Oskar Panizza
Der operierte Jud'
Oskar Panizza

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Unter alle diesen Prüfungen und Untersuchungen platzte Itzig einmal mit der Frage heraus: wo denn der Sitz der Seele sei? – Man versuchte ihm zu erklären, daß, seit Descartes den mißglückten Versuch gemacht hatte, den Sitz der Seele in die Zirbeldrüse des Gehirns zu verlegen, eine Lokalisation dieser geistigen Kraft nicht mehr probiert worden sei; daß vielmehr die Seele aus dem Zusammenwirken bestimmter körperlicher und geistiger Funktionen zu verstehen sei. Da nun diese Funktionen in bestimmter Art von der Qualität des Blutes abhängig seien, so könnte man mit einiger Wahrscheinlichkeit den Satz aufstellen, der Sitz der Seele sei das Blut und seine wechselnden Zustände. Von hier aus hatte Faitel im Nu den Plan zu einer seiner kühnsten Prozeduren gefaßt. Mehrere Tage nach jener Diskussion hörte man ihn zu seinen intimsten Bekannten mit Frohlocken sich äußern: »Kaaf ich mer ä christlich's Blut! Kaaf ich mer ä christlich's Blut!« Obwohl ihm seine Erzieher diesen Jargon aufs strengste verboten hatten? – Der Leser wird den Kopf schütteln. Aber der Leser darf nicht vergessen, daß Itzig Faitel Stern Mediziner war und auf allen einschlägigen Gebieten Bescheid wußte. Und ferner ist hier der Ort, daran zu erinnern, daß damals, als unsere Erzählung spielt, die Transfusionen aufkamen, die Bluteinspritzungen aus einem vollsaftigen, blutreichen Körper in einen blutarmen, darniederliegenden Organismus durch Öffnen eines oberflächlich liegenden Blutgefäßes am Arm. Diese Operationen waren ungeheuer gefährlich und sind heute bereits ganz verlassen. Man riet Faiteles ernstlich ab, er ließ sich jedoch nicht abhalten. Gleichwohl waren noch große Schwierigkeiten zu überwinden. Man hatte bereits sechs bis acht kräftige Leute aufgetrieben, die gegen große Bezahlung jeder einen Liter Blut hergeben sollten. Als sie hörten, daß es für einen Juden sei, traten sie zurück, sprachen von dem durch die Juden am Kreuz vergossenen Blut und waren nicht mehr zu bewegen, ihr Wort zu halten. Erst als man mehrere kräftige Schwarzwälderinnen, die zur Messe gekommen waren, überreden konnte, sie müßten sich wieder einmal zur Ader lassen, war die Hauptschwierigkeit behoben. Faitel setzte sich in einem Nebenzimmer selbst das Messer an, und, obwohl die Menge des zu entleerenden Blutes genau vorgeschrieben war, ließ er die offene Ader im warmen Bad spritzen, bis er ohnmächtig hinsank. Er wollte von der »Jüdischkeit« ablegen und ablaufen lassen, was herausging. Von den acht kräftigen Bauernmädchen wurden ihm dann im Laufe des Nachmittags acht Liter mit großer Vorsicht allmählich eingespritzt. Faitel ging nach mehrtägiger Bewußtlosigkeit unversehrt aus der gefährlichen Prozedur hervor. Aber über den Erfolg, den psychischen Erfolg, wollte er sich nie recht vernehmen lassen. Allzu groß schien derselbe nicht gewesen zu sein, denn nach mehreren Wochen fanden wir ihn schon wieder bei neuen Versuchen, sich in den Besitz der deutschen Seele zu setzen.

So ließ er sich, besonders in Damenkreisen, pathetische und sentimentale Dichterstellen vorsagen, und beobachtete scharf Mundstellung, Atmung, Augenaufschlag, Gesten, gewisse Schluchzlaute, die aus der mit Gefühlen übersättigten Brust nur mühevoll und heiser sich entrangen. Ja, als die Damen in ästhetischen Teekreisen ihm nicht genug taten, ließ sich Faitel aus dem nahen Darmstadt Hofschauspieler kommen, Helden und Liebhaber, und lernte mit ihnen Romeomonologe. – Dies hatte in der Tat größeren Erfolg. Faitel brachte jetzt mit großem Geschick im Gespräch Sätze hervor wie: »Ach, ich sag' Ihnen, wenn ich darüber nachdenke, wenn ich mir's überlege, so wird mir oft dunkel vor den Augen, und mein Herz preßt sich zusammen!« – Dabei einige brüske Bewegungen, beide Hände auf die linke Seite der Brust gepreßt – es war wirklich ein ganz geschickter Gefühlserguß. Freilich das Auge ruhte bei ihm mattzerflossen, wie eine verfaulte Kirsche, in der Höhle. Aber viele wußte er doch zu täuschen. Die gepreßten Atmungen machte er vorzüglich. Und er hatte einmal die Genugtuung, daß ein Kommilitone von ihm in Damenkreisen sagte: dieser Siegfried Freudenstern ist ein Gemütsmensch durch und durch.

Aber Faitel hatte noch eine Menge anderer, alter, erbgesessener Gewohnheiten, Ideenkreise, Skurrilitäten und Verschrobenheiten. Wenn ich oft abends mit ihm spazieren ging, überließ er sich gern seinem Nachdenken, und – wollte er Religionsstunde rekapitulieren oder seine früheren Lehrer verspotten? – er begann dann mit veränderter, mäckernder Rabbinerstimme sich selbst wie folgt zu examinieren: »Was duht Jehova zu Beginn des Dags?« – Dann antwortete sich Faitel in seiner eigenen Stimme, aber mit einem frechen witzigen Akzent: »Er studiret die Gesätz!« – (Wieder die erste Stimme): »Was duht der hailige Gott aber härnach?« – (Zweite Stimme): »Härnach sitzt er und regieret die ganze Wält!« – »Was duht aber Jehova wiederum härnach?« – »Härnach sitzet er und ernähret die ganze Wält!« – »Was duht er aber dann?« – »Dann sitzet er und kopulieret die Männer und die Waiber!« – »Wie lang kopuliert der hailige Gott die Männer und die Waiber?« – »Drei Stunden lang kopuliert er die Männer und die Waiber!« – »Was duht er dann am Nachmittag der hailige Jehova?« – »Am Nachmittag duht er nichts, der Jehova; er ruht aus!« – »Waih geschrieen! Wie haißt, er duht nichts der hailige Jehova? Wird er nichts duhn, der hailige Jehova? Was wird er duhn? Was duht der Jehova am Nachmittag? – He?« – (Nun schien eine entfernte spitzige Knabenstimme von der hintersten Schulbank zu antworten): »Am Nachmittag spielt der hailige Jehova mit dem Leviathan!« – »Nadierlich! (fiel jetzt die Stimme des Rabbiners ein) er spielt mit dem Leviathan!« – – In solchen Stunden war Faitel überglücklich und gebärdete sich wie ein wilder Junge. Wenn wir dann hinaus vor die Stadt kamen, nahm Faitel wohl auch gelegentlich sein weißes Taschentuch, hing es um den Hals, hielt es vorn mit zwei Zipfeln und fing nun an in rollenden Skalen mit heulendem Gurgellaut ganze Berge von Gesang loszulassen mit eigentümlich jubilierend-heiterem Charakter auf einen Text, der mir fremd war. Bis ihm die Augen heraustraten und der Schaum vor seinen Lippen stand, dann brach er körperlich fast zusammen und lief wie ein Trunkener, besinnungslos, neben mir her. Wenn er wieder zu sich kam, blieb er still, in sich gekehrt, tat sehr geheimnisvoll und schien von einem unbekannten Glück durchflutet. – Von alledem durften natürlich seine Lehrer nichts wissen, die jede Übung, jeden Laut und jede Geste verboten, die ihn an seine frühere Veranlagung erinnern konnten. Ich hatte aber auch Faitel im Verdacht, daß er, wenn er allein war, all den früheren Unfug weitertrieb. Tagsüber war er im europäischen Korsett, eingeschnürt, überwacht, streng beobachtet. Aber nachts, wenn jede Fessel fiel, wenn er den Stachelgürtel auszog und im Bett lag, da wippte er gewiß wie früher mit dem Becken hin und her, steckte die aufgespreizten Hände in die fingierten Westenausschnitte, gurgelte und gröhlte: »Deradáng! Deradáng!« Und die ganze pfälzisch-jüdische Sündflut kam dann heraus. – Faitel hatte aber noch andere Dinge, die noch viel unausrottbarer waren, weil sie nicht, wie Bewegungen, vom Willen beherrscht wurden, sondern in seiner Phantasie steckten. Die Vollständigkeit zwingt mich hier, etwas Unappetitliches zu berühren: Faitel hatte Angst vor dem Abort. Er glaubte an die althebräischen Unflat- und Abtrittgeister, die den Menschen während seiner höchst dringenden Beschäftigung belästigen, Besitz von ihm ergriffen, aber durch bestimmte Gebete abgewehrt werden könnten. Da er diese Gebete nicht mehr wußte oder nicht mehr mit Überzeugung sprechen konnte, so wuchs seine Angst nur um so mehr. Und nur der Umstand, daß die Geister in Gegenwart eines anderen sich nicht an den Menschen wagten, verschaffte Faitel die, freilich immer erst zu beschaffende, Gelegenheit, einem so dringenden Geschäft mit Ruhe obzuliegen.

Solcher Art war Faitels Neubildung und Umgestaltung beschaffen. Innerlich war vieles noch nicht neu besetzt, waren alte Funktionen noch in Tätigkeit. Äußerlich war alles geglättet, gestriegelt, gut eingeübt und in promptem Gang. Alles in allem mußten Faitel und seine Lehrer, Erzieher und Instruktoren mit dem Erreichten zufrieden sein. Und Professor Klotz, dessen sorgsames Auge von Semester zu Semester mit höherem Interesse über seinem Menschenwerk wachte, mochte in seinem Beglückungsgefühl mitten stehen zwischen einem Zirkusdirektor, der ein schwieriges Pferd endlich für die Manege hergerichtet hatte, und jenem erhabenen Schöpfer, der einem kalten Erdenkloß Leben einhauchte. Hatte nicht auch Klotz einem vertrackten Gerippe neues Leben eingehaucht?

Nur eines fehlte noch: es galt diese kostbar gewonnene Menschenrasse fortzupflanzen. Mit dem feinsten abendländischen Reis sollte der neue Stamm okuliert werden. Eine blonde Germanin mußte die mit fabelhafter Mühe gewonnenen Resultate erhalten helfen. So lautete die Theorie. In Praxis hieß dies: Die arme, aber schöne, flachshaarige Beamtentochter Othilia Schnack sollte dem enorm reichen Gutsbesitzerssohn Siegfried Freudenstern die Hand reichen. So war es ausgemacht, und so war es Faitel zufrieden. Ein Gut war in der Tat vom alten Salomon Stern, der ruhig in der Pfalz auf seinem Dorf saß, bei Hannover angekauft worden, um den jungen Leuten als nächsten Aufenthalt zu dienen. Die hannoverschen Studenten, die schon einmal so vortreffliche Dienste als Sprachinstruktoren geleistet, sollten seinerzeit die nötigen Familieneinführungen in hannoverschen Stadt- und Landkreisen besorgen. Einige wacklige Hypotheken auf den Elternhäusern der betreffenden jungen Herren waren für diesen Fall vom alten Salomon in Patzendorf zur Einlösung bestimmt. Ein ganz fabelhafter Trousseau war bei den ersten Lieferanten Heidelbergs für den Fall des Zustandekommens der Verbindung in Auftrag gegeben. Dieses übte nun wiederum einen unverhältnismäßigen Druck auf alle Geschäftskreise in der Universitätsstadt aus. Man sprach so viel von der Verbindung, daß es schließlich hieß: die Verbindung muß zustande kommen. Oder: dies Verhältnis darf nicht rückgängig gemacht werden, als ob überhaupt schon eines eingegangen worden sei. Das Mädchen Othilia, mit ihren sternhellen Augen, war ein offenes, liebreiches Geschöpf, aber mit einem starken Mädcheninstinkt. Ihr war in Gegenwart des goldblonden Jünglings mit den Schnurrsprechwerkzeugen nicht ganz wohl. Sie ahnte Unheimliches, konnte aber ihren Verdacht nicht begründen. Der Vater, ein ängstlicher Mann, der durch Bravheit und Rechtschaffenheit es vom Diurnisten zum Subalternbeamten gebracht hatte, war eine ängstliche Natur, die immer horchte, nie nein sagte, mit kleinen Schritten trippelnd hin und her ging, Kinn und Nacken tief in einem ungestärkten, aufgeschlagenen Hemdkragen versteckt trug und, sobald er merkte, daß etwas wie eine Familiensitzung im Anzug war, Hut und Stock nahm und einen Spaziergang machte. Die Mutter, eine vollbusige, schwerfällige, hie und da noch gern etwas scharmierende, aber energische und tüchtige Wirtschafterin, war entschieden für die Verbindung. Sie besaß bereits taubeneigroße Brillantsteine von Faitel Stern in den Ohren. Dieser klugen Frau war nur verdächtig, daß die Heidelberger Professoren, besonders die Mediziner, sich für das Zustandekommen der Heirat so erwärmten. Natürlich waren die Hoteliers, Weinlieferanten, Marchands de mode, Stickereigeschäfte, Kuchenbäcker, Juweliere, Annoncen-Expeditionen, Unterhändler, Kutscher und Packträger für die Verbindung. Auch die Freundinnen Othilias waren eher für die Heirat. Die protestantische Geistlichkeit – Othilia war protestantisch – nickte beifällig zu dem ganzen Projekt. Daß man von Faitels Verwandten gar niemanden sah, verursachte einige Beklemmung in der Familie Schnack. Es hieß, die Eltern seien betagt! Und die weite Reise aus dem Hannoverschen! Wenn nur ein Bruder oder noch lieber eine Schwester des Bräutigams sich gezeigt hätte! Aber die krächzende Brut hinten in Patzendorf hütete sich natürlich, einen Laut zu geben.

Faitel war jetzt im zehnten Semester; seine Kenntnisse und seine gute Führung wurden gelobt. Es machte aber Aufsehen, als es hieß, Professor Klotz habe den jungen hannoverschen Studenten, der eben sein Examen absolvierte, zu seinem Assistenten ernannt. Diese Ernennung bedurfte der ministeriellen Bestätigung in Karlsruhe. Sie erfolgte. Sie gab aber dem auch in Karlsruhe bereits umlaufenden Gerücht von der reichen Heirat in Heidelberg neue Nahrung. Dem Landesfürsten konnte all dieses Gerede nicht entgehen. Und eines Tages teilte der Bureauchef dem alten Schnack mit schmelzendem Lächeln mit, man habe in Karlsruhe – bei Hof – von der Verbindung seiner Tochter – gesprochen. Jetzt war's fertig! Dem alten Diurnisten blieb der Kopf starr und lautlos hinter der Krawatte stecken. Nicht einmal zu einem Schnappen brachten es die beiden trockenen, mit Rasierstoppeln schwarz getüpfelten Lippen, bis der lange, hagere Bureauchef mit den langen Rockschößen wieder draußen war. Dann warf der alte Schnack spritzend die Kielfeder auf das Arbeitspult, nahm Hut und Stock und eilte keuchend nach Hause. »Bei Hof! Bei Hof!« Jetzt gab's kein Halten mehr, die arme Othilia, die zitternd zuhörte, warf sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter und erklärte, sie werde gehorchen. Die Mama aber schrieb sofort ein Billett an den Herrn Assistenten Freudenstern und die Hochzeit ward anberaumt.

Lieber Leser, nun habe ich aber noch ein Wort mit dir zu reden. Hast du niemals gehört, daß Leute im Winter einen Mantel tragen, dessen oberer Rand mit einem Streifen kostbaren Pelzes besetzt ist, um glauben zu machen, der ganze Mantel sei so gefüttert? Eine Kleinigkeit! Eine kleine Schwäche! Trägst du auch einen solchen Pelz? Oh, dann wirf ihn weg, wenn du ein Mann bist. Sonst möchte dir der Pelz eines Tages aufs Maul fallen, während du in der höchsten Atemnot bist. (Wenn du aber ein Weib bist, dann magst du ihn tragen.) Aber das bißchen Pelz, nicht wahr, so viel Gerede darüber! – Gut! – Hast du aber schon, lieber Leser, solche Leute gesehen, die um ihre Seele solche Pelze tragen, um die löcherige und schäbige Verfassung ihrer Seele zu verbergen? Und nun so tun, als hätten sie eine noble, in feinstes Tuch gekleidete Seele? O pfui der Schande! O Dreck und Jämmerlichkeit! Wenn irgendeine brave, offene, vielleicht noch in ihrem zu eng gewordenen Konfirmationsrock gekleidete Seele daran Ärgernis nähme oder getäuscht würde! – Besitzt du vielleicht selbst, Leser, solche Umhüllungen für deine Seele? Oh, dann schmeiß dieses Buch in die Ecke, wenn du ein Mann bist, und spuck' es aus! Es ist nichts für dich. Nur das Weib darf lügen und sich in falsche Umhüllungen kleiden.

Hast du vielleicht, lieber Leser, schon Tiere miteinander sprechen sehen? Zwei Tauben, oder zwei Göcker, oder zwei Hunde, oder selbst zwei Füchse? Nicht wahr, wie sie gurren, schnattern, kläffen, winzeln, wedeln und Körperkrümmungen machen! Glaubst du, daß sie sich verstehen? Gewiß! Gewiß! Jeder weiß im Nu, was der andere will. Aber zwei Menschen? Wenn sie schnüffelnd die Köpfe gegeneinanderstrecken und sich ankieken und dann ihre Gesichtstaschenspielereien beginnen, blinzeln, äugeln, knuspern, leer kauen, »Papperlapapp« und »Der Tausend! Der Tausend!« winseln? Was tun sie? Verstehen sie sich wohl? Unmöglich! Sie wollen ja nicht. Sie können und dürfen ja nicht. Die Lüge hindert sie ja daran. O Roßbollen und Stinkharz, ihr seid Köstlichkeiten gegen das, was aus der Menschen Munde geht!

Als Prometheus von Gott endlich die Erlaubnis erhalten hatte, Menschen machen zu dürfen, geschah es unter der ausdrücklichen, erniedrigenden Bedingung, daß diese eine Eigenschaft besitzen müßten, die sie tief unter das Tier stellte. Prometheus, der nur eilte, sein Kunstwerk fertig zu sehen, sagte ja. Es war die Lüge. O hundföttischer Vertrag, der uns alle unter dem gleichen Lügenzeichen geboren werden ließ! Und warst du vielleicht die Ursache von jenem großen Lügenturm zu Babel, wo die Menschen auseinandergehen mußten, weil sie sich schon damals trotz aller Räusperungen und Gestikulationen nicht mehr verstanden? Und wenn auch die germanischen Nationen, die zuletzt ans Schaffen kamen, am wenigsten davon erhielten, weil bei den vorhergehenden asiatisch-romanischen Geschlechtern zu viel Lügensubstanz verbraucht war, so ist doch noch genug da. – Oh, Leser, wenn du kannst, spuck' diesen Dreck aus, wie faulen Schleim, und zeig' deine Lippen, deine Zunge und deine Zähne, so wie sie sind! – – Und jetzt höre den Schluß der Faiteleskomödie.

Im Gasthaus zum »weißen Lamm« in der Martergasse in Heidelberg war der große Saal mit einer glänzenden Gesellschaft gefüllt, die der Hochzeitsfeier von Othilia Schnack mit Siegfried Freudenstern beiwohnte. So etwas war in der Universitätsstadt schon lange nicht mehr gesehen worden. Ob der weltlichen Feier eine kirchliche Trauung voranging? Das weiß ich nicht. Mutmaßlich. Die protestantischen Papiere für Freudenstern waren gewiß von einem mitleidigen hannoverschen Pfarrer besorgt worden. Fehlte nichts als der Impfschein der Heimatgemeinde. Auf der Lüneburger Heide gab es viele Gemeinden, die herzlich froh waren ob des Zuwachses ihrer Bürger durch eine Person wie Herr Dr. Freudenstern, der gleich ein Legat von fünftausend Gulden zur Restaurierung des Kirchenchors hergab. – Auch der Leser muß sich jetzt noch, am Schluß der Affäre, alle Mühe geben, sich den »Faiteles« aus dem Kopfe zu schlagen. Nur Freudenstern heißt jetzt der Held der Geschichte! Ein blondsträhniger, hochgewachsener Jüngling steht vor uns oder unterhält sich vielmehr gerade an der Tafel mit Professor Klotz, während das Kompott serviert wird. – Freilich die Zahnbildung, die Lippenwülste, die Nasenlappung in Faitels Gesicht mußten stehenbleiben, wollte man nicht ein Scheusal zusammenstellen; und wer ein Auge für derlei Dinge hatte, erkannte im Profil Freudensterns das sinnliche, fleischige, vorgemaulte Sphinxgesicht aus Ägypten. Aber erstens hat nicht jeder das Auge für derlei Dinge; zweitens sieht man nicht jemanden immer ins Profil; drittens war Hochzeit, wo man unangenehme Dinge überhaupt nicht sieht; viertens ist es noch immer streitig, ob das ägyptische Sphinxgesicht semitischen Charakters ist oder nicht; fünftens hatte Klotz ganz elegant sich in einem anthropologischen Privatissimum, wo er den Herren Studenten Anleitungen zur Bestimmung von Schädelmessungen gab, die Bemerkung fallen lassen, Freudensterns Kopfbildung entsprechen unter allen ihm vorgekommenen Beispielen am reinsten der Kopfform der seit historischer Zeit in Deutschland ansässig gewesenen Hermunduren.

Eben wurde der Pudding aufgetragen. Der freundliche Wirt vom »weißen Lamm« ging schwitzend um die Tafel der schmausenden Gäste herum und zählte und zählte, denn das Kuvert wurde ihm exklusive Wein mit einem Dukaten bezahlt. Das Menü war nicht ganz nach seinem Geschmack und nicht, wie er glaubte, dem Charakter eines Hotels ersten Ranges, wie des »weißen Lamms«, angemessen. Der weiße Lamm-Wirt hatte rein französisches Menü verlangt, aber der vorwiegend germanische Charakter des Hochzeitsschmauses war infolge Anordnung Klotzens ausdrücklich befohlen worden. Ja, da kam Sauerkraut vor, welches der Wirt wohl in seiner Verzweiflung durch die französische Bezeichnung choucroute in seiner germanischen Roheit zu dämpfen gesucht hatte. Vom Schwein waren auserlesene Leckerbissen vorhanden, und fette, glänzende Schwarten blinkten von allen Schüsseln, die als entremets in Mitte der Tafel für den ganzen Abend ein für allemal postiert waren. Freudenstern saß zwischen der wachsbleichen Braut und Klotz. Ihnen gegenüber die Schnacks. Der alte Schnack, dessen schlottrige Gesichtshaut zurückzuschaudern schien vor den vor ihm aufgetürmten Speiseverschwendungen, schaute durch seine großen Augengläser in Silberfassung verwundert auf diese Leute, die so im Fressen geübt waren. Ein Vatermörder mit blendend weißer Krawatte hielt den langen Hals mit dem ausgemergelten Kehlkopfe in korrekter Haltung. Auf dem tadellosen, schwarzen, doppelknöpfigen Rock prangte ein Orden. Er war am Abend vorher aus Karlsruhe eingetroffen. Auch wurde Schnack verschiedentlich mit »Kanzleirat« angesprochen. Die Frau Schnack mit ihrem Embonpoint, überzogen mit vornehm grauem Seidenstoff, schüttelte fleißig den Kopf hin und her, in ihren Ohren wackelten die taubeneigroßen Brillanten. Über dieser Partie der Tafel lag eine schwere Wolke von Opoponax. – Man war beim Dessert.

Lieber Leser, nun mache dich gefaßt! Etwas Außerordentliches scheint im Anzuge zu sein. Eine Schwüle, wie vor anbrechendem Gewitter, lag im Saale. Es war sehr viel Wein getrunken worden; auch Faiteles hatte, von allen Seiten beglückwünscht, immer Bescheid tun müssen. Ich weiß nicht, ob Faitel sehr wenig oder sehr viel Alkohol vertrug. Die Gepflogenheiten seiner Rasse deuten auf Mäßigkeit. Auf der anderen Seite ist bekannt, daß plötzliche und ungewohnte Überschwemmungen des Hirns mit Spirituosen nicht nur krisenartige Explosionen im psychischen wie motorischen Gebiet beim Menschen auslösen, sondern auch Gehirnpartien, ich möchte sagen, Erinnerungsbezirke, mit einem Male aufschließen, die ohne die brandige Zufuhr auf lange Zeit, vielleicht für immer, geruht hätten. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob Faitel zu trinken gewohnt war. Was ich weiß, ist, daß er an diesem Festtag zum erstenmal den Stachelgürtel, das Präservativ für seine korrekte Haltung, abgelegt hatte. Niemand wird ihn darob schelten. Dieses Ablegen war symbolisch. Faitel war an diesem Tag endgültig in die christliche Gesellschaft eingetreten. Auch wird die kluge Leserin begreifen, daß am Hochzeitstag, dem eine Hochzeitsnacht folgte, welch letzterer eine Hochzeitsentkleidung vorausgeht, dieser merkwürdige Schmuckgegenstand den Augen der tränenschweren Braut entzogen werden mußte.

Wovon aber jetzt endlich der Leser unterrichtet werden muß, ist, daß Faitel seit etwa zehn Minuten starr und unbeweglich dasaß, den Blick glotzend unter die Tischtafel gerichtet. Sein Gesicht war oft purpurn und dann wieder käsweiß. Er schien auf eine ganz bestimmte Gedankenrichtung zu lauschen, die sich ohne sein Zutun in ihm entspann, und die sein ganzes Interesse gefangennahm. Aber nicht ohne Zutun von mehreren Gläsern Cliquot, die er rasch hinunterstürzte, und die der besorgte Wirt hinter ihm rasch wieder füllte, da ja Wein im Kuvertpreis nicht inbegriffen war. – Faitel hob von Zeit zu Zeit die rechte Hand mit ausgestrecktem Finger empor, als wollte er »Pst! Pst!« machen, um besser auf seine inneren Stimmen horchen zu können. Denn im Saal war noch immer großer Trubel, Tellergeklirr und Geschnatter, da ja kein Mensch eine Ahnung hatte, was der Engel der Rache hier für ein wundersames Experiment vorbereitete. Faitel schien auch ganz systematisch und zweckentsprechend Champagner zuzugießen, wie man Öl einer erlöschenden Flamme zugießt. Wenn ihm die innere Erleuchtung, die über ihn gekommen war, auszugehen schien, brachte er langsam den Oberkörper gegen die Tafel vor, streckte, ohne hinzusehen, die rechte Hand aus, ergriff das gefüllte Glas, stürzte es hinunter und hob dann die Finger empor, als wollte er sagen: »Horcht, ob es komme?« – Und es kam. – Der Inhalt dieser frenetischen Gedankenreihe schien ein heiterer, enthusiastischer zu sein. Dann Faitel schlug mit der platten Hand ein paarmal auf den Oberschenkel, daß es patschte, und lachte und kicherte vor sich hin. Wer ein gutes Ohr hatte, der konnte jetzt schon einige »Deradáng! Deradáng!« hören. Aber die Gäste wußte ja nicht, wie der Leser, was »Deradáng« war. Und das Scherzen, Lachen und Cliquotanstoßen übertönte weit diese ersten Mahnrufe. Klotz war in eifriger Unterhaltung mit seinem Nachbar zur Linken begriffen. Nur die Braut zur Rechten überwachte mit Ruhe und Neugierde diese Vorboten eines Deliriums. Immer tiefer bohrte sich Faitels Kinn bei seiner starren Körperhaltung in die Brust ein und bekam zuletzt jene krüppelhafte Zwangsstellung, die der Leser aus den ersten Seiten dieser Erzählung kennt. Die nächsten in Faitels Umgebung, darunter die schnellbegreifende Frau Schnack, waren nun doch auf ihn aufmerksam geworden. Aber man schien alles auf einen eigentümlichen Gemütszustand schieben zu wollen. – »Kéllnererera!...« schrie jetzt plötzlich Faitel mit schnarrend vibrierender Stimme, »Kéllnererera! – Champágnerera! –Wie haißt? – Soll ich haben nichts ßu trinken? – Bin ich ä Mensch aß gut und wertvoll als ihr alle!...« – Jetzt wurde jedermann im Saal plötzlich aufmerksam. Selbst die Kellner mit hohen Tellerstößen auf dem Weg hielten inne und starrten gegen die Mitte der einen Tischreihe, wo ihnen ein blutrünstig angelaufenes, violettes Menschenantlitz mit speichelndem Mund, lappig hängenden Lippen und quellenden Augen entgegenglotzte. Alles war wie festgebannt und wußte nicht, was zu tun. Selbst Klotz verlor jede Fassung und blickte entsetzt auf den Juden neben ihm. – Inzwischen war von dem Wirt, der hinter Faitel stand, das Glas gefüllt worden. Während erschrockene und mitleidige Gesichter ringsherum auf ihn sich richteten, begann Faitel selbst mit knängsender und ganz veränderter Stimmgebung: »Was duhet er aber in den nächsten drei Stunden? Der heilige Jehova! – Deradáng! Deradáng!« Mit einem Schwupp die Daumen im Ausschnitt der Hochzeitsweste; Hin- und Herwippen; verliebtes Nachobenblicken. – Wieder mit veränderter Stimme, sich Antwort gebend: »Er sitzet und kopulieret die Männer und die Waiber!« – Wieder erste Stimme: »Wie lang kopulieret der hailige Gott die Männer und die Waiber?« Selbe Positur; lüsternes Hin- und Herrutschen auf dem Stuhl, auf und ab hopsend, gurgelnd, schnalzend. – Die Antwortstimme: »Drei Stunden lang kopuliret er die Männer und die Waiber!« – Erste Stimme: »Was duhet er dann am Nachmittag, der hailige Jehova? Deradáng! Deradáng!« – Antwort: »Am Nachmittag duht er nichts, der Jehova; er ruht aus!« – Erste Stimme: »Waih geschrieen! Wie haißt, er duht nichts, der hailige Jehova? Wird er nichts duhn, der hailige Jehova? Was wird er duhn? Was duht der Jehova am Nachmittag? He?« – Entfernte winzige Knabenstimme: »Am Nachmittag spielt der hailige Jehova mit dem Leviathan!« – Erste Stimme mit Triumph einfallend: »Nadierlich! Er spielet mit dem Leviathan!« – In diesem Moment sprang Faitel vom Stuhl auf, und schnalzend und gurgelnd und sich hin und her wiegend und mit dem Gesäß ekelhaft lüsterne, tierischhündische Bewegungen machend, sprang er im Saal herum: »Deradáng! Deradáng! Hab ich mer gekaaft ä christlichs Blut! Kellnerá, wo is mei kopulirte, christliche Braut? Mei Brauterá! Gebt mer mei Brauterá! Bin ich ä christlichs Menschenbild aß fein, aß ihr alle seid! Ohn' alle Jüdischkeit! – Misemaschine! Wo is mei Brautera?« – Alles war auseinandergestoben. Die jungen Damen verließen vor dem entsetzlichen Anblick den Saal. Mit Schrecken sahen die Zurückgebliebenen, wie sich Faitels blonde Strähnen während der letzten Szenen allmählich zu kräuseln begonnen hatten. Die krausen Löckchen wurden rotfarben, schmutzigbraun und zuletzt blauschwarz. Der ganze glühende, schweißige Kopf mit den schlaffen, gedunsenen Zügen war wieder mit dunklen Sechserlöckchen bedeckt. Inzwischen schien Faitel in seinen exaltierten Bewegungen mit einer eigentümlichen Schwierigkeit zu kämpfen zu haben. Die vielfach operierten, gestreckten, gebogenen Gliedmaßen konnten jetzt die alten Bewegungen ebensowenig ausführen wie die neugelernten. Auch machte sich die lähmende Wirkung des Alkohols rasch geltend. Klotz hatte zwar nach Eiswasser geschrien; aber es war vergebens. Jedermann sah, daß hier eine unheilbare Katastrophe vorlag. Die schöne Othilia hatte sich in die Arme ihrer Mutter geflüchtet. Alles blickte mit starrem Entsetzen auf die wahnsinnigen Kreiselbewegungen des Juden. Endlich traf das schmutzige Ende, das jeden Betrunkenen betrifft, auch Faitel. Ein fürchterlicher Geruch verbreitete sich im Saal, der die noch am Ausgang Zögernden mit zugehaltenen Nasen zu entfliehen zwang. Nur Klotz blieb zurück. Und schließlich, als auch die Füße des Betrunkenen vor Mattigkeit nicht mehr standzuhalten vermochten, lag zuckend und gekrümmt sein Kunstwerk vor ihm auf dem Boden, ein vertracktes asiatisches Bild im Hochzeitsfrack, ein verlogenes Stück Menschenfleisch, Itzig Faitel Stern. –


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