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Ein Zwischenfall

 

Ein Student namens Wichard, der bei seinen Büchern zurückgezogen lebte, traf am letzten Sonntag, den er vor den Frühjahrsferien in Heidelberg zuzubringen gedachte, drei seiner Landsleute im Kaffeehaus und machte durch sie die Bekanntschaft zweier Damen, die gewöhnlich des Abends im Chor eines Theaters sangen, im übrigen aber sich gern mit solchen jungen Männern vergnügten, denen die Musen zerhauene und gedunsene Gesichter und einen Schwarm von Gläubigern bescheeren. Die vier Kommilitonen saßen bei Bier und müßigem Gespräch vom Mittag bis zum Abend mit Wanda und Adelina zusammen, bis diese sich empfehlen mußten, um auf ihrer Bühne als sizilianische Bäuerinnen zu singen und zu tanzen. Die sich Trennenden beschlossen, nach der Vorstellung wieder zusammenzukommen und dann im Wirtshaus eines nahen Dorfes dem Tag eine lustige Krone aufzusetzen. Den Ausschlag bei der Wahl des entlegenen Wirtshauses gab einer, der Enderlein hieß. Dieser war vor vier Tagen im Examen leider durchgefallen und mit seinen arg getäuschten Hoffnungen, als promovierter Philosoph neue Schulden kontrahieren zu können und vor seinem Vater, der ihn neuerdings knapp hielt, wie auch vor Schwestern, Schwägern und Tanten sich als das Licht der Familie wiederherzustellen, in eine unklare Lage geraten. Es gab nicht viele Wirtschaften mehr, wo er anschreiben lassen konnte, auch wußte er, daß man dort draußen vor jener Sorte Gaffer sicher sei, die vor durchgefallenen Kandidaten die Augen aufreißen, besonders wenn in ihrer Gesellschaft seidene Unterröcke rauschen. »Es wäre nun das Programm für den Abend aufzusetzen«, meinte Enderlein, als die Mädchen fortgegangen waren. Bei der Erörterung fand sich nun, daß zwei von den Freunden, ihrer ersten Absicht zuwider, nicht mitzutun gedachten; der eine wegen eines Stelldicheins, das er beinah vergessen habe, der andere, ein Lehramtspraktikant, weil er doch den Jüngeren gegenüber befürchten mußte, ins Hintertreffen zu geraten und überflüssigerweise auf das Gaststubenklavier angewiesen zu sein, was ihm schon einmal bei solcher Gelegenheit den herzlichsten Dank eingetragen. So standen denn um halb elf Uhr des Nachts vor der Hintertür des Theaters nur Wichard und der besagte Enderlein, der, um zu seiner Zerstreuung zu kommen, dem Unschlüssigen noch sehr zureden mußte. Da erschienen schon die Freundinnen. Sie hatten es so eilig gehabt, aus dem Theaterhause auf die Straße zu kommen, daß von ihren Gesichtern noch nicht einmal die Schminke weggerieben war. Kaum lag die Stadt hinter ihnen, so gab es auf der Landstraße vertrauliche Worte, gestohlene Küsse, die sich die beiden Schönen jede nach ihrer Art gefallen ließen: Wanda, die mit Enderlein ging, in ihrer Munterkeit ohne sich viel zu zieren, die ältere Adelina aber ließ erkennen, daß ihr an Zärtlichkeit jetzt wenig gelegen sei, sie hatte Hunger. Der Wirt, ein alter, pedantischer Mann, dem die Studenten den Namen Oheim gegeben hatten, brachte den Gästen, die eben eintraten, als er die Haustür schließen wollte und sich in der nur ihretwegen noch einmal aufgehellten Gaststube niederließen, eilig einen Liter von seinem guten Pfälzer Wein. Als er an den Schrank wollte, um auch Brot und Fleisch herbeizuholen, reichte ihm Enderlein schon die Karaffe leer zurück, so hastig hatten die vier ihr Teil sich eingeschüttet, und sie tranken dann auch bald die zweite aus. Die dritte stand schon vor ihnen, der Oheim legte das Stammbuch vor sie hin, in das sich die Studenten mit Protokollen, Sprüchen und Zirkeln einzutragen pflegten; da rückten sie, um das Buch zu betrachten, paarweis aneinander und begannen sich zu umhalsen. Wichard strich der Adelina das braune, ein wenig rauhe Haar aus der Stirn und hatte so ein paar Augen vor sich, die ihn zwischen schwarzen Brauen und schwarzer Untermalung fast erschrocken ansahen und plötzlich seinen Blick vermieden. Er hob die kleine gelbliche Hand an seine Lippen; da flüsterte sie erregt ihm zu, warum er so sanft tue? Von Liebe sei doch nicht die Rede, man spiele einander etwas vor, keinem Menschen sei zu glauben; sie sei zum Sterben unglücklich, einen liebe sie, der sei ihr untreu, und so seien alle. Da küßte ihr Wichard heftig den Mund, sie küßte ihn zurück und bat doch, von ihr abzulassen. Aber den Namen Anna! hervorpressend umschlang er das Mädchen so fest, daß sie aufschrie und Enderlein ihm spöttisch zurief. Adelina hatte sich von Wichard abgewandt; er nahm ihre Hand und bat, ihm zu verzeihen, da legte sie den Arm um seinen Hals, Tränen kamen ihr in die Augen, sie küßten sich wieder und würden nicht daran gedacht haben, aufzustehen, wenn nicht der Wirt wegen der Polizeistunde und auch wegen der Entfernung zur Stadt die Gäste zum Aufbruch gemahnt und Enderlein geweckt hätte, der, mit dem Kopf auf Wandas Schulter, eingeschlummert war. Als sie nun den dunklen Landweg heimwärts schritten, verloren die beiden Paare einander aus dem Auge. Wichard und Adelina kamen auf die Neckarbrücke. Dort im schwachen Licht der Laternen blieben sie stehen, hörten das schwarze glänzende Wasser rauschen und sahen den lichtgestirnten Himmel weit über der Ebene und dem Strome. Er schlug den Arm um ihren Leib und sagte mit der überschwenglichen Aufrichtigkeit eines Berauschten: »Es ist ein Wunder geschehen. So laut und so dunkel wie dem Strom da unten ist mir zumut. Ich will mich mit dir in das Wasser hinunterschwingen, dann werden sich die Sterne bis zur Erde neigen.« Damit hob er sie in die Höhe, sie schien leicht wie ein Kind und sträubte sich erschrocken. Er lachte zu der Schwebenden empor und stellte sie wieder auf den Boden.

Wie durch einen Traum ging sie nun neben ihm durch die dunkeln, von frischem Regen nassen Straßen, durch das Gärtchen und über die Stufen des Hauses, wo er wohnte. Dort beim grünen Schein der Lampe auf seinem Schreibtisch sah sie, Hut und Mantel niederlegend, mit Erstaunen die Bücher und Hefte, die offen im Lichte lagen und wollte von ihm hören, was er denn arbeite; aber er schraubte die Lampe, daß sie das Zimmer fast dunkel ließ, kniete vor ihr hin und half ihr aus den Schuhen. Wie aber manchmal ein ganz zarter Anflug von Erinnerung einen Menschen außer Fassung bringt, so fand Wichard, da jetzt der wie Milch duftende Atem Adelinens mit dem seinen sich mischte, sich plötzlich von der Freundin gerufen, deren Namen ihm bereits vorhin im Augenblick der ersten Wallung entschlüpft war. Alles umher war wie ausgelöscht, er sah nur noch das Bild des über alles geliebten Wesens, dessen Verlust die Ursache seines seitdem mit einem Mantel von Einsamkeit und Kühle umgebenen Lebens geworden war und ihm plötzlich wieder so frisch erschien wie im Augenblick der Trennung. Adelina, die jetzt ihre harten Strähne um seinen Hals zog, wie viel geringer war sie als jene ewig Vertraute! Und er konnte nun nicht anders als mit schamvoller Besinnung und in einer unaussprechlichen Sehnsucht von diesem Wesen sich abwenden und in das Leere starren. Adelina umfaßte ihn mit glatten Armen; aber was ihn zu einer andern Zeit würde hingerissen haben, das stieß ihn nun ab, und er bat, sie möge ihn verlassen. Da sie betroffen fragte, was er denn habe, sah er nur noch einmal in ihre Augen, sah die krausen Runzelchen ihrer Stirn, die kleinlichen Falten um ihren Mund, die hagern Schultern, die ihm Mitleid eingaben, – dies schwächliche Geschöpf, das durch die absurden Vorteile ihres Geschlechts ihn bezwungen zu haben meinte, und eine Lust stieg in ihm auf, an ihre Gurgel zu fassen und ihr Leben in der Hand zu wiegen wie das eines kleinen Vogels. Er zischte: »Warum bist du mit mir gegangen?« – »Auch du!« funkelte sie ihn an. »Ich hasse euch!« – »Das geht vorüber«, antwortete er ruhig, erhob sich und half ihr wieder in den Mantel. Bald darauf brachte er sie durch das finstere Haus auf die Straße und ging, an dieser Wendung dumpf leidend, mit ihr den Weg zu dem Stadtteil, wo sie wohnte.

Sie gingen durch den Lichtschein, der aus einer noch offenen Wirtschaft auf den Marktplatz hinausfiel, als von einer Ecke her ein kleiner dicker Mann, angezogen wie ein Metzger, in den Händen eine blecherne Weinkanne, deren Deckel er im Takte klappern ließ, ihnen entgegenschrie: »Oha! Ihr da! Wohin im Mondschein? Vive la Mond! Es scheint ein Scheinwerfer zu scheinen!« Der Betrunkene war niemand anders als Enderlein, der auf irgendeine Weise sich die Kappe, die Bluse und den blutbefleckten Schurz eines Metzgers verschafft hatte. Breit stellte er sich vor die beiden hin und bot Adelina den Arm. Wichard schob ihn beiseite; da schlug ihm Enderlein in einem Anfall von Wut mit der Kanne den Hut über die Ohren. Wichard gab dem Enderlein einen Stoß vor die Brust, daß er umfiel, schritt rasch dem Mädchen nach, das in den Schatten des nächsten Haustores geflüchtet war und am ganzen Leibe zitterte, und brachte sie fort.

 

Als er allein auf der Heimkehr in dem sich lichtenden Morgen schon den ersten, zur Arbeit gehenden Leuten begegnete, verwünschte er bitterlich das Geschehene, und er vergrub sich wie ein Tier in sein verdunkeltes Zimmer. Nach wenigen Stunden Schlafs und wachen Liegens im Bett mahnte ihn das Mittagläuten zum Aufstehen; im selben Augenblick klopfte es an seine Tür. Herein trat der Lehramtspraktikant, der gestern am Nachmittag mit Wichard und den andern zusammen gewesen war und überbrachte im Auftrag des Kandidaten Enderlein eine Forderung auf schwere Säbel. Erklärungen waren nicht nötig. Nach seinen Mitteilungen, die die baldige Austragung des Handels betrafen, gab der Lehramtspraktikant zu verstehen, daß ihn sein Bundesbruder Enderlein heut in aller Frühe in einem verstörten Zustand besucht habe und ihn leider mit diesem Auftrag habe betrauen müssen. Dann empfahl er sich und ließ Wichard in einer Stimmung, in der wie nach einem kalten Bade die vorwurfsvolle Unlust seines Innern niedergeschlagen war in einer ruhigen Fassung. Wichard begab sich mit Eifer an seine Arbeiten, um nach dem Zweikampf sogleich abreisen oder sich ausheilen lassen zu können. Das Ehrengericht trat schon am folgenden Tag morgens zusammen; er gab seine Schilderung des Streitfalles und seinen Verzicht auf eine gütliche Vermittelung zu Protokoll. Dann begann er sich auf die Mensur vorzuüben. Sie war auf den letzten Tag des Semesters angesetzt worden.

Erst an dem Nachmittag, da Wichard im Hause einer Verbindung, der Enderlein angehörte, das Hinterzimmer betrat, wo der Zweikampf stattfinden sollte, sah er seinen Gegner wieder. Der stand, an einen der mit Paukzeug behäuften Tische gelehnt, in einer Gruppe seiner Freunde und würdigte ihn, der in aller Förmlichkeit den andern sich vorstellte, keines Blicks. Nicht, daß es Wichard an Selbstvertrauen gefehlt hätte selbst in diesem Augenblick, da er in einer leisen Beklemmung auf das Zeichen zum Anbandagieren wartete. Er hatte bisher nur ein paar leichte Schlägermensuren gefochten und stand nun auf ernstere Waffen einem Fechter gegenüber, von dem man wußte, daß er es an Verwegenheit, Körperkräften und Gewandtheit mit dem besten aufnehme. Mehr war es all das Drum und Dran, was ihn beklemmte: die gleichgültigen Mienen, das Rauchen und laute Sprechen dieser vielen ihm fremden jungen Leute in ihren dunkelgrünen Stürmern; der um einen Kreidestrich herum mit Sägemehl bestreute Boden; der angezündete Kronleuchter, denn die Butzenscheiben der großen altertümlichen Fenster ließen das Tageslicht nicht durch. Auch die Nähe des überhitzten Ofens war schwer zu ertragen, und aus dem Kommerssaal nebenan hörte man das Klavier, auf dem ungeübte Hände ohne Aufhören einen Walzer klimperten, um das Säbelkrachen nachher oder ein überlautes Kommando nicht auf die Straße dringen zu lassen. Bei dem längeren untätigen Verharren freilich, dessen Ursache in dem Ausbleiben des bestellten Wundarztes lag, beruhigte ihn dieser Anschein von Gleichgültigkeit. Enderlein begann drüben seine Oberkleider abzulegen. Nun nahm auch Wichard mit ruhigen Händen sich Rock und Weste, Kragen und Hemd vom Leibe und ließ von dem geübten Diener die Bandagen sich anlegen. Von drei Säbeln, die zur Auswahl für ihn an einem der Stühle lehnten, wählte er den leichteren, den er beiseite einmal leise durch die Luft pfeifen ließ und trat dann, als er hüben wie drüben die Sekundanten mit Schirmmütze, Gitter, Schurz und Stulp bekleidet und die stumpfen Rapiere ergreifen sah, als ob der Arzt ja doch jetzt jeden Augenblick da sein müsse, an das ihm zugewiesene Ende des Kreidestrichs. Ihm gegenüber, im selben Wichs wie er, saß Enderlein schon breit auf einem der eichenen altdeutschen Stühle und hieß ihn mit festem Blick aus seinen tiefliegenden Augen und einem höhnischen Zug seines fahlen Gesichts willkommen. Wichard setzte dem Gegner, auch als er ihn wie gelangweilt den kräftigen Arm spannen und die fleischige Brust in den mit einer braunen Kruste überzogenen Riemen dehnen sah, einen unbewegten Anblick entgegen. Der Testant, ein rotbackiges Bürschchen mit Augengläsern und Studentenmütze, trat nah an seine Seite. Wichard legte ihm den Arm zum Ausruhen auf die Schulter, und das Grauen vor der nahen Leibesgefahr trat jetzt in ihm ganz zurück hinter einem fast befriedigten Staunen: wieviel besser fühlte er sich hier stehen, als noch einmal Aug' in Auge mit jenem weiblichen Geschöpf, um dessenwillen diese Feindschaft entstanden war. Ein Knarren der Hintertür löste die Spannung, unter der die Anwesenden schon eine Weile stumm geworden waren. Der junge Arzt entschuldigte sich flüchtig: ein Unfall habe ihn ans andere Ende der Stadt gerufen, prüfte mit einem Blick die Waffen der Gegner, breitete auf einem rückwärts stehenden Tisch seine Bestecke neben einer Schüssel aus, in der das rötlich gefärbte Wasser dampfte, und warf seinen Kittel über. Man konnte beginnen. Wichard richtete sich, zum Abmessen der Entfernung gegen Enderlein, mit wagrecht ausgestrecktem bewehrtem Arm und geschlossenen Füßen auf. An seiner Ferse vorbei zog man mit Kreide den Strich auf den Boden. Er setzte den rechten Fuß weit vor. Während der Sekundant sein Kommando ankündigte, der Unparteiische, der ein wenig stotterte, mit der üblichen Formel zur Versöhnung aufforderte und dann Ruhe für eine schwere Säbelmensur zwischen den beiden gebot, deren Namen er nannte, hatte Wichard noch immer seinen Arm dem ihn Stützenden überlassen. Nun, auf den Zuruf des weit sich zurückbeugenden Sekundanten legte er die ihm zuckende Klinge aus, fuhr, auf das »Los!« heraus und nahm das fürchterliche Ausholen seines Gegners zu einem Reiterhiebe, das Klirren, die Funken, das Blitzen der feindlichen Klinge mit der gleichen Schärfe wahr, wie er selbst mit zwei Quarten parierte und eine Terz nachgab. Gleich nach dem folgenden »Los!« spürte er einen schweren Schlag auf die linke Backe und sah schräg über Enderleins Stirn einen feinen roten Strich sich zeichnen; dann prallte sein Hieb auf die Speere der Sekundanten, und »halt!« rief man neben ihm. Enderlein zog seinen Fuß stramm zurück, den Arm zur Seite gestreckt, den Säbel steil in der Hand; den Kopf mit einem harten Lächeln beugte er ein wenig vor, um das Blut abzuschütteln, das aus der kleinen Wunde auf die Braue, an beiden Winkeln der Augen hinab tropfte. Aus dem Nebenraum dröhnte das Klavierspiel immer weiter. Der Arzt trat zu Enderlein hinüber und drückte ein paar Augenblicke lang die Wunde zusammen. Wichard flüsterte seinem Sekundanten zu, ob man es denn nicht sehe: er habe eins über die Backe bekommen. »Flacher Hieb«, war die Antwort. Wichard solle sich nicht irrmachen lassen und weiter seine Quarten schlagen; wenn aber der Gegenpaukant einmal wieder mit einem Draufgängerhieb sich bloßgebe, ihm eins über den Arm zu wischen versuchen. Man bot ihm aus einem Bierglas ein Gemisch von Wasser und Kognak zu trinken an, aber er weigerte sich, zu trinken, die Pause dauerte ihm schon zu lang. Und wirklich gerieten sie beide jetzt so heftig aneinander, daß Enderlein die Spitze seines Säbels aus Wichards Handgelenkbinde herauszerren mußte, in die sie sich verfangen hatte und im folgenden Gang des Gegners Klinge mit solcher Wucht beiseite schlug, daß nur durch Einspringen des Sekundanten der unparierte Nachhieb vereitelt wurde. Wichard begegnete dem nächsten wilden Ausfall mit einem ebenso mächtigen Umsichschlagen, doch nun, in besonnener Heftigkeit sich rückwärts legend, schlug er Finte und traf im Augenblick die kurze Spanne weißen Fleisches zwischen den schwarzseidenen Binden um den Unterarm des Gegners. Das und »halt!« geschah im kürzesten Takt; Enderleins Arm sank, der Säbel stieß in den Boden; er hob ihn wieder, aber die Waffe schwankte und kam nicht wieder in die Auslage; die Finger umklammerten, keinem Willen gehorchend, den Griff. Die Wunde blutete nur wenig. Der Doktor trat hinzu, der Sekundant drüben erklärte Abfuhr. Man hörte auf den Unparteiischen nicht mehr, der die Mensur für beendigt erklärte, alles drängte sich um den Verwundeten, den man rasch der Binden, der Handschuhe und all der umgeschnallten Lederstücke entledigte, man hob ihn dann auf einen Tisch und überließ ihn dem Arzt. Einige beglückwünschten Wichard, der beiseite trat, sich wusch und sich umkleidete und mit Erschrecken im Spiegel sah, wie seine Wange geschwollen und mit Blut unterlaufen war. Man sagte ihm, daß die Verletzung Enderleins eine bedenkliche sei und daß man ihn wohl werde in die Klinik schaffen müssen. Mit einem halben Blick auf das Geschäft des Arztes, den eine dichte Gruppe von Zuschauern umschloß, verließ Wichard, aufatmend, das Haus.

Er merkte erst gegen Abend an einer ungewohnten Abspannung den Rückschlag des Geschehenen. Abreisen mochte er nicht, sein Aussehen machte ihn verlegen; weite Spaziergänge, die ihn beruhigten, führten ihn an den folgenden Tagen aus der Stadt. In der mild durchsonnten kalten Luft eines Frühlingsnachmittages fand er sich auf einer Waldlichtung, schaute von der Höhe des Berges hinunter auf den weiten Horizont im Westen, den ferne Berge mit zarter Linie grenzen, sah in der Ebene die silbergoldenen Bänder der Ströme sich begegnen und atmete froh die hohe Luft hier oben. Im Rauch zwischen den dunkeln Bergabhängen sah er unten die Stadt. Da mußte er in einem fernen Mitgefühl an Enderlein denken, der dort wohl irgendwo mit seinem invaliden Arm im Krankenhause lag. Was aber sollte er bedauern? Der Zwischenfall mit allem Beklemmenden dieser Tage sank wie die Wolke dort vor seinen entzückten Augen in eine lichte Ferne und gab ihn frei.

Das Kläffen und plötzliche Hervorbrechen eines Dachshundes aus dem Gebüsch verriet die Nähe von Menschen. Um andern Spaziergängern nicht zu begegnen, ging Wichard abwärts und erkannte zu spät in den zwei Damen, die den Waldpfad heraufstiegen, Wanda und Adelina. Mochten beide sehen, daß er die Begegnung vermeiden wollte; er kehrte um und schritt eilig den Weg wieder hinauf, hörte aber die beiden hastig und leise sich besprechen, hörte dann mit Betonung seinen Namen genannt und einen raschen Schritt hinter sich, so daß er sich umsah. Adelina war unten stehen geblieben und rief dem Hunde; aber Wanda, die auf ihn zuwehte, lang und schmal, mit großem Federhut, hellgrauen Schuhen und klirrendem Kettchen an der Hand, schien Wunderliches von ihm zu wollen. »Wer hätte das von Enderlein gedacht!« rief sie, fast außer Atem: »heute rot, morgen tot! Sagen Sie uns nur, wie denn das zugegangen ist, er war ja Ihr Freund! So ein lustiger, guter Mensch! Und nun hergehn und paff!« – Sie machte eine schussige Bewegung gegen ihren Kopf; Wichard, von der Neugier verletzt, die er auf den Zweikampf bezog, gab zur Antwort, er wisse von gar nichts, sie solle sich bei ihm selbst erkundigen, von dem sie da spreche. »Aber er ist doch tot!« schrie sie; ob er denn das noch nicht wisse? Gestern abend sei es passiert, in seiner Wohnung habe sich Enderlein erschossen! – Aufs äußerste bestürzt starrte Wichard das Mädchen an. – Ja! Ein Bekannter habe es ihr gesagt vorhin in der Stadt. – Und da Wichard den Kopf schüttelte, rief sie zur Freundin hinunter: Man wisse von nichts, man wolle es nicht glauben! – Da ging Wichard den Weg hinunter, Wanda mit ihm, bis zu Adelina, die keine Antwort gab; dort grüßte er die beiden und ließ sie stehen. Eilig, zuletzt in langen Sprüngen, lief er den Berg hinunter, immer tiefer erschrocken, immer mehr beunruhigt, an diesem Tod eine Schuld zu haben. Er kam, in Schweiß gebadet, zur Stadt und eilte zu dem Lehramtspraktikanten, traf diesen, auf seinem Sofa am Tisch sitzend und beschäftigt, Briefe zu schreiben, und erhielt die Auskunft, das mit Enderlein sei leider richtig. Es sei in der letzten Zeit mehr auf ihn hereingebrochen, als ein anständiger Kerl vertragen könne: das Gerede bei den Verwandten wegen des so lang hinausgeschobenen und dann mißglückten Examens; darnach ein plötzlicher, verabredeter Ansturm der Gläubiger; ein überreizter Zustand, Unlust zur Arbeit, schließlich die Abfuhr am Arm. Nun sei Enderleins Vater vor drei Tagen gekommen, um den Sohn nach Hause zu holen; es war ausgemacht, mit dem Abendzug zu fahren; am Nachmittag ließ Enderlein, unter einem Vorwand, den Alten allein und ging zur Mensur, die er im letzten Augenblick nicht absagen mochte und wie ein Verzweifelter schlug. Der Weisung des Arztes zuwider habe er sich mit seiner Verletzung gar nicht erst in die Klinik begeben, sondern sei, den Arm im schwarzen Tuch, zu seinem Vater zurückgekehrt. Vermutlich sei der Alte dann abgereist. Der Sohn habe erst am folgenden Abend die Tat begangen. So liege die Sache. Wichard könne daraus selber sehen, wie weit er gegen seinen Willen zu diesem traurigen Ausgang beigetragen. Der Lehramtspraktikant bat ihn noch, dem Enderlein, der im Grunde ein bierehrlicher Mensch und voll guter Anlagen gewesen sei, nichts nachzutragen und, wenn möglich, neben andern alten Bekannten, beim Begräbnis mitzugehen.

 

Als am Abend Wichard in seine Wohnung zurückkam, huschte ihm im Hausflur die Wirtin entgegen: ein Mann, der ihn durchaus sprechen wolle, erwarte ihn schon seit drei Stunden im Zimmer. Mit einer bösen Ahnung ging er hinein und sah neben der Lampe, die von dem geräumten Schreibtisch aus die leeren Wände und die geschlossenen Koffer am Boden beschien, einen kleinen schwarz gekleideten Mann mit grauem Bärtchen sich vom Stuhl erheben und bäurisch sagen: »Ich heiße Enderlein aus Wabstadt, der Name wird Ihnen ja bekannt sein von meinem Sohn.« Wichard, arg betreten, fragte, mit was er dienen könne? Der Alte antwortete, er habe hier gewartet, um ein wahres Wort über seinen Sohn zu hören. Er sei wie mit einem Knüppel gehauen: sein Sohn! der zu Hause immer so gesetzt und vertrauensvoll gewesen, dem er zum Studium ein Vermögen ausgeliefert habe! Solch ein Ende könne seine Richtigkeit nicht haben. Leute hier, die er über das Treiben seines Sohnes und über die Ursache des Zweikampfes gefragt und gefragt hatte, nahmen Ausflüchte, redeten lau darum herum. Aber Wichard, der ja doch keine Freundschaftsverpflichtung gegen den Toten habe, der Feind, werde doch wohl die Wahrheit sagen; er, der Vater, müsse die Wahrheit wissen, eher sei für ihn der Fall nicht erledigt. Besonders solle ihm Wichard nur dreist und geradaus sagen: um was habe er seinen Streit mit Enderlein gehabt? – Auf diese Eindringlichkeit des alten Mannes antwortete Wichard zögernd: daß der Streit wegen keines schlimmeren Anlasses entstanden sei, als wohl jede Woche zwischen Studenten Streit entstehe und mit der Waffe geschlichtet werde, selten freilich mit so ungutem Ausgang. Er sei also eines Morgens, nachdem er noch den Abend vorher mit Enderlein zusammen gewesen, von diesem auf der Straße in der Trunkenheit mit einer Kanne auf den Kopf geschlagen worden; dafür habe er dem Enderlein einen Stoß gegeben und sei dafür noch am selben Tage gefordert worden. – »Das ist ja recht schön, am hellen Morgen, auf offener Straße«, meinte der Alte; »viele Leute werden es gesehen haben.« – »Es war in der Frühe, fast noch dunkel«, sagte Wichard. – »Da haben Sie also die Nacht durchgehalten, sich getrennt, und beide angetrunken, sich wieder getroffen?« – »Enderlein war wohl betrunken.« – »Ja, aber warum, wenn Sie ihm doch bis dahin gut waren, wiesen Sie ihn nicht einfach seiner Wege? Von einem Betrunkenen läßt sich einer doch eher einmal etwas gefallen.« – »Es war jemand bei mir.« – »Noch ein Freund?« – »Ein Fräulein.« – »So. Und mein Sohn?« – »Rief unpassende Worte.« – »Nun, ja, aber ein Frauenzimmer!« – »Es war ein Fräulein, das er selber kannte, und ich hatte sie zu begleiten.« – »Also eines Frauenzimmers wegen«, sagte der Alte rauh, als würge es ihm den Hals. »Was für eine?« – »Vom Theater.« – »Ist sie von hier?« – »Ich glaube, nicht; die sind alle halbe Jahr woanders.« – Der Alte nahm umständlich sein Schnupftuch hervor, trocknete sich die Stirn, und sah Wichard eine Weile stumpf an. »Ich hätte eine Bitte«, sagte endlich der Alte langsam; »nehmen Sie es mir nicht übel. Ich sehe, ich hätte die Gewohnheiten unter euch jungen Leuten früher kennen sollen; vielleicht hätte ich dann noch den Sohn. Die Herren sind wohl immer sehr stolz, die in einem Duell gewonnen haben?« – »Keine Ursache«, erwiderte Wichard. – »Ich meine: man erzählt doch so etwas gern den Bekannten, am Biertisch undsoweiter?« – »Ich werde nicht in die Lage kommen.« – »Ich möchte Sie nämlich bitten, wenn Sie das erzählen, keinen Namen zu nennen; sonst wäre es nämlich mein Name.« – »Ich verspreche Ihnen, nicht davon zu reden.« – »Geben Sie mir Ihre Hand darauf.« – »Hier. Es tut mir leid, Herr Enderlein.« – »Das brauchen Sie nicht zu sagen, junger Mann. Danke Ihnen.« – Damit setzte der Alte seinen Hut auf und ging ab.

Wichard setzte sich auf seinen Koffer, er bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Als er die Augen wieder auftat, erschien ihm seine Stube fremd, als sei er nie darin gewesen; auch er setzte den Hut auf, sorgte, daß man das Gepäck zur Bahn schaffe und saß dann lange, wie betäubt, in einer Ecke des Wartesaales, bis der Nachtzug fuhr.


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