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Kapitel I.

Paula Becker wurde als das dritte Kind ihrer Eltern am 8. Februar 1876 in der Friedrichstadt zu Dresden geboren. Ihr Vater, der Baurat Becker, stand als Ingenieur im Dienste der Eisenbahnverwaltung. Ich entsinne mich sehr wohl des ernsthaften, gütig-stillen Mannes mit den durchfurchten Zügen, der mit einem kleinen Kreise gleich gestimmter Kunstfreunde an regelmäßigen Abenden gemeinsamer Betrachtung die Sammlungen des Bremer Kupferstichkabinetts durchzunehmen pflegte. Er sprach das Deutsch mit jenem herben Akzente, der unseren in Rußland wohnenden Landsleuten gemeinsam zu sein scheint, denn er war in Odessa geboren, wo damals sein Vater als Rektor der Universität lebte. Die Familie, der viele Geistliche und Gelehrte entsprossen sind, stammt aus Sachsen. Die Mutter unserer Künstlerin, eine lebhafte Frau von liebenswürdiger Menschlichkeit, gehört einer Offiziersfamilie an; sie ist die Tochter des Majors von Bültzingslöwen, der als letzter Kommandeur das kleine 1866 aufgelöste Truppenkontingent der Hansestadt Lübeck befehligte.

Im Jahre 1888 siedelte die Familie Becker von Dresden nach Bremen über: und hier, in der schönen alten Stadt an der Weser, blieb das fernere Leben Paulas verankert. Nicht als ob sie eigentlich eine Bremerin geworden wäre. Das hanseatische Leben, das um den Welthandel kreist, blieb ihr fremd. Und die Menschen der behäbigen selbstzufriedenen Gesellschaft, mit denen sie in Berührung kam, erschienen ihr mit wenigen Ausnahmen als irgendwie unzulänglich. Sie empfand ihr Wesen als Halbheit und konnte es auf die Dauer nicht ertragen, unter ihnen zu leben. Aber sie liebte die Stadt mit dem Rathaus und dem Roland, mit den alten Kirchen und den alten Häusern, mit den Weserufern und dem Kranz ihrer grünen Wallanlagen. Hier wohnen noch heute nach dem Tode des Vaters ihre Mutter und ihr ältester Bruder. Draußen vor der Stadt breitet sich eine Landschaft mit vielen Wasserläufen aus, einfach, doch reich an Zügen der Schönheit. Dies Flachland mit den vereinzelten Gehöften seiner Dörfer, in dem der Fernblick überall durch kleine Baumgruppen, Gehölze, bepflanzte Heerstraßen unterbrochen und bereichert wird, enthält vieles von den Motiven der großen holländischen Landschaftsmaler. Man glaubt sich irgendwo in der Nähe von Jan van Goyen, von Hobbema und Ruisdael zu befinden. Auch ist die Heide nah, ernst und zeitlos wie das Meer, und das Blockland mit seinen Kanälen und seinen unerhörten Farben. Alles dieses liebte Paula Becker; und sie liebte und verstand auch die niedersächsischen Bauern, die ernst und wortkarg dieses Land bewohnen. Solchermaßen wurde sie nun hier beheimatet.

Wann sich der Drang zum künstlerischen Schaffen bei ihr gemeldet hat, bleibe dahingestellt. Sie scheint nicht frühreif gewesen zu sein. So etwas wie Zeichenunterricht hat sie zuerst in London genossen, wo sie 1892 bei reichen Verwandten ein halbes Jahr bis gegen Weihnachten verlebte. Dann unterwies sie ein bremischer Maler, Bernhard Wiegand, so gut es gehen wollte, bis endlich Ernst gemacht wurde und die Eltern sie hinausziehen ließen, damit sie sich gänzlich der Kunst widme. Sie zählte damals zwanzig, und das Reiseziel war Berlin.

Über die nächsten Jahre der Entwicklung sind wir durch Briefe und Tagebücher, die zum Teil gedruckt wurden, leidlich unterrichtet. Paula liebte es, sich und den Ihrigen Rechenschaft abzulegen über das, was der Tag bescherte und sie innerlich bewegte. Doch wolle man ihre Aufzeichnungen nicht mit den gewohnten Ergüssen schreibseliger junger Mädchen vergleichen. Hier enthüllt sich ungewollt eine Frauenseele, deren Charakter so wertvoll war wie ihre Begabung. Sie dachte nicht daran, daß je andere Augen als die ihrer Liebsten und Nächsten über diese Blätter gleiten könnten. Und wie jede literarische Prätension ihr fern war, so fehlte ihr auch jede Spur der Eitelkeit, die sich selbstgefällig in ihrem Kämmerlein bespiegelt. Wie anders war sie als jene Marie Bashkirtseff, die von Eigenliebe und brennendem Ehrgeiz bei jedem Schritte geleitet und in jeder Zeile inspiriert war! Paula war eine in all ihrem Reichtum einfache Natur, einer Begabung froh, deren Ausbildung sie als Pflicht empfand. Mit hellen Augen und reizbaren Sinnen schaute sie in die Welt, die Menschen und Dinge rasch erfassend und auf ihre Art einschätzend. Wie sich alles bildhaft ihr einprägte, so redete sie davon in der anschaulichen Sprache der Künstlerin. Was sie schreibt, sind »Betrachtungen« im eigentlichen sinnlichen Verstand des Wortes, keine blutleeren Reflexionen; und ihr Urteil wird viel mehr vom Gefühl als von der Überlegung gefällt. Eben darin beruht sein Wert; denn der Instinkt bedeutet mehr als die Intelligenz, und er ist des Weibes bester Teil, das bisweilen hellsehend wird, wo der Mann nur einsichtig bleibt. So erwies sich auch Paula Modersohn den Männern, mit denen das Schicksal sie zusammenführte, als überlegen. Doch wurde sie sich dessen kaum bewußt oder hatte es eben zu ahnen begonnen, als der Tod sie abrief.

Man hat es bedauert, daß ihre Aufzeichnungen in ihren letzten Jahren, da sie zur Meisterschaft gereift war, versiegen. Doch erneuern wir damit nur eine alte Erfahrung, nach der die Menschen am liebsten von sich in ihrer Jugend reden, während späterhin das Bedürfnis, sich mitzuteilen, abnimmt. Auch sind uns solche Einblicke in die Seele des werdenden Künstlers besonders wertvoll, da dann seine Leistungen noch keine klare Auskunft über seine Art und Absicht geben; der Gereifte spricht sich deutlich genug in seinen Bildern aus.

Die ersten Laute, die wir aus Paulas Schriften vernehmen, sind Jubelrufe. Alles verschönt sich ihr in dem beseligenden Gefühl, zeichnen, malen, schaffen zu dürfen. Die Berliner Malschule bei Jeanne Bauck, ein Ball in einem reichen Hause, wo Max Grube und Amanda Lindner einen Prolog aufführten, das magere Aktmodell, Rembrandt in der Galerie und die Michelangelozeichnungen im Kupferstichkabinett, alles ist herrlich. Ihre Mitschülerinnen sind lauter besondere Mädel. Bald hebt sich auch ihr Selbstgefühl, da Dettmann, der sie korrigiert, ihre Studien lobt. (Als ihre Lehrer nennt sie ferner noch Stöving und Haußmann.)

So vergeht der erste Winter. Den Sommer 1899 verbringt sie in Worpswede. Ihr war das abgelegene Moordorf, das wenige Jahre zuvor ein selten aufgesuchtes Ausflugsziel bremischer Feiertagswanderer gewesen war, bisher unbekannt geblieben. Nun freilich ging sein Name durch alle deutschen Werkstätten, seitdem die kleine Schar norddeutscher Maler, die sich hier ansässig gemacht hatte, unlängst in München einen schallenden Erfolg davongetragen hatte. In ihre Tagebuchaufzeichnungen strömen Ausrufe heller Begeisterung; »Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene Glockestimmung. Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun. Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunkeln Segeln; 's ist ein Wunderland, ein Götterland!« – Die jungen Meister, die dieses Wunderland entdeckt hatten und beherrschten, waren ihr alle der Verehrung würdig. Mackensen versteht den Bauern durch und durch; Overbecks Landschaften sind tollkühn in der Farbe; Hans am Ende ist eine feine Künstlernatur; Vogeler ein reizender Kerl, ein Glückspilz, ist ihr ganzer Liebling – »dann ist noch der Modersohn da. Ich habe ihn erst einmal flüchtig gesehen, habe nur die Erinnerung an etwas Langes im braunen Anzug und an einen rötlichen Bart. Seine Landschaften, die ich auf Ausstellungen sah, haben tiefe Stimmung in sich; heiße brütende Herbstsonne oder geheimnisvoll süßer Abend. – Ich möchte ihn kennen lernen, diesen Modersohn!« –

Gleichwohl erwählte sie sich Mackensen als ihren Lehrer, begreiflicherweise, denn Mackensen war die repräsentative Persönlichkeit der Worpsweder Gemeinschaft und kündigte sich in seinen Bauernbildern beizeiten als den Akademiker an, der er folgerichtig seither geworden ist. Unter seiner Leitung malte sie Landschaftsstudien und zeichnete ernsthaft und ein wenig kindlich große Halbfiguren und Brustbilder mit der Kohle und farbigen Kreiden nach den Bauernkindern, den rüstigen Weibern und den verwitterten Alten des Armenhauses. Sie redet die Sprache dieser Menschen, läßt sich von ihren Nöten und von ihrem Sterben erzählen und tanzt mit dem Brautvater auf der Hochzeit der armen Leute. So erobert sie sich wandernd, arbeitend, träumend dieses Land, das in tiefen leuchtenden Farben alles vereint, was es in weitem Umkreis an Schönheit gibt – das Moor, die Heide, bebuschte Hügel, wacklige strohgedeckte Bauernhäuser und weite grüne von Wasser durchzogene Wiesen. Wie sie mit einer überströmenden Liebe alles umfaßt, antwortet ihr ein jedes Ding in seiner Sprache. Sie nennt die Kiefern ihre Männer und die Birken zarte Jungfrauen. Wenn die Tage lang werden und die Nächte hell, verdoppelt sich ihr Leben; sie verträumt wachend die späten und frühen Stunden der Dämmerung und meint lächelnd, man könne ja dafür im Winter um so länger schlafen. Um jene Zeit wird ihr auch eine Freundin zuteil, die ihres Sinnes ist, lebendig, frisch und stark, die Bildhauerin Clara Westhoff aus Bremen. – An einem milden Sommerabend fühlen die beiden die Weihe der Stunde so sehr, daß sie den Worpsweder Kirchturm ersteigen und die Glocken läuten, »weil es so schön war«. Erst die unerwartete Wirkung dieses Weckrufes auf den Herrn Pastor und die Gemeinde führt die beiden Mädchen auf die Erde zurück.

Ein paar Jahre verbringt sie so zwischen Worpswede und Berlin, Jahre, in denen sie sich langsam wachsen fühlt. Und welch ein größeres Glück gibt es wohl als das Bewußtsein des Erstarkens!

Für erfahrene Weltleute war sie damals schwerlich mehr als ein unreifes kleines Malweib. In der Tat hatte sie auch, in einem einfachen Elternhause erwachsen, wenig von dem genossen, was Weltleute lächelnd zu den Schätzen ihrer Erfahrung rechnen. Gelegentliche Reisen hatten ihr dies und jenes von der Welt gezeigt, nur gerade nicht das, was sie für ihre innere Entwicklung gebrauchte. In Worpswede fühlte sie sich zu Hause, und doch sagte ihr ein allmählich sich klärendes Bewußtsein des Ungenügens, daß sie fort müsse, um sich zu vollenden. Sie träumte von Paris –. Das Verlangen hat etwas Überraschendes, denn von ihren bisherigen Lehrern führten keine Wege nach Paris, und dem Impressionismus, der dorthin wies, stand sie fern. Allein sie folgte dem allgemeinen Zuge ihrer Generation, hatte auch wohl von unermeßlichen Anregungsmöglichkeiten und von irgendwelchen neuen Ereignissen des Pariser Kunstlebens einiges Verlockende erfahren. Und schließlich war ihre Freundin Clara Westhoff ihr dahin vorausgeeilt; sie arbeitete unter Rodins Leitung und schrieb beglückte Briefe der Aufforderung.

Gleichwohl wurde ihr der Abschied von Worpswede nicht leicht. Aus dem letzten Jahr ihrer Worpsweder Studien erzählt sie von einem Feste, das Carl Vinnen im März 1899 seinen Freunden in Modersohns Atelier gab. (Vinnen lebte damals auf dem väterlichen Gute Osterndorf, das eine halbe Tagereise entfernt, weiter nördlich lag.) Nun tafelte man beim Scheine von Papierlaternen an mehreren Tischen angesichts der bewunderten Studien Otto Modersohns, die rings die Wände bedeckten. Alfred Heymel war aus München herübergekommen, feierte mit und brachte, wie es seine Art war, alles in Bewegung. »Nach Tische nahm Vogeler seine Gitarre und sang. Dann wurden die Tische beiseitegeschoben, und wir tanzten. Heymel hatte eine Idee vom Tanz, dachte sich Ringelreihen aus, daß ich nie genug hatte. Dazu das weibliche Gefühl, daß mein neues grünes Sammetkleid mir gut stand, und daß sich einige an mir freuten ...«

Die schöne Zeit fand einen unlieblichen Ausklang, als Paula zum erstenmal vor dem Publikum erschien. Sie hatte eine Sammlung ihrer Studien im Dezember 1899 auf die Ausstellung in der Bremer Kunsthalle geschickt. Den Bremern bereitete sie mit den dunkeltonigen, breit hingesetzten Eindrücken ihrer heimischen Moorlandschaft nicht das mindeste Vergnügen, und Arthur Fitger, ein in die Malerei entgleister Schriftsteller, damals in seinem Umkreise das Orakel des guten Geschmackes, sprach seinen Lesern aus der Seele, als er in der Weser-Zeitung gegen das junge Talent das schwere Geschütz seines Hohnes und seiner Entrüstung abfeuerte. Das arme Opfer schwieg verwundet. Es konnte nicht ahnen, daß diese Erfahrung eher glückverheißend als bedrohlich war. Denn die Zionswächter des Kitsches haben mit ihrem Gekläffe noch immer eine ganz gute Witterung für die stärksten unter den keimenden Begabungen verraten. Nicht der Tadel, sondern das Lob Fitgers hätte Paula bestürzt machen sollen. Doch schließlich war sie jung, zuversichtlich und sah einer lockenden Zukunft entgegen. In der Silvesternacht 1899 fuhr sie nach Paris, wo Clara Westhoff sie erwartete.

Die neue Welt, die sie hier umfing, wirkte anfänglich betäubend auf ihr Gemüt. »Auf dem Klavier meines Nervenlebens wird fortwährend forte getrommelt«, seufzte sie erschöpft, denn sie empfand die Fremde in all ihrer Fülle um so stärker, als sie eben aus dem Frieden des eng umhegten dörflichen Kunstkreises hervorgegangen war. Die ersten Eindrücke sind allgemeiner Art. Sie wird sich der tiefgehenden Verschiedenheit deutschen und französischen Wesens allmählich bewußt – ohne jede Erbitterung, ja mit einer Regung der Sympathie, die mit gelindem Grauen kämpft. Sie empfindet Paris als namenlos schmutzig, und ihr kindliches Erstaunen über so viel Verworfenheit hat etwas von dem Verwundern Dürers über die Verlogenheit der artigen Venezianer. Dann bemerkt sie wieder dankbar eine gewisse hebenswürdige Gefälligkeit der Leute, die sich ihres Ungeschickes in kleinen Nöten des Lebens hilfreich annehmen. Zwar wird sie ein wenig belächelt und kommt sich inmitten so vielen Esprits wie ein hilfloses Bäuerlein mit halb gelähmter Zunge vor, aber schließlich fühlt sie sich von der amourösen Heiterkeit der jungen Bohème, deren Leben sie teilt, doch irgendwie angesteckt. Sie wandert mit Clara Westhoff hinaus und freut sich der freundlichen Seinelandschaft; mit deutschen Malern wird getanzt, gerudert, gesungen und geklimpert. In dem Hause eines äußerst begabten deutschen Schriftstellers, der als der Sohn eines bremischen Lehrers seinen alten Namen Alexander Uhlemann in einen unauffälligen Alexandre Ular übersetzt hat, findet sie freundliche Aufnahme und verlebt in dem Kreise gescheiter und etwas wunderlicher Menschen anregende Stunden. Sie ist weit davon entfernt, sich zu assimilieren, aber sie beneidet doch die sorglos Genießenden: »Wir Deutsche können schon darum nicht so viel aussitzen wie die Franzosen, weil wir hinterher an unserem moralischen Katzenjammer zugrunde gehen würden.« Indessen spürt man, wie sich alles um sie weitet und in ihr vertieft. Hier ist die Fülle dessen, was sie entbehrt hatte – der unendliche Reichtum eines Lebens, das auf vielen übereinandergeschichteten Lagen einer alten Kultur erwachsen ist, hier wohnt das Liebliche neben dem Grauenhaften, das Ernste neben dem Absurden, uralter Adel neben frecher Gemeinheit. Und alles Gegensätzliche erscheint versöhnt in dem wirbelnden Treiben der Millionen, über das sich die zarten grauen Töne der Pariser Atmosphäre breiten. Sie hatte nicht gewußt, daß das Leben so tief und so buntschillernd sei. »Im ganzen stimmt Paris mich ernst. Es gibt hier so viel Trauriges. Und was für die Pariser lustig sein soll, das ist das Allertraurigste. Ich sehne mich manchmal nach einem Moorspaziergang! ...« Vielleicht irrte sie sich doch; vielleicht war es nicht so sehr Paris, was sie ernst stimmte, als ihr eigenes Wesen, ein halbdunkeles, schmerzliches Gefühl dafür, daß nun die Zeit junger Sorglosigkeit vorüber sei, daß das Leben rätselvoll um sie stünde und eine ernste Forderung an sie erhöbe.

Ihre Bildung rundete sich inzwischen allmählich, gleichsam zögernd; denn es entsprach durchaus nicht ihrer Art, Neigung und Ziel plötzlich zu ändern. Ja, sie empfand die Stetigkeit ihrer Entwicklung so stark, daß sie, aller Gegensätze vergessend, Paris bisweilen als ein fortgesetztes Worpswede ansehen konnte. Zunächst galt es eine Befestigung der handwerklichen Ausbildung. Sie besuchte mit einem internationalen Schwärm weiblicher und männlicher Jugend die Malschule, die der Italiener Cola Rossi, ein abgedanktes Modell, in der Rue de la grande chanmière unterhielt. Girandot, Collin und Gustave Courteois erteilten die Korrektur – unentgeltlich, um sich bekannt zu machen und Einfluß zu gewinnen. In all dem Lärmenden Treiben wurde es ernster genommen als in Berlin und Worpswede. Einen halben Monat malt sie an einem Akt, fast ohne Farben, nur auf Richtigkeit der Valeurs bedacht. Ihr Eifer findet seinen Lohn in einer Medaille. Sehr schön, doch scheint ihr die Verteilung von Geldpreisen, die es an der Académie Julien gibt, richtiger zu sein. (Man kann es doch brauchen!) An der Ecole des beaux arts genießt sie vortrefflichen Anatomieunterricht. – Die bedeutendsten Anregungen spendet der Louvre; die Kunsthandlungen der Rue Laffitte werden nicht erwähnt und die Meister, die dort gepflegt werden, die Führer ihrer Zeit, die großen Impressionisten, scheinen ihr stumm zu bleiben. Nur Degas wird einmal flüchtig genannt. Kein Wort von Manet, Renoir oder Monet! Dagegen fühlt sie sich unwiderstehlich angezogen von Cottet und Lucien Simon. Sonderbar, und doch begreiflich! Denn jene beiden, keine Führer, sondern geschickte Vermittler, mußten in der Tat der Worpsweder Schülerin sich als die Verständlichsten, beinahe als die Verkörperer erträumter Ideale darbieten. Sie muteten ihr nicht die Preisgabe irgendwelcher bisherigen Errungenschaften zu, sondern zeigten vielmehr, wie man die Dinge, die man ihr als Muster daheim empfohlen hatte, mit etwas mehr Leichtigkeit und Geschmack gestalten möge. Auch sie waren in ihren Bildern der Bretagne Vertreter der gepriesenen Heimatkunst, Parallelerscheinungen zu einem Mackensen oder Vinnen. Namentlich Cottet hatte es ihr angetan. Sein Triptychon au pays de la mer – es war damals Mode, Triptychen zu malen – versetzte Paula in Entzücken. »Diese Tiefe der Farbe! Dabei dekorative Größe gepaart mit zarter seelischer Auffassung!« Sie schätzte sich glücklich, mit dem Meister bekannt zu werden. Doch vergaß sie darum der Worpsweder nicht und schickte ihnen nach deutscher Mädchen Art gemeinsam mit Clara Westhoff mitten aus dem französischen Frühling einen schönen Postkartengruß – »an unsere großen Männer, die Worpsweder, Klinger, Carl Hauptmann«. – Die Hoffnung, mit Modersohn und dem Ehepaar Overbeck zuguterletzt im Juni noch eine Zeitlang in Paris zusammen zu verbringen, wurde schmerzlich vereitelt. Ein paar Tage, nachdem die Freunde eingetroffen waren, kam die Nachricht vom plötzlichen Tode der seit Jahren leidenden Frau Modersohn. Den sofort zurückkehrenden Worpswedern folgten unsere Freundinnen alsbald nach.

Zu Hause hatte man inzwischen nicht ohne Sorgen an Paula gedacht. Die Studien liefen allmählich ins Geld und sollten nicht brotlos bleiben. Auch waren die Eltern ihrer Begabung anscheinend nicht ganz gewiß; vielleicht hatte Arthur Fitgers verächtliche Kritik doch einen Stachel in ihrem Gemüt zurückgelassen. Der Vater hatte bekümmerte Briefe geschrieben und mußte beschwichtigt werden. Im Sommer 1900 wurde ernstlich erwogen, ob Paula nicht eine Stelle als Gouvernante suchen solle. Doch dann kam alles anders. Im Herbste 1900 hielt Otto Modersohn um ihre Hand an. Sie liebten sich, und Paula hatte diese Wendung kommen sehen, nun aber trug sie Bedenken, sich gleich zu binden. Sie wollte zuvor noch lernen, reifen, einen Abschluß machen; aber zuletzt gab sie nach, und bald verlangten die bevorstehenden Pflichten der Hausfrau eine Ausbildung von ganz anderer Art. Die Eltern bewogen sie, nach Berlin zu ziehen, um sich dort in einigen bisher versäumten weiblichen Obliegenheiten unterweisen zu lassen. Mit allem guten Willen machte sie sich an die neuen Pflichten, aber es litt sie nicht lange. Nach kaum zwei Monaten kehrte sie zurück. Der künftige Gatte war es zufrieden. Man würde sich schon behelfen und Paula war frei von Ansprüchen an die Bequemlichkeiten des Lebens. Von der Summe, die der gute Vater ihr zur Aussteuer bewilligt, nimmt sie nur den fünften Teil. Das andere mögen die Geschwister behalten. Eine Stimmung ist über sie gekommen wie über ein Kind vor Weihnachten. Die Menschen sind gut zu ihr, aber sie findet, daß sie in Berlin aus dem Rahmen fällt. »Ein Haus mit Zentralheizung paßt nicht mehr für mich. Auf der Deele soll es kalt sein und in der Stube warm, und wer an den Ofen faßt, der soll sich brennen, und Leben sei überall.« – Am 25. Mai 1901 fand die Hochzeit statt. Um dieselbe Zeit vermählte sich Heinrich Vogeler mit seiner Worpsweder Braut und Clara Westhoff mit Rainer Maria Rilke. Für Paula Modersohn begann ein neuer Lebensabschnitt.

Sie ging in ihn ein mit der siegesgewissen Zuversicht eines reinen und vollen Herzens, ihr Leben müsse sich verdoppeln in dem Widerhall, den ihre Seele in der des geliebten Gefährten finde. Allmählich aber ward sie dessen inne, daß sie zuviel, wenn nicht Unmögliches erwartet hatte. »In meinem ersten Jahre der Ehe habe ich viel geweint ... ich lebe im letzten Sinne wohl ebenso einsam als in meiner Kindheit ... es ist meine Erfahrung, daß die Ehe nicht glücklicher macht. Sie nimmt die Illusion, die vorher das ganze Leben trug, daß es eine Schwesterseele gäbe. – Man fühlt in der Ehe doppelt das Unverstandensein, weil das ganze frühere Leben darauf ausging, ein Wesen zu finden, das versteht. Und ist es vielleicht nicht doch besser ohne diese Illusion, Aug' in Auge mit einer großen einsamen Wahrheit?« – Solche Worte fallen wie Tränentropfen in die Seiten ihrer Aufzeichnungen. Und doch war sie, von außen betrachtet, glücklich! –

So keimte der Konflikt ihres Lebens, der unvermeidlich war und tragisch, denn keiner hatte ihn verschuldet, vielmehr hatten gerade der Wert und die Reinheit der Beteiligten ihn heraufbeschworen. Es war der Konflikt zwischen ihrer Lebensaufgabe und der Stellung, welche die Sitte der Gesellschaft ihr an der Seite des Gatten anwies. Paula kämpfte im stillen um ihre höchsten Güter, um ihre Persönlichkeit, um ihre Kunst und um ihre Freiheit. Mußte darum kämpfen und fühlte sich allein. Mit schmerzlicher Resignation sah sie die Freundin sich entfernen. Das, was sie an ihr zu gewahren glaubte, die Unterordnung unter Wesen und Willen des Gatten, das eben war es, wozu sie sich nicht verstehen wollte.

Die Bitterkeit eigener Erfahrung schärfte ihr den Blick für ihre Umgebung, für die alten Freunde; sie hatte den kindlichen Glauben an sie verloren und erwog sie prüfend. Mit Overbeck fühlte sie keine Gemeinschaft mehr; sie verglich ihn einer unfruchtbaren Arbeitsbiene; an Vogeler vermißte sie die Kraft und Fülle; Mackensen erschien ihr als konventionell. Das »Runenhafte« in den Zügen der Bauern erfaßte er nicht.

Auch sich selbst betrachtete sie kritischer als ehedem. Aber, wenn sie auch ihre Leistung nicht höher bewertete, so glaubte sie doch ihr Ziel klarer zu erkennen und wurde sich gesteigerter Kraft bewußt. Es war ihr, als ob ihre Stimme neue Töne hätte und als ob es größer würde in ihr. Allmählich war ihr jetzt die Einsicht gekommen, daß ein Kunstwerk nichts anderes sein sollte als der Ausdruck innersten Erlebens. Damit hatte sich auch ihr Verhältnis zur Natur geändert, sogar in sein Gegenteil verkehrt. Denn nun fühlte sie sich ihr gegenüber nicht mehr als die demütige Dienerin im Angesicht einer erhabenen Majestät, sondern befreit, als die Herrin eines unendlichen und unerschöpflichen Stoffes, dem sie zu gebieten habe. In dem Lichte solcher Erkenntnis mußte ihr gar vieles, was sie früher an der Worpsweder Malerei gläubig verehrt hatte, als zurückgeblieben erscheinen. Dagegen wurde ihr Paris nun unentbehrlich, die Zufluchtstätte der Selbstbestimmung und Freiheit. Natürlich vollzog sich ihre innere Wandlung allmählich und unter Schwankungen.

Zuerst weilte sie wieder 1903 im Frühjahr einige Wochen in Paris. Wohl schreibt sie von dort dem Gatten die liebevollsten Briefe und bricht schließlich ihren Aufenthalt ab, weil sie es allein da draußen nicht länger aushält, aber in dem ersten der Briefe ist ihr doch das Geständnis entschlüpft: »Du weißt doch, ich bin auch hier, um mir Worpswede durch die kritische Brille zu besehen. Bis jetzt kann es noch bestehen ...« – bis jetzt! Ein paar Jahre später beklagt sie es rückblickend in einem Briefe an die Mutter, daß ihr »angestrebt bäuerliches Leben« in Worpswede eine große Scheidewand zwischen ihr und der städtischen Gesellschaft errichtet habe, wodurch ihr manches entgangen sei. 1905 finden wir sie abermals in Paris, und im Frühjahr 1906 kehrt sie auf längere Zeit dahin zurück, um ungestört für sich zu arbeiten. Und nun wird es ihr auch hier schwer, den ehemals verehrten Meistern die alte Treue zu bewahren. Cottet und Simon entgleiten ihr, an deren Statt sind es nun die »Allermodernsten«, die ihr Wesentliches zu sagen haben. Sie nennt sie nicht, aber es müssen Cézanne, van Gogh und Gauguin gewesen sein. Ferner wird der Bildhauer Hoetger für sie bedeutungsvoll. Sie hatte in der Bremer Kunsthalle eine Ausstellung seiner Arbeiten gesehen, die sie veranlaßte, ihn in Paris, wo er damals lebte, aufzusuchen. Er war ihr den Weg, den sie jetzt eingeschlagen hatte, vorausgegangen, hatte sich vom Impressionismus abgekehrt und suchte Formen einer edlen Gebundenheit. Seine Arbeitsweise war anders, minder naiv als die ihre, aber das kam gegenüber der Harmonie ihrer Grundanschauungen wenig in Betracht. Von ihm sah sie zum ersten Male ihr neues Bestreben ganz gewürdigt, und so entspann sich ein allmählich zu regem Austausch gesteigerter Verkehr. Auch mit Frau Hoetger wurde sie nahe befreundet und malte ihr Bildnis. Dabei war sie anfänglich so zurückhaltend gewesen, daß ihre neuen Freunde erst nach mehreren Besuchen gelegentlich erfuhren, daß sie Malerin sei.

In diesen letzten Jahren sind ihre wertvollsten Bilder entstanden: Stilleben, bildnishafte Darstellungen von eindringlicher Beseeltheit und einfacher schwerer und ganz persönlicher Form. Das Schicksal aber gönnte ihr kein Verweilen, denn als sie sich sagen konnte, daß sie ein Ziel erreicht habe, mußte sie sterben.

Es war in ihrer Seele das rechte Nebeneinander von Frohsinn und Ernst, von Lebenslust und Todesbereitschaft. Denn was ist jede dieser Gaben wert, wenn ihr nicht ihr Widerpart die Wage hält? Ihrer Mutter schrieb sie einmal: »Dieses unentwegte Brausen dem Ziele zu, das ist das Schönste im Leben. Dem kommt nichts anderes gleich. Daß ich für mich brause immer immer zu, nur manchmal ausruhend, um wieder dem Ziele nachzubrausen, das bitte ich Dich zu bedenken, wenn ich einmal liebearm erscheine. Es ist ein Konzentrieren meiner Kräfte auf das eine. Ich weiß nicht, ob man das noch Egoismus nennen darf. Jedenfalls ist es der adeligste.

Ich lege meinen Kopf in Deinen Schoß, aus welchem ich hervorgegangen bin und danke Dir für mein Leben.« – Und doch meinte sie eines frühen Todes gewiß zu sein, Sie ahnte ihn mit dem hellsehenden Instinkt des Weibes, obwohl sie als das Bild rotwangiger Gesundheit einherging. Schon mit vierundzwanzig Jahren hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: »Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger währt?« Und als junge Gattin war sie in Worpswede hinausgegangen zum Grabe der ersten Frau Modersohns, hatte einen Kranz hingelegt und sich ausgemalt, wie sie selber begraben werden möchte – ganz einfach, ohne Hügel und Kreuz unter einem Blumenbeet von weißen Nelken und Rosen mit einem Schild, auf dem nur ihr Name stehen solle.

In Paris lebte sie schmerzlich befreit, denn sie hätte sich losgelöst von allem, was sie daheim fesselte. Allein im Gewühle der Millionen, unbekannt, nur von ganz wenigen gewürdigt, arbeitete sie an ihrer Vollendung und malte Bilder, nach denen niemand verlangte. Sie wäre es schon zufrieden gewesen, wenn dieses Leben gedauert hätte. Allein die daheim ließen sie nicht, und endlich gab sie dem Drängen nach. Im Herbst 1906 folgte ihr der Gatte nach Paris. Sie verlebten einen stillen arbeitsamen Winter zusammen und zogen im nächsten Frühjahr in ihr kleines Haus in Worpswede zurück. Um dieselbe Zeit fühlte sie sich Mutter werden. Man möchte glauben, daß mit dieser Wahrnehmung ein neues Glück in ihre Seele gezogen wäre, denn sie war zu sehr Weib, um sich nicht nach der höchsten Bestimmung ihres Geschlechtes zu sehnen. Gerade in den letzten Jahren hatte ihre Phantasie um das Problem der Mutterschaft gekreist, und immer wieder hatte sie das Weib mit dem Säugling im Arm gemalt in biblischer Einfalt und Größe. Nun war sie selber die Erfüllung ihrer Träume. Im November genas sie eines gesunden Mädchens. Anfangs schien alles gut zu gehen, aber die nächste Zeit brachte ihr körperliche Beschwerden; gewisse Störungen des Blutumlaufs nötigten ihr Bettruhe auf, die sie in ihrer Lebhaftigkeit ungern ertrug. Ein vorzeitiges Aufstehen führte das Verhängnis herbei; am 21. November verschied sie plötzlich an einem Herzschlage.

Wie sie es gewünscht hatte, wurde sie auf dem Friedhof in Worpswede begraben; nur konnten ihre Nächsten es nicht über sich gewinnen, ihren Wunsch einer schlichten Gestaltung der Grabstätte zu erfüllen. An deren Rückseite erhebt sich jetzt ein Monument Hoetgers: ein junges Weib sinkt auf seinem Lager zurück, den Blick himmelwärts gerichtet, während auf seinem Schoße ein Kindchen sitzt.

In allem Menschenschicksal waltet eine hohe Gesetzmäßigkeit, und denen, die nicht lange leben sollen, ist manchmal ein rasches Aufblühen beschieden. So mag es denn wohl sein, daß Paula Modersohn im rechten Augenblicke starb. Sie hatte in wenigen Jahren des Aufstiegs – an vielen ihrer Gefährten vorbei – ein hohes Ziel erreicht: auf ihre eigene Art auszudrücken, was als Hoffnung Allen vorschwebte. Sie stand an der Schwelle einer neuen Zeit als deren Verkünderin. Wäre es ihr bei einem längeren Leben vergönnt gewesen, mehr zu werden? – Die sie gekannt haben, empfanden sie als durchaus jugendlich. Hätte sie es vermocht, zu altern und allen Hemmungen der engen haushohen Existenz zum Trotz nach neuen Zielen fortzuschreiten?


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