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I.

Von einer himmlischen Höhe gesehen, müßte diese Alpenwelt mit ihren Tälern und ihren keulenförmigen steinernen Lappen wie die Rinde einer Hirnmasse erscheinen. Was würde dann noch zu erkennen sein von den Hecken, Landstraßen und Viehweiden in dem gleichförmigen Bewuchs ihrer Tiefe? Man würde aber an diesem Punkte hier, wo die beiden kleinen Flüsse kampflustig aufeinanderprallen, das Ende zweier langgestreckter Furchen erkennen, die von weither einander zustreben, um sich nun in einer einzigen größeren Talbreite fortzusetzen. Auf den Treppen der Bergwände stehen die Tannen, die kurzgefaßten Wiesen, auf einem samtgrünen Hügel der unscheinbare Obelisk des Kirchturms, der in entfernte Schluchten hinüberblickt. Dem Wanderer sind die Horizonte verkürzt. Die spitzen Glockentürme und die Reste hochgelegener Burgen sind in diesen Tälern wie Periskope, die das ewige Recht des Auges wahren.

Eine Landstraße rankt sich vom Bahnhof über die eiserne Brücke des Tales zu den breiten Höfen des Fleckens Reichenau hinüber, sie führt auf einer zweiten schräg gestellten Brücke über den kiesbelegten Abgrund und verzweigt sich durch Felder und waldnahe Reviere den halbversteckten Ortschaften zu. Und von der Bastei des wohlgepflegten Gartens auf dem Felsenvorsprung, auf dessen Wipfelgewölb das Dachtürmchen eines weißen Schlosses nach allen Seiten um sich blickt, sieht der Wanderer die beiden Wasserflüsse, kalkgefärbt, sonneglänzend, von einem sanften grünlichen Pastellgrau an den beschatteten Stellen. Ihr helles Rauschen, wie auf Dur gestimmt, hebt sich aus jenem kurzen, brausenden Wirbel, dessen Schollen geglättet weiterjagen. Das ist der Rhein, der hier aus seinen beiden fernen Quellen zusammenfließt, aus Gletscherwassern, von kalten Schneefeldern herabgeschmolzen, in funkelnden Wasserstürzen geläutert und im Anprall ausgehöhlter Felsenwände mit Sand, Geröll und Steinpulver gesättigt. Er flutet schwer und gläsern gegen den Fels, von dem der zierliche Pavillon aus den benetzten Gebüschen herabsieht; sein gegenüberliegendes Ufer ist eine kleine, vom Flugsand gebildete Dünenlandschaft, von strömungsloser, glasreiner Flut gestreichelt. Schon haben alle die Gewässer, die aus versteckten Tälern kamen, um dies stolze Rinnsal anzufüllen, den Namen des Rheins getragen. Rhein, Rhone und Reuß, die wie ein Stern von langen Silberadern dem gewaltigen Felsenleib des Gotthard entstrahlen, mit ihren Wurzeln zusammengebunden, doch nach drei Weltseiten entfliehend, tragen das Urwort ihres Namens durch alle Sprachen Europas und bewahren wie im romanischen und germanischen Klang so auch im halbvergessenen keltischen und griechischen den geheimnisvollen Sinn. Auf dem Felsenvorsprung hier, den der erste und schönste Garten des Rheintales mit seinen Rosenbeeten, seinen Felsenspalieren, seinen Papyruswäldchen, seinen Blutbuchen, bläulichen Kiefern und uralten Waldresten deckt, stand in der Vorzeit ein römisches Steinbild. Es war von den Fremden errichtet, die dem größeren Strom in Köln die Münze mit der Inschrift Deus Rhenus schlugen. Das weitgereiste und überschauende Volk der Römer sah den Rhein neben Nil und Tiber als einen der drei großen Naturkräfte, die zu Stützen seiner Machtbereiche geworden waren, und stellte die liegende Gestalt des Flußgottes mit dem umgestürzten Krug auf dem Kapitol zur Schau.

Im Hofe des bürgerlichen Schlosses ist der Knecht beschäftigt, einen Reitsattel zu putzen; in dem stattlichen Wirtshaus zum Adler an der Seite des Schloßgartens sitzen Bauern beim Wein; vor dem Dorfe begegnet mir ein Heuwagen mit falben Rindern, von schwarzhaarigen Männern von römischem Aussehen geführt; ein paar Kinder grüßen den Fremdling mit gelassener Freundlichkeit; im abendlichen Schatten der Bäume gehen zwei Engländerinnen. Das kleine Blockhaus des Bahnhofs steht ein wenig über der Landstraße, auf der jahrhundertelang die Karawanen mit Kaufmannsgütern, Schriftstücken und Waffen beladen von Italien nach Deutschland, von Deutschland nach Italien zogen; die beiden Täler des Rheins waren hoch und drohend, beide verdienten es, Via Mala zu heißen. In ihrer schmalen Tiefe eilen jetzt die Züge mit der Gabel am Draht, schwere Maschinenwagen, lackglänzend. Das Blockhaus, in der beginnenden Nacht, ist mit gelber Lichtfarbe angefüllt, an den Wänden die Fahrplantafeln und die Plakatbilder schwedischer Schneegebirge und Wasserfälle. Das kleine Haus ist heute nichts weiter als einer der Stützpunkte in der nüchternen und exakten Gastlichkeit der modernen Touristik. Aber diese Landschaft umfaßt in ihrer ungeheuren steilen Gedrängtheit den Süden wie den Norden, wie sie von jeher die Menschen von Süden und Norden an sich zog. Im uralten Wechsel von Tag und Nacht ist jetzt die kurze, schweigende Dämmerstunde. Noch weilt am Himmel die klare Tagesbläue, die Talwände versinken im Schwarz. Plötzlich erhebt sich das Geläute einer Dorfkirche irgendwo mit gleichmäßig tönendem Hämmern, um einsam und zögernd zu verstummen. Aus einer schwarzen Talkulisse schießt der Zug in das aufstrahlende Geleise, dessen Wegzeichen glühenden Pfeilspitzen ähnlich sind. Der Zug eilt durch die frische Heuluft einer nebelhaften Ebene der alten Stadt entgegen. Wie ein Sternbild elektrischer Lichtpunkte zeichnet die Stadt Chur in die Dunkelheit der Bergwände den Umriß der alten Schuttmoräne, auf die sie hingebaut ist.

II.

Es ist dünne Luft hier oben. Das breitoffene Tal des Hochgebirges liegt in eine Unendlichkeit von Licht gebettet, Bergspitzen säumen den Horizont scharf und nackt wie Beile aus der Steinzeit, sandfarbene und verwitterte Häupter, weiß herüberglänzende Berggebilde, deren Rücken sich heben und senken wie Diagramme einer unumstößlichen Tatsachensprache. Unten aber sind die bewaldeten und samtbraunen Kuppen in weitem Wurfe abwärts gekrümmt. Den Gipfel, auf dem unser Fuß jetzt steht, sahen wir in der Morgenfrühe noch in der äußersten Ferne, wir fuhren im offenen gelben Postwagen der Alpenstraße auf ihn zu; er ist der am hellsten strahlende Winkel in der Schneewelt des Gotthard-Körpers, sein Name ist der Baduus. Nun liegt seine steile Wand im Schatten unter uns, Granitgestein in mürbem Schnee vergraben, buntes und mit Flechten überzogenes Felsgestein, aus dessen Löchern die Murmeltiere pfeifen, feuchtes Geröll, dessen Rinnsale in ein sumpfig rotes Gelände niederfließen. Wir sahen diese alabasterne Höhe, deren Lautlosigkeit vollkommen ist, im Gedräng der schattigeren Kämme und ahnten schon aus der Form dieses Gipfels, der wie ein Becher ist, den kleinen, kristallenen See. Die höchste Spitze des Berges lag fast durchsichtig im Mittagslicht, mit zwei brennend weißen Stellen, die funkelnden Augen glichen. Nun liegt ganz weit hinter allen sanften Biegungen des Tales das alte große Kloster mit dem Dorf zu seinen Füßen, die Kirche von Disentis, hochgewölbt mit goldüberladenen Altären, mit ihren kühlen, steinernen Treppengängen und dem sonnigen Obstgarten, aus dem uns ein Mönch, auf der Leiter stehend, eine Handvoll bernsteinroter Pflaumen vor die Füße warf. Wende ich den Kopf hier oben, so sehe ich vor dem weiß und schwarz gefleckten Abhang den See. Seine vier flachen, kleinen Buchten geben ihm einen regelmäßigen und länglichen Umriß. Sein Spiegel ist vollkommen klar, seine Tiefe scheint unergründlich. Feierliches und belebendes Gefühl, daß dieser geheimnisvolle Spiegel der Quell eines großen Stromes, der Urbeginn des Rheines ist, und dieses Gestein die kristallene Schale, in die aus Schneegefild und Wolken die meerentstiegenen Wasser niedertriefen. Könnte doch Europa sein Antlitz über diesen Spiegel neigen, seine zerrissenen Züge würden sich glätten, es würde gütigeren und reineren Herzens, mit den kleinen Blumen dieses Berges geschmückt, in seine Täler niedersteigen! Die Höhlen des Abhanges hier in der Nähe würden fromme Griechen einst dem Pan, dem Asklepios geweiht haben; vielleicht hätten sie zu Füßen dieses Berges, wo die Paßstraße in Schlangenwindungen zur Seite steigt und ein preisgegebenes Bahngeleise die Einöde der Hirten durchschneidet, ein gewaltiges Delphi errichtet mit tönenden Hallen und schimmernden Weihegaben.

Mir scheint, daß selten ein menschlicher Fuß den steilen, nur von blassen Enzianblümchen geschmückten Abhang hier oben betritt. Wir schöpfen Wasser, um eine Schale Tee zu kochen, ein Stück Brot und ein Apfel ist unser Mahl, die Sonne röstet unsere mit Schnee geriebene Haut. Wir steigen nochmals zum See hinab und gehen am Ufer entlang zwischen Felsentrümmern, die Sarkophagen, urweltlichen Thronen und Säulenstümpfen gleichen. Die Sonne vollendet jetzt ihren abendlichen Bogen; sie berührt die Bergspitze, das Wasser kräuselt sich unendlich leise von dem ersten kühlen Fallwind. Noch ruht warmes Licht auf unserem Abhang, aber das Kristall des Wassers färbt sich unendlich zart opalisch, es gibt stärker die grünliche und orangene Farbe des Himmels wieder, der Umriß des Berges, finster im Goldgrund des Himmels, wiederholt sich im See mit körperloser Dunkelheit. Und plötzlich, da die Sonne verschwindet, ist Winter hier oben, der ferne Bach, der durch ein Felsenmeer herabstürzt, rauscht fremd und eisig. Der See ist flaschengrün, von Schuppen überzogen, die anfangen, Wellen zu werden.

III.

Am Fuße des Berges weiden viele Hunderte von Schafen, die Hirten treiben sie jetzt in die Nähe der drei niederen schwarzen Hütten auf der Bodenwelle. Die wolligen Tiere umdrängen uns, salzhungrig und mit einem gierigen furchtbaren Blöken. Wir eilen, den Stock schwingend, rufend, mit großen Sprüngen durch das Gedränge und lassen erst auf dem gebahnten Pfad das Panische der Dunkelheit und der wimmelnden Tierleiber hinter uns. Dort in der Höhe von der Nacht überfallen zu werden, wäre Gefahr gewesen. Die Paßstraße der Oberalp führt uns in das entfernte Dorf zurück. Wir ruhen aus beim roten herben Wein in der kleinen Gaststube und marschieren dann unter den Sternen der kühlen Nacht.

IV.

Es ist Sonntagmorgen. Auf den Wiesen blitzt die Sichel, läuten sanft die Kuhglocken, die kleinen Flachsfelder sind leer, und in den luftigen Gestellen in der Dorfmitte trocknet das in den Rechen geflochtene Getreide. Ueber den schwarzbraunen Hütten mit den blanken Fensterscheiben und den roten Blumenreihen stehen die Berge silberglänzend. Die blonden Bauern der kleinen Gebirgsdörfer, die Leute von Tschamut, Sedrun und Rueras kommen zum Herbstfest; in die Klosterkirche von Disentis treten schwarzgekleidete Landleute, Frauen im Schmuck der Seidenbänder. Vox clamantis in desertum steht im bunt und biblisch ausgemalten Hochgewölb der Benediktinerkirche zu lesen, Blumensträuße stehen vor den Barockaltären, die Sonne scheint durch die alten Glasfenster mit den krausen Jahreszahlen und den Rätselbildern der Wappen. Altar und Meßhandlung sind in der Krypta verborgen, das Bauernvolk kniet in den Bänken, die Schar der Mönche unsichtbar auf der Empore. »Hier sind die Berge am höchsten, die Täler am elendesten, die Kirchen am reichsten, die Bauern am ärmsten,« sagt von Disentis ein alter Spruch, Ich weiß nicht, ob es so noch heute ist. In den Tag hinein brennt das elektrische Licht über den Hauseingängen, schon spendet hier der junge Rheinstrom den Menschen seine erste verschwenderische Gabe, Licht und Treibkraft; das vor nicht vielen Jahren am Hinterrhein erbaute Kraftwerk versorgt sogar die weit entfernte Stadt Zürich mit zweiundvierzigtausend Pferdestärken. Der elektrische Bahnzug fährt uns leicht und luftbewegend durch das schöne Hochtal abwärts, steinerne Kirchen stehen bei den weit ins Grüne verteilten Häusergruppen, die kleinen am oberen Hang der Berge, die größeren im Tal, Kapellen auf den mit Tannen bewachsenen Moränenhügeln, einmal sind fünf, jetzt zehn zu gleicher Zeit sichtbar. Hier die alte Kapelle von Truns mit den Fresken in der kleinen Säulenhalle, dem steilen Dach und dem quergelegten Oval des Fensters, ehrwürdiges Denkmal des Lindenbaumes, unter dem vor einem halben Jahrtausend der Graue Bund des Bauernvolks geschlossen wurde, die Rheintäler hinab. Dann Ilanz, im Hintergrund ein nach allen Seiten freier Gipfel im blauen Morgen, erste Stadt am Rhein, freundliche Häuser mit neuen roten Dächern, hölzerne Brücke, aus deren Tonnenwölbung helle Kinderstimmchen in unverständlicher Sprache rufen, Nußbäume, Feldgebüsch. Und immer nah dem Bahnweg der leicht und eilig schäumende Rhein in seinem schmalen Bett, in felsigen Dämmen und kräftigen Verhauen, mit leichtem Eschengehölz und kleinen Eisenbrücken, die streng und metallisch über die Kiesel und die der Flut entgegendrängenden Schaumkränze strahlen. Nun verengt sich jäh die Landschaft, der Fluß tritt kochend in das engste Berggefängnis, die Straße flieht aufwärts ins Gewirr der Felsentürme, nur der Schienenweg bleibt unten, das Wasser schießt zackig zwischen kalkweißen Tafeln hin. Nirgends ist diese kaukasisch wilde Landschaft abgebildet. Aber alle Dome des Rheines schlummern und trotzen ungebärdig in diesen Felsgerüsten, in diesem Urgestein mit seinen Bogen, seinen Strebepfeilern, Höhlen, Fensterlöchern, Türmen, Orgeln und Terrassen, die verwittert sind wie Reste und Entwürfe riesigster Gebäude, mit nichts als der klaren, spielenden Linie des Wassers zu ihren Füßen und den weißglänzenden Dächern in unerreichbarer Ferne.

V.

Es taucht ein Aar ins Wolkenlose
Hoch über mir im Sonnenschein.
Ich werfe eine Alpenrose
Tief unten in den wilden Rhein.
Führ nieder sie, führ sie zu Tale,
Und eh du trittst zum Meerestor,
Den Vettern halt, im Eichensaale,
Den harrenden, dies Zeichen vor.

(Gottfried Keller.)

VI.

Aus jener dünnen, fast schnurgeraden Linie, die sich unterbricht und jenseits des Gotthard Rhone heißt, schwingt der Rhein mit einem Bogen in das geräumige Tal, das am Bodensee mit einem kleinen Schwemmland endet. Hier an seinen Ufern zwischen den Appenzeller Alpen und dem Vorarlberg stehen Burgruinen, Klöster und Weinbau, als ob es gälte, für das künftige Bild zwischen Bingen und dem Siebengebirge eine Probe abzulegen. Von dem Aussichtspunkt in der Höhe des goldknäufigen Kirchturms von Rheineck, aus dem Kranz der acht Kastanienbäume und der Linden sieht man den alten Rheinlauf zu Füßen des Städtchens hingekrümmt und in der Entfernung die beiden schnurgeraden Rheinkanäle in den See stoßen; die feuchten Wiesen und Schilfstriche dieses kleinen Holland sind als Polderen, Riedstücke und Sandbühel in den Flurkarten eingezeichnet. Die ganze Mulde des fruchtbaren oberen Rheingaues ist mit kleinen Städten und sauberen Dörfern besetzt, sie hat mit ihren Autostraßen und elektrischen Seitenbahnen, mit ihren rheintalischen Kreditanstalten, Sänger- und Turnerbünden, die das schmale Ländchen zu einem geselligen Körper vereinen, ihr eigenes Leben. Und auf dem Rand des Deltas, das dem See durch die Korrekturen des Rheinlaufs abgewonnen ist, sitzt der Bodensee, zum Gebirg des nahen Bregenz hin gerundet, nach Norden und Westen entschimmernd. Doch dieses frühe Rheintal, dessen Waldabhänge, mit Villen und Schweizerhäusern besetzt, in das industriefleißige Sankt Galler Land hinüberleiten, dem gegenüberliegenden schwäbischen Lande und seinen Nordwinden offen, natürlichster Eintritt aus der großen europäischen Welt mitten in das Steilgebirg, zählt keineswegs zu den belebtesten Landschaften. Nichts verbietet dem Auge, in diesem hübschen Tal von Berg zu Berg zu schweifen, aber der Fuß, der es überschreiten möchte, liegt in den Angeln der Zollwächter; die Doppelstrecke der Eisenbahn scheidet Oesterreich und die Schweiz den schmalen Fluß entlang, trennt in den Dörfern, die einander gegenüberliegen, den Schrei der Hähne und das Brüllen des Viehs und legt selbst zwischen die Kochtöpfe der Bauern von hüben und drüben den Unterschied der Armut und der Fülle. Seltsamer Erdteil, in dem die Reste alter Machtproben, längst aus der Erinnerung der Lebenden getilgt, stärker sind als die natürliche Verwandtschaft der Menschen.

Die rhätische Hauptstadt Chur liegt als entfernteste der Städte ganz im Hintergrund dieses Tales, nah der sanften Rheinbiegung, umkränzt und eingereiht in die längst aufgelösten alten Grafschaften. Diese Stadt mit ihren engen Gassen und ihren steinernen Brücken an der Plessur, dem Flüßchen, bewahrt tausendfache Erinnerung. Sie ist südlichster Ort des alemannischen Volksbereiches. Wer die hohen, rotblonden, schwarzgekleideten Frauen dieser entlegenen Täler sieht, die fast spanische Haltung des Jägers, der über die Brücke geht, den Stutzen in der Hand, den schweren Gemsbock über der Schulter, vom freudigen Schwarm der Dorfkinder begleitet, wer die alte Verfassung der Gerichte kennt, die alten Thingstätten, die Zeichen der Wappenmale und der Gebälke in den alten Dörfern, der sieht hier das Germanische und das Romanische in eherne Form geschmolzen. Chur ist nördlichster Vorsprung uralter toskanischer Kulturkraft, die Stadt war die erste unter jenen geistlichen Stiftungen, die als Erben römischer Militärgewalt das größere Rheintal hinab bis nach Utrecht reichten, sie war in späteren Jahrhunderten umstritten vom Ehrgeiz des burgundischen Reiches, umworben von der Habgier tirolischer Grundherren. In der unruhigen Zeit, die dem Geistessturm der Reformation voraufging, welch ein eifriges Hin und Her der Gottesfreunde von der Burg von Vaz am Hinterrhein bis Straßburg und bis zum Meister Ekkehard in Köln; langwierige Kämpfe des Domkapitels von Chur gegen den trotzigen Geist der Bauern und der Freiherren in dem herben Bergland des Grauen Bundes, der Zehn Gerichte und des Gotteshausbundes, das einst mit Leidenschaft am Schicksal des Reiches teilnahm, wie es heute unter den Kantonen der Eidgenossenschaft der größte ist.

Der St. Luciusdom in Chur, auf dem Hügel ein wenig über der Stadt gelegen, mit seiner wohlerhaltenen und straffen Fassade im Winkel des bischöflichen Schloßhofes, bewahrt noch in seinen dämmernden und gedrückten Gewölben die kaiserlichen Pergamente der Frühzeit, Kleinode der ältesten kirchlichen Kunst, Grabsteine mit den deutschen und romanischen Namen, dunkle Malereien der schwäbischen Meister und das kostbare Werk des Hochaltars mit seinen musizierenden Engelknaben und der gekrönten Gottesmutter mit ihrem Hofstaat der Heiligen und der Glaubensboten. Unten in der Kirche von St. Martin, die jetzt den Reformierten gehört, leuchten silbern und orange, blau, tiefgrün und purpurrot die neuen Glasfenster des Bündner Malers Augusto Giacometti, Zeichen einer erwachenden und innigen Kunst, ebenbürtig Thorn-Prikkers glutfarbenen Fenstern in der Dreikönigskirche von Neuß. In den Stuben der alten Zunfthäuser und der Türme sitzen abends die Handwerker und Bürger bei ihrem Schoppen, und die Feldgrauen aus allen Teilen des vielsprachigen Schweizerlandes singen die wohllauten Soldatenchöre des Tessin, die blauseligen deutschen Heimatlieder. An den Straßenecken kleben die Plakate irgend eines politischen Kampfes, der ein paar Wochen lang die Gemüter um die Frage der Denkfreiheit entzündet, aber darüber hängen von den grauen Häuserfronten die stark farbigen Banner eines Sängerfestes, Fahnentücher mit dem Blau und Grau des Bündnerlandes, schwarzweißrote, rotweißschwarze Fahnen, nicht etwa die deutschen von gestern, sondern die Farben von Chur, die einst die kosmisch bedeutsamen Schildfarben alter Geschlechter waren, ehe sie von schwäbischen Fahnenträgern bis an die Grenzen Preußens getragen wurden und in den Besitz der Gesamtheit übergingen. Bürgerschützen mit Sträußchen am Gewehr, Vereine mit Blechmusik, Radfahrer mit Schärpen und Fähnlein winden sich mittags durch die Straßen, lebensfrohe Kerngestalten, wie sie Gottfried Keller herb und herzlich geschildert und Buri gemalt hat. Und da mich nun der Eisenbahnzug aus dem großartigen, noch engen Tal an den Ruinen und Weinbergen von Liechtenstein, Grottenstein, Haldenstein, an den weißen Gasthäusern von Ragaz, am Fuß des Kastells von Sargans und an kleinen Stationen vorüberfährt, wo immer wieder die Blechmusiken des Sonntagsabends schmettern, und dann durch die Nebel des Abends, mit dem Gesang der Rekruten und lautem Gespräch der Landleute im Wagen, bis an die stillen, verregneten Straßen des kleinen, an der Hügelseite emporgezogenen Altstätten, erscheint mir dieser Rheingau so nah dem deutschen Gefühl und doch dem einsamen Schicksal derer, die dort drüben jenseits des Sees sind, so märchenhaft entlegen.

VII.

Man sieht in jenem oberen Rheintal die quergestellten Hügel, die vom Fluß durchgraben sind, die mit Mauerresten und Kapellen gekrönten Felsensäulen, um die das Wasser der Urzeit rann. Der Rhein muß hier einst in zwei gewaltigen Strömen geflossen sein. Der eine floß, wo heute die Senkung des Bodensees ist, bis ins Gebiet der Donau über und schlug den Weg zum Schwarzen Meere ein. Der Weg des anderen Stromes war jene Furche, von der nur der grüne jähzornige Wallensee in seiner tiefen Felsenwanne und der langhingehende Zürichsee in seinem sanften Hügelland geblieben sind. Diese Runzel der Erde zeigt die Richtung, in der auf der Landkarte Dutzende blauer und schwarzer Linien laufen, Wasseradern, Bäche, Bahngeleise, die in die Niederung des Aargaues zielen. Aber auch diese Niederung gehört ja zum Stromsystem des Rheins, der sich aus den Möglichkeiten und Versuchen einer heroischen Jugend seinen heutigen typischen Lauf erwählte.

In Bregenz unter den Alleebäumen das Schiff erwartend, sehen wir den Fluß in seinem kleinen Niederland nicht mehr. Das Epos des Gebirgsstromes scheint frühzeitig geschlossen, seine Wasser vermischen sich dem Landmeer, seine Strömung verhaucht sich unter der Breite des ruhigen Wasserspiegels bis vor die Hafenmauern von Lindau am Ufer, das seiner Mündung gegenüber liegt. Entledigt sich nicht der Fluß vor jener Mündung des halbzermalmten Gesteins, das ewig im Geräusch der Wellen talwärts poltert und sich nun unter der glänzenden Fläche zum Kegel anhäuft? Man hat die Zeiträume berechnet, Jahrtausende der Zukunft, die es dauern wird, bis der schweizerische Rhein den Bodensee angefüllt haben wird mit dem Schutt der Alpen. Dann wird der klare See ganz sanft von innen her zerbrechen wie ein Glasspiegel, dessen Silber sich zersetzt, und von der blanken Wasserscheibe wird nichts übrig bleiben als ein wieder auftauchender Fluß mit verwesenden und flachen Sümpfen. Schon immer sagen die Leute: der Rhein fließt nicht in den Bodensee, er fließt durch ihn. Er ist ein Energiestrom, schwerer, stofflicher als die in hundert Buchten und breiten Stillständen geläuterte Seeflut, er rinnt leibhaft am Boden des Sees hin, dessen tiefste Stelle über dem entfernten Ozean kaum noch höher steht als ein hoher Kirchturm ragt.

Die lebendige Schlange des Flusses rollt sich am anderen Ende des Sees auf. Sie schlüpft dann unter der Brücke von Konstanz hindurch ins Freie und eilt triumphierend durch den engen Hals dieses Trichters westwärts: ihren Lauf bezeichnet die Fahrstraße der kleinen Dampfer, mitten im schwarzgrünen Röhricht mit den Fahnen welker Bäumchen abgesteckt. Im Untersee und endlich in dem schmalen Einschnitt, aus dem sich der Sockel des südlichen Schwarzwaldes weich und kräftig heraushebt, eilt der neugeborene Fluß, wie für ein anderes Land als das deutsche bestimmt, geradewegs nach Frankreich, es ist, als wolle er den kürzesten Weg ins Meer zurück, aus dessen Wolken er herniedertaute. Aber hier am Schwäbischen Meer vollzieht sich das Geheimnis: hier bildet sich fest und unzerreißbar, was in der Jugend des Flusses noch Laune und ungewisse Verheißung war, das Bündnis mit dem deutschen Menschen, das Schicksalsbündnis des deutschen Menschen mit dem Rhein, ewiges Bündnis, das durch alle glänzenden und wolkigen Tage deutscher Geschichte hindurchblickt. In spielender und eifriger Laune scheint der Strom den Weg nach Westen einzuschlagen. In neuer Laune, die nun wie innere Bestimmung und Vollendung ist, schlägt er nach kurzem Wege jenen stolzen, herrischen und knappen Bogen, den Basel, die ehrwürdige deutsche Schweizerstadt, selber nicht immer ganz entschlossen zwischen französischer Lockung und deutscher Bestimmung, mit ihren alten Häuserreihen und festen Brücken begleitet. Vor hunderttausend Augen, im Angesicht der Türme und der Fenster nimmt hier der Rhein die Richtung nach Norden wieder auf. In der größeren Schau gesehen, versetzt er sich selber nur aus der Mitte Deutschlands an seine Seite, er fließt von nun an, seinen Weg in immer größeren Räumen schaffend, an der Seite Deutschlands dem nördlichen Meere zu. An der Seite Deutschlands und ihm zugehörig wie die Ströme innerer Kraft dem Körper zugehören, fließt der Rhein immer breiter und lockender, wie Gold und Eisen glänzend, bezaubernder und verhängnisvoller Magnet und tragende Urkraft, durch das Land der Gegenwart zu dem furchtbaren Meer der Gegenwart, dem Meer der großen Handelsflotten und der Seeschlachten.

VIII.

Jeder Strom ist ein Hereinragen des Meeres in das Land, aber auch ein Hinausgreifen des Landes aus sich selber. Irgendwie ist jeder Strom das Schicksal seiner Landschaft. Die Landschaft verdorrt, in der kein Wasser ist. Träges Wasser und fette Dinge gehören irgendwie zusammen wie rasches Wasser und rührige Glieder. Das Wasser fließt nicht nur selbst, es bringt auch Dinge zum Fließen, zur Ablösung, zum Hingehen, zum Nachquellen, es bringt Mischungen hervor, es baut Kristallisationen. Hat nicht gleichsam der Hochrhein selbst, der aus unendlichem Geäder in den Tälern des Bündnerlandes zusammenfließt, diese politischen Bünde geschaffen? War nicht der mächtige Bund der rheinischen Städte des Mittelalters, gegen den Uebermut der Fürsten und geistlichen Herren geschlossen, neben der Hansa die erste neuzeitlich republikanische Form auf deutschem Boden? Er hat die Hirtenkantone der Schweiz ermutigt, ihre Republik zu gründen. Bildete doch auch der Rhein in der deutschen Frühzeit die ersten volklichen Formen der Seßhaftigkeit, als er die freien Stämme der Mitte und des Nordens zum Volk der Franken, die schweifenden Stämme des Südens zum schwäbischen Gemeinwesen zusammenschloß. Jeder Flußlauf erzeugt gesellige Bildung, und wie er an seinen Ufern allerlei Pflanzensamen durcheinanderschüttet und Gartenwildnisse entstehen läßt, die es bunter nirgends gibt, so dient er unter den Menschen dem Gedanken der Genossenschaft, Der Wasserstrom nimmt ständig kosmische Einflüsse auf, bewahrt sie und strömt sie zurück als Feuchtigkeit, Luft, Licht, Wärme und metallische Kräfte; unten eine gleitende Ebene, oben ein wechselnder Nebelkörper, Leichtigkeit, reiner Atem, Fruchtbarkeit und Frische. Der Strom in seinem Lande ist das Gegenbild der Insel in ihrem Meere. Die Insel verschließt Menschen und Wohnungen, sie macht sie zu einer Art von Schiffseinheit; die Einsamkeit nach außen bildet gesellschaftliche Körper von besonderer Kraft und Starre. Der Strom aber reiht Nationen aneinander oder stellt sie mit den Stirnen einander gegenüber. Die Insel lebt im Zufälligen der fremden Berührung, alles von außen Kommende lebt auf ihr fremd und unausgeglichen; der Strom aber bildet Gleichmäßiges, selbst in der Berührung mit dem Fremden; die Insel ist Zuflucht aus dem Unbewohnbaren, der Strom ist mitten im Bewohnbaren eine Mahnung an das unbewohnbare Element der Erde. Die Horizonte der Insel sind weit, öde, geschlossen wie ein Kreis. Die Horizonte am Strom sind viel gebrochen; geht man ihnen nach, so sind sie unerschöpflich.

IX.

Die Dünste des Bodensees sind durch die Ahnung der Berge verdichtet, seine Wasserfläche dehnt sich wie endlos nach der Seite und weckt den Eindruck von einem Meeresarm. An klaren Tagen, wenn Alpenluft und Seeluft sich mischen, wenn die Berge der Schweiz ins Hügelland hinüberglänzen, leuchtet auch der Landsee wie ein Juwel. Im Wechsel der Atmosphäre tritt am anderen Tage der Meereseindruck neu hervor, trotz den sandlosen, tiefgrünen Wiesen mit ihrem Reichtum an Obstbäumen, die von sommerlichen Spiegelungen und milden Winden feurig gerötet sind. Niedere, krause Uferstrecken, in Büsche aufgelöst, zwischen denen sich Kanaleinschnitte verstecken, Balkone luftiger Sommerhäuser, Badetreppen im Röhricht, kleine Werften, alte Wasserburgen, pastellfarbene Städtchen, rote Dorfdächer säumen die Wasserfläche. Auf klargeschnittenem Rebenhügel ein weißes Schloß mit grünen Fensterläden, in wässerner Ferne schmale Segel, Möven unter den Schäfchenwolken. Mittendrin der Dampfer, der das kahle, weiße Gestänge seines Vordermastes feierlich wie ein Kreuz der Prozession daherträgt; an den Landungsbrücken grüßen ihn nacheinander die schwarzgelben, weißblauen, schwarzroten und rotgelben Tücher an den Fahnenstangen. Auf dem Deck des Dampfers das Gedränge der Menschen, die Damen mit ihren anilingefärbten Blusen, auf der Seitenbank die birnenwangige, sanftgrünliche Javanerin in rotem Rock und gelber Jacke, umringt von holländisch sprechenden Kindern. Loser amethystfarbener Nebel im Westen. Der See, von der vergrößerten Sonne berührt, wird tief glutviolett wie das Stanniol der Rotweinflasche. Kühle Fahrt im Angesicht des mäßig entfernten Ufers, das seinen Grasduft ausströmt bis zu den Fischerbooten hinüber, die wie Angelkorken schwarz und unbeweglich auf dem gläsernen Dach des Wassers, über dem stummen Schwarm der Fischvölker liegen. Und unter alledem der Rhein im See hinfließend wie der sagenhafte arkadische Alpheios, der in das Jonische Meer taucht, um in Sizilien wieder an Land zu treten.

Das Schwäbische Meer versammelt die Länder seines Randes zur natürlichen Einheit. Noch immer schaffen Schiffe und Signale die leichteste Verbindung über das luftige Wasser; aber die Menschen an den Ufern können einander nicht mehr besuchen ohne die Erlaubnis des gestempelten Papiers und ohne den Ausgleich einer zum Fluch gewordenen Geldbewertung. Der See war einst vom Einbaum der Pfahlbauern, deren Werk im Moorgrund modert, von den schwerfälligen Barken blonder Ruderer freier befahren als von den flinken Motorjachten von heute; er war von den waffenstarrenden Schiffen der Römer durchkreuzt, er sah die flinken Segel der Briganten, die sich vor den Nachstellungen der beginnenden Staatlichkeit hinter die Waldkuppen und in die unzugänglichen Schluchten des Bregenzer Waldes flüchteten. Bregenz, Arbon, Romanshorn, Konstanz bewahren in ihren Namen die römische Erinnerung. Lindau, Buchhorn, Meersburg, Ueberlingen, Bodman und die kleinen Städte des Thurgaues gegenüber bewahren noch mit ihren alten Mauern, Türmen und Giebeln die Schanzen vergessener Kriege und Verteidigungen. Wer heute den See befährt, der weiß von Bauern, die im wucherischen Wohlstand die Mahnung ihrer Vorfahren aus den Bauernkriegen endgültig vergessen haben; von Gottesfreunden, in denen ein letzter Nachhall von der Botschaft des Straßburgers Rulman Merswin, ein heimlicher Protest gegen das leere Konfessionswesen von heute auf einsam gelegenen Bauerngütern nachlebt; von Schwaben, die in einer Sehnsucht nach der Neugeburt ihres Stammes vom See aus bis nach Ulm und Zürich, ins Banat und weiter hinaus ihre Kreise ziehen; von Künstlern, Literaten, verabschiedeten Offizieren, aus fernen Großstädten in die Gegend des Bodensees zurückgezogen, um sich an die bäuerliche Kleinwelt dieser arbeitsamen und anmutigen Landschaft zu gewöhnen; von Winzern und Weinpflegern, die auf ihrem ewigen Pfad zwischen Rebgärten, Gasthofstuben und dumpfen Kellern mit dionysischer Entschiedenheit das Zeitliche verachten; von Grenzern, Zollwächtern, Sportsleuten, Luftschiffern, Ingenieuren, deren Alltag hier am See in allen entfesselten Winden der Zeit vergeht; von Schiffs- und Handelsleuten, deren Denken an den Zukunftsmöglichkeiten des Sees wachgeworden ist; und von den Dichtern dieser Landschaft, denen der Glanz des Wassers alles gibt: Lebensnähe und schöpferische Stille, Heimat und Unendlichkeit.

X.

»Zur Linken am Ufer dieses Sees liegt das. schon vorbenannte Schloß und der Flecken Gottlieben lat. Theophilia, worauf Joh. Husz zur Zeit der costnitzer Kirchenversammlung gefangen gesessen hat, und worinnen noch heutigen Tages der Bischof von Constanz die Geistlichen, so eine Uebelthat begangen haben, gefänglich verwahren läßt. Im Jahr 1692, den 24. Febr. versunken in den Zellersee vier Häuser von dem Flecken Gottlieben, nämlich die beyden Wirthshäuser zum Aal und zur Krone, nebst den beyden diesen zunächst stehenden Gebäuden. An diesem Unglük solten die Karpfen und Forellen die Ursache gewesen seyn, als welche nach und nach die Fundamenter der Häuser untergraben hätten, bis sie endlich eingesunken wären.« (Johann Jacob Scheuchzer Med. D. & Math. Prof. Natur-Historie II. Th. pag. 100 und 115.)

XI.

Ein altes Bild zeigt die Abtei Reichenau, das von weiten Gartenmauern eingeschlossene, einen großen Innenhof einschließende Gebäude, von dem das Münster nur ein Teil ist. Eine Volksmenge mit Chorherren, Fahnenträgern und Soldatenspalieren zieht in Prozession durch die Weinberge, hoch am Himmel thront in den Wolken ein schöner Mann im blauen Mantel, von Engelchen umflattert, in der Ferne ist ein weißliches Alpengebirg. Diese gute Insel, von den sanftesten Küsten eingefaßt, nur durch eine schmale Pappelschnur mit der Bucht von Konstanz verbunden, sonst vom Untersee umgeben, der an der Seite als ein blanker Rheinstrom vorüberfließt, liegt selig wie ein großes Schiff im Glanz des Wassers. Sie war einmal die glückliche Arbeitsstelle des frühen benediktinischen Ordens, der, aus den Wirren des byzantinisch-gotischen Krieges hervorgegangen, das Abendland mit seinen Kolonien besetzte und in seiner Glanzzeit die imponierende Menge von 1500 Abteien zählte. Dieses Kloster mit seinen grünen Tummelplätzen wurde zu einer Art Schulpforta des ganzen schwäbischen Adels. Nur die Großkirche und Teile der Gebäude mit ihren geräumigen Sälen und Kellern sind übrig geblieben. Viele Kapellen, Häuser und Türme der Insel sind verschwunden. Von den Beziehungen des Klosters, dem in den benachbarten Gauen vier Erzherzöge, zehn Pfalzgrafen, doch bis nach Italien hinein einige fünfzig Grafen und Freiherren und Hunderte von adeligen Vasallen Lehen trugen, sind in Disentis, Sankt Gallen, Konstanz, Schaffhausen, Straßburg und rheinab bis Flandern oft kaum die Pergamente und die letzten Mauersteine übrig. Aber noch heute ist ein feierlicher und satter Glanz über der Insel, von der es bei den Alten hieß, daß Schlangen, Eidechsen und Kröten auf ihr nicht vorkämen. Es ist Weinernte, und aus den dörflichen Keltern weht ein säuerlicher und leicht berauschender Duft.

Merkwürdig, daß auch auf der Reichenau einer jener britischen Glaubensboten als der erste landete, deren Gedächtnis in den Bistümern von Friesland bis nach Schwaben fortlebt. Bonifazius, Pirmin, Kilian, Hatto, Willibrord, Goar, alle diese Heiligen kamen aus den Nebeln des Nordens und machten die große Linie des Rheines deutlich, die noch heute in manchen geistigen Dingen ihre Endpunkte in Rom und in London hat. Es war vielleicht ein Nachhall des Druidentumes, der diesen Aposteln des römischen Glaubens eine besondere Macht über die Deutschen gab, vielleicht nahmen diese sie auf wie Sendlinge jener Auswanderer, die einst die letzten Weistümer der Germanen vor den Nachstellungen Roms in das ferne Thule gerettet hatten.

Ich gehe am kühlen Herbstmorgen bis zur Spitze der Insel, die Oberzell genannt wird. Dort steht noch in den Weingärten die alte Kirche St. Georg wie die andere Kirche auf dem Horn der unteren. Da ich in dem kleinen Gotteshaus aus zurückgebogenem Nacken das edle und streng gefügte Gewölbe mit den gemalten Wundern in rötelfarbenem Grundton der Wände betrachte, meldet sich ein fleißiges Schaben an der Außenmauer. Ich steige die Leiter in das Baugerüst hinauf und finde den einsamen Maler, der beauftragt ist, mit Geduld und Vorsicht die Linien des Freskos nachzuziehen, das wie eine verblichene Klosterhandschrift über den jetzt zugebauten Tempeleingang gemalt war. Es ist ein Jüngstes Gericht, schematisch in seinen Gestalten, mild und nervenruhig in der Auffassung, größter Gegensatz zu demselben Bild an der inneren Chorwand mit seinen stürzenden Verdammten und triumphierenden Helden, die aus der leidenschaftlichen Hand Michelangelos zu stammen scheinen. Die Farben der biblischen Visionen hier sind verblaßt wie ihr Sinn im Gedächtnis der Lebenden, aber diese Wände sind Kostbarkeiten aus der Zeit, als noch Deutschland von Wäldern bedeckt und das byzantinische Kunstbild das einzige war. Sie sind würdig, selbst mit den armen Mitteln unserer Zeit den späteren Geschlechtern überliefert zu werden. Ich sah kürzlich in einer spätromanischen und schlecht wiederhergestellten Kirche in Eisenach als Bandornament diesen vexierenden, kubisch vertieften Mäander, ohne zu wissen, daß sich sein Vorbild an der Galerie der tausendjährigen Kirche von Oberzell entlangzieht.

Auf den Uferpfaden der Insel heben sich die Fahnen des Schilfgestrüpps vor den Ausblick auf die Landschaft, Netze trocknen am Wasser, das weißlich glänzt und vom Spiel der Fische gekräuselt ist. Ein Greis vor einem altersschwarzen Bauernhause holt den Eimer von einem Brunnen, der im Wiesengrund unter fruchtschweren Apfelbäumen verborgen ist. An der Wegkreuzung begegnet mir ein Weinbergswächter mit seiner unförmigen Pistole; aus der Ferne höre ich seinen Schuß, der die Dohlen aufscheucht. Späte Sommergäste sitzen beim Nachmittagskaffee unter den Nußbäumen vor dem behäbigen Gasthof in der Inselmitte. Einmal am Tag kommt das kleine Dampfboot vom schweizerischen Ufer an den Steg; seine Bänke sind leer, es macht seine letzten Fahrten im Jahr, es sieht selber wie das letzte eines Jahrhunderts aus in seiner flachen Bauart, mit seinem dünnen Schornstein und den Entenschaufeln an der Seite. Schluß der Saison. Das Hotel steht schon geschlossen im verwilderten Garten am Gestade; es heißt, Besitzer und Dienstleute dieses Hotels bis zum Hausknecht hinab seien Balten, frühere russische Offiziere, die einen friedlichen Erwerb gefunden haben.


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