noch mit stummer Ehrfurcht an, als ein Cariol vor ihrem Hause stille hielt, und ein schnurrbärtiger Hatschier (Gendarme) sich an ihrem Fenster zeigte. Ich komme, rief Henriette, indem sie von ihrem Stuhl aufstand. Lebt wohl, meine Freunde, sie reichte ihren beiden Gästen die Hand, und verließ an Roberts Arm die Stube, indeß Gontier ihr das Felleisen nachtrug. Auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um, warf dem Bildniß ihres Vaters einen Kuß zu, und gieng dann mit ruhigem Schritt ihrem Führer entgegen.

Henriette war allgemein geliebt. Ihr holdes Wesen, ihre wohlwollende Gefälligkeit hatten ihr alle Herzen gewonnen; selbst die, welche der Geist der Zeit dem Mitleid verschloß, frohlokten 65 nicht über ihr Unglük, und die größere Zahl der Redlichen weihte ihr stille Thränen. Einige Nachbarn zeigten sich an den Fenstern. Henriette erblikte sie beim Einsteigen, und grüßte sie mit ihrer gewohnten Freundlichkeit. Schon schwang der Fuhrmann die Peitsche, als Colette mit fliegenden Haaren und rothgeschwollenen Augen auf sie zustürzte. Sie ergriff ihre Hand und hörte nicht auf sie zu küssen. Der finstere Häscher saß wie ein Gefangener da, und erkühnte sich nicht sie zu stören. Endlich zog Henriette ihre Hand sachte zurük, und neigte ihren Mund auf Colettens Wange herab: nur noch einen Kuß für unsere Nina; ersetze mich, meine Freundin, bis wir uns wiedersehen. Sie nikte noch einmal Roberten und ihrem Wächter ein seelenvolles Lebewohl zu, und warf sich, um ihre hervordringenden Thränen zu verbergen, in das Cariol zurük. Es rollte schnell davon, und Henriette heftete schweigend ihre Augen auf die heimische Flur, deren beschneite Obstbäume ein schwacher Sonnenstrahl röthete.

Nach und nach ließ sie sich mit ihrem Begleiter in ein Gespräch ein. Ihre sanfte Stimme und ihr himmlischer Blik entrunzelte sein ernstes Gesicht. Kaum hatten sie die Hälfte des Weges zurükgelegt, so rief er mit einem derben Schwur: der schurkische Pfaffe hätte wohl einem andern, als mir den Auftrag geben können, euch nach Lyon zu führen. Das 66 sage ich nicht, antwortete Henriette: ein anderer wäre vielleicht nicht so menschlich gewesen. Der Teufel wird ihn schon auch noch holen, fuhr er fort, ob er uns gleich vorgestern sagte, daß es keinen mehr gäbe. Ich vertraue euch das Mädchen, sprach er zu mir, weil ihr ein alter Kriegsmann seyd, denn ich will nicht, daß man sie kränke. Der Heuchler! als ob man nicht wüßte, daß kein anderer, als er euer Angeber war. Freilich hättet ihr keine Landstreicher beherbergen sollen.

Henriette. Ach es waren keine Landstreicher, wenigstens sahen sie ganz anders aus.

Er. Vielleicht gar Emigranten; dieses wäre noch schlimmer; ich will euch nur sagen, daß ich gerade um jene Zeit einen Edelmann, dessen Namen mir entfallen ist, aufheben sollte; allein ich fand das Nest leer. Das war mir nun eben nicht leid. Ich bin ein guter Patriot: aber seit einiger Zeit treibt mans denn doch mit den Aristokraten zu arg, und dieser soll ein kreuzbraver Mann gewesen seyn. Nachher erfuhr ich, daß er sich mit seiner Frau, als ein Bettler verkleidet, glüklich gerettet habe. Ich hütete mich aber wohl, dem Pfaffen etwas davon zu sagen; es wäre Wasser auf seine Mühle gewesen. Kanntet ihr euere Gäste? Nein, das kann ich betheuren, erwiederte die erschrockene Henriette, die sich nun der Muthmaßungen ihres Vaters und des hinterlassenen Briefchens der interessanten Flüchtlinge 67 erinnerte. Desto besser für euch, versezte ihr Begleiter; beharret nur standhaft auf dieser Aussage, so kann noch alles gut gehen.

Henriette sprach nun weniger; die Entdeckung, die sie gemacht hatte, gab ihr Stoff zu einer Menge Betrachtungen, die sie nur von Zeit zu Zeit unterbrach, um ihren Führer bei guter Laune zu erhalten, und keinen Verdacht bei ihm zu erwecken. Nach vier Stunden erreichten sie Lyon. Henriette schauderte, als sie in diese einst so blühende Stadt einfuhr, die noch nicht aufhörte, ein Schauplaz des Grauens und der Verwüstung zu seyn.

Jezt hielt das Cariol vor einem ehemaligen Kloster still, das nun in ein Arresthaus für die Verdächtigen verwandelt war. Ihr Führer übergab sie samt dem Verhafturtheil dem Concierge oder Aufseher des Hauses. Henriette wollte ihm für seine gute Behandlung danken; allein er unterbrach sie beim ersten Worte. Mit finsterer Stirne und in einem barschen Tone sagte er: lebt wohl, Bürgerin, und kehrte ihr den Rücken zu. Sie verstand ihn. In jenen schröklichen Zeiten war es gefährlich, menschlich zu scheinen, und noch gefährlicher, den Dank einer verdächtigen Person zu verdienen.

Kommt, Bürgerin, ich will euch eure Zimmer anweisen, sagte der Aufseher, indem er Henriettens Felleisen unter den Arm nahm, und vor ihr her die Treppe hinaufstieg. Sie folgte ihm mit 68 schwerem Herzen: bekomme ich ein besonderes Zimmer? – Ey warum nicht gar, da müßten wir viel Zimmer haben. – O! lieber Herr, wenn es auch noch so klein wäre . . . . Ich bin kein Herr, grunzte er trotzig. Henriette drükte ihm zween Laubthaler in die Hand, und plözlich milderte sich der Ton seiner Stimme: ich besinne mich . . . . dort hinten ist ein Stübchen, das eine Ernonne bewohnt, deren Gesellschafterin gestern nach Paris abgeführt wurde; das kann ich euch geben. Gut, Bürger, ich werde euch sehr verbunden seyn.

Man kam an die Thür; sie war verschlossen. Vermuthlich stekt sie bei ihrer Canonissin, und betet mit ihr den Rosenkranz, sagte der Mann höhnisch, indem er seinen Dieterich hervorzog und aufschloß. Hier, Bürgerin, ist euer Bett und hier ein Schränkchen für euere Sachen; dafür bezahlt ihr mir monatlich fünfzehn Franken, und das Holz besonders. Er legte einen Bündel Reisig in den glimmenden Kamin, und wünschte ihr einen guten Abend.

Nun war Henriette allein, und nun erst fühlte sie, was es heißt eine Gefangene seyn: ihr Herz war gepreßt; bittere Zähren entrieselten ihren Augen. Sie sezte sich ans Feuer, um ihre halb erstarrten Glieder zu wärmen. Die Bilder ihres Vaters und ihrer Nina schwebten ihr vor; sie versank in tiefe melancholische Gedanken.

Das Rasseln eines Schlüssels erwekte sie: sie 69 wandte sich nach der Thür; ein graugekleidetes Frauenzimmer von etwa zwei und dreißig Jahren trat herein. Sehe ich recht? Gütiger Gott! Schwester Cölestine . . . . . rief Henriette, und flog in die Arme der Nonne, deren Busenschülerin sie im Kloster gewesen war. Henriette, meine theure Henriette, bist du es! müssen wir uns hier begegnen, erwiederte die Nonne mit brechender Stimme, indem sie das wonnezitternde Mädchen an ihre Brust drükte. Ha! nun fühle ich mein Schiksal nicht mehr, da ich es mit meiner mütterlichen Freundin theile. Gott! Du hast mich nicht verlassen. Sie fiel ihr noch einmal um den Hals. Der Freude süßester Wahnsinn hatte ihre Seele ergriffen.

Mäßige dich, liebes Mädchen, sagte die Nonne leise; wir müssen unsere Vertraulichkeit vor unsern Wächtern verbergen, sonst laufen wir Gefahr, getrennt zu werden. Jede genaue Bekanntschaft heißt hier Conspiration; allein tröste dich; wenn unser Argus seine Nachtrunde gemacht, wenn der wohlthätige Schlaf die Augen der Weinenden geschlossen hat, dann, mein Kind, können wir unbesorgt unsere Herzen ergießen. Sie sah sich um; vermuthlich ist jenes dein Felleisen? komm, ich will dir deine kleine Wirthschaft einrichten helfen; ich frage dich jezt nicht, was dich hieher brachte, davon wollen wir hernach sprechen.

Cölestine half ihr auspacken, und ihr Geräthe in Ordnung bringen; allein wenn Henriette ganz 70 bei sich gewesen wäre, so würde sie den Zwang bemerkt haben, den die gute Nonne sich anthat, um ihre Freude nicht zu stören, und die ängstliche Bestürzung zu verbergen, die ihre Erscheinung bei ihr hervorbrachte.

Das Arresthaus enthielt gegen zweihundert Personen beiderlei Geschlechts, die, weil sie vor der Hand blos für verdächtig angesehen wurden, die Freiheit hatten, einander zu besuchen, und sich in einigen großen Sälen zu versammlen; sie genossen jedes Vergnügens, das der Verlust der Freiheit und Furcht vor der Zukunft ihnen übrig lassen konnte. Cölestine fand keinen Geschmak an diesen Vereinigungen, in welcher das Mißtrauen herrschte: sie hatte aber einige Freundinnen, die sie beinahe täglich auf dem Zimmer besuchte, und bei denen sie auch Henrietten einzuführen versprach.

Der Aufseher war nur gegen diejenigen hart, die ihn nicht durch Geschenke zu besänftigen wußten. Allein sein Geiz war unersättlich, und er ließ sich für die Nahrungsmittel, die er den Gefangenen lieferte, das Zwiefache ihres Werthes bezahlen. Gegen Abend kam er auf Henriettens Stübchen, und fragte sie, wie sie es mit ihrem Tische halten wolle? Cölestine antwortete in ihrem Namen: wir werden zusammen speisen. Also wie euere vorige Stubengenossin? sagte der Mann; schon gut. Ihr werdet ihr doch gesagt haben, daß man jede Decade 71 vorausbezahlt? Henriette bezahlte. Der Argus verschwand, und nach einer halben Stunde tischte eine säuertöpfige Magd die kärgliche Mahlzeit auf. Ein Assignat von fünf Franken, das Henriette ihr zum Willkomm in die Hand legte, erheiterte auch ihre Stirne. Sie saßen noch am abgeräumten Tische beisammen, als der Aufseher seine Runde machte, und in wenig Minuten herrschte Grabesstille in dem so geräuschvollen Hause.

Nun haben wir nicht mehr zu befürchten, weder besucht noch behorcht zu werden, sagte Cölestine; dennoch wollen wir unsere Betten zusammenrücken, um einander desto näher zu seyn. Wie lange sind Sie an diesem Orte des Traurens, fragte Henriette, nachdem sie sich niedergelegt hatte? Ungefähr drei Monate, antwortete die Nonne; mein Bruder, ein ausgewanderter Priester, war die unschuldige Ursache meiner Verhaftung. Die meisten von unsern Unglüksgefährten sind Anverwandte von Emigrirten. Auch ich bin um eines Priesters willen hier, der mich aber vorsezlich seiner Rache aufgeopfert hat, versezte Henriette, und nun erzählte sie ihrer Freundin, wie sie mit ihres Vaters Bewilligung ein Paar unglükliche Flüchtlinge, wovon der Mann blind war, beherbergt habe, ohne es, einem ihr unbekannten Gesetze zu Folge, der Municipalität anzuzeigen; daß eine treulose Magd dieses Werk der Barmherzigkeit dem abtrünnigen Pfarrer verrathen, 72 und daß dieser den Umstand benuzt habe, um sich für seine verschmähete Liebe an ihr zu rächen. Für seine verschmähete Liebe? unterbrach sie Cölestine.

Henriette. Der Nichtswürdige hielt um meine Hand an: er, der kurz zuvor den Tod meines Vaters verursacht hatte, meine Weigerung machte ihn zu meinem abgesagten Feinde.

Cölestine. Der Elende, wußte er denn nicht, oder war das Gerücht falsch, daß du mit einem jungen Kaufmanne verlobt seyst, der sich auf Reusen befindet?

Henriette erbebte, sie legte ihr Gesicht auf Cölestinens Busen, den sie mit Thränen überschwemmte. Ach! meine Freundin, meine Mutter, stammelte sie endlich mit erstikter Stimme: ich bin keine Verlobte mehr; ein grausamer Verdacht hat mir meinen Bräutigam entrissen. Er hielt mich für die Mutter eines verlassenen Kindes, das ich aufnahm.

Cölestine verstummte; ihr Herz klopfte fürchterlich; ein kalter Schweiß entquoll ihrem stöhnenden Busen. Henriette erschrak. Wie? Sie könnten . . . . O, ich bin unschuldig, meine Mutter, ich bin unschuldig! Cölestine klammerte mit wilder Gewalt ihre Arme um Henrietten, ihre zitternden Lippen klebten fest auf ihrer Wange. Arme Unglükliche! Henriette zog ihr Gesicht zurük; also glauben Sie . . . . O Gott! für diese Demüthigung hat meine Seele keine Kräfte mehr! Nein, 73 nein! rief Cölestine im Tone der Verzweiflung, du bist unschuldig; du mißdeutest meinen Schmerz. o komm an meinen Busen zurük, edles, bestes Kind, heilige Märtyrin der Tugend! Die Schluchzer erstikten ihre Worte.

Lange lagen sie einander schweigend in den Armen. Endlich fragte Cölestine mir leiser schüchterner Stimme: und wo ist denn nun das Kind, das dich ein so großes Opfer kostete? Ich ließ es, antwortete Henriette, in meinem Hause unter der Pflege einer treuen Wärterin zurük, und hoffe von Zeit zu Zeit Nachricht vom holden Geschöpfe zu erhalten. Genug, mein Kind, sagte Cölestine; zuviel für einmal. Du bedarfst der Ruhe. Es erwarten uns der einsamen Stunden noch mehr; o möchte keine darunter der gegenwärtigen gleichen! Sie küßte Henrietten mit der innigsten Wärme, und wünschte ihr eine gute Nacht.

Henriette entschlief bald; allein ihr Schlaf war unruhig, er wurde durch manche verbindungslose Träume gestört. In dem dunkeln hin und her Wogen ihrer Seele zwischen Bewußtseyn und Schlummer glaubte sie immer ihre Freundin ächzen zu hören. Am folgenden Morgen hatte sich Cölestinens frische Gesichtsfarbe verloren; ihre Augen waren matt und eingefallen; aber in den Blicken, die sie Henrietten zuwarfen, lag ein rührendes Gemische von Wehmuth und Zärtlichkeit. Das arglose 74 liebevolle Mädchen hielt es für eine Wirkung ihrer Erzählung, und hieng sich wegen dieser so warmen Theilnahme nur desto inniger an die Lehrerin ihrer Jugend. Den ganzen Morgen sprach sie kein Wort von der gestrigen Scene; nach Tische sagte sie: nun will ich dich dem kleinen Kreise meiner Freundinnen ankündigen. Sie entfernte sich auf einige Minuten und führte dann Henrietten in ein geraumes Zimmer, das eine ältliche Matrone von etwa fünfzig Jahren mit ihren zwo Töchtern bewohnte, die sie mehr wie eine wiedergefundene Freundin, als wie eine Fremde empfiengen. Es war eine adeliche Familie, die ihres Standes wegen eingesperrt wurde, ungeachtet die Frau von Beaupré, so hieß die Mutter, einen Sohn im Dienste der Republik hatte; ein Fall, der sich in jenen Tagen des Schreckens häufig ereignete. Henriette befand sich wohl unter diesen gefühlvollen Wesen, die ihr nicht einmal Zeit ließen, über ihre liebreiche Begegnungen in Verwirrung zu gerathen. Das ältere Fräulein, Sophie, war Stiftsdame gewesen; das jüngere, Fanny, war ein blühendes Mädchen von siebzehn Jahren, das sich gleich mit holder Traulichkeit an sie anschmiegte. Alle begegneten der Nonne mit vorzüglicher Achtung und Freundschaft, und baten sie, ihnen ihre liebenswürdige Gefährtin recht oft zuzuführen.

Erst zur Stunde der Abendmahlzeit verließen die beiden Freundinnen diese interessante Gesellschaft, 75 welche der einzige Gegenstand ihres Tischgesprächs wurde. Henriette dankte der Nonne für diesen schönen Abend: an der Aufnahme, die mir widerfuhr, erkenne ich Ihre Liebe, sagte sie; ohne Ihre Fürsprache hätte man mich unmöglich mit so vieler Güte empfangen können. Du kennest noch nicht alle Glieder dieser treflichen Familie, erwiederte Cölestine; außer dem einzigen Sohne der Frau von Beaupré, der sich in den Colonien befindet, hat sie noch eine verheirathete Tochter, die wenig Tage nach der Verhaftnehmung ihrer Mutter und Schwestern genöthigt wurde, mit ihrem Gemahl auszuwandern. Sie war, wie du, meine Schülerin, und wäre gewiß deine Freundin geworden, wenn du nicht wenig Wochen vor ihrer Ankunft unser Kloster verlassen hättest. O, mein Kind! ich könnte dir Vieles von meiner Helene erzählen, die mit der sanften Weisheit ihrer ältern Schwester die Reize der jüngern vereinigt. Wir wissen nichts von ihr; doch hoffen wir, sie habe sich mit ihrem würdigen Gatten in die Schweiz gerettet.

Dieses Gespräch wurde durch den gewöhnlichen Nachtbesuch des Argus unterbrochen. Als sie sich zu Bette gelegt hatten, lenkte Cölestine das Gespräch auf Henriettens Vater. Du hast mir nur im Vorbeigehen seines Todes erwähnt; erzähle mir recht viel von ihm. Dein Verfolger, sagtest du, habe sein Ende beschleunigt. Das hat er, antwortete 76 Henriette, und erzählte ihr nun alle Umstände seines Todes. Ich beweine ihn nicht mehr; so schloß sie, das Schiksal seines Kindes würde ihn dennoch getödtet und ihm seine lezten Stunden noch weit bitterer gemacht haben.

Eine lange tiefe Stille folgte auf Henriettens Erzählung. Ihre Freundin hatte ihr Gesicht in ihr Kissen verhüllt; allein es konnte die dumpfen Seufzer nicht ersticken, die aus ihrer beklemmten Brust emporströmten. Henriette faßte ihre Hand und preßte sie an ihre Lippen: verbergen Sie mir Ihre Seufzer nicht, edle Freundin, lassen Sie mich die Lobrede meines Vaters anhören. Der Rechtschaffne! nie werde ich seine lezten Worte, nie den heiligen Ernst vergessen, womit er mir die kleine Nina empfahl. Ich mußte ihm versprechen, sie nie zu verlassen. O, ich werde mein Gelübde halten! Ich habe mir den Besiz des lieben Kindes auf immer versichert. Einen Augenblik lief ich Gefahr, es zu verlieren; allein ich fand ein glükliches Mittel, es zu retten. Und welches? fragte Cölestine hastig. Ich gab es für mein Kind aus, erwiederte Henriette.

Noch wehete die lezte Silbe dieser Antwort auf ihren Lippen, als Cölestine schon in ihren Armen lag. Sie drükte sie mit krampfhaftem Ungestümm an ihre Brust; es war, als wollte sie mit ihren Küssen sie verschlingen. Gott! Gott! Segne sie, o segne 77 sie, du mußt sie segnen, rief sie in einer beinahe wahnsinnigen Begeisterung aus, deren wahrer Name jeder Sprache fehlet. Edle, heldenmüthige Seele, du hast um der Tugend willen deine Tugend verleugnet. Loben Sie mich nicht zu viel, meine Mutter, sagte Henriette, als sie zu Athem kommen konnte; wäre ich noch Braut gewesen, so würde ich wohl schwerlich diesen Muth gehabt haben; allein ich hatte mich selbst nicht mehr zu schonen. Die Nonne verstummte; alle ihre Nerven zukten. Nach einigen Minuten sagte sie leise für sich: Du wirst sie segnen; nein es ist kein Unglük für sie; sein Herz war zu klein für das ihrige; du hast ihr etwas Bessers aufbehalten. Nun erst wandte sie sich, wie aus einer Ohnmacht erwachend, zu Henrietten: vergieb, o vergieb mir, mein Kind! ich habe deine Wunden wieder aufgerissen; es soll nicht mehr geschehen; daß es geschah, bereue ich nicht. Ohne meinen Vorwiz würde ich dich nicht ganz kennen; es ist mir nicht mehr bange für dich; du bist über jedes Schiksal erhaben, das Menschen dir zubereiten können.

Als Henriette am folgenden Morgen erwachte, bestrahlte die Sonne bereits die kahlen Wände ihrer Zelle. Cölestine war abwesend, und kam erst nach einer halben Stunde zurük. Du schliefest so sanft, liebes Kind, sagte sie mit einer heißen Umarmung, daß ich fürchtete, dich durch mein Geräusch zu erwecken. Ich habe mich davon geschlichen, und 78 ein Stündchen bei unsrer gestrigen Gesellschaft zugebracht. Sie lassen dich grüßen, und hoffen dich diesen Abend zu sehen. Allein, versezte Henriette, Sie sagten mir vorgestern, daß alle Schritte der Gefangenen genau beobachtet würden; kann es Ihnen oder dieser würdigen Familie keinen Verdruß zuziehen, wenn ich sie täglich besuche? Nein, antwortete die Nonne, der Aufseher weiß, daß ich schon lange mit der Frau von Beaupré in Verbindung stehe, und ich nahm diesen Morgen Gelegenheit ihn zu fragen, ob ich dich bei meinen Besuchen mitnehmen könne? Warum nicht, sagte er, es scheint mir ein ganz gutes Mädchen zu seyn, das eine bloße Unvorsichtigkeit begangen hat. Ich wunderte mich selbst über diese Antwort, die mir beweist, daß du bei unserm Argus in großen Gnaden stehst. Henriette lächelte und erzählte ihrer Freundin, wie sie sich diese Gnade erwarb. Gut, erwiederte diese, ich sehe du bist meinem Rathe zuvorgekommen; eben wollte ich dir vorschlagen, ihm oder seinem Weibe ein kleines Geschenk zu machen. Diese ist wo möglich noch geldgieriger, als ihr Mann; sie besorgt die Wäsche der Gefangenen, und bei dieser Gelegenheit mußt du einen Vorwand suchen, auch ihre Gunst zu gewinnen.

Der Abend kam. Die innige Zärtlichkeit, womit die Frau von Beaupré und ihre Töchter Henrietten empfiengen, war von einer Achtung 79 begleitet, die sie Tags zuvor nicht bemerkt hatte. Als die Matrone sie umarmte, standen ihr die Thränen in den Augen, und dennoch war ihre Miene so heiter, so liebreich, daß diese Thränen aus keinem gepreßten Herzen fließen konnten. Die beiden Töchter drängten sich an ihren Busen, und die jüngere, die ihre Hand ergriffen hatte, würde sie geküßt haben, wenn Henriette sie nicht erschrocken zurükgezogen hätte. Man sezte sich. Die Damen nahmen ihre Arbeit wieder zur Hand; auch Henriette langte ihr Strikzeug hervor, und nahm Theil an der Unterredung. Man kam auf das Kloster zu sprechen. Schade, sagte Fanny zu Henrietten, daß Sie meine Schwester Helene nicht gekannt haben; sie wären gewiß Freundinnen geworden. Die Mutter seufzte. Sie könnens ja noch werden, sprach Cölestine, wenn sie es nicht schon sind. Ach! Gott weiß, wo sie umherirrt, sagte die Mutter. Ey, in seinem Gebiete, versezte Cölestine; lassen Sie mir meinen Glauben, daß wir nicht auf lange getrennt seyn werden.

So verstrich dieser Abend Henrietten, wie eine flüchtige Stunde und noch mancher Abend verstrich ihr so. Mit der Einsamkeit verglichen, darin sie, zumal seit dem Tode ihres Vaters, lebte, war ihre Gefangenschaft für sie kein Stand der Berauhung. Sie gab ihr eine alte Freundin wieder, von der sie schon über fünf Jahre getrennt war, und 80 drei neue Freundinnen, deren Liebe mit jedem Tage zunahm, und ihrem Herzen mit jedem Tage einen reichhaltigern Genuß gewährte. Die ehrwürdige Wittwe behandelte sie als eine dritte Tochter; die Stiftsdame, ein eben so gebildetes, als edles Frauenzimmer, theilte ihr, ohne es zu wissen, einen Schaz von Kenntnissen und Lebensweisheit mit; und ihre jüngere Schwester hieng mit so ganzer Seele an ihr, daß es ihr nicht genügte, sie des Tages einmal bei ihrer Mutter zu sehen; sie ersann bald diesen bald jenen Vorwand, um auch des Morgens ein Stündchen in der Gesellschaft ihres Lieblings zuzubringen. Kurz Henriettens Zustand wäre nicht nur erträglich, er wäre glüklich gewesen, wenn nicht das Andenken ihrer Nina sie überall begleitet, und oft ihre heitersten Augenblicke getrübt hätte.

Ein Monat war verflossen, und Henriette erhielt noch immer keine Nachrichten von Hause; bange Schwermuth umwölkte ihre Stirne, und unter die stillen Seufzer, die ihrem Munde entschwebten, mischte sich oft der Name Nina. Sie verbarg Cölestinen ihren Kummer nicht, und Cölestine theilte ihn, ohne sie zu trösten. Selbst ihre neuen Freundinnen, anstatt sie aufzumuntern, schienen von ihrer Unruhe angestekt, und trauerten mit ihr, ohne nach der Ursache ihrer Trauer zu fragen.

Einst wurde sie in die Stube des Aufsehers hinuntergerufen; es wolle, hieß es, jemand sie 81 sprechen. Es war Robert, der ihr mit freudiger Miene die Hand reichte. Ach Robert, lieber Robert, wo bleibt ihr so lange? was macht Nina? Nun ist sie wieder gesund, antwortete er; allein sie hat uns sehr bange gemacht. Das gute Kind hatte die Blattern; es ist aber ganz glüklich und ungezeichnet davon gekommen. Ach Gott! rief Henriette, und ich konnte seine Wärterin nicht seyn! Ist es gewiß wahr, daß es diese schrökliche Krankheit glüklich überstanden hat? Sie werden doch ihren alten Robert für keinen Lügner halten, antwortete er etwas empfindlich: das Kind ist wieder gesund und gedeihet wie der volle Mond. In den ersten Tagen nach Ihrer Abreise that es nichts als weinen; wenn Colette es in das Wohnzimmer trug, suchten seine Augen Sie in allen Ecken; da befahl ich Coletten auf ihrem Stübchen zu bleiben; auch da weinte es noch einige Tage, dann brachen die Blattern aus. Ich holte den Arzt von Montlüel, der es glüklich rettete; ich wollte nicht eher in die Stadt kommen, als bis ich Ihnen diese gute Botschaft würde mitbringen können.

Dank, lieber guter Robert, ihr habt mir eine größere Unruhe erspart, als diejenige war, in die euer Stillschweigen mich sezte. Der kleine Engel! wann werde ich ihn wiedersehen? Sie weinte: auch Robert wischte sich die Augen. Ey was! es geht euch ja nicht so übel, sagte der Aufseher, ohne dessen 82 Beiseyn kein Gefangener einen auswärtigen Besuch annehmen durfte; was habt ihr zu klagen? Nichts, gar nichts, erwiederte die erschrockene Henriette, ich werde mit aller Menschlichkeit behandelt. Dann wandte sie sich wieder zu ihrem alten Freunde, und that noch eine Menge Fragen an ihn, welche alle Nina betrafen.

Genug für einmal, sagte endlich der Argus, ich kann nicht länger hier warten. Robert wandte sein Gesicht weg, um seinen Zorn zu verbergen . . . gut, ich gehe; aber noch eins, Bürgerin, hier haben Sie die Hälfte der Summe, die Ihr seliger Vater mir voriges Jahr borgte, den Rest hoffe ich in einigen Monaten abzutragen. Henriette sah den ehrlichen Alten an, und verstand ihn. Sie drükte ihm die Hand, indem er ihr das Päkchen Assignate hinreichte: schon gut, mein Freund, ich danke; lebt wohl und besuchet mich bald wieder; tausend Grüße an euere Schwester und Nichte; ich hoffe einst ihre Treue belohnen zu können. Küsset mir unsere Nina, und fahret fort, ihr Vater zu seyn.

Henriette eilte hinauf, um ihre Freude Cölestinen anzukündigen. Die gute Nonne fiel ihr um den Hals; sie redete nicht; allein die innigste Theilnahme sprach aus ihren Augen. Nun erzählte ihr Henriette die fromme List, welche Robert gebrauchte, um sie mit Gelde zu versehen. Das Päkchen Assignate enthielt dreihundert Franken; sie 83 bot es ihrer Freundin dar: nehmen Sie, was Sie brauchen. Ich brauche nichts, mein Kind; allein, wenn ich in den Fall kommen sollte, so will ich mit Vergnügen deine Schuldnerin werden. Bald hernach entfernte sie sich, kam aber gleich, und wo möglich noch heiterer zurük. Der ganze Tag war ein Fest für Henrietten, und Cölestine half es ihr feiern.

Des Abends besuchten sie die Familie Beaupré und es schien, als wären ihre Empfindungen in jedes dieser edlen Herzen ihnen vorangegangen. Der traurige Ernst, der seit einiger Zeit im kleinen Zirkel geherrscht hatte, machte einer reizenden Munterkeit Plaz, und Henriette ward insonderheit mit den zärtlichsten Liebkosungen empfangen. Sie bezauberte alle durch ihre ungewöhnlich heitere Laune; aber niemand fragte nach der Ursache derselben. Beim Abschiede küßte die Baronin sie auf die Stirne, und sagte: Gott segne Sie, liebe Tochter, ich werde Ihnen eine sehr ruhige Nacht verdanken.

Noch drei Besuche erhielt Henriette vom ehrlichen Robert, und immer brachte er ihr erfreuliche Nachrichten. Ihre Gefangenschaft hatte schon über drei Monate gedauert, ohne daß die immer wachsenden Greuel der Schreckensregierung ihren Schlachtopfern auch nur den schwächsten Schimmer einer bessern Aussicht übrig ließen. Henriette verkannte das Glück nicht, das sie vor vielen andern genoß, deren Kerker durch den Mangel an 84 gesunder Nahrung und durch den noch drückendern Mangel an Herzstärkungen der Freundschaft zu unaufhörlichen Folterbänken wurden. Allein das unbefangene Landmädchen, das an das Schauspiel der Natur und Gottes freie Luft gewöhnt war, fühlte nun bei der Rükkehr des Frühlings die Last seiner Bande weit mehr als zuvor, und suchte umsonst vor Cölestinen die tiefe Schwermuth zu verbergen, die sich seiner Seele bemächtigte. Cölestine bemerkte diesen Zwang; sie fragte sie, was ihr fehle? Meine Nina und mein Gärtchen, antwortete sie, und eine Thräne zitterte in ihrem Auge. Die Nonne wollte ihr Muth einsprechen; und doch war ihr eigenes Herz so beklommen, daß sie keine Worte des Trostes finden konnte. Henriette that sich nun noch mehr Gewalt an, um ihrer Freundin zu schonen. So oft sie konnte, wich sie ihr aus, indem sie ohne ihre Begleitung, entweder die Familie Beaupré, oder mit der Stiftsdame den ehemaligen Klostergarten besuchte, der zu gewissen Stunden den Gefangenen offen stund. Cölestine errieth ihre Absicht und schwieg. Das edle Mädchen ward ihrem Herzen noch theurer, aber der Kummer verzehrte es, und nun wetteiferte sie mit ihr in dem peinlichen Bestreben sich zu verstellen.

Unvermuthet ward einst Henriette vom Aufseher selbst aus ihrem Zimmer abgeholt. Ist Robert unten? fragte sie ungeduldig. Nein, es ist 85 jemand anders, der euch sprechen will. Der Argus führte sie in ein besonders Stübchen. Er öfnete die Thür, und Morant trat ihr entgegen. Sie erbebte und wollte fliehen. Bleibt, bleibt, sagte der Aufseher; dieser Bürger ist ein Freund der Repräsentanten; er will und darf euch ohne Zeugen sprechen. Er entfernte sich. Henriette stand wie eine Marmorsäule vor ihm, und heftete ihren Blik auf die Erde. Morant nahm sie bei der Hand: kommen Sie, Bürgerin, setzen Sie sich; hier darf ich in einem andern Tone mit Ihnen reden, als ehedem vor meinen Collegen. Sie ließ sich halb bewußtlos an einen Stuhl führen. Morant sah sie einige Momente an, ihr schönes blaßrothes Gesicht hatte durch die melankolische Wolke, die es beschattete, einen rührenden ehrfurchtgebietenden Ausdruk empfangen, der den Pfaffen in Verwirrung sezte. Sie sind doch gesund, Bürgerin? fragte er endlich. Henriette seufzte, ohne die Augen aufzuschlagen.

Er. Haben Sie sich über jemanden zu beschweren?

Sie. Ueber niemanden, als über den Urheber meines Unglüks.

Er. (mit zunehmender Verwirrung.) Meynen Sie etwa mich? . . . . Ich mußte thun, was das Gesez mir befahl. Man hatte Sie beim Comite angegeben. Henriette warf ihm einen ernsthaften Blik zu. Doch, fuhr er fort, es ist nicht das erstemal, daß Sie ungerecht gegen mich sind; allein, 86 anstatt Sie an Ihre Grausamkeit zu erinnern, bin ich gekommen, Ihre Gefangenschaft zu endigen.

Henriettens Stirne erheiterte sich: sie hielt den Elenden der Reue fähig; ihr mattes Auge schien ihn zu fragen, ob sie sich nicht betrüge? Morant bekam nun seine ganze Unverschämtheit wieder: ich besitze das volle Vertrauen des Repräsentanten, dem die Untersuchung der Verhaftsprotokolle aufgetragen ist. Ich darf ihm nur sagen, daß Sie unschuldig sind, daß ihr verstorbener Vater den verdächtigen Leuten eine Herberge bewilligt hat, und Sie werden in Freiheit gesezt. In diesem Momente sah Henriette sich unter das väterliche Dach verpflanzt; sie sah die lächelnde Nina die kleinen Arme nach ihr ausstrecken. Ein süßer Taumel ergriff ihre Seele; wollen Sie das? sagte sie, und ein himmlischer Strahl verklärte ihr Antliz. Ich will es: antwortete er; wenn Sie das Vergangene vergessen und . . . .

Henriette. (lebhaft) Es ist vergessen, auf ewig vergessen.

Morant ergriff ihre Hand, die sie ihm reichte. Und zum Pfande dieser Vergessenheit, fuhr er fort, geben Sie mir Ihre Hand. Er warf sich ihr zu Füßen. Henriette sprang erschrocken von ihrem Stuhl auf: Sie haben mich mißverstanden, mein Herr. Vergebens bemühte sie sich, ihre Hand zurükzuziehen, die er noch immer festhielt, und an seinen Mund drükte. Verschmähen Sie meine Liebe nicht 87 länger, reizende Henriette; gönnen Sie mir das Vergnügen, Ihre Bande zu lösen.

Henriette hatte sich endlich losgewunden: lassen Sie mich, Sie wollen mir meine Freiheit zu theuer verkaufen; ich kehre in meine Gefangenschaft zurük. Mit dem Stolze der beleidigten Tugend nahte sie sich der Thür. Morant trat ihr in den Weg. Wuth kochte in seinem Herzen: sein Gesicht brannte vor Zorn. Wie kömmt es, sagte er mit bitterm Hohnlächeln, daß Sie nur gegen mich grausam sind? Henriettens Busen wallte convulsivisch empor; ihre Beine wankten; sie sank auf einen neben der Thür stehenden Stuhl. Ein Thränenstrom rettete sie vor einer Ohnmacht. Morant ward erweicht: ich wiederhole Ihnen mein Anerbieten, sagte er in einem sanftern Tone; ich übersehe Ihre Schwachheit, und adoptire ihr Kind.

Entsetzen und Abscheu mahlten sich auf Henriettens Gesicht, das sie in ihr Tuch verbarg. Elender Verleumder! schluchzte sie mit dumpfer Stimme. Verleumder? erwiederte Morant. Ich berufe mich auf Ihre eigene Aussage, der ich doch wohl glauben muß. Um dieses Glaubens willen würde ich Sie noch mehr verachten, wenn meine Verachtung eines Zuwachses fähig wäre. Sie stand wieder auf und wollte sich entfernen. Die Majestät der Unschuld, die aus ihren Zügen hervorleuchtete; die Thränen, die wie Perlen an ihren Wangen klebten, bezähmten 88 den Tiger zum zweitenmal. Hören Sie mich an, Undankbare, sagte er in mildem liebreichem Tone eines warnenden Freundes; ihre Thränen haben meinen gerechten Zorn entwaffnet; bedenken Sie Ihr Wohl; Ihr Leben steht in meiner Hand. Sie haben ein Paar Emigranten beherbergt. Der angebliche Blinde war der ehmalige Marquis Montlac, der, von seinem Weibe geführt, unter dieser Verkappung der Guillotine entgangen ist. Sie kennen die unerbittliche Strenge des Gesetzes. Wenn ich dem Repräsentanten meine Entdeckung mittheile, so sind Sie verlohren. Mit der Unwissenheit können Sie sich nicht entschuldigen, denn man weiß ja, mit welcher Auszeichnung Sie die Flüchtlinge empfangen haben.

Henriette hatte ihn mit starrer Bestürzung angehört. Er erwartete ihre Antwort. Nach einem langen Stillschweigen sagte sie ganz gelassen: ich bin unschuldig; wenn Sie mich aber morden wollen, so kann ich es nicht hindern. Morant zwang sich: diese Antwort dürfte Sie gereuen. Ich soll den Repräsentanten auf einer kleinen Reise durch das Departement begleiten. Ich lasse Ihnen diese Frist um sich zu bedenken. In acht bis zehn Tagen komme ich zurük, alsdann wird Ihr Zorn sich hoffentlich abgekühlt und der Ueberlegung Raum gegeben haben. Leben Sie wohl, unwiderstehliche Zauberin, und vergessen Sie nicht, daß Sie meine Feindin nicht seyn können, ohne Ihre eigene Feindin zu seyn. Ein 89 wollustsprühender Blik begleitete seinen Abschiedsgruß, und er gieng davon, ohne Henriettens Antwort zu erwarten.

Gütiger Gott! wie du aussiehst! was ist dir begegnet? rief Cölestine, als Henriette blaß und verstört in ihre Zelle trat. Sie antwortete nicht, sie schien weder zu sehen noch zu hören. Kind, liebes Kind, was fehlt dir? wiederholte Cölestine. Henriette ergriff ihren Arm und warf sich neben ihr auf einen Stuhl. Cölestine küßte sie; ihre Wangen waren kalt wie Marmor; sie legte ihr Gesicht auf den Busen der Nonne. O rede, rede, rief Cölestine; wie? selbst auf dem Herzen deiner Freundin verstummest du? wer war es, der dich rufen ließ? Ach! Morant . . . . lallte sie endlich mit einem Seufzer, der ihr letzter Odem zu seyn schien.

Cölestine. Morant? Gott! was will der Nichtswürdige.

Henriette. (bebend) Meine Hand, oder . . . . mein Blut.

Cölestine sah ihr sprachlos ins starre Auge.

Henriette. (nach einer Pause sanft und entschlossen.) Er soll es haben.

Cölestine. Um Gottes willen fasse dich, mein Kind, der Bösewicht darf weder über deine Hand, noch über dein Leben gebieten; er wollte dich blos schrecken. Cölestine war bei weitem nicht so 90 ruhig, als sie es scheinen wollte. Henriette merkte nicht auf ihre Rede, in tiefes Nachdenken versunken, saß sie neben der Freundin und preßte ihre Hand an ihr Herz. Auf einmal ermannte sie sich, und, als ob sie von einem andern Gegenstande sprechen wollte, fragte sie Cölestinen in einem gleichgültigen Tone: kennen Sie den Marquis von Montlac?

Cölestine. (aufschauend) Allmächtiger Gott! Wo ist er? ist er in ihre Hände gefallen?

Henriette. (betroffen) Sie kennen ihn?

Cölestine. (zitternd) Ob ich ihn kenne? (Hände ringend) Ach! wir glaubten sie gerettet.

Henriette. (sie umarmend) Sie sind es, liebe Freundin, freuen Sie sich. (Lächelnd) Er war der Blinde, den ich mit seiner Führerin beherbergte, und wegen dieser That will Morant . . . . Cölestine sank ohnmächtig zurük. Henriette lehnte sich über sie hin; sie rüttelte sie; sie schrie ihr in die Ohren, sie spritzte ihr Wasser ins Gesicht. Jetzt öfnete sie ihr brechendes Auge. Ach, meine Freundin, meine Mutter! rief Henriette, und suchte sie aufzurichten; kommen Sie auf ihr Bett; ich will die Frau von Beaupré rufen. Dieses Wort löste das Band ihrer Zunge. Nein, nein, schrie sie, indem sie Henrietten mit phrenietischer Kraft beim Kleide hielt. Nein, nein, sie ist ihre Mutter. Ihre Mutter? wiederholte die 91 tiefstaunende Henriette leise: also habe ich die Tochter dieser verehrungswürdigen Matrone beherbergt? Plözlich stürzte Cölestine vor ihr auf die Kniee, und sagte mit herzdurchbohrender Stimme: ach vergieb mir; an deinem ganzen Unglük bin ich allein Schuld. Verzweiflung zukte in jeder Muskel ihres Gesichts. Henriette glaubte sie rede irre; mit bebenden Händen suchte sie sich von ihr loszumachen. Lassen Sie mich Hülfe herbeirufen; Sie sind krank. Krank, ja wohl krank; ein feuriges Schwerdt stekt in meinem Herzen; aber Menschenhände können es nicht herausziehen. Das unglükliche Paar, was hat es gedacht? Ach, vermuthlich wollten sie den Schuzengel ihres Kindes in der Nähe segnen. Ihres Kindes? lallte Henriette. Ja, ihres Kindes, erwiederte die Nonne; deine Nina ist ihr Kind, und ich, ich war die vermummte Person, die es zu deinen Füßen niederlegte, o vergieb, vergieb mir. Sie lag noch immer auf den Knieen. Henriette warf sich neben ihr nieder. Sie nahm sie in ihre zitternden Arme und schloß ihr den Mund mit ihren Küssen. Es erfolgte eine heilige Stille. Thränen mengten sich mit Thränen; Gefühle mit Gefühlen; aber, diese Gefühle waren zu mannigfach, zu gewaltig, um in Worte überzugehen. Henriette ermannte sich zuerst. Ihres Verfolgers und seiner Drohungen vergessend, erinnerte sie sich nur ihrer Freundin, und ihrer Nina. Sie raffte sich auf, und mit der 92 Heldenkraft der entschlossenen Tugend, hob sie Cölestinen empor. Dank sey Ihnen, meine Mutter, sagte sie mit der Stimme eines Engels; Dank sey Ihnen, daß Sie mich würdig fanden, eine schöne That mit Ihnen zu theilen. Meine Furcht ist verschwunden; mein Herz ist so leicht, so gefaßt, als hätte der Odem des Allmächtigen es angehaucht. Wäre Morant nun hier, ich würde seiner Wuth trotzen und seiner Drohungen lachen. Cölestine sah sie an. Ein himmlisches Feuer glänzte in den Augen des Mädchens. Seine Strahlen zerstreueten den Sturm, der in ihrem Busen tobte. Sie versuchte es zu lächeln, und drükte sie an ihr ruhiger klopfendes Herz; bisher meine Tochter, nun meine Heldin.

Henriette. Heldin? Wenn ich das wäre, so würde ich Ihnen meinen Schrecken verhehlt haben: vielleicht hätte ich es gekonnt, wenn ich gewußt hätte . . . . O, erzählen Sie mir, wie meine Nina in ihre Hände kam.

Cölestine. Ich lebte schon seit der Aufhebung unsers Klosters bei ihren Eltern in der Freistätte der Freundschaft. Eine falsche Anklage nöthigte den Marquis sich bei einem seiner Pächter zu verbergen; seine Gemahlin wollte ihn nicht verlassen. Sie vertraute ihr einziges Kind meiner Pflege. Bald hernach wurde der Befehl, alle Verwandten der Ausgewanderten einzukerkern, mit größter Strenge vollzogen. 93 Ich sah mein Schiksal vor. Das Gut, aus dem ich zurükgeblieben war, liegt nur vier Meilen von deinem Dorfe; ich beschloß dir mein theures Unterpfand zu übergeben; weil ich aber von deines Vaters Seite Schwierigkeiten befürchtete, hielt ich eine geheime Ueberraschung für nothwendig. Mein Anschlag gelang, und ich fand Mittel, die Marquisin davon zu benachrichtigen. Wenig Tage darauf faßte ihr Gemahl den Entschluß, auszuwandern, wie er ihn ausführte, habe ich von dir erfahren; aber nie würde ich auf den Gedanken gerathen seyn, daß er der blinde Flüchtling war, der mit seiner Führerin bei dir einkehrte. Seine Augen sind so gesund als die deinigen, unstreitig muß diese Verstellung seine Flucht begünstigt haben. Um gleiche Zeit ward ich in dieses Gefängniß gebracht, wo ich die Frau von Beaupré antraf, die das Gut ihres Sohns bewohnte, und mit ihren Töchtern schon vor der Flucht des Marquis eingekerkert wurde. Auch dich betraf unser Schiksal. Ich sagte Ihnen, wer du seyest; ich entdekte ihnen unter dem Siegel des Geheimnisses, durch was für ein heldenmüthiges Opfer du dir den Besiz des dir anvertrauten Pfandes versichert hast. Daß sie den Werth deiner Wohlthat empfanden, brauche ich dir nicht zu sagen.

Henriette. Ihre grenzenlose Liebe war mir oft ein Räthsel.

Cölestine. Ach, sie würden vor Kummer 94 vergehen, wenn sie wüßten, wie theuer dich ihre Bekanntschaft zu stehen kömmt. Ich bekenne dir, mein Kind, daß ich den Muth noch nicht hatte, ihnen zu sagen, daß sie dich um eine vortheilhafte Heirath brachte.

Henriette. O, liebe Freundin! Sie haben ihnen schon zuviel gesagt. Verschweigen Sie ihnen alles Uebrige und besonders den heutigen Vorfall; ich beschwöre Sie darum.

Cölestine gewährte ihr willig ihre Bitte; sie wußte zu wohl, was für eine tödtliche Marter diese Entdeckung der Baronin und ihren Töchtern verursachen würde.

Auch in den folgenden Tagen verließ Henrietten ihre Standhaftigkeit nicht, und Cölestinen gelang es, ihren eigenen Kummer in ihr Herz zu verschließen. Oft betrachtete sie ihre junge Freundin mit stiller Verehrung und in den Stunden der Mitternacht, wenn die schlafende Unschuld ruhig an ihrer Seite lag, flehete sie den Himmel um Schuz für sie an. Henriette schmiegte sich nun noch näher an die Familie Beaupré. Das heilige Band, das sie an ihr Schiksal knüpfte, gab ihr in ihren eigenen Augen ein Recht zu ihrer Liebe. Allein die Hingebung des edeln Mädchens war immer von der zartesten Bescheidenheit begleitet. Gerne hätte die Baronin sich ihr als Ninas Großmutter zu erkennen gegeben; allein Cölestine sezte sich immer dagegen, 95 nicht nur um Henrietten jede Erinnerung an den treulosen Menard zu ersparen, sondern vornehmlich, weil diese durchaus den Schein nicht haben wollte, zu wissen, daß ein Theil ihrer Geschichte der Familie Beaupré bekannt sey.

Ein Tag verfloß nach dem andern. Henriette sah der entscheidenden Stunde mit jener Gelassenheit entgegen, die so vielen Märtyrinnen der Revolution selbst die Bewunderung ihrer Henker abzwang. Ueber dieses blieb ihr noch ein Schimmer von Hoffnung übrig, daß sie durch die Enthüllung der wahren Beweggründe ihres Anklägers vielleicht das Herz der Richter zu ihrem Vortheil würde einnehmen können.

Der achte und der zehnte Tag verstrich, und Morant erschien nicht. Noch zehn Tage vergiengen, und er ließ nichts von sich hören. Henriette fieng an, zu glauben, daß ihre lezte Unterredung mit ihm sein Gewissen erschüttert, oder wenigstens seine Liebe ausgelöscht habe; und Cölestine, welche dem gefürchteten Tage mit der Angst des Todes entgegen gesehen hatte, legte sich jeden Abend mit einem leichtern Herzen zu Bette, und theilte die Hoffnungen ihrer jungen Freundin mit dankbarem Vertrauen auf die Hülfe des Himmels.

Ein abermaliger Besuch von Robert goß neuen Balsam in Henriettens Seele. Er brachte ihr die erfreulichsten Nachrichten von der kleinen Nina: 96 sie blühet, sagte er, wie eine Rose, und fängt an, einige Worte zu stammeln. Colette hat sie den Namen Mamma aussprechen gelehrt. Täglich tritt sie mit dem Kinde vor Ihr Bildniß, das in der Stube hängt, und sagt zu ihm: sieh, dieses ist deine Mamma. Dann jauchzt der kleine Engel, und küsset das Bild, als ob er sich Ihrer noch erinnerte. Robert sprach von dem Miniaturgemälde, das Menard Henrietten zurükgeschikt, und welches diese unter das Bildniß ihres Vaters aufgehenkt hatte.

Nach vielen Monden weinte Henriette nun die ersten Freudenthränen. Der Argus, dessen Gnade sie kurz zuvor frisch gepachtet hatte, ließ sie länger, als sonst mit Roberten sprechen. Sie erkundigte sich nach ihren Nachbarn, und endlich auch nach dem ehrlichen Gontier. Es ist ein braver Bursche, antwortete dieser, der seit einiger Zeit oft in unser Haus kömmt. Er hat ein Auge auf Coletten, die ihn ganz wohl leiden mag. Allein sie hat ihm rund heraus gesagt, daß sie vor Ihrer Rükkunft und ohne Ihre Einwilligung nichts beschließen wolle. Euere Sache muß nun bald ausgehen, sagte der Aufseher; seitdem der Repräsentant wieder hier ist, wird stärker, als nie gearbeitet. Ist er zurük? unterbrach ihn Henriette und fuhr zusammen. Ey, freilich, seit acht Tagen, und wie ich höre, so wird er nächstens dieses Arresthaus besuchen. Dann könnet ihr ihm eine kleine Petition übergeben, die ihn 97 vielleicht bewegen wird, euch in Freiheit zu setzen. Das gebe der Himmel, sagte Robert, und nahm seinen Abschied.

Henriette glaubte nunmehr, als jemals an Morants Belehrung; wie hätte er sonst acht Tage vergehen lassen, ohne sich zu zeigen? Cölestine bestätigte ihre Vermuthung mit der lebhaftesten Freude. Allein die Wahrheit war, daß der Pfaffe vom Repräsentanten mit einer geheimen Botschaft an den Heilsausschuß abgeschikt wurde, und diese schmeichelhafte Sendung um so weniger ablehnte, da er sich große Vortheile davon versprach, und gewiß war, daß ihm seine Beute nicht entgehen konnte.

An einem kühlen festlichen Morgen erwachte Henriette unter dem Rundgesange der Vögel, die auf den Bäumen des Klostergartens die wiederkehrende Sonne begrüßten. Sie stand auf und legte sich ans Fenster, um den Ambraduft einer Akacie zu athmen, auf welcher die fröhlichen Sänger sich versammelt hatten. Ihre Seele erquikte sich am Concerte der einzigen freien Geschöpfe, welche diesen Aufenthalt des Trauerns bewohnten, und sie mischte ihr leises Morgenlied in ihren Jubel. Ihr Herz erweiterte sich allmählich; die heiligen Ahnungen der Tugend begeisterten ihre Seele. Ohne daß sie es gewahr wurde, erklangen ihre süßen Accente immer lauter und lauter, bis sie endlich Cölestinen aus ihrem Morgenschlummer wekten. Guten Tag, liebe 98 Tochter, sagte die Nonne, indem sie ihre Arme nach ihr ausstrekte; so schön bin ich in diesem Hause noch nie erwacht. Auch ich, erwiederte Henriette, habe hier noch keinen so freundlichen Morgen gesehen. Kommen Sie, lassen Sie uns hinunter in den Garten gehen, um diese Stunde besucht ihn niemand. Wir wollen uns in die Laube setzen; ich habe Ihnen etwas zu erzählen.

Cölestine kleidete sich an, und die beiden Freundinnen giengen Arm in Arm in den Garten. Nun, was hast du mir denn zu erzählen? sagte Cölestine, indem sie Henrietten zu sich auf eine Rasenbank zog, die das smaragdene Gewölbe der Laube vor den Sonnenstrahlen schüzte. O, denken Sie nur, versezte Henriette mit wonneblitzenden Augen, ich habe im Traume meine Nina gesehen, so hold, so blühend, wie Robert sie mir neulich beschrieb; sie hielt in ihrem Händchen eine junge Rose, die sie mir darreichte. Die Rose ist das Sinnbild der Freude; o möchte das entzückende Gesicht in Erfüllung gehen! Das gebe der Himmel, sagte Cölestine; auch ich hatte einen Traum, dessen deutungsvolle Bilder mir noch immer vor Augen schweben. Ich stand auf einem weiten Grabgefilde, über welches der Frühling einen Violenteppich ausgebreitet hatte. Der ganze Horizont war hell, wie an einem Feste der Natur. Und ich hörte eine Stimme, welche sprach: stehet auf, ihr unschuldig Erwürgten, 99 und feiert diesen Tag! Und es donnerte im Himmel und die Erde erbebte unter mir, und die Gräber thaten sich auf, und eine zahllose Schaar glänzender Schatten von jedem Geschlecht und von jedem Alter entstieg ihrem Schooße. Alle trugen Palmenkränze auf ihren Häuptern; ihr Gewand war weiß wie Schnee, den die Strahlen des Mondes versilbern, und mit Rubinen wie mit Blutstropfen gestilt. Ein heiliger Schauer ergriff mich; aber ich fürchtete mich nicht. Und eine königliche Jungfrau, höher und schöner, als die übrigen alle, trat aus dem Kreise hervor und sprach zu mir: bereite dich, Schwester, bald wirst auch du diesen Tag feiern und noch viele mit dir. Ich sank auf mein Angesicht. Nun ertönte eine leise Psalmodie, wie noch kein sterbliches Ohr sie hörte; aber ich konnte der Worte keines verstehen. Jezt glaubte ich unter den Stimmen die deinige zu erkennen und erwachte.

Henriette sank an den Busen ihrer Freundin: beide hielten sich fest umschlungen. Es ist mir unaussprechlich wohl an deinem Herzen, liebes Kind, sagte Cölestine nach einem feierlichen Stillschweigen, und dennoch sehne ich mich an den Ort, den meine Seele besucht hat. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß etwas Großes mir bevorsteht. Versprich mir, meine Tochter, gelobe mir bei deinem Glauben an Unsterblichkeit, daß, wenn das glorreiche Schiksal jener Vollendeten mir zu 100 Theil werden sollte, du meine Asche durch keine Thränen, durch keine Klagen stören willst. Das gelobe ich, antwortete Henriette standhaft. aber folgen will ich Ihnen; ich will Ihre Henker so lange um den Tod bitten bis sie mir ihn, wo nicht aus Barmherzigkeit, doch aus Unwillen gewähren. Und deine Nina? sagte Cölestine ernsthaft. O, für die zittere ich nicht mehr, seitdem ich weiß, wem sie angehört; sie selber hat mir ja die Rose des Paradieses gereicht . . . . . doch, was höre ich? welch ein dumpfes Getümmel erschallt in allen Winkeln unsers Gefängnisses? Lassen Sie uns nach dem Hause zurükkehren; wir können und wollen ja doch nicht fliehen.

Mit fest verketteten Armen giengen sie der Thür zu; sie hatten sie noch nicht erreicht, als die Baronin und ihre beiden Töchter ihnen entgegenstürzten. Sie zitterten, sie weinten und dennoch lächelte die Freude aus allen Zügen ihres Gesichtes. Sie fielen wechselsweise den tiefstaunenden Freundinnen um den Hals. Gott sei gelobet, sagte die Mutter; die Tyranney ist zerstört! Die Tyrannen sind todt, flüsterten die Töchter, und ihre Freudenthränen flossen von neuem. Cölestine und Henriette hoben ihre Hände gen Himmel; bald wirst auch du diesen Tag feiern, sagte jene; dieß ist meine Rose, erwiederte diese. Die Damen merkten nicht auf die räthselhafte Sprache; sie beeiferten sich um die Wette, 101 ihre Freundinnen von der großen Begebenheit des neunten Thermidors zu unterrichten, die vor wenig Minuten bis in die Mauern ihres Gefängnisses durchgedrungen war. Sie waren auf Cölestinens Zimmer geflogen, um ihnen diese Botschaft des Lebens mitzutheilen, und hatten sie im Garten erblikt, wohin sie ihnen entgegen eilten.

Nun erst brach Cölestinens und Henriettens Freude aus; nun erst gaben sie ihren Freundinnen ihre Umarmungen zurük. Die Baronin nahm sie mit sich auf ihr Zimmer: an allen Ecken, in allen Gängen begegneten ihnen einige ihrer Mitgefangenen, die in der Trunkenheit ihrer Wonne sie küßten. Alle hatten es schon unter sich gethan, selbst diejenigen, die sich nie gekannt, nie gesprochen hatten, waren einander entgegengetaumelt, und hatten sich Herz an Herz Glück gewünscht.

In diesem Augenblicke der Ergießung legte Cölestine die Fesseln des Zwanges ab. Sie stellte der Frau von Beaupré ihre Henriette, als die Pflegemutter ihrer Enkelin, als die Gastfreundin ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns vor. Schrecken und Entzücken wechselten in den Seelen der edlen Familie, bis sie ihnen erzählte, daß die Beherbergung dieses unglücklichen Paares Henriettens Gefangenschaft veranlaßt und dem boshaften Priester den Vorwand zu seinen Verfolgungen an die Hand gegeben habe. Warum, so fuhr sie fort, 102 kann ich Ihnen nicht alles sagen? warum darf ich der heldenmüthigen Resignation nicht erwähnen, womit . . . . Henriette legte ihr die Hand auf den Mund und warf ihr einen strafenden Blik zu, indeß die Baronin und ihre Töchter sich um sie her drängten, und das schaamrothe Mädchen an ihre schmelzenden Herzen drückten.

Die ersten Wallungen des Entzückens legten sich allmählich, und nun mußte Henriette hundert Fragen beantworten, die ihr wechselsweise von der Baronin und ihren Töchtern vorgelegt, und deren Beantwortungen ihr bald durch dankbare Thränen, bald durch die zärtlichsten Liebkosungen erwiedert wurden. Erst am späten Abend gieng der geweihte Zirkel auseinander, und der mitternächtliche Mond überraschte noch Cölestinen und Henrietten über den Dankgebeten, die sie der rettenden Allmacht darbrachten.

Kaum hatte der Sturz des Triumvirats sich durch das geängstigte Lyon verbreitet, so verkrochen sich seine Würge-Engel, oder sie bemühten sich, Gesinnungen der Menschlichkeit zu heucheln. Es ward nun in den Klubs nicht mehr darauf angetragen, die Verdächtigen in Masse abzuschlachten. Diese Lieblings-Idee der Terroristen wurde bis auf günstigere Zeiten vertaget. Die Verhafteten, welche blos allgemeinen Maasregeln zufolge, oder kleiner Vergehungen wegen gefangen saßen, durften nun nicht mehr für ihr 103 Leben zittern. Man ließ ihnen täglich etwas mehr Freiheit und ihre Hofnung auf eine baldige Erlösung wuchs mit jeder Woche.

Die bisherigen Proconsuln wurden abgerufen, und durch andere ersezt, welche den Auftrag hatten, die Verhaftsprotokolle zu untersuchen, und allen denen, die keiner eigentlichen Verbrechen beschuldigt waren, die Gefängnisse zu öfnen. Diese Arbeit war mühsam und langwierig, und die ehemaligen Vornehmern wurden den Ackersleuten und Handwerkern regelmäßig nachgesezt, zumal, wenn sie den Repräsentanten nicht besonders empfohlen waren. Da Henriette und ihre Freundinnen sich nicht in diesem Falle befanden, so warteten sie in Geduld, bis die Reihe sie treffen würde. Ihr einziger Wunsch war, daß sie ihre Lossprechungen zu gleicher Zeit erhalten, und wenigstens noch die schönen Herbsttage gemeinschaftlich auf dem Schlosse Beaupré zubringen möchten. Henriette hatte der Baronin diesen Besuch um so williger zugesagt, da es ihr unmöglich gewesen wäre, sich unmittelbar nach ihrer Befreiung von ihrer Nina zu trennen.

Eines Tages meldete die Magd des Aufsehers einen Fremden an, der sie sprechen wolle. Da Robert nichts weniger als fremd im Hause war, so glaubte sie es sey Morant. Sie fürchtete ihn nicht mehr, und wunderte sich über seine Unverschämtheit. Laßt ihn heraufkommen, antwortete sie der Magd, 104 und als sie hinweg war, sagte sie lächelnd zu ihrer Freundin, Sie müssen Zeuge meines kleinen Triumphes seyn. Mit langsamem Schritte hörte sie den Fremden der Thür sich nahen. Sie erhob sich von ihrem Stuhle – und Menard trat herein.

Wie von einem Wetterstrahl zurükgedonnert, stürzte Henriette auf ihren Stuhl zurük. Menard blieb starr und sprachlos in einiger Entfernung stehen. Sein Gesicht war blaß und eingefallen; er schlug die Augen nieder. Cölestine machte eine Bewegung, um sich zu entfernen. Henriette sammelte alle ihre Kräfte, um zu sprechen. Bleiben Sie, meine Freundin, sagte sie mit bebender Stimme; es ist Herr Menard; wir haben uns nichts zu sagen, das Sie nicht anhören können. Cölestine blieb, und Menard versuchte es umsonst zu sprechen. Was wollen Sie, mein Herr? stammelte Henriette, und Todesblässe und glühende Röthe wechselten auf ihrem Gesichte.

Menard. Einen Verbrecher bei Ihnen verklagen, und Sie bitten, ihm zu fluchen.

Henriette. (schaudernd) Ich weiß ja schon lange, daß Sie mein Herz verkennen; diesen neuen Beweis konnten sie mir ersparen. Verlassen Sie mich, mein Herr, oder ich werde mich entfernen.

Menard. (auf den Knieen) Schaam und Reue führen mich zu Ihren Füßen. Ich bin ein Elender, der Sie verrathen hat, weil er verrathen wurde. 105 Ein nichtswürdiger Pfaffe, den meine Rache vergebens aufsucht, hat mich durch seine heuchlerische Freundschaft betrogen. Lesen Sie, o lesen Sie diese Briefe! sie können mich nicht rechtfertigen, aber vielleicht Ihr Mitleid erregen.

Henriette zog ihre Hand zurük: stehen Sie auf, mein Herr, oder ich fliehe. Ich will glauben, daß Sie betrogen wurden. Gehen Sie nun, und stören Sie die Ruhe nicht, die ich mit so viel Thränen erkauft habe.

Menard. (sich aufrichtend) O für diese Thränen sind Sie tausendfach gerächet. Ich habe meine Hand einem leichtsinnigen eiteln Weibe gegeben, das blos meine Reichthümer heirathete. Der Tod ihrer Großmutter hat mich in diese Gegend geführt. Ich kam durch Ihr Dorf; noch wußte ich nichts von Morants Bubenstücke; ich wollte ihn besuchen; er war abwesend. Hier erfuhr ich sein, oder vielmehr mein Verbrechen, und Ihre Unschuld.

Henriette. Sechs Monate früher hätten Sie aus meinem Munde sie erfahren können.

Menard. (tief erseufzend) Ach ich hätte sie nie bezweifeln sollen. Robert, der rechtschaffene Robert, den ich in der Schenke antraf, wo ich abgetreten war, warf mir mit edlem Unwillen meine Treulosigkeit vor, und erzählte mir alles, ach mehr, weit mehr, als ich zu wissen brauchte, um meinem Schiksal zu fluchen, und Sie, edle 106 Henriette, für die tugendhafteste Ihres Geschlechts zu erkennen.

Cölestine. Robert konnte Ihnen nicht Alles erzählen. Ich bin es der Ehre meiner Freundin schuldig, Ihnen zu sagen, daß sie aus meiner Hand das arme schuldlose Geschöpf empfieng, das Ihren Argwohn wekte. Ich bin es der Wahrheit schuldig, zu sagen, daß Morant sie betrogen, um sich Ihre Braut zuzueignen.

Menard. (knirschend) Ha, der Satan! Vergeben Sie mir, o vergeben Sie mir, göttliche Henriette! Er stürzte wieder zu ihren Füßen.

Henriette. Ich vergebe Ihnen, wenn Sie mir schwören, daß Sie sich an dem Elenden nicht rächen wollen.

Menard. (in Thränen zerfließend) O, das ist zu viel! ich fühlte ja zuvor schon meinen ganzen Verlust. Himmlische Seele! ich bin Ihnen vor aller Welt eine Genugthuung schuldig; und Ihre Großmuth giebt mir die Kühnheit, sie Ihnen anzubieten. Ich bin fest entschlossen, mich von meinem unwürdigen Weibe zu scheiden . . . . Darf ich hoffen . . . .

Henriette. (ihn unterbrechend) Reden Sie nicht aus, mein Herr. Ich errathe, was Sie mir sagen wollen. Was Sie Genugthuung nennen, wäre in meinen Augen ein neuer blutiger Schimpf, wenn nicht der Geist unserer Zeit Sie entschuldigte; allein es mag ein Priester oder ein weltlicher Beamter 107 das Band der Ehe knüpfen, so wird es im Angesuchte der Gottheit geschlossen, und ich halte dieses Gelübde in jedem Falle für heilig, für unverbrüchlich. Ueber dieses würde der Mann, der meine Tugend beargwohnen konnte, mich weder glüklich machen, noch durch mich glüklich werden können. Stehen Sie auf; ich bedaure Sie, aber ich kann nie, nie die Ihrige werden; das schwöre ich.

Menard (sich aufrichtend) Das habe ich gefürchtet. Sie zermalmen mein Herz; aber ich verdiene mein Schiksal. (Nach einer Pause) So nehmen Sie wenigstens die schwache Entschädigung von mir an, die selbst die Gerichte Ihnen zusprechen würden. Er reichte ihr einen Wechsel dar.

Henriette trat zurük. Behalten Sie Ihre Entschädigung, bis ich Sie vor den Gerichten verklage. Doch warten Sie; wie viel enthält dieser Wechsel?

Menard. Ach! unendlich weniger, als ich Ihnen schuldig bin: zehntausend Thaler auf Genua.

Henriette. Nun so statten Sie mit diesem Gelde einige arme Waisen aus, deren Eltern unschuldig hingerichtet wurden. Sie werden sie nicht lange suchen dürfen.

Menard. (im gewaltsamsten Affect) Wohlan, dein Wille soll geschehen. Fahre fort, Engel des Himmels! Ich kann deine Majestät nicht länger ertragen. Du bist mir der flammende Cherub, der 108 mich aus dem Paradiese treibt; aber wiederhole mir zuvor, daß du mir vergiebst.

Henriette. (liebreich) Hier meine Hand. Er küßte die Hand mit Ungestümm und eilte davon. Cölestine flog in Henriettens Arme.

Es war der guten Nonne unmöglich, ihr Wonnegefühl in ihren Busen zu verschließen. Ehe Henriette ihr das Stillschweigen auflegen konnte, lief sie zur Frau von Beaupré, und erzählte ihr und ihrer Tochter das genossene Schauspiel. Nun erst erfuhren sie, welch ein Opfer Nina ihrer Pflegemutter gekostet hatte. Jede Faser ihres Herzens bebte vor Rührung und Entzücken. Sie kamen auf Henriettens Stube gestürmt, und erstikten sie beinahe mit ihren Küssen. Wenn es unter dem Himmel einen Lohn für dich gäbe, edelstes, bestes Kind, sagte die Baronin, so würde ich vor Harm vergehen, daß dieser Lohn nicht in meiner Hand steht.

Die überraschte Henriette verbarg ihr Gesicht in dem Busen der Matrone; die süßesten Thränen, die sie jemals geweint hatte, zitterten in ihren Augen; sie konnte nichts antworten; sie konnte blos die Umarmungen der Freude- und Liebetrunkenen Gruppe erwiedern. Ach meine Helene, fuhr die Baronin fort, wenn sie wüßte, wenn der gute Montlac wüßte, welchen Händen sie ihren Schaz anvertraut haben! Doch sie werden es erfahren, sie werden wiederkommen, das hoffe ich nun auch, ja sie 109 werden wiederkommen und diese Hände an ihre dankbare Brust drücken; aber gleich mir werden sie bekennen, daß nur dein eignes großes Herz dich belohnen kann. Da sehen Sie, ob ich nicht schon belohnt bin, erwiederte das beschämte Mädchen, indem sie das Briefchen der Marquisin aus ihrem Taschenbuche hervorlangte. Ach es ist ihre Hand! riefen sie alle; es ist ihr Herz, sagte die Mutter, als ihr Sophie das Blatt vorgelesen hatte. Alle küßten es, und nezten es mit Thränen, Henriette küßte es auch, und verwahrte es auf ihrem Busen.

Von nun an mußte sie und ihre Freundin sich ganz in die edle Familie verpflanzen. Sie bezogen ein benachbartes, ledig gewordenes Zimmer, und aßen an ihrem Tische. Cölestine hatte die ganze Zeit über von den Wohlthaten der Frau von Beaupré gelebt, die sie als ein Vermächtniß ihrer theuren Helene betrachtete; und aus dieser Ursache konnte die Nonne die Unterstützung ausschlagen, die ihre junge Freundin ihr angeboten hatte.

Henriette genoß einer Glükseligkeit, die ihr Herz zuvor nicht ahnen und jezt nicht fassen konnte. Sie wurde wie ein guter Engel geliebt und beinahe wie ein guter Engel verehrt. Die junge Fanny hieng unzertrennlich an ihr, und sagte oft zu ihrer Mutter: nie werde ich über unsere Gefangenschaft klagen; ohne sie würde ich ja dieses himmlische Geschöpf nicht gekannt haben; ich zittere vor dem 110 Augenblicke, der es von uns trennen wird. Gieb dich nur zufrieden, antwortete ihr einst die Baronin; ich habe einen Plan im Kopfe, oder vielmehr im Herzen, wenn der mir gelingt, so wirst du deine Henriette recht oft um dich haben. Fanny wollte mehr wissen; allein die Mutter scherzte über ihren Vorwiz und verwies sie zur Geduld.

Eines Abends saß der trauliche Zirkel beisammen und unterhielt sich von den abwesenden Gliedern der Familie. Die Baronin sprach von ihrem Sohne, von dem sie schon über ein Jahr keine Nachricht hatte. Sein Regiment lag in der Colonie Isle de France im indischen Meere. Umsonst zog die besorgte Mutter die Zeitungen zu Rathe, denen seit Kurzem der Eingang in die Gefängnisse nicht mehr versperrt war: sie fand nicht, was sie suchte. Eben durchlief sie das neueste Blatt, und sagte mit einem tiefen Seufzer: schon wieder nichts aus Indien. Ach mein armer Dagobert! Indem wurde die Thür leise geöfnet, und eine fremde Gestalt strekte den Kopf herein. Großer Gott! hier ist er; ach Bruder, lieber Bruder, schrie Sophie, die ihn zuerst erblikte. Ja er ist es, rief der Hauptmann, indem er seiner Mutter in die Arme flog. Seine Schwestern fielen ihm um den Hals, sie weinten, sie jauchzten, sie zitterten vor frohem Schrecken. Cölestine hatte sich kurz zuvor entfernt. Henriette stand in süßer Betäubung da; ihr Herz ergözte sich an der 111 himmlischen Scene. Niemand hatte im ersten Wonnetaumel an sie gedacht; die Baronin besann sich zuerst: hier, mein Sohn, ist auch noch ein Glied unserer Familie, eine mir sehr theure Tochter, die du bald näher kennen sollst. Der Hauptmann sah das schön erröthende Mädchen einen Augenblick an, die angenehmste Ueberraschung mahlte sich in seiner Miene; jezt nahete er sich ihr mit bescheidener Vertraulichkeit: auf die Verantwortung meiner Mutter hin, wird es mir erlaubt seyn, Mademoiselle, Sie, wie meine übrigen Schwestern zu bewillkommen. Er küßte ihre brennende Wange. Henriettens Verwirrung erhöhete ihre Reitze. Fanny ergriff sie lächelnd bei der Hand: nur nicht so blöde, liebes Jettchen, sonst glaubt mir mein Bruder nicht, wenn ich ihm sage, daß die Seele eines Helden unter dieser jungfräulichen Hülle wohnet. Doch davon ein andermal, wenn ich erst gewiß weiß, daß seine Erscheinung kein Traum ist. Durch was für einen glüklichen Zufall kamst du so wie eine Bombe hereingeflogen? Unser Commandant, erwiederte der Hauptmann, schikte mich mit wichtigen Aufträgen nach Europa. Meine Fahrt war langsam und gefahrvoll. Von einem Sturm acht Tage lang umhergetrieben, war unser Fahrzeug im Begriffe zu sinken, als wir einem dänischen Schiffe begegneten, das uns an Bord nahm. Nun sehe ich diesen Unfall als ein Glük an; denn, als wir in Kopenhagen einliefen, erfuhren 112 wir den Sturz der Blutregierung, und ich sezte meine Reise mit leichterm Herzen auf einem Hamburger Schiffe fort. Da ich lauter befriedigende Nachrichten und ein vortheilhaftes Zeugniß unsers Commandanten mitbrachte, so ward ich in Paris sehr wohl aufgenommen. Ich benuzte einen günstigen Augenblik, um meinen Abschied zu fodern, wozu der Zustand meiner Gesundheit, die auf der langen Reise viel gelitten hatte, mich berechtigte. Als ein Exadelicher erhielt ich ihn ohne Schwierigkeit, aber doch in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, und eilte nun in den Schoos meiner Familie, die ich überraschen wollte. Ich fand nichts, als ein ödes Haus, und erfuhr mit Entsetzen, daß ich Euch in den hiesigen Gefängnissen aufsuchen müsse, und daß mein Schwager Montlac genöthiget worden sey, mit seinem guten Weibe über die Grenze zu fliehen. Dem Himmel sey Dank! Euch habe ich gefunden, und auch die lieben Flüchtlinge halte ich nicht für verloren; für sie will ich arbeiten wenn ich erst eure Bande gelöst habe. Die bescheidene Henriette hielt es für schiklich, sich zu entfernen, um die Herzensergießungen der frohen Familie nicht zu stören.

Der Hauptmann verließ das Gefängniß nicht eher, als bis der Aufseher ihn fragte, ob er bei ihm übernachten wolle? Als er des folgenden Morgens wiederkam, faßte er ehrerbietig Henriettens Hand und sagte in einem Tone, der ihr ans Herz drang: 113 meine Mutter und meine Schwestern haben mir erzählt, wie viel wir Ihnen, Mademoiselle, schuldig sind. Eine That, wie die Ihrige, ist über allen Dank, so wie über alles Lob erhaben; das fühle ich, und bitte Sie, blos zu glauben, daß ich es fühle. Ein langer Händedruck und ein Blick der reinsten Anbetung begleiteten seine Worte.

Henriette glühete, ihr Herz klopfte: sie suchte eine Antwort und fand keine. Laß mich ihm an deiner Stelle antworten, sagte Fanny, indem sie neben Henrietten hintrat: Sie scheinen mir ein guter Mann zu seyn, Herr von Beaupré; ich liebe Ihre Mutter und Ihre Schwestern; machen Sie, daß ich meine günstige Meinung von Ihnen behalte, so werde ich vielleicht auch Sie lieben. Henriettens Verwirrung stieg aufs höchste. Sie schloß dem Fräulein den Mund mit einem Kusse, und sagte lächelnd zu ihrem Bruder: meine Fürsprecherin ist sehr muthwillig, mein Herr, anstatt mir auszuhelfen, vermehrt sie meine Beschämung. Ich wünschte, erwiederte der Hauptmann erröthend, daß Sie ihr so leicht verzeihen könnten, als ich, und daß die Spötterin zur Prophetin würde.

Beaupré machte sich seinen Mittagstisch im Gefängniß aus, um desto länger im Kreise der Seinigen bleiben zu können. Seine zarte Aufmerksamkeit, seine warme Sympathie für Henrietten, wuchs mit jedem Tage, und mit jedem Tage zeigte 114 ihm das holde Mädchen mehr Achtung und Zutrauen. Schon hatte sie ihm erlaubt, den Titel Mademoiselle mit dem Schwestertitel zu vertauschen; schon hatte Sie ihn einmal, aber freilich nur ganz leise, ihren Bruder genannt, und der Hauptmann, dessen Liebe eben so ehrerbietig, als zärtlich war, erwartete nur einen günstigen Augenblik, um ihr in einer einsamen Unterredung sein Herz aufzuschließen, als ein unerwarteter Zufall seinen Plan verrükte.

Der Secretär des Repräsentanten ließ Henrietten in die Sprachstube rufen. Um Gotteswillen! was mag das seyn? sagte sie zu Cölestinen, und begab sich mit wankendem Schritte hinunter. Der Abgeordnete überreichte ihr einen Beschluß seines Principals, der ihren Verhaft aufhob. Henriette wollte ihren Augen nicht trauen. Ists möglich, rief sie endlich mit freudiger Bestürzung, wie komme ich zu diesem Vorzuge, da noch so viel ältere Gefangene hier sind? Bürger Menard, ein Kaufmann von Marseille, antwortete der Sekretair, lag dem Repräsentanten so lange und so dringend an, bis er ihre Befreiung auswürkte. Henriette hatte Mühe, sich zu fassen; sie war tief gerührt, und dennoch hätte sie das Geschenk der Freiheit lieber einer andern Hand verdankt. Endlich siegte ihr Herz. Sie kennen also den Bürger Menard? – Ich werde heute mit ihm zu Mittag speisen. – Nun, 115 so sagen Sie ihm, ich bitte, sagen Sie ihm, daß ich seine . . . . Güte nie vergessen werde. Der Sekretär wollte gehen. Noch eins, mein Herr: ich habe eine Freundin, eine ehemalige Nonne, die schon über ein Jahr hier schmachtet; sie ist aus keiner andern Ursache verhaftet, als, weil sie die Schwester eines ausgewanderten Priesters ist. – Heißt sie etwa Cölestine Vaillant? unterbrach sie der Sekretair. – Ganz recht. – Nun für diese ist gesorgt; sie ist eine Anverwandte von mir. Ich fand ihren Namen zufälligerweise in der Petition eines Offiziers, der um die Befreiung seiner Familie anhält. Heute oder morgen wird auch sie frei werden. – Wer? die Familie Beaupré? rief Henriette hochaufhüpfend. – Nein, Bürgerin, die Nonne; ich habe das Protokoll zu Rathe gezogen, und diesen Morgen ihre Sache dem Repräsentanten vorgetragen. Was die Beauprés betrifft, so haben sie zwar Manches wider sich; allein der junge Mann, der sich für sie verwendet, hat ein so vortheilhaftes Zeugniß des neuen Heilsausschusses aufzuweisen, daß ich auch an ihrer baldigen Freilassung nicht zweifle. O, thun Sie doch, was Sie können, mein guter Herr, sagte Henriette in einem zauberisch flehenden Tone, und, wenn Sie das Urtheil meiner Freundin überbringen, so lassen Sie doch ja mich statt ihrer rufen; ich werde nicht allein erscheinen. Der Sekretair versprach es, und Henriette 116 flog leicht, wie ein Vogel, der sich der Leimruthe entwunden hat, zur Gesellschaft zurük.

Was bringst du da für einen Gevatterbrief? fragte Fanny, als Henriette mit ihrem Urtheil in der Hand ins Zimmer trat. Da lies ihn selber, antwortete sie. Fanny las, und alle stürzten Henrietten mit lautem Frohlocken in die Arme. Der Hauptmann war nicht zugegen. Du mußt einen unbekannten Freund haben, sagte Cölestine, der mit Nachdruk für dich gearbeitet hat. Unbekannt nicht, antwortete Henriette, aber ungebeten: es war Menard. Menard! wiederholten alle staunend. Henriette erzählte was sie wußte.

Fanny. Nu, nu, es ist ein armer Sünder, der auf seine Brust schlägt. Gnade verdient er . . . .

Henriette. Und Dank, besonders auch dafür, daß er sichs nicht erlaubt hat, mir seine Wohlthat selber anzukündigen.

Fanny. Nun ja, auch Dank verdient er, selbst meinen Dank.

Sophie. Unser aller Dank; und ich kenne jemanden aus unsrer Familie, der diesen armen Sünder seines Neides würdig finden wird. Sie warf Henrietten einen Blik zu, der wie ein rother Bliz ihr Gesicht mit Feuer übergoß.

Die Baronin. Nun werden Sie uns also verlassen, liebes Kind?

Henriette. O! ich gehe Ihnen blos voran. 117 Nach der Versicherung des Sekretairs werden die Bemühungen Ihres Herrn Sohns ehestens das gewünschte Ziel erreichen. Uebrigens denke ich erst morgen zu verreisen. Ich will einen Boten an den guten Robert schicken, daß er mich abhole.

Fanny. Warum nicht gar? ich weiß dir einen bessern Begleiter. Hier kömmt er gerade.

Es war der Hauptmann. Er erblaßte, als er die große Neuigkeit erfuhr. Der Egoismus, der auch in dem reinsten Herzen einen kleinen Schlupfwinkel übrig behält, schob den Gedanken an Henriettens Abreise an die Stelle des Gedankens an ihre Freiheit; doch schnell erstikte er, über sich selbst grollend, den verhaßten Dämon, und wünschte dem holden Mädchen mit der wärmsten Theilnahme Glük zu ihrer Befreiung.

Fanny schlug ihm auf die Schulter: hoffentlich, Bruder, wirst du als ein ehrenfester Ritter deine Dame auf ihrer Heimreise beschützen? Henriette kam seiner Antwort zuvor: ich zweifle nicht an Ihrer gütigen Bereitwilligkeit; allein erst morgen werde ich Ihnen sagen können, ob ich im Stande bin, sie zu benutzen.

Fanny. Erst morgen? das klingt sehr geheimnißreich. Nun, so werden wir wohl die Auflösung des Räthsels abwarten müssen.

Das Räthsel löste sich noch denselben Abend. Henriette wurde zum zweitenmal in die 118 Sprachstube gerufen. Vielleicht ist es Menard, sagte sie zu Cölestinen: o, ich bitte Sie, begleiten Sie mich. Sie zog sie mit sich fort. Es war der Sekretair des Repräsentanten. Henriette bewillkommte ihn mit schalkhaftem Lächeln: hier, mein Herr, habe ich das Vergnügen, Ihnen Ihre Baase vorzustellen. Die gute Nonne kannte den Fremden nicht, und wußte sich nicht zu helfen. Doch ihre Verlegenheit machte gar bald der angenehmsten Ueberraschung Plaz; denn anstatt seine Vetterschaft zu deduciren, überreichte er ihr das Dokument ihrer Freiheit. Eine dankbare Thräne floß über ihre Wange. Ich weiß noch nicht, ob meine junge Freundin scherzen wollte, mein Herr, als sie mir den Titel Ihrer Baase beilegte; allein, wenn Sie kein unbekannter Vetter von mir sind, so waren Sie doch gewiß ein unbekannter Freund, dem ich das größte irrdischer Güter verdanke. Der Vetter brauchte nur zwei Worte, um sich zu legitimiren. Cölestinens frühverstorbene Mutter hatte in einer entlegenen Provinz eine Schwester, deren Sohn er war. Sie bewillkommte ihn mit zärtlicher Freude, und nun erfuhr sie, daß ihr Henriette diese angenehme Ueberraschung zubereitet hatte. Erst nach der Entfernung des braven jungen Mannes konnte sie sich ihren Gefühlen ganz überlassen. Sie preßte das entzükte Mädchen an ihr Herz. Dieser Abend, sagte sie, ist schön: aber er wäre es nicht ohne diesen Morgen; ohne die Deinige, liebes 119 Kind, würde meine Freiheit mir eine Marter seyn. Ich hoffe doch, Sie werden mich morgen zu unserer Nina begleiten? o, meine Freundin; ich bedarf Ihres mütterlichen Rathes, rief Henriette mit bebender Stimme. Ich will dich begleiten, meine Tochter, und bei dir das Schiksal unserer Lieben abwarten. Beaupré, der edle gute Beaupré, muß auch mit; ich betrachte ihn als einen Engel vom Himmel gesandt, um die lezte schwerste Last von meinem Herzen zu nehmen. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß er dich liebt; nicht dein Auge, sondern auch dein Herz muß es dir gesagt haben. Seine Liebe ist furchtsam, weil sie ächt ist. Er hat mich zu seiner Vertrauten gemacht, und von mir zu wissen verlangt, ob er hoffen dürfe? allein ich habe ihn an dich verwiesen; er bedarf, denke ich, eben so wenig meiner Fürsprache, als du meines Rathes. Die Vorsehung will dich für deine Opfer entschädigen und die martervolle Strafe meiner Unvorsichtigkeit enden. Sie hätte noch lange sprechen können, ohne von Henrietten unterbrochen zu werden. Das gute Mädchen stand wie eine Nachtwandlerin vor ihr. Endlich hob sie ihre Hände gen Himmel: o Gott! so ist es denn kein Traum, keine Täuschung? ach! beste Freundin, was soll ich thun? – Laß den edlen seinen Weg gehen, und folge du deinem Herzen.

Wo bleibt ihr? rief die vorwitzige Fanny, indem sie die Sprachstube öfnete: wie? du weinst, 120 Jettchen; Gott! es wird doch kein Unglüksbote gewesen seyn? Cölestine nahm das Wort: es sind Freudenthränen, liebes Fräulein, Freudenthränen über meine Befreiung, die sie beschleunigen half. Fanny drohete Henriette mit dem Finger: ha Sirene! du bist meinem Bruder vorgesprungen; dieses wird er dir in seinem Leben nicht verzeihen. Allein, wie gieng denn das zu? Sie sollen es bei Ihrer Frau Mutter erfahren, sagte Cölestine; kommen Sie.

Die Frau von Beaupré, der Hauptmann und Sophie erwarteten in banger Unruhe, was doch wohl die zweite Botschaft des Repräsentanten bedeuten möchte; denn, daß der Fremde, der Henrietten rufen ließ, sein Sekretair war, hatte Fanny vom Aufseher ausgekundschaftet. Die heitern Gesichter, womit Cölestine und ihre Gefährtinnen ins Zimmer traten, zerstreuten ihre Besorgniß und ihre Erzählung erneuerte die Wonnescene des Morgens. Sie wird mich in meine Hütte begleiten, rief die entzükte Henriette; sie wird bei mir wohnen, bis auch Sie diesen Ort verlassen.

Fanny. Und mein Bruder?

Cölestine. Wird uns auf unserer Reise zur Bedeckung dienen; nicht wahr, meine Jette?

Mit dem Zauberblik einer Grazie, sagte diese zum Hauptmanne: dürfen wir Sie um diesen Ritterdienst ansprechen? Beaupré war außer sich. 121 Diese Reise bot ihm die längst gewünschte Gelegenheit an, Henrietten sein Herz zu öfnen. Er küßte ihr zärtlich die Hand: Sie verschaffen mir den süßen Triumph, Sie in ihr Eigenthum zurükzuführen, dem Sie um unsertwillen entrissen wurden. Bald, sagte Henriette, indem sie sich zur Baronin wandte, bald hoffe ich auch Sie und die Tanten unserer Nina unter meinem Dache zu bewillkommen; ich gebe sie nicht heraus, wenn Sie sie nicht selber abholen. Beaupré übernahm es, die Reise zu veranstalten, welche auf den folgenden Morgen festgesezt wurde.

Henriettens Abschied von der Frau von Beaupré und ihren Töchtern kostete zu beiden Seiten Thränen, ungeachtet er kaum eine Trennung heißen konnte. Die Baronin hielt sie lange in ihren Armen und entließ sie mit den Worten: auf Wiedersehen, liebe Tochter, um uns dann auf immer zu vereinigen. Du verstehest mich doch? Henriette konnte nicht antworten; sie drükte einen heißen Kuß auf die Hand der Matrone und ließ sich wie ein willenloses Kind vom Hauptmanne davonführen.

Die beiden Frauenzimmer bestiegen sein Reisekariol; er selbst war zu Pferde. Henriette sprach wenig; ihr Herz war zu voll, ihr Geist zu gespannt, und selbst das freie offene Feld, über das sie hinflog, würkte zu mächtig auf ihre Nerven, als daß sie das Bedürfniß der Sprache hätte fühlen sollen. Bisweilen drükte sie die Hand ihrer Freundin, oder sie 122 heftete ihr hochgeöfnetes Auge auf ihren Begleiter, der schweigend neben ihr herritt und so wenig als Cölestine die Feier ihrer Seele stören wollte. Erst, als sie dem Dorfe nahe kam, und die Bäume ihres Obstgartens erblikte, die ihre mit gold- und purpurfarbigen Früchten beladenen Arme ihr entgegen strekten, erwachte sie ganz aus ihrer Entzückung und grüßte das väterliche Dach mit einer heiligen Zähre.

Sie hatte noch des Abends zuvor den ehrlichen Robert durch einen Boten von ihrer Ankunft benachrichtigt. Er empfieng sie in voller Parade mit Stok und Säbel, und in seiner neuen Invaliden-Uniform am Eingange des Dorfes. Colette, welche die ganze Nacht mit Scheuern und Kehren zugebracht hatte, stand in ihrem Sonntagsputze unter dem offenen Thorweg. Sie hielt die weiß gekleidete und mit Blumen bekränzte Nina Henrietten entgegen, die mit einem lauten Schrei sich in des Hauptmanns Arme herabstürzte. Mamma, Mamma, lallte das Kind, und strekte die Händchen nach ihr aus. Sie preßte es mit hastiger Inbrunst an ihren Busen und hörte nicht auf, es zu küssen.

Beaupré und Cölestine weinten. Süßere Thränen flossen noch nie diesseits der Sterne. Schweigend taumelte Henriette mit ihrer Nina auf dem Arm in die Stube, schweigend folgten ihre Begleiter ihr nach. Erst nach einigen Minuten kam sie 123 zu sich, sie bewillkommte ihre Gäste und legte ihnen das holdselige Kind wechselsweise ans Herz.

Robert und Colette standen wie Statuen im Heiligthume der Liebe und entstellten es nicht. Sehet, lieben Freunde, sagte nun Henriette, dieses ist Nina's Onkel, der Herr Hauptmann von Beaupré. Colette verneigte sich. Robert warf die Brust vor und zog den Hut, den er in der Hand hielt, rasch nach dem rechten Schenkel zurük. Und dieses, fuhr Henriette fort, ist Nina's erste Pflegemutter: aus ihren Händen erhielt ich sie. Robert kennet sie schon: er hat uns mehrmals im Gefängnisse beisammen gesehen. Robert bükte sich und schmunzelte: dachte ichs doch, daß Nina ihr nicht fremd seyn müsse; sie hat sich immer so emsig nach ihr erkundigt. Henriette verließ das Zimmer, um einen Blik in die Küche zu thun. Colette hatte ihre Befehle pünktlich besorgt und ihr treuer Sekundant Robert war im Begriffe die Speisen aufzutragen. Auf jedem Teller lag ein Blumenstraus, den die Gäste nach dem Beispiel ihrer reizenden Wirthin an die Brust stekten. Alles Weigerns ungeachtet mußte Robert sich mit zu Tische setzen. Stille Freude würzte das ländliche Mahl, unter dessen blanken Schüsseln, mit Vater Flaccus zu reden, das väterliche Salzfaß hervorglänzte. Beaupré aß wenig; er weidete sich am Anblicke Henriettens, die mit ihrem Busenkind 124 auf dem Schooße, zu gleicher Zeit das Amt der Wirthin und der Mutter verwaltete.

Nach Tische, als sie mit ihren Gästen allein war, näherte sich Beaupré dem Bildniß ihres Vaters, unter dem er das ihrige erblikte. Er betrachtete es mit Wonne und bewunderte seine Aehnlichkeit. Dürfte ich Sie wohl bitten, sagte er zu Henrietten, es für meine Mutter copiren zu lassen? Das brauchen Sie nicht; ich überlasse ihnen das Original, antwortete Henriette, der in diesem Momente blos das peinliche Andenken gegenwärtig war, das dieses Bild in ihr aufwekte. Beaupré riß es gierig von der Wand und drükte es an seinen Mund. Ey, ey, sagte Cölestine schalkhaft, muß eine unerfahrne Nonne Ihnen sagen, welches das Original ist, das man Ihnen überlassen will? Doch, was geben Sie dafür? Mein Herz, meine Hand, mein Leben, rief Beaupré, indem er zu Henriettens Füßen niedertaumelte und mit feuchtem fragenden Auge an dem ihrigen hieng. Henriette war überrascht; das höchste Morgenroth brannte auf ihrer jungfräulichen Stirne. Keine Ziererey, mein Kind, sagte Cölestine: ich stehe dir für sein Herz; und Ihnen für das Herz meiner Jette. Als ihre beiderseitige Vertraute weiß ich, daß ich diese Bürgschaft übernehmen kann. Henriette nahm sich zusammen, sie brauchte sich nicht zu entschließen; ihr Herz hatte schon lange geredet; ihr Mund durfte 125 nur seinen Ausspruch wiederholen. Mit dem ganzen Zauber ihres Blickes und ihrer Stimme sagte sie halb leise: ich will meine Freundin nicht zur Lügnerin machen.

Beaupré war außer sich; seine sprachlosen Lippen klebten auf Henriettens Hand. Sie zog sie sanft zurük: ich bin ein Dorfmädchen, flüsterte sie lächelnd, indem sie ihn empor zog und ihm ihre Purpurwange hinreichte. Er küßte sie mit jener zärtlichen Ehrfurcht, vor der die Leidenschaft verstummet. Diese kunstlose Hingebung eines engelreinen Herzens wies ihm die ganze Glükseligkeit, die er in seinem Besitze finden würde. Cölestine betrachtete mit freudefunkelndem Auge die himmlische Scene. Eine flüchtige Stunde verstrich dem seligen Paare, ohne daß weder er, noch sie, sich des Versprechens erinnerten, das er seiner Mutter geleistet hatte. Die gute Nonne schlich sich hinaus, und gab in seinem Namen die Befehle zur Abreise. Als sie zurükkam, sagte sie zu Beaupré: mit dem Anbruche der Nacht wird das Arresthaus geschlossen und Sie haben Ihren Damen versprochen, daß Sie ihnen diesen Abend noch von Ihrer Reise Bericht abstatten wollen. Henriette sprang von ihrem Stuhl auf: und ich darf Sie nicht ohne ein Wort des Dankes an meine neue Mutter abreisen lassen. Sie schrieb folgendes Briefchen.

»Die glükliche Henriette, Madame, wirft 126 sich vor ihnen auf die Kniee und sucht einen Ausdruk für die Gefühle ihres dankbaren Herzens. Ihr edler Sohn will sie ganz zur Würde Ihrer Tochter erheben, und das unvergeßliche Wort, das Sie im Augenblicke des Abschieds zu ihr sprachen, giebt ihr die Vollmacht, diese Ehre anzunehmen. Welch eine Mutter, welche Schwestern giebt er mir mit eben der Hand, womit er mir sein Herz schenket! Lesen Sie in dem meinigen, was meine geübte Feder Ihnen nicht sagen kann, das Gelübde der zärtlichsten Ehrfurcht und Liebe Ihrer ewig dankbaren

Henriette.

Auch Cölestine gab dem Hauptmann einige Zeilen an ihren neugefundenen Vetter mit, darin sie ihm die Angelegenheiten der Familie Beaupré mit dringender Wärme empfahl. Der Gedanke, daß er ein Bote der Freude zu seiner Mutter zurükkehrte, erleichterte ihm den Abschied von seiner Geliebten; und als er sich einmal auf der Straße befand, sezte er seine Reise mit einer Ungeduld fort, welche der Sehnsucht gleich kam, womit die Seinigen ihn erwarteten. Mit Henriettens Portrait auf der Brust trat er in die Stube; Fanny, die es sogleich erblikte, stieß ein lautes Jubelgeschrei aus; alle stürzten in seine Arme. Die namenlosesten Gefühle der Rührung und des Entzückens wechselten in ihrem Herzen, als er ihnen die verschiedenen Auftritte dieses so festlichen Tages erzählte, und dennoch 127 glaubte er noch nichts gesagt zu haben, als der Aufseher des Gefängnisses ihm ein Billet brachte, das sein Wirth ihm zuschikte. Kaum hatte er die Augen darauf geworfen, so sagte er lächelnd zu seiner Mutter: ich komme in einer Minute wieder und flog wie ein Pfeil zum Zimmer hinaus.

Die Stunde der Mitternacht überraschte Henrietten am Busen ihrer Freundin, in den sie den Strom ihrer Empfindungen ausschüttete, und als sie sich niedergelegt hatte, sezte sie die Unterhaltung noch lange mit sich selbst fort. Ihre Seele durchschweifte die verschiedenen Stationen ihrer zurükgelegten Laufbahn, sie segnete die Leiden, die sie einem Glücke entgegen führten, das ihre kühnsten Wünsche überstieg und ihr auf keinem andern Wege zu Theil geworden wäre. Wie der Barde von Sion die Gegenwart seines Genius fühlt, so fühlte sie das Daseyn einer leitenden Vorsehung; sie weinte ihr ein stilles Dankopfer, und schmiegte sich noch kindlicher in ihre Arme.

Das Lallen der kleinen Nina wekte sie aus ihrem Morgenschlummer. Schon blizte die Sonne durch das Traubengeländer, das ihr Fenster beschattete, und unter Colettens Händen ertönte in der Küche die rasselnde Kaffeemühle. Sie sprang aus dem Bette und hüpfte mit dem Kinde nach dem Garten, den sie noch nicht besucht hatte. Als sie gegen die Laube kam, erblikte sie ihre Freundin, die ihre 128 Horen betete. Henriette wich zurük; sie wollte sie nicht stören. Cölestine schlug ihr Buch zu: nicht doch, liebes Kind, die Gestalt, unter der du mir erscheinst, erbauet mich nicht weniger, als das Buch, darin ich lese. Sie sezten sich zusammen, und Henriette erinnerte sich, daß an eben diesem Orte Morant ihr den schmachvollen Absagebrief des betrogenen Menard mittheilte. Damals sagte sie, hielt ich mich für unwiederbringlich elend, und heute, o meine Freundin! heute . . . . wie müßte ich mich schämen, wenn ich nicht Beiden vergeben hätte! sie waren die Werkzeuge meines Glückes, und du, meine Nina, bist die Ursache desselben.

Noch klebte ihr Mund auf der Wange des Kindes, als eine wohlgekleidete Mannsperson in die Laube stürmte und mit dem Ausrufe: Sie ist es! zu ihren Füßen niederstürzte. Großer Gott! Montlac . . . . Helene, meine Helene! rief Cölestine, und ein reizendes Frauenzimmer lag in ihren Armen; Henriette war halb ohnmächtig; ihr Auge war offen; allein sie sah nichts, als ein Paar dunkle Schatten vor sich schweben. Doch Helene wekte sie bald aus ihrer Betäubung: ach Nina, meine Nina! rief sie, indem sie das Kind mit convulsivischer Gewalt umschlang, und an ihre bebende Brust drükte, habe ich dich wieder, meine süße Nina? Vergeben Sie, göttliche Seele, fuhr sie nach einigen Minuten fort, Sie hätte ich zuerst umarmen sollen; 129 vergeben Sie einer Mutter! Sie fiel Henrietten um den Hals; sie hörte nicht auf, sie zu küssen, indeß ihre Thränen ihr Gesicht überschwemmten. Wir wissen alles, alles. Jezt ergriff Montlac Henriettens Hand: ja wir wissen alles, großmüthige Henriette, zweite Mutter meines Kindes, und . . . . o, dieser Titel ist uns eben so viel werth – unsere Schwester.

Alles, was ich sehe und höre ist mir ein unauflösliches Räthsel, sagte Cölestine, wo kommen Sie her? was für ein guter Genius führt Sie so früh in unsere Mitte?

Montlac. Sie sollen alles erfahren, liebe Freundin, lassen Sie uns nur erst zu Athem kommen; wir selbst zweifeln noch, ob wir wachen. Es erfolgte eine große Pause, welche die kleine Nina ausfüllte, die bald der Vater, bald die Mutter auf die Arme nahm, und mit stiller Wollust betrachtete, indeß das Kind sie anlächelte oder ihre Liebkosungen erwiederte.

Montlac hatte sich gesammelt: gestern, sprach er, kamen wir in Lyon an, wo wir in unserm gewöhnlichen Gasthofe einkehrten. Durch einen glüklichen Zufall hatte auch unser Bruder diese Herberge gewählt. Er war abwesend, allein wir erfuhren von unserm Wirthe seine Rükkunft aus Indien und die fortdaurende Gefangenschaft unserer übrigen Familie. Indeß kam Beauprés Bedienter mit dem Kariol 130 zurük; er selbst war am Gefängnisse ausgestiegen. Ich schrieb ihm ein Billet, weil es uns nicht rathsam schien, unsere Lieben zu überraschen. In einer Minute lag er in unsern Armen, und in einer andern Minute lagen wir in den Armen unserer Mutter und unserer Schwestern. Sie erzählten uns, was Sie, edle Henriette, für uns gethan und gelitten haben. Und dieser Engel, sezte unser Bruder hinzu, ist seit wenig Stunden meine Braut und euere Schwester. Nun erst fühlen wir uns ganz glüklich. Ja, theure Henriette, das heilige Band, das sie gestern geknüpft haben, ist allein fähig, uns mit unserm Schiksal völlig auszusöhnen. Als eine Fremde haben Sie zuviel für uns gethan; einer Schwester sind wir gern alles schuldig.

Helene. (sie umarmend) Diesen Nahmen gab Ihnen mein Herz schon damals, da Sie die verkappte Dienstmagd mit ihrem blinden Manne so liebreich aufnahmen und mit einer so zärtlichen Unruhe meiner weinenden Nina zu Hülfe eilten. O, glauben Sie, nur die Furcht, wir möchten uns verrathen, hat unsere geheime Entweichung veranlaßt.

Henriette. Ihr gütiges Briefchen bestätigte blos, was mein Vater und ich bereits gemuthmaßt hatten, daß Sie nicht waren, was Sie scheinen wollten. Gleichwohl hätte ich Sie, Herr Marquis, nicht mehr erkannt.

Dank sey es meiner Helene, antwortete dieser 131 lachend, sie wußte mich so geschikt zu entstellen, daß wir acht Tage unentdekt das Land durchkreuzten und endlich mit einer schweren Bürde Kupfermünze die Grenze erreichten. Jedermann gab dem armen Blinden ein Allmosen, dem seine schlaue Führerin alle Morgen die Augen mit Eierweiß zuklebte.

Cölestine. Liebe, holde Helene! Allein wie kamet ihr zurük.

Montlac. Ein edelmüthiger Repräsentant, welcher der Aechtung des Triumvirats, wie wir, durch die Flucht entgieng, und den wir in der Schweiz kennen lernten, nahm sich nach seiner Rükkunft unser an. Es war ihm um so leichter meine Unschuld darzuthun, da mein Denunciant nun selbst vom Schwerdte der Gerechtigkeit verfolgt wurde. Dieser Rechtschaffene bewirkte unsere Zurükberufung, die wir vor drei Tagen durch den französischen Minister in Genf erhielten.

Cölestine. O, warum wurden wir selber nicht einen Tag später frei? So hätten wir Zeugen der himmlischen Scene euerer Wiedervereinigung mit unsern theuren Mitgefangenen seyn können.

Henriette. Als ob die heutige nicht auch eine himmlische Scene wäre.

Helene. Da haben Sie recht, meine Schwester; und Sie sehen an der Ungedult, womit wir hieher eilten, daß wir uns auch hier eine solche Scene versprachen. Nachdem wir die halbe Nacht 132 mit meinem Bruder verplaudert hatten, machten wir uns vor Tages Anbruch auf den Weg, um den lezten und heißesten unserer Wünsche zu befriedigen.

Hier wurde das Gespräch durch die Erscheinung des Friedensrichters unterbrochen, welcher die angelegten Siegel abnahm, und so die lezte Spur von Henriettens ausgestandenen Leiden vertilgte.

Wiederholte Erzählungen, erneuerte Herzensergüsse verlängerten die prunklose Mahlzeit, womit Henriette ihre Gäste bewirthete. Es war ein ächtes Bundesmahl der himmlischen Freundschaft. Schön war der gestrige Tag, sagte sie, indem sie um den Arm ihrer neuen Schwester den ihrigen schlang, der schönste Tag meines Lebens. aber eben so schön ist der heutige. Helenens liebefunkelndes Auge war wechselsweise auf Henrietten und die kleine Nina gerichtet. So gesund, so blühend hatte sie sich, selbst nach der Beschreibung ihres Bruders, das reizende Geschöpf nicht vorgestellt. Man kam überein, daß sie bei Henrietten und Cölestinen die Befreiung ihrer Mutter und Schwestern abwarten, und daß Montlac gegen Abend in die Stadt zurükkehren sollte, um dieses Geschäfte gemeinschaftlich mit seinem Schwager zu betreiben.

Nach Tische wurden Robert und Colette gerufen. Das edle Paar gab sich ihnen als Nina's Eltern zu erkennen. Diese Nachricht überraschte sie 133 weit weniger, als der Ausdruk ihres Dankes für die ihrem Kinde erwiesene Treue. Als ihnen aber Henriette ihre bevorstehende Heirath ankündigte, so wußten sie sich nicht zu fassen. Colette taumelte wie eine Trunkene in der Stube herum und klatschte in die Hände. Roberts Gesicht strahlte; alle seine Runzeln verschwanden; er strich sich den Schnurrbart; er wischte sich die Augen: dachte ichs doch gleich gestern, sagte er mit einer politischen Miene, daß dieser Herr Hauptmann eine geheime Expedition im Schilde führe. Nun, liebste, beste Mademoiselle, will ich gerne zu meinem alten Freunde dort hinüberwandern; ich habe ihm einen herrlichen Rapport zu bringen. Es geht ihm gewiß wohl in seiner jetzigen Garnison; dennoch wollte ich meinen grauen Kopf darum geben, daß er diesen Tag erlebt hätte. Henriette ward erweicht; auch sie heftete ihren nassen Blik auf das Bild ihres Vaters: seine Prophezeihung ist eingetroffen, sagte sie zu Helenen; als ich ihm Ihr Briefchen vorlas, sprach er zu mir: trage es auf deinem Herzen, es wird dir Glük bringen.

Nun übergab sie ihr das Körbchen, in welchem Nina lag, und das sie mit Allem, was es enthielt, sorgfältig aufgehoben hatte. Ich darf es nicht behalten, sprach sie; es muß einst ein Stük des Brautschatzes Ihrer Tochter ausmachen. Unter dem Leinengeräthe fiel Helenen die Rolle Louisdor in die 134 Hände, welche Henriette, so gut sie konnte, darunter verborgen hatte. Dieses Geld ist nicht unser, sagte Montlac. Hoffentlich auch nicht mein, erwiederte Henriette mit einem ernsthaften Blicke. Nun wohl, auch nicht Ihre, versezte er lächelnd, wir wollen uns nicht darum zanken. Er theilte die Summe zwischen Roberten und seiner Nichte, und die Art, wie er es that, verzehnfachte den Werth des Geschenkes.

Roberts Dankbarkeit sah nur den Geber, Colettens Dankbarkeit nur die Gabe. Halb wahnsinnig vor Freude lief sie zu ihrem Gontier und verkündigte ihm ihr Glük. Nun glaubte sie, wäre es die rechte Zeit Henrietten ihren Freier vorzustellen. Der gute Bursche folgte ihr mit schüchternem Schritte. Henriette bewillkommte ihn mit der holdesten Güte und wünschte ihm Glük zu seiner Braut. Dann zog sie die beiden Assignate, die er ihr einst schenken wollte, aus ihrer Brieftasche hervor: da seht, mein Freund, ich habe sie noch und sehe sie nie an, ohne mich euerer Freundschaft zu erinnern. Sie erzählte der Gesellschaft, was er für sie that und thun wollte; und alle drükten gerührt dem Redlichen die Hand. Seine Verlegenheit war beinahe so schön, als seine That. Als er Worte finden konnte, hielt er Henrietten, ohne es zu wissen, mit der Beredsamkeit eines Naturkindes, die schmeichelhafteste, oder besser zu sagen, die rührendste 135 Lobrede. Ich wußte immer, so schloß er, und jedes Kind im Dorfe weiß, daß ihr gut seyd, wie eine Heilige; allein erst seitdem ich mit Coletten bekannt bin, weiß ich es so recht aus dem Grunde. Ich habs ihr nicht gesagt, aber geschworen hab' ichs mir selbst: wenn euch ein Leid geschehen wäre, so hätte der verfluchte Pfaffe mirs mit seinem Blute bezahlen müssen. Doch er hat nun seinen Lohn.

Henriette und Cölestine zugleich: wieso?

Gontier. Erst vor einer halben Stunde kam der Rosenwirth aus der Stadt und sagte, Morant sey diesen Morgen in einem Gäßchen todt gefunden worden. In seinem Herzen stak ein Dolch, auf dem die Worte eingekrazt waren: dem Mörder meines Vaters.

Die Frauenzimmer schauderten; Robert schüttelte bedenklich den Kopf: es ist allemal schlimm, wenn man dem Henker ins Handwerk greifen muß; allein was dem Buben geworden ist, hat er zehnfach verdient. Er war einer von den Ohrenbläsern des abscheulichen Collot und der Vergifter unsers Dorfes. Seit seiner verdammten Valetpredigt glauben die Schurken nicht mehr, daß sie Schurken sind, und machen täglich mehr Rekruten.. Was wohl seine getreue Liese dazu sagen wird? Dieser gönnte ich doch auch den Staupbesen; schade, daß man ihn abgeschafft hat.

Henriette. Nicht doch, guter Robert: 136 das Glük unserer Colette wird ihr ein beständiger Staupbesen seyn.

Robert. Da haben Sie bei meiner Seele recht! und am Ende wird der Nickel doch auf dem Misthaufen sterben; denn ich habe wohl hundert Exempel erlebt, daß . . . .

Montlac sah sich genöthigt, Roberts Homilie in der Geburt zu ersticken. Die Stunde gebot ihm, aufzubrechen. Von allem, was er gesehen hatte, bezaubert und mit Wonne gesättigt, kehrte er in die Stadt zurük und lebte diesen festlichen Tag gleichsam zum zweitenmal, indem er die Scenen desselben seiner Familie darzustellen suchte.

Beaupré konnte keinen zweiten Tag verstreichen lassen, ohne seine Braut und seine wiedergefundene Schwester zu besuchen. Die Nachrichten, die er mitbrachte, ließen eine nahe Vereinigung der ganzen Familie hoffen. Nun waren sie alle, besonders der Hauptmann, blos mit diesem frohen Gedanken beschäftigt. Seinem Plane nach sollte Henriette sie so fort auf sein Gut begleiten, und Montlac mit seiner Gattin und Cölestinen so lange bei ihnen bleiben, bis sein Schloß, auf dem privilegirte Räuber im Nahmen der Nation, aber für eigene Rechnung, mancherlei Plünderungen vorgenommen hatten, wieder in bewohnbarem Stande seyn würde. Während dieser Vereinigung wollte Beaupré seine Verbindung mit Henrietten feiern, welche ohne 137 Prunk und Geräusch begangen werden sollte. Ist meine Henriette mit diesem Plane zufrieden? fragte er zulezt. Beredter, als das lauteste Ja, antwortete ihm der liebevolle Blick des reizenden Mädchens. Aber ich bin es nicht, sagte Helene, wenn ihr mir nicht versprechet, den Monat nach euerer Hochzeit bei mir zuzubringen. Eine Kajute, wie du eine auf deinem Schiffe und wie Henriette eine im Gefängnisse fand, werdet ihr wohl auch bei uns antreffen. Diese Sorge überlasse ich meiner Castellanin Cölestine, von der ich mich in dieser Welt nie wieder trennen werde. In keiner Welt antwortete diese in den Armen ihrer Freundin; ich will Nina's dritte Mutter seyn; den Rang der zweiten hat Henriette mir abgewonnen.

Sie wurden von Roberten unterbrochen, der mit dem Degen seines alten Freundes hereintrat. Er näherte sich Henrietten: hier, liebe Mademoiselle, ist das Heiligthum, das Sie mir anvertraut haben. Schenken Sie es Ihrem Bräutigam; es ist bei Gott mehr werth, als ein Zepter. Das ist der Degen ihres Vaters, Herr Hauptmann, des bravsten Soldaten von der ganzen Armee. Der Marschall von Sachsen nahm ihn von seiner eigenen Seite, um ihn damit zu beschenken. Mit einer glänzenden Thräne im Auge, die ihr lächelndes Antliz noch mehr verklärte, übergab ihn Henriette dem Geliebten. Er küßte die Hand der Geberin und 138 drükte den Degen an seine Brust: unser Freund Robert hat recht; dieser Degen ist mehr werth, als ein Zepter; auch mir soll er ein Heiligthum seyn, und an unserm Hochzeittage meine Hüfte schmücken. Doch der Held, der ihn trug, hat seiner Erbin noch mehr, er hat ihr seine Seele hinterlassen. Ja wohl, das hat er, rief Robert; ich sehe wohl, Sie kennen sie. Schon als Kind fürchtete sie nichts; wenn ich sie auf meinen Arm nahm, spielten ihre Händchen mit meinem Schnurrbarte; als sie größer ward, scheuete sie die Krankenbetten der Elenden nicht, denen sie Labung zutrug: und als der finstere Hatschier sie ins Gefängniß abführte, schwang sie sich so leicht, so heiter in die Kalesche, als obs zu einer Hochzeit gienge. Wir weinten alle; nur sie nicht; dabei war sie so gut, wie ein Engel Gottes; das wissen die Armen im Dorfe wohl. Schon als ein Mädchen von acht Jahren, wenn sie kein Geld hatte, lief sie in den Garten und las Obst unter den Bäumen auf und vertheilte es unter die armen Kinder. O, lieber Herr Hauptmann! Sie bekommen ein schönes Stük Arbeit, wenn Sie sie so glüklich machen wollen, als sie es zu seyn verdienet. Aber ich weiß, das werden Sie, Sie sind mir der Mann dazu. Ja, das will ich, mein Freund, ich schwöre es ihr in euerer Gegenwart, rief Beaupré, indem er Henrietten in seine Arme schloß. Helene und Cölestine folgten seinem Beispiel und drükten 139 ein neues Siegel des Bundes auf ihre glühende Wange.

Als Robert weg war, faßte sie ihren Geliebten bei der Hand. Ich habe ein Projekt und Ihr Herz bürgt mir dafür, daß Sie es nicht mißbilligen werden: wie wäre es, wenn wir dem guten Alten mein Gütchen zum lebenslänglichen Genusse überliessen? er verdient bessere Tage, als sein beschwerlicher Botendienst und dürftiger Invalidensold ihm verschaffen können. Sie würden mir durch diese Frage wehethun, antwortete Beaupré, wenn ich nicht sähe, daß Sie mich Ihrer Wohlthätigkeit beigesellen wollen. Nie, meine Theure, werde ich ihr Grenzen setzen, und ich habe noch genug aus dem allgemeinen Schiffbruche gerettet, um es Ihnen an keinen Mitteln dazu fehlen zu lassen. Der erste feurige Kuß Henriettens war die Belohnung dieser Antwort. Sie selber müssen ihm sein kleines Glük ankündigen, rief sie, indem sie zur Thür hinausflog. In einem Augenblicke kam sie mit Roberten am Arme zurük: mein Bräutigam hat eine Bitte an euch. Sie winkte dem Hauptmann. Ich bin blos der Wortführer meiner Geliebten, sagte dieser, als er sah, daß Henriette nicht sprechen wollte. Sie wünscht, daß das Haus ihres ehrwürdigen Vaters von seinem Freunde bewohnt, und daß sein Garten von redlichen Händen gebauet würde; euch vertrauet sie diese Sorge. So lange ihr lebet, sollt ihr die Früchte davon 140 genießen, aber uns jährlich ein Paar Truthähne für die Pacht, und zwar in Person entrichten, damit wir sie zusammen verzehren können.

Ich verstehe Sie, erwiederte der gerührte Kriegsmann; jener dort machte es auch immer so, wenn er mir eine Wohlthat erzeigen wollte. Dann ergriff er den Hauptmann und Henrietten bei der Hand: diese lieben Hände wollen meinen Weg nach dem Grabe mit einem seidenen Teppich belegen. Nun wohl; warum sollte ich es ihnen wehren? er drükte ihre Hände an seine Brust, und ließ eine große Thräne darauf fallen: ich habe keine andere Münze, um meine Schuld zu bezahlen; allein es ist einer, der sie übernehmen wird. Henriette unterbrach ihn. Colette und ihr Mann sollen das Hauswesen besorgen; ich überlasse ihnen mein Vieh für ihre neue Wirthschaft.

Colette stand unter der Thür; sie taumelte herbei und wollte ihre Kniee umarmen. Henriette hielt sie zurük: hast du vergessen, daß wir noch vor zehn Jahren um Pflaumen und Nüsse mit einander spielten? Nun ja; schon damals machten Sies immer so, daß ich gewinnen mußte, antwortete Colette schluchzend und . . . . Doch die Danksagungen, wie die Liebeserklärungen, sehen sich alle mehr oder weniger ähnlich, wenn man sie in Worte kleiden will. Henriette klopfte ihr auf die Backen: sey 141 glüklich, meine Freundin, pflege und warte deines guten Onkels und denke immer, es sey mein Vater.

Auch diesesmal mußte Cölestine den glüklichen Beaupré an die Abreise erinnern. Indeß er wonnesatt nach Lyon zurükeilte, hatte seine Familie ihre Freilassung erhalten. Er fand sie bereits in der gemeinschaftlichen Herberge, wo sie ihm mit offenen Armen entgegen liefen. Man speiste auf seinem Zimmer zu Nacht, und dieses Abendmal der Freiheit erhielt durch seine Erzählung eine neue Würze. Es wurde beschlossen, Henrietten am folgenden Morgen mit gesammter Hand zu überraschen, um sie nach Tische mit ihrer Gesellschaft in die Stadt zurükzubringen, wo man sich höchstens noch zween Tage aufhalten wollte.

Dieser Plan ward ausgeführt. Henriette gieng mit ihren Gefährtinnen auf dem mit Obstbäumen verbrämten Feldwege spazieren, als die Wagen heranrollten. Das holde liebe Mädchen in den Armen ihrer künftigen Mutter, ihres Bräutigams, ihrer Geschwister, die kleine Nina am Busen ihrer Großmutter, ihres Vaters, ihrer Tanten, die sich den jungen Engel um die Wette entrissen – diese Scene ist ein bewegliches Gemählde, das sich nicht festhalten, viel weniger nachzeichnen läßt. Kurz, Henriettens Einsiedelei glich einer lachenden Insel, auf der eine durch Schiffbruch getrennte Familie guter Menschen sich wieder zusammen findet, und 142 sich nun anschikt, mit günstigem Winde ins Vaterland zurükzusegeln. Allein, ob sie gleich dem Hafen ihres Glückes entgegen sah, so ward Henriette dennoch durch den plözlichen Aufruf zur Abreise erschüttert, und als der Augenblik des Abschieds erschien, konnte sie das väterliche Dach und die heimische Flur nicht ohne Thränen verlassen. Schweigend drükte sie ihrem grauen Freunde und Coletten und dem redlichen Gontier die Hand; schweigend nikte sie einer Schaar von Bauren und Bäurinnen, die sich um ihre Thür versammelt hatten, ihr liebreiches Lebewohl zu. So lange sie konnte, sah sie auf die schwindende Gruppe zurük, die mit geschwungenen Hüten oder aufgehobenen Händen ihr Segen nachwinkte.

Ein zärtlicher Blik ihres Geliebten öfnete ihr Herz einem andern höhern Gefühle. Gott! rief sie, indem sie seine Hand an ihren Busen preßte, welch eine Reise gegen jener, die mich an der Seite eines Häschers nach Lyon führte. Damals glaubte ich Alles verloren zu haben, und fand im Gefängniß Alles und noch unendlich mehr wieder, als ich verloren hatte.

Am dritten Tage gieng die Reise nach Beaupré vor sich. Die Einwohner des schönen Dorfes empfiengen ihre ehemalige Herrschaft so, als wenn sie noch ihre Herrschaft wäre. Das Andenken ihrer Wohlthaten lebte in ihren Herzen wieder auf, oder 143 es war nie darin erloschen. Die jungen Männer freueten sich besonders des Hauptmanns, der sie als Knabe so oft bei ihren Soldatenspielen kommandirt und bewirthet, und den sie seit mehrern Jahren nicht gesehen hatten.

Henriette wurde durch den Glanz, der sie umgab, nicht so wohl geblendet als niedergedrükt. Beaupré von seinen Schwestern begleitet, führte sie auf ihr Zimmer, das eben so prächtig als geschmakvoll ausgeziert war. Ihre Hand zitterte in der seinigen, als sie hineintrat. Hier, meine Henriette, sagte er, indem er sie zärtlich umarmte, sind Sie in Ihrem Eigenthume. Betrachten Sie sich von nun an als die Gebieterin dieses Hauses und uns als ihre Hausgenossen. Sie konnte ihm blos durch einen Händedruk antworten; ihr Herz war beklommen; sie mußte sich niedersetzen. Beaupré und seine Schwestern bemerkten ihre Erschütterung. Sophie streichelte ihr die blasse Wange: Ihre neue Heimath ist Ihnen noch fremd, liebste Schwester, und das Getöse hat Sie betäubt; nicht wahr, wir sollen Sie ein wenig allein lassen, damit Sie sich erholen können? Henriette sah sie mit Augen voll Liebe und voll Thränen an. Alle schlichen davon, bis auf Cölestinen, die sich neben sie auf das Kanapee sezte.

Henriette schmiegte sich an ihren Busen, als wollte sie sich darin verbergen. O, liebe Freundin! wo nehme ich Kraft her, mein neues Daseyn zu 144 ertragen? Alles, was mich umgiebt, ist zu groß, zu prächtig für mich. Hätte ich einen Blik in dieses Haus thun können, ich würde es nicht gewagt haben, Beauprés Hand anzunehmen. In unserm Gefängnisse hatte ich von dem Allem keinen Begriff; die Aehnlichkeit unsers Schiksals hatte uns gleich gemacht; wie leicht war mein Herz, als ich in meine Hütte einzog, und jezt wie schwer! ich fürchte mich, in diesem Palaste zu wohnen. (wehmüthig lächelnd) Lieber Dagobert, wie wohl wäre mir, wenn ich dich in meine Hütte einführen könnte, wie du mich in deine Burg einführest! Cölestine sah sie ernsthaft an: also war dir nicht wohl, als du deinem alten Freunde deine Wohnung einräumtest, und als dein Geliebter dich zu seiner Almosenpflegerin ernannte? Henriette fuhr auf: o ich habe Unrecht, meine Freundin, aber Gott weiß, ich bin nicht undankbar. Leiten Sie mich, unterstützen Sie mich; lehren Sie mich mein Glük ertragen. Kommen Sie, wir wollen hinunter. Sie faßte sie bei der Hand und eilte zum Zimmer hinaus.

Mit himmelheiterm Gesichte erschien sie in der Gesellschaft, und blieb den ganzen Abend sich gleich. Alle waren von ihr bezaubert, und niemand konnte die schnelle Veränderung begreifen. Als sie sich weg begeben hatte, fragte der Hauptmann Cölestinen um die Ursache. Bei jedem Worte ihrer Erzählung wurde das theure Mädchen ihm noch theuerer, und 145 er versprach der weisen Nonne zu folgen, welche ihm rieth, sie ihren schönen Gang ungestört fortgehen zu lassen. Er behielt fürs erste die ihr bestimmten Juwelen zurük, und gab ihr nur die simpelsten von den Stoffen und Puzarbeiten, die er unter der Leitung seiner Schwestern in Lyon für sie eingekauft hatte.

Nach und nach lernte Henriette sich an ihre Verwandlung gewöhnen und den Schimmer, der ihren Augen erst so wehe that, mit Gleichgültigkeit betrachten. Sie duldete die Bedienung ihrer Zofe; allein, um dieses Unrecht gleichsam gut zu machen, sagte sie ihr einst, daß sie die Tochter eines Bauernsohns sey, der vom gemeinen Soldaten sich zum Offizier und Ludwigsritter aufgeschwungen habe. Diese Anecdote gieng wie ein Lauffeuer durch das Dorf, und wenn Henriette mit ihrer neuen Familie spazieren gieng, wurde sie nun von den Einwohnern um desto traulicher gegrüßt. Selbst Beaupré erhielt dadurch ein neues Verdienst in ihren Augen, weil er, wie sie unter sich sagten, als ein guter Patriot, in ihre Verwandtschaft heirathen wollte.

So rükte der Tag ihrer Vermählung heran, der, wie ein Fest des Herzens, in heiterer Stille gefeiert wurde. Um seine Braut zu überraschen, hatte Beaupré einen Reitknecht mit einem Kariol abgefertigt, der den wackern Robert des Abends zuvor herüberbrachte. Diese Galanterie freute 146 Henrietten mehr, als der kostbare Brautschmuk, den sie beim Erwachen auf ihrem Puztische fand, und der graue Kriegsmann, dem das Wasser immer in den Augen stand, entstellte die edle Gesellschaft nicht, an deren Tafel er den Ehrenplaz einnehmen mußte.

Beim Nachtisch entfernte sich Helene und kam mit der kleinen Nina auf dem Arm in den Saal zurük. Das Kind überreichte Henrietten ein mit Diamanten eingefaßtes Medaillon, das an einer goldenen Kette hieng. Das meisterhafte Gemählde stellte einen Altar vor, auf welchem das holde Geschöpf sein Findlingskörbchen, mit Blumen gefüllt, hinsezte, mit der Aufschrift: Meiner zweiten Mutter. Diesen Titel rechtfertigt Henriette noch jezt, ohngeachtet ein kleiner Dagobert wie ein Amorette sie umflattert, und eine zweite Nina auf ihrem Schoose spielet. 147

 


 


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