Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am Rüsternweg lag eines der unscheinbarsten unter den vielen Landhäuschen, die während der letzten Jahre im Süden der ständig wachsenden Großstadt errichtet worden waren. Man brauchte fast drei Viertelstunden, um mit der Straßenbahn aus dem innersten Stadtgebiet bis hierher zu gelangen, und ein großer Teil des Weges führte durch wenig anheimelnde Viertel. Die Bewohner der Landhaussiedlung waren zumeist wohlhabendere Angehörige des Mittelstandes. Der Rüsternweg war ein kurzes Seitensträßchen, an dem in größeren Zwischenräumen wenige bescheidene Einzelhäuser lagen. Statt von kunstvoll angelegten, wohlgepflegten Gärten waren sie vorerst noch von erhalten gebliebenen Resten des kümmerlichen Kiefernwaldes umgeben, der einst den ganzen Baugrund bedeckte. Die reizlos eintönige Umrahmung gab den Häuschen ein schwermütiges Aussehen.

Der wohlgekleidete junge Mann, der vom Endpunkt der Straßenbahnlinie her suchend die Kolonie durchschritten hatte, bis er sich endlich zu diesem melancholischen Rüsternweg gefunden, schien jedoch nichts von niederdrückenden Empfindungen zu verspüren. Sein ungewöhnlich feines, ausdrucksvolles Gesicht spiegelte unverkennbar die Heiterkeit und freudig gespannte Erwartung eines Menschen, der sicher ist, angenehmen Erlebnissen entgegenzugehen. Vor dem niederen, hölzernen Gartengitter des Häuschens Nummer 3 machte er halt, um nach dem üblichen Schildchen auszuspähen, das über den Namen des Bewohners Auskunft gäbe. Als er weder dies noch einen Glockenzug entdecken konnte, drückte er kurz entschlossen die Klinke nieder, um zwischen den Kiefern seinen Weg nach dem ziemlich weit zurückliegenden Hause zu nehmen. Auch an der verschlossenen Tür fand er keinen Namen des Besitzers; aber er entdeckte einen Klingelknopf. Auf einen kurzen Druck erfolgte ein helltönendes Läuten. Nach einer Minute rasselte ein Schlüssel und ein schmaler Spalt tat sich vor ihm auf.

»Sie wünschen, mein Herr?« fragte eine jugendliche weibliche Stimme.

Mit höflichem Lüften des Hutes antwortete er: »Man sagte mir, daß hier Fräulein Hilde Wörner wohne – ist das richtig?«

»Jawohl. Aber das Fräulein ist nicht zu Haus.«

Über das schöne, heitere Gesicht des jungen Mannes legte sich jäh ein Schatten schmerzlicher Enttäuschung.

»Nicht zu Haus? Wann wird sie heimkehren?«

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls erst in einigen Stunden. Das Fräulein wollte in der Stadt Besorgungen machen und auch drinnen speisen. Soll ich etwas ausrichten?«

»Darum möchte ich gebeten haben. Aber finden Sie nicht auch, Fräulein, daß es unbequem ist, sich durch einen fingerbreiten Türspalt zu unterhalten?«

Nach einer kleinen Pause und einigen Augenblicken unschlüssigen Zauderns fiel klirrend eine Sicherheitskette und einer der beiden Türflügel wurde wenigstens bis zur Hälfte geöffnet. Das Dienstmädchen betrachtete sichtlich verlegen und mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung das Gesicht des stattlichen Besuchers.

»Entschuldigen Sie, mein Herr –aber ich darf keinem Fremden aufmachen, das Fräulein ist sehr mißtrauisch.«

Er lächelte ihr so liebenswürdig zu, daß das ohnehin sehr lebhaft gefärbte Gesicht der Kleinen sich noch höher rötete.

»Auf mich würde dies Mißtrauen sich gewiß nicht erstrecken, Fräulein Hilde Wörner und ich – wir sind sehr alte und gute Freunde und mein Besuch sollte eine große Überraschung sein. Es ist recht garstig, daß der Zufall mir die Freude verdirbt. Können Sie mir nicht sagen, wo ich Ihre Herrin in der Stadt suchen dürfte?«

»Nein, das weiß ich nicht. Fräulein Wörner sagt nie, wohin sie geht.«

»Schlimm für mich. Um so schlimmer, als ich schon um zwei Uhr von hier abreisen muß. Vor drei Tagen werde ich meinen Besuch kaum wiederholen können. Möchten Sie mir nicht Gelegenheit geben, mein Kind, ein paar Worte für das Fräulein aufzuschreiben?«

»Im Hause? Das wird kaum gehen. Fräulein Wörner …«

»Ist sehr mißtrauisch – ich weiß. Sie hat Ihnen streng verboten, in ihrer Abwesenheit irgend jemand einzulassen. Aber ich sagte Ihnen ja, daß solche Verbote sich nicht auch auf mich beziehen.«

Das von der bestechenden Erscheinung des Fremden offenbar eingenommene Mädchen erwiderte: »Wenn Sie glauben, daß ich es Ihnen erlauben darf, so kommen Sie nur, bitte, herein.«

In dem kleinen Vorraum, den er betrat, standen einige Korbmöbel. Er hätte auch hier schreiben können; aber nachdem sie sich einmal über das strenge Verbot ihrer Herrin hinweggesetzt hatte, war die Kleine der Meinung, daß sie dem alten Freunde ihrer Herrin nun auch alle schuldigen Ehren erweisen müsse. Mit einer zierlichen Verbeugung, bis an die Ohren errötend, öffnete sie eine der Türen.

»Bitte – wenn sich der Herr in den Salon bemühen will. Soll ich etwas zum Schreiben holen?«

»Ich danke. Ich habe alles Nötige bei mir. Ich möchte auch nicht unbeaufsichtigt geblieben sein, um Ihnen nachher jeden Verdruß zu ersparen. Ganz bin ich also doch nicht um die erhoffte Wiedersehensfreude gekommen!«

Das Mädchen sah ihn verwundert an, denn es wußte sich den Ausruf, mit dem er auf der Schwelle stehen geblieben war, nicht gleich zu deuten. Der Fremde kümmerte sich in diesem Augenblick nicht um sie und um ihr Erstaunen; er betrachtete das ohne Prunk, in wählerischem Geschmack eingerichtete Gemach, und in seinen lebhaften braunen Augen leuchtete ein zärtlicher Ausdruck auf, während sie da und dort auf einem Möbelstück, bei einem Bilde oder einem mehr zierlichen als kostbaren Kunstgegenstand verweilten.

»Alles – alles noch wie früher!« sagte er mehr zu sich selbst als zu seiner verstummten Gesellschafterin. »Nur sie selbst fehlt. Wahrhaftig – wenn sie dagewesen wäre, ich hätte geglaubt, es könnten nur Wochen vergangen sein, seitdem ich sie zum letztenmal in dieser Umgebung gesehen.«

Da er noch immer stehen blieb, ganz in den Anblick des Zimmers versunken, sagte die Kleine: »Fräulein Wörner liebt den Salon nicht besonders. Vor einigen Tagen erst hörte ich sie zu einer Dame, die sie besuchte, sagen, er sei sehr wenig nach ihrem Geschmack.«

»Da müssen Sie sich verhört haben, liebes Kind. Von den Dingen, die dieser Raum enthält, ist jedes Stück so innig mit den schönsten Kindheitserinnerungen Ihrer Herrin verwachsen, daß sie – aber ich halte Sie unnütz auf.«

Er setzte sich an den Tisch und zog einen Füllfederhalter und einen Kartenbrief aus der Tasche. Eilig glitt die goldene Feder über das Papier, und so umfangreich fiel das Schreiben aus, daß die Kleine Zeit genug fand, den Fremden genau zu betrachten. Ganz so mochten wohl die schönen Herren aussehen, von denen sie nachts träumte, und denen sie im Leben bisher so selten begegnet war. Dies dichte, leicht gelockte Haar, die feine, gerade Nase, der jugendlich weiche Mund über dem wohlgebildeten Kinn, waren für sie der Inbegriff aller Mannesschönheit, und an der wohlgebauten, kraftvollen Gestalt vermochten ihre entzückten Augen von den breiten Schultern bis hinunter zu den schmalen Lackstiefeln auch nicht den kleinsten Fehler zu entdecken.

Als wäre sie aus weltentrückten Gefilden jäh in eine prosaische Wirklichkeit versetzt, fuhr sie zusammen, da der Fremde sagte: »Geben Sie das Ihrer Herrin, wenn sie zurückkehrt. Ich danke Ihnen, denn wenn ich von diesem ersten vergeblichen Besuch nun doch einen beglückenden Eindruck mit mir nehme, so bot mir Ihre Freundlichkeit dazu die Möglichkeit.«

Sie fühlte ein Geldstück zwischen den Fingern, und für einen Augenblick sah es aus, als ob sie weinen wolle. Aber was auch in ihrem Gemüt vorgehen mochte, sie lehnte das Trinkgeld nicht ab, und nur der tiefe Seufzer, der über ihre Lippen trat, als sie hinter dem Entschwundenen die Sicherheitskette wieder vor die Haustür legte, bezeugte den tiefen Eindruck, den das unerwartete Erlebnis in ihr zurückgelassen.

 

Nicht erst nach Stunden, wie sie vermutet, sondern schon nach kaum vierzig Minuten hielt die Droschke, in der Fräulein Wörner aus der Stadt zurückkam, vor dem Landhause. Ein dichter Schleier bedeckte unter dem breitrandigen Hute das Gesicht der schlanken, mittelgroßen Dame, die dem Wagen entstieg. Sie bezahlte den Kutscher und ging mit raschen Schritten ins Haus.

Das Dienstmädchen, das sie, seiner großen Neuigkeit froh, in der offenen Tür erwartet hatte, folgte ihr in ein neben dem Salon gelegenes Ankleidezimmer, dessen Ausstattung auf verwöhnte Ansprüche schließen ließ. Aber während sie Mantel und Hut ihrer Herrin entgegennahm, behielt sie die Mitteilung, die ihr auf der Zunge brannte, noch für sich. Sie wußte, daß Fräulein Wörner es nicht liebte, wenn man ungefragt zu ihr sprach, und sie hielt es für gut, die Wirkung des Briefes abzuwarten, ehe sie die begangene Übertretung eingestand. Zu ihrer Erleichterung glaubte sie wahrzunehmen, daß ihre Herrin nicht, wie es oft geschah, in schlechter Laune heimgekehrt war. Die beiden kleinen Falten über der Nasenwurzel waren diesmal nicht zu sehen, und der winzige Mund, der so herb aussehen konnte, wenn die roten Lippen sich fest aufeinanderpreßten, schien jetzt jugendlich frisch und bereit zu plaudern.

Schön an Fräulein Hilde Wörner war eigentlich nur ihre schmiegsame, bei aller Schlankheit des Wuchses doch angenehm gerundete Gestalt. Ihr Gesicht aber zeigte trotz mancher künstlichen Hilfsmittel in augenfälligen Spuren, daß die erste Jugendblüte bereits hinter ihr lag. Vor wenig Jahren mochte es noch ungewöhnlich reizvoll gewesen sein, jetzt war die weiche Rundung der Wangen dahin, und um Augen und Nase hatten sich feine Linien gebildet, die ebensowohl eine Hinterlassenschaft körperlicher oder seelischer Leiden als die unverwischbaren Merkmale allzu stürmischer Freuden sein konnten. In Augenblicken gleich dem gegenwärtigen konnte sie in der zierlichen Gesamterscheinung noch immer für ein sehr hübsches Mädchen gelten, dem man ein durstiges Begehren nach Lebensgenüssen sehr wohl hätte nachsehen dürfen.

Eine Minute lang beschäftigte sie sich vor dem Spiegel mit ihrem Haar; dann sagte sie über die Schulter hinweg zu dem Mädchen: »Ich habe Ihnen heute früh den erbetenen Ausgang abgeschlagen, Anna, weil ich glaubte, bis zum Abend in der Stadt zu bleiben. Inzwischen besann ich mich anders. Ich fahre um sieben ins Theater und kann mich ohne Ihre Hilfe umkleiden. Wenn Sie mir um fünf Uhr den Tee gebracht haben, können Sie gehen.«

»Vielen Dank, gnädiges Fräulein! Ich wollte ja nur gehen, weil meine Tante heute ihren Geburtstag feiert. Wünschen Fräulein vom Theater abgeholt zu werden?«

»Nein. Bleiben Sie bei Ihrer Tante, solange es Ihnen gefällt. Um elf Uhr müssen Sie allerdings wieder daheim sein. Sie wissen, daß ich nicht gerne im Hause allein bin.«

»Ich werde pünktlich zurück sein. Gnädiges Fräulein können sich darauf verlassen. Im Salon liegt ein Brief …«

»Ein Brief, der mit der Post gekommen ist?«

»Nein, er ist abgegeben worden. Von einem Herrn, der seinen Besuch machen wollte, und sehr bedauerte, Fräulein nicht getroffen zu haben.«

Mit einer hastigen Bewegung wandte Hilde Wörner den Kopf.

»Ein Herr? Wie sah er aus? Nannte er seinen Namen?«

»Den Namen nannte er nicht. Es war ein feiner junger Herr und sehr schön. Ich habe nie vorher einen so schönen Mann gesehen.«

»Närrin! Wo ist der Brief?«

Fast ungestüm riß sie die Verbindungstür auf und eilte zu dem Tische, von dem ihr der weiße Umschlag entgegenschimmerte. Während sie neugierig die Lesende beobachtete, gewahrte Anna mit wachsender Beklemmung, daß die Wirkung des Briefes anders war, als sie es erwartete. Die gefürchteten Falten zwischen den Augenbrauen erschienen, und die eben noch so freundlichen Lippen schlossen sich fest. Das plötzlich älter und hagerer gewordene Gesicht trug unverkennbar das Gepräge jäher Bestürzung oder zorniger Erregung. Streng kehrte es sich dem Mädchen zu.

»Aus dem Briefe geht hervor, daß Sie den Herrn in das Haus eingelassen haben. Er hat diese Zeilen hier im Zimmer geschrieben?«

»Ja,« erwiderte das Mädchen kleinlaut. »Er sagte, daß er und das gnädige Fräulein alte Freunde seien ...«

»Was ein Fremder sagte, hätte Sie nicht kümmern dürfen. Wie oft schärfte ich Ihnen ein, daß niemand ohne meine Erlaubnis das Haus betreten darf! Wie es scheint, liegt Ihnen nicht viel daran, in meinem Dienst zu bleiben.«

»Gnädiges Fräulein! Ich dachte mir gewiß nichts Schlimmes dabei. Der Herr bat auf so liebenswürdige Art, ein paar Worte hier schreiben zu dürfen ...«

»Genug! Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern. Sprach er davon, wiederkommen zu wollen?«

»Er sagte, daß er um zwei Uhr abreisen müsse und seinen Besuch vor drei Tagen nicht wiederholen könne.«

Kurze Zeit schwieg Hilde Wörner. Dann, nachdem sie die Zeilen noch einmal überflogen, sagte sie: »Hören Sie, was ich Ihnen sage: ich werde morgen oder übermorgen auf einige Zeit verreisen. Wohin, werden Sie später erfahren. Aber gleichviel, ob Sie es wissen oder nicht, Sie werden dem Herrn, wenn er wiederkommt, sagen, daß ich ins Ausland gereist sei. Wohin, sei Ihnen unbekannt, und daß ich erst nach Monaten zurückkommen werde. Unter keinen Umständen dürfen Sie sich von ihm ausfragen oder zu einer längeren Unterhaltung verleiten lassen. Der Herr sagte Ihnen nicht die Wahrheit. Er ist nie mein Freund gewesen, und ich wünsche, nicht von ihm belästigt zu werden.«

»Ich werde alles tun, was gnädiges Fräulein befehlen. Aber wenn Sie verreisen, soll ich dann allein hierbleiben?«

»Darüber werden wir noch sprechen. Jedenfalls sollen Sie keinen Anlaß haben, sich zu beklagen. Nur so leichtfertig wie heute dürfen Sie nie handeln. Und nun gehen Sie an Ihre Arbeit. Ich bin für niemand zu sprechen.«

Beschämt und niedergedrückt schlich die Kleine hinaus. Um fünf Uhr wurde sie durch ein Klingelzeichen in das Schlafzimmer ihrer Herrin gerufen. In einem Morgenrock von weicher Seide lag Fräulein Wörner auf dem Ruhebett. Sie sah bleich und angegriffen aus, und ihre Stimme klang müde.

»Bringen Sie mir den Tee hierher, Anna! Dann können Sie sich für Ihren Ausgang fertigmachen. Ich weiß noch nicht, ob ich heute ins Theater fahren werde. Aber Sie sollen deshalb nicht um Ihr Vergnügen kommen.«

Das Mädchen dankte und erschien eine Viertelstunde später in Hut und Straßenjacke, um sich zu verabschieden. Sie wurde freundlicher entlassen, als sie es nach dem Vorkommnis zu hoffen gewagt, und eilte leichten Herzens der Straßenbahnhaltestelle zu.

 

Halb elf Uhr schlug es vom nächsten Kirchenturm, als sie auf dem gleichen Weg zurückkam, erfüllt von angenehmen Eindrücken eines in übermütiger Jugendfröhlichkeit verbrachten Abends. Die Rolläden vor den Fenstern des Landhäuschens waren herabgelassen, so daß kein Lichtschimmer verriet, ob Fräulein Wörner heimgekehrt sei. Geräuschlos schob das Mädchen den Schlüssel ins Haustürschloß, und erstaunt bemerkte es, daß er keinen Widerstand am Sperriegel fand.

Die Tür war unverschlossen und öffnete sich nach einem Druck auf die Klinke. Das war so ungewöhnlich, daß Anna darüber erschrak, denn die mißtrauische Ängstlichkeit ihrer Herrin hatte auch auf sie ansteckend gewirkt; sie fühlte sich gleich ihr nur hinter fest verschlossenen Türen sicher. Wahrscheinlich hatte Fräulein Wörner bei der Heimkehr aus dem Theater nicht an ihre Abwesenheit gedacht und hatte die Pforte hinter sich zufallen lassen. Die Diele war nicht erleuchtet; durch die Milchglasscheibe in der Tür des Ankleidezimmers fiel der Lichtschein der elektrischen Deckenlampen.

Wenn Fräulein Wörner noch nicht zur Ruhe gegangen war, pflegte sich Anna nach jedem Ausgange bei ihr zu melden, und so klopfte sie auch heute. Da sie keine Antwort erhielt, nahm sie an, Fräulein Wörner sei im anstoßenden Schlafgemach entschlummert und habe vergessen, das Licht im Ankleideraum abzudrehen. Leise öffnete sie die unversperrte Tür und trat in das hell erleuchtete Zimmer.

Nach dem zweiten Schritt versagten ihr die Füße den Dienst und ihr Herzschlag stockte. Hinter der dreiteiligen spanischen Wand, die einen Teil des Raumes vorerst noch ihren Blicken entzog, sah sie auf dem Teppich die in Lackschuhen steckenden Füße des Fräulein Wörner hervorragen; daneben, sorgfältig über Sitz und Lehne eines Sessels gebreitet, lag das dunkle Kleid, das sie bei ihren seltenen Theaterbesuchen zu tragen pflegte.

»Gnädiges Fräulein!« stieß das Mädchen mit lauter, wenn auch fast versagender Stimme hervor. »Gnädiges Fräulein! Ist Ihnen etwas geschehen? Sind Sie krank?«

Sie erhielt keine Antwort. Die ausgestreckten Füße regten sich nicht. Da nahm sie allen Mut zusammen und trat mit bebenden Knien so weit in die Mitte des Zimmers, daß sie hinter den Schirm sehen konnte. Sie schrie laut auf. Vor ihr lag Hilde Wörner halb entkleidet am Boden, das Gesicht auf dem Teppich, die Arme seitwärts ausgestreckt. Über den hellfarbigen Grund breitete sich ein großer dunkler Fleck mit unregelmäßig gezeichneten Rändern. Es war offenbar Blut.

Von eisigen Schauern geschüttelt, und ihre fast erstarrten Füße mühsam bewegend, zog sie sich bis zur Tür zurück. Sie wußte nachher nicht mehr anzugeben, wie sie dann weiter über die dunkle Diele und ins Freie gelangt war, um Hilfe zu holen. Es währte ziemlich lange, bis die aus ihrer Ruhe aufgescheuchten Bewohner des nächstgelegenen Nachbarhauses dem wirren Gestammel der Fassungslosen entnehmen konnten, daß Fräulein Hilde Wörner ermordet worden sei.

*

Im Arbeitszimmer seiner Dienstwohnung empfing der Polizeipräsident Hoßtrupp zu später Abendstunde des folgenden Tages den Kriminalkommissar Zabel, dessen persönlichen Bericht er vom Chef der Sicherheitspolizei erbeten hatte.

»Ich hoffe, Ihnen damit nicht zu viel zuzumuten,« sagte er verbindlich, indem er dem Beamten einen Sessel anbot und ihm eine Zigarre reichte. »Ihr heutiges Tagewerk ist gewiß anstrengend gewesen.«

»Es war nicht so schlimm. Ich wünschte nur, zu besseren Ergebnissen gelangt zu sein.«

»Wir fanden doch eine sichere Spur. Soll denn nicht schon heute abend auf unsere telephonische Anordnung auswärts eine Verhaftung erfolgen?«

»Sie ließ sich allerdings nicht umgehen. Doch fürchte ich, daß die Verhaftung sich später als Mißgriff erweisen wird. Ich habe mich deshalb bemüht, daß zunächst nichts darüber in den Zeitungen veröffentlicht wird. Wir müssen verhindern, daß die Ehre eines wahrscheinlich Schuldlosen nicht geschädigt wird.«

»Nach dem vorläufigen Bericht des Herrn Polizeirats Wendling mußte ich allerdings annehmen, daß schwerwiegende Verdachtsgründe gegen den Konzertsänger vorliegen.«

»Es schien so. Aber in der letzten Stunde kamen mir ernste Zweifel. Die Auskünfte des Mannes können wir allerdings keinesfalls entbehren, und ich hoffe, er wird sich nach seiner vorläufigen Verhaftung freiwillig bereit finden, die Reise hierher zu machen, der dann auf meinen dringenden Wunsch trotz unerläßlicher Begleitung durch einen Kriminalbeamten möglichst alles Peinliche für den Künstler genommen werden soll.«

»Gut! Sie wissen, lieber Zabel, wie sehr wir Ihrer Umsicht und Erfahrung vertrauen. Nun lassen Sie hören, was Sie bisher ermitteln konnten.«

Der Kommissar begann: »Daß jeder Verdacht auf einen Raubmord ausgeschlossen scheint, dürfte dem Herrn Präsidenten bereits berichtet worden sein. Auf einem Tischchen neben der Leiche lagen offen einige wertvolle Schmucksachen und eine silberne Geldbörse mit beträchtlichem Inhalt. Bei der späteren Durchsuchung der Wohnung fanden sich in einem unverschlossenen Schrank weitere Schmuckstücke und neuntausend Mark in Banknoten neben einem Scheckbuch der Deutschen Bank. Der durch die Aussage des Dienstmädchens Anna Reimann unterstützte Augenschein ergab, daß weder am Tatort noch in den anderen Zimmern des Hauses ein Behältnis geöffnet oder durchwühlt worden ist. Alles fand sich in musterhafter Ordnung.«

»Der Täter muß demnach andere Beweggründe gehabt haben, und wir dürfen ihn nicht in den Kreisen der berufsmäßigen Verbrecher suchen. Konnten Sie am Tatort ein Bild vom wahrscheinlichen Hergang der Tat gewinnen?«

»Ja. Alle Anzeichen ließen erkennen, daß Fräulein Wörner durch einen Stich in den Rücken getötet worden ist, während sie sich für einen Theaterbesuch ankleidete. Nach der Beschaffenheit der dicht unter dem linken Schulterblatt befindlichen Wunde kann darauf geschlossen werden, daß ein schmales Dolchmesser die Mordwaffe gewesen sein muß. Genaueres ist bisher nicht festgestellt, da ein Sektionsergebnis noch nicht vorliegt. Nach der Meinung des Polizeiarztes ist der Tod durch Verblutung eingetreten. Vielleicht wäre das junge Mädchen zu retten gewesen, wenn ihm gleich Hilfe gebracht worden wäre. Zwischen dem Mordanfall und der Auffindung der Entseelten lag leider ein Zeitraum von mindestens vier Stunden.«

»Worauf stützen sich diese sicheren Zeitbestimmungen?«

»Außer den Angaben des Dienstmädchens kommen auch noch eine Reihe anderer Umstände hinzu. Die Reimann hatte von Fräulein Wörner gehört, daß sie das Theater besuchen wollte. Die Reimann war deshalb für den gestrigen Abend beurlaubt und hat Fräulein Wörner zuletzt um fünf Uhr nachmittags gesprochen, als sie ihr den Tee ins Schlafzimmer brachte. Eine Viertelstunde später verließ das Mädchen das Haus und besuchte ihre Tante in der Marienstraße. Dort traf sie, nach Aussage mehrerer Zeugen schon vor sechs Uhr ein und verließ gegen zehn die Geburtstagsgesellschaft in heiterster Stimmung, um heimzugehen.«

»Besteht gegen das Mädchen kein Verdacht?«

»Nein. Trotz sorgfältiger Nachforschung konnte nichts Belastendes ermittelt werden. Die Reimann ist noch sehr jung, stammt aus geachteter Familie und ist sehr gut beleumundet. Sie diente seit ungefähr drei Monaten bei der Ermordeten, und Fräulein Wörner erklärte ihrer Mutter erst vor einer Woche, daß sie mit dem Mädchen sehr zufrieden sei. Es wäre nach meiner Überzeugung geradezu töricht, dem schüchternen jungen Ding eine so brutale, offenbar mit größter Kaltblütigkeit und Sicherheit vollzogene Tat zuzutrauen.«

»Nach dem Weggang des Mädchens blieb die Wörner demnach allein im Hause, und der Mörder müßte Gelegenheit gefunden haben, sich unbemerkt einzuschleichen.«

»Daran glaube ich nicht, denn als die Reimann fortging, verschloß sie die Haustür, wie es ihr zur Pflicht gemacht worden war. Der Eindringling müßte einen Nachschlüssel besessen haben; aber auch dann bleibt es unwahrscheinlich, daß er bis in das Ankleidezimmer gelangt sein sollte, ohne von dem als sehr mißtrauisch und ängstlich geschilderten Fräulein Wörner gehört zu werden. Ich nehme an, daß es sich um einen erwarteten oder nicht erwarteten Besucher handelt, dem das Fräulein selbst auf sein Klingeln öffnete. Möglicherweise hatte er das Dienstmädchen das Haus verlassen sehen, denn er muß bald nach ihrem Gehen gekommen sein. Zehn Minuten nach sechs Uhr muß die Tat verübt worden sein.«

»Woraus folgern Sie das?«

»Im Lauf des Nachmittags, nachdem in den Mittagsblättern die erste kurze Mitteilung über den Mord in der Villenkolonie ›Süd‹ erschienen war, meldete sich bei der Polizei ein Droschkenkutscher Lengerke und sagt aus, er habe Fräulein Wörner von seinem Standplatz in der Stadt aus schon öfter zu ihrer Wohnung gefahren, und so auch gestern um die Mittagstunde. Sie habe ihn gefragt, ob er bereit sei, sie um sechseinviertel Uhr zu einer Fahrt in das Schauspielhaus abzuholen. Er sei fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit mit seinem Wagen vor dem Hause am Rüsternweg erschienen. Als sich auf wiederholtes Peitschenknallen niemand gezeigt habe, sei er abgestiegen und habe einigemal an der Haustür geklingelt. Doch sei alles still geblieben. Nachdem er noch ungefähr eine Viertelstunde lang vergeblich gewartet, sei er wieder weggefahren. Wäre Fräulein Wörner zu dieser Zeit noch am Leben gewesen, so dürfte wohl mit Sicherheit anzunehmen sein, daß sie auf das Peitschenknallen oder das Läuten des von ihr bestellten Kutschers erschienen wäre.«

»Der Rückschluß auf den Zeitpunkt der Tat scheint richtig zu sein. Wer kann nun der verbrecherische Besucher gewesen sein? Angenommen, das mißtrauische Fräulein habe ihn ohne weiteres eingelassen, müßte er doch zu ihren näheren Bekannten gehört haben.«

»Daran zweifle ich nicht. Ich nehme sogar an, daß die fragliche Person in einem nahen, vertraulichen Verhältnis zu ihr gestanden haben muß. Wie wäre es sonst erklärbar, daß sie sich umzog, während sich jemand im Hause oder vielleicht gar in ihrem Ankleidezimmer befand?«

»Sie haben recht! Das ist zweifellos wichtig. Als man sie auffand, war Fräulein Wörner nur unvollständig bekleidet?«

»Nur mit Untergewändern; jedenfalls so, wie man sich nur vor nächststehenden Personen zeigen kann. Ob sich der Mörder bei ihr im Ankleidezimmer befand, oder bis zu dem Augenblick, wo er unvermutet zum tödlichen Stoß ausholte, in einem Nebengemach verweilte, ist ungewiß; anzunehmen ist jedenfalls, daß Fräulein Wörner sich in seiner Nähe ungefährdet fühlte. Als man die Leiche aufhob, fand man unter ihrer rechten Hand noch einen Kamm, mit dem sie offenbar vor dem Spiegel ihr Haar ordnete, als sie von dem Dolchstoß getroffen wurde. Es läßt sich also nicht einmal annehmen, daß die Tat im Verlauf eines Streites verübt worden ist.«

»Ein Meuchelmord demnach! Konnten Sie über die Lebensführung der Ermordeten Näheres erfahren?«

»Nichts, das bis jetzt auch nur den geringsten Zusammenhang mit dem Verbrechen haben könnte. Hier scheinen die größten Schwierigkeiten der Untersuchung zu liegen. Die unglückliche Dame war ordnungsmäßig bei der Polizei gemeldet als die jetzt dreiundzwanzigjährige Tochter eines vor fünf Jahren in Zürich verstorbenen Rentners Ewald Wörner. Vor etwa neun Monaten ist sie hiehergezogen. Damals kam sie aus Moskau. Ihr Paß und ihre sonstigen Papiere waren laut Ausweis des polizeilichen Aktenvermerks vollkommen in Ordnung. Sie wohnte einige Wochen in einem Hotel und mietete dann mit zweijährigem Vertrage das Landhäuschen am Rüsternweg. Nach allem, was ich bis zur Stunde ermitteln konnte, lebte sie sehr still und zurückgezogen. Die Reimann erinnert sich an keinen Herrenbesuch im Hause, mit Ausnahme des gestrigen. Aber auch weibliche Gäste hat ihre Dienstherrin kaum je empfangen. Die letzte Besucherin, auf die sie sich besinnen kann, war eine gutgekleidete, jüngere Dame, die sich vor drei oder vier Tagen einfand, nach Abgabe eines Briefes von Fräulein Wörner angenommen wurde, und sogar zum Tee und zum Abendessen bei ihr blieb. Dem Mädchen, das die beiden bediente, fiel das ungewöhnlich heitere Wesen ihres Fräuleins auf. Sie mußte schließlich einen Wagen für die Fremde besorgen und erhielt von Fräulein Wörner die Weisung, die Dame künftig ohne weiteres vorzulassen. Doch sie kam nicht wieder.«

»Es wäre möglich, daß diese Fremde mit der Tat in Zusammenhang gebracht werden könnte.«

»Möglich wäre das allerdings. Nur halte ich es für wenig wahrscheinlich, daß der Dolchstoß von einem weiblichen Wesen geführt worden ist. Auch der von dem Mädchen beobachtete freundschaftliche Verkehr zwischen beiden Damen spricht dagegen. Wir werden darüber vielleicht schon in den nächsten Tagen Gewißheit erhalten, denn wenn uns auch bis jetzt noch jeder Anhalt für die Feststellung der Person dieser Fremden fehlt, hoffe ich doch, daß es gelingen wird, die Dame zu ermitteln.«

»Wie gerieten Sie auf den Konzertsänger Gerold?«

»Die Reimann erzählte, daß ein Herr um die Mittagszeit Einlaß begehrt und sich als vertrauten Freund des Fräulein Wörner bezeichnet habe. Durch seine gewinnende Erscheinung und die Sicherheit seines Auftretens verführt, habe sie ihn trotz ausdrücklicher Weisung ihrer Herrin, während ihrer Abwesenheit niemand einzulassen, in den Salon geführt, wo er einen Brief schrieb. Fräulein Wörner zeigte sich jedoch, als sie den Brief gelesen hatte, nicht erfreut; sie machte dem Mädchen Vorwürfe und erklärte, der Mann habe sie belogen, er sei nie ihr Freund gewesen und sie wünsche ihn nicht zu empfangen. Bei dieser Gelegenheit sprach sie auch davon, an einem der nächsten Tage ins Ausland zu reisen. Die Reimann gewann den Eindruck, daß die Nachricht von dem Besuch des Herrn und der Inhalt des von ihm hinterlassenen Schreibens sehr verstimmend auf das Fräulein gewirkt habe. Es lag deshalb nahe, den Mann mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Zunächst hegte ich geringe Hoffnung, seine Spur zu finden; aber als wir die Wohnung genauer untersuchten, fand ich den von ihm geschriebenen und mit seinem Namen unterzeichneten Brief.«

Während er die letzten Worte sprach, hatte der Kommissar die mitgebrachte Aktenmappe geöffnet und ihr einen Kartenbrief entnommen; er reichte ihn dem Präsidenten und wies auf die zwei in der oberen linken Ecke gedruckten Worte: Winfried Gerold. Dann sagte er: »Der Schreiber fügte auch noch seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort im Hotel Königshof hinzu.«

Der Präsident durchflog den Inhalt des eng beschriebenen Blattes:

»Meine liebste Hilde!

Wie glücklich bin ich! Durch glückliche Hilfe des Zufalls ist es mir endlich, endlich gelungen, Dich zu finden. Nein, leider noch nicht Dich, aber doch wenigstens das entlegene Haus, in das Du Dich so scheu vor mir und der Welt geflüchtet. Ich ahne nicht, was Dich dazu bestimmte, aber ich weiß, daß Du mir nun nicht mehr entschlüpfen kannst. Und das macht mich glücklich, trotz der schmerzlichen Enttäuschung, Dich selbst bei meinem ersten Besuch nicht getroffen zu haben. Da ich in einem Leipziger Konzert mitwirken muß, reise ich schon in einer Stunde von hier weg, und da ich außerdem morgen im dortigen Gewandhaus in einem eigenen Liederabend zu singen habe, werde ich kaum vor drei Tagen wieder an Deine Tür klopfen können. Eine kurze Zeit, wenn ich an die sechs Jahre denke, die seit unserem letzten Abschied verflossen sind, und doch scheint sie mir jetzt als unerträgliche Ewigkeit. Ich sehne mich unaussprechlich, Dich wiederzusehen. Die teure, mir so vertraute Umgebung, in der ich diese Zeilen schreiben darf, mutet mich an wie eine Verheißung seligsten Glückes. Um mich her sehe ich kein einziges Stück, das mich nicht an unseren seligen Frühlingstraum gemahnte, den reinsten und unschuldsvollsten aller Liebesträume, der je zwei junge Herzen beseligte. Als wir scheiden mußten, sagtest Du unter Tränen, er sei ausgeträumt. Heute lasse ich das grausam bittere Wort nicht mehr gelten, denn nun hat sich alles zum Guten gewendet. Ich bin unabhängig, wohlhabend, und ohne Eitelkeit bekenne ich, sogar ein wenig berühmt. Wenn Dein Herz noch frei ist – und es muß frei sein! – was könnte uns jetzt noch trennen!

Auf ein immer tief im Herzen ersehntes, jubelndes, schönes Wiedersehen!

Dein Winfried.«

»Schöne Worte fallen diesem Sänger jedenfalls nicht schwer. Wenn seine so lange bewahrte Leidenschaft echt ist, könnte man ihm im Augenblick der Erregung allerlei zutrauen. Ist er gestern mittag nach Leipzig gereist, so kann er dieses arme Mädchen doch nicht ermordet haben.«

»Er ist hier geblieben, Herr Präsident! Sofort, nachdem mir dieser Brief in die Hände gefallen war, stellte ich es durch telephonische Nachfrage im Hotel Königshof fest. Angeblich hatte er den Zug versäumt und mußte seine Mitwirkung in dem Konzert telegraphisch absagen; erst mit dem Elf-Uhr-Abendzug reiste er ab.«

»Das scheint allerdings verdächtig. Was haben Sie weiter unternommen?«

»Nachdem ich die Auskunft erhalten, begab ich mich sofort in das Hotel. Erfahren konnte ich dort nicht viel. Gerold war früh am Morgen ausgegangen und kurz vor zwei Uhr wieder im Gasthof eingetroffen; er schien es sehr eilig zu haben und fuhr in einem rasch herbeigerufenen Kraftwagen zur Bahn. Eine halbe Stunde später kehrte er aufgeregt zurück und sagte dem Pförtner, er habe den Leipziger Zug versäumt. Nachdem er im Speisesaal wenig gegessen, blieb er bis gegen vier Uhr auf seinem Zimmer. Dann sah ihn der Pförtner aus dem Haus gehen; er hält es für sicher, daß er erst um zehn Uhr wieder zurückkehrte. Zu dieser Zeit sprach auch der Oberkellner mit ihm. Er erklärte, Gerold habe im Gegensatz zu seinem früher gezeigten fröhlichen Wesen den Eindruck eines verstimmten und niedergeschlagenen Menschen gemacht. Er wünschte, sein Zimmer zu behalten, da er schon nach einigen Tagen zurückkehren werde, und nahm auch nur einen Teil seines Gepäcks mit auf die Fahrt, die er, wie ich schon sagte, mit dem Elf-Uhr-Zuge antrat. Das war das Ergebnis meiner Ermittlungen.«

»Und Sie hielten es für genügend, um den Erlaß eines Haftbefehls gegen Gerold zu rechtfertigen?« fragte der Präsident mit leichtem Stirnrunzeln. »Sie haben doch nicht auf Ihre eigene Verantwortung gehandelt.«

»Nein. Ich besprach mich zunächst mit Herrn Polizeirat Wendling, meinem unmittelbaren Vorgesetzten, und auf seine Veranlassung mit Herrn Oberstaatsanwalt Holthoff. Nach der Ansicht beider Herren wurde die Verhaftung und Vernehmung des Sängers für nötig gehalten. Ich gestehe, daß ich unter dem ersten Eindruck meiner Feststellungen beipflichten zu müssen glaubte. Anfangs sollte einer unserer Beamten nach Leipzig reisen. Da aber von den für eine derartige Aufgabe geeigneten Herren zufällig keiner abkömmlich war, mußten wir uns an einer telephonischen Verständigung mit der Leipziger Polizei genügen lassen. Wie ich mir bereits zu bemerken erlaubte, baten wir nach Darlegung des Sachverhalts um möglichst unauffälliges, schonendes Vorgehen. Es sollte alles Aufsehenerregende vermieden werden, und nichts geschehen, was ihn vor der Öffentlichkeit bloßstellen könnte.«

»Meines Wissens genießt Gerold als Künstler einen bedeutenden Ruf. Ich hörte ihn zwar noch nicht, aber ich erinnere mich, seinen Namen öfter in den Zeitungen gelesen zu haben.«

»Er gilt als hervorragender Künstler. Ich benützte die letzten zwei Stunden ausschließlich dazu, Erkundigungen über ihn einzuziehen. Und nach allem, was ich erfuhr, kann ich unseren nach Leipzig erteilten Auftrag nur bedauern.«

»Was hat man Ihnen über den Sänger berichtet?«

»Als Musikfreund stehe ich in persönlichen Beziehungen mit angesehenen Musikern. Einer meiner Freunde aus diesen Kreisen wies mich an Professor Worlitz von der Musikakademie als an einen Herrn, der Gerold nahestehe, und der berühmte Geiger war so liebenswürdig, mich trotz der späten Stunde sofort zu empfangen. Ich ließ ihn nicht erraten, aus welchem Anlaß ich Näheres über die Persönlichkeit und die Verhältnisse Winfried Gerolds zu erfahren wünschte; ich erfand einen glaubhaften Vorwand für meine Wißbegierde, und dem alten Herrn machte es Vergnügen, sich über den Sänger, den er wiederholt seinen lieben jungen Freund nannte, ausführlich aussprechen zu können. Danach ist Gerold, der jetzt achtundzwanzig Jahre alt ist, ein akademisch gebildeter Mann aus bester Familie. Er studierte in München und später in Zürich Philologie und gab sein Studium vor dem Abschluß auf. Auf Kosten eines wohlhabenden Gönners, der auf seine prachtvolle Stimme aufmerksam geworden war, bildete er sich zum Sänger aus. Professor Worlitz lernte ihn durch diesen Gönner vor einigen Jahren kennen, und er versicherte mir, daß er den jungen Mann fast wie einen Sohn liebe. Er schilderte ihn als warmherzig, ritterlich und von edelster Denkungsart. Durch eine Erbschaft, wie durch seine rasch errungenen künstlerischen Erfolge in jüngster Zeit zu beträchtlichem Wohlstand gelangt, mache Gerold von seinen Einkünften den denkbar besten Gebrauch. Er sei mildtätig und freigebig, ohne verschwenderisch zu sein, und man schätzte ihn in seinem engeren Bekanntenkreise als den opferwilligsten, zuverlässigsten Freund. Seiner Kunst sei er mit ganzer Seele ergeben und arbeite unermüdlich an der Vervollkommnung seiner reichen Gaben. Einer seiner angenehmsten Charakterzüge sei die liebenswürdige Bescheidenheit, die er sich inmitten aller Triumphe bewahrt habe. Das Bild, das mir der Professor entwarf, paßte auf alles andere eher, als auf einen Menschen, dem man die brutale Ermordung eines wehrlosen Weibes zutrauen könnte.«

»Es scheint so. Im Liebeswahnsinn ist trotzdem schon mancher zum Verbrecher geworden. Konnten Sie Ihren Gewährsmann nicht auch um Gerolds Beziehungen zum weiblichen Geschlecht befragen?«

»Es fand sich die Möglichkeit dazu, aber in diesem Punkte war der Professor zurückhaltender als bei seinen sonstigen Schilderungen. Es schien fast, als sei er durch ein ihm geschenktes Vertrauen am Reden verhindert. Immerhin ließen seine Äußerungen erkennen, daß er auch in diesem Falle von der Makellosigkeit seines jungen Freundes überzeugt ist.«

»Nun, mein lieber Zabel, Sie glauben also nicht mehr daran, daß sie heute abend in Leipzig den richtigen Mann gefaßt haben?«

»Nein, Herr Präsident, ich glaube es nicht mehr.«

»Wenn sich nun seine Schuldlosigkeit erweist – was dann? Mit dem Suchen nach der unbekannten Dame, die dem Fräulein Wörner vor etlichen Tagen einen möglicherweise harmlosen Besuch gemacht hat, werden wir die uns gestellte Aufgabe vermutlich ihrer Lösung auch nicht viel näher bringen. Und eine andere Spur ist, soviel ich sehe, vorläufig nicht zu verfolgen?«

»So ist es. Irgendein verdächtiger Verkehr scheint für die Ermordete nicht nachzuweisen. Auch für die Annahme eines heimlichen Liebesverhältnisses besteht kein Anlaß. Ihre Beziehungen zu Gerold scheinen, nach seinem Briefe zu urteilen, seit Jahren unterbrochen gewesen zu sein. Briefschaften, die zu irgendwelchen Schlüssen führen könnten, fanden sich außer dem Geroldschen Schreiben bei der Durchsuchung der Möbel nicht. Wir konnten nur bezahlte Rechnungen von Schneiderinnen, Putzmacherinnen und anderen Lieferanten, außer einigen sonstigen belanglosen geschäftlichen Mitteilungen sammeln. Für Nachforschungen nach dem früheren oder dem gegenwärtigen Verkehr der Ermordeten fehlt augenblicklich jeder Hinweis, und von der Nachbarschaft des Hauses ist leider nichts beobachtet worden, was sich mit der Tat in Verbindung bringen ließe. Wir werden uns, wie ich fürchte, auf große Schwierigkeiten gefaßt machen müssen.«

»Die Voruntersuchung gegen ›Unbekannt‹ ist gewiß schon eingeleitet?«

»Die Akten gehen morgen früh an Herrn Untersuchungsrichter Klaußner. Ich werde meinen Bericht noch in der Nacht fertigstellen.«

»Dann will ich Sie nicht länger zurückhalten,« sagte der Polizeipräsident, indem er sich erhob und seinem Untergebenen freundlich die Hand bot. »Ich bin überzeugt, daß Sie heute alles getan haben, was nach Lage der Dinge getan werden konnte, und will von Herzen wünschen, daß die Vernehmung Gerolds uns dem Ziele näher bringt, das wir unbedingt erreichen müssen.«

*

Immer wieder von erneuten Beifallsstürmen umrauscht, hatte sich Winfried Gerold nach der letzten, bereitwillig gespendeten »Zugabe« wiederholt seiner begeisterten Zuhörerschaft zeigen müssen, ehe man sich nach weiterem vergeblichen Händeklatschen endlich damit abfand, daß das Konzert sein Ende erreicht habe. Im Vorraum des Künstlerzimmers, in das sich der Sänger zurückgezogen, drängte sich eine große Zahl von Verehrern und namentlich von entzückten Verehrerinnen, die das Haus nicht verlassen wollten, ohne dem Gefeierten noch einmal zugejubelt zu haben.

Gerold liebte diese aufdringlichen Huldigungen nicht und pflegte deshalb die Geduld der Wartenden auf harte Proben zu stellen. Auch verbrachte er die erste Viertelstunde nach einem Konzertabend gerne ohne redselige Gesellschaft. Es war ihm ersichtlich unangenehm, als er bei seinem letzten Eintritt einen fremden Herrn erblickte, der soeben ohne vorherige Anmeldung das Künstlerzimmer betreten haben mußte und ihn mit einer Verbeugung begrüßte.

»Herr Winfried Gerold? – erlauben Sie, daß ich mich Ihnen als Beamter der Kriminalpolizei vorstelle. Hier ist mein Ausweis.«

»Bitte – ich glaube es Ihnen auch so. Was verschafft mir die Ehre?«

»Die hiesige Polizei ist von einer auswärtigen Behörde ersucht worden, Ihre Vernehmung in einer überaus wichtigen und dringenden Angelegenheit zu bewirken. Ich möchte Sie deshalb bitten, mich zu begleiten.«

»Doch nicht etwa gleich auf der Stelle, so, wie ich gehe und stehe? Nein, mein Verehrtester! Ich habe einen anstrengenden Abend hinter mir und fühle starkes Bedürfnis nach Ruhe.«

»Es tut mir sehr leid, Herr Gerold; aber der Fall ist so bedeutsam, daß kein Aufschub möglich ist. Es handelt sich um die Aufklärung eines schweren Verbrechens.«

»Eines Verbrechens? Das ich aufklären soll? Ich verstehe nicht, was ich damit zu tun haben soll. Von wem ist dies Verbrechen verübt worden? Und an wem?«

»Darüber kann ich keine Auskunft geben. Aber ich bin überzeugt, daß sie Ihnen auf der Polizeidirektion sicher erteilt werden wird. Der Weg ist nicht weit, und der öffentlichen Ordnung wegen werden Sie sich der kleinen Unbequemlichkeit gewiß gern unterziehen.«

Der Mann benahm sich taktvoll, aber doch mit jener ernsten, gemessenen Höflichkeit, hinter der sich ein bestimmter, zielbewußter Wille erraten ließ. Für einen Augenblick schien der Sänger geneigt, widerstrebend zu verharren, dann siegte seine Gutmütigkeit und vielleicht auch der Reiz der Neuheit, den das Erlebnis für ihn besaß.

»Meinetwegen,« sagte er. »Der Vorgang gleicht ja schon beinahe einer Verhaftung; ich bin neugierig, zu erfahren, was man von mir will. Meine draußen versammelte Gemeinde wird allerdings große Augen machen, wenn sie mich unter polizeilicher Bedeckung abziehen sieht.«

»Niemand wird etwas Derartiges vermuten, Herr Gerold! Und es handelt sich ja auch bis jetzt gar nicht um eine Verhaftung. Nehmen Sie ruhig an, daß ich Ihnen lediglich als Führer dienen will.«

Der Künstler warf einen leichten Mantel über seinen Frack und trat in das Vorzimmer hinaus. Da stand noch immer dicht gedrängt die Schar der Getreuen, zu geduldigem Ausharren entschlossen, und er war sofort von einer Anzahl jüngerer und älterer weiblicher Wesen umgeben, die ihm noch einmal für die Genüsse des Abends danken oder ihn, soweit sie die nötige Tapferkeit besaßen, um seine Namensunterschrift auf einer mitgebrachten Photographie bitten wollten. Artig abwehrend bahnte sich Gerold seinen Weg durch das freundliche Gedränge.

»Es tut mir sehr leid, meine Damen, aber ich kann Ihnen beim besten Willen keine Minute widmen. Man verlangt dringend nach mir; dieser Herr kann es Ihnen bestätigen. Vielen Dank – und auf Wiedersehen!«

Leise enttäuscht, und doch voll neuen Entzückens über seine Liebenswürdigkeit, blickten ihm die Verehrerinnen nach.

Gerold wandte sich, als sie auf die Straße hinausgetreten waren, an seinen Begleiter: »Sie sollten mir zum Lohn für meine Willfährigkeit wenigstens eine Andeutung machen. Ich habe keine Ahnung von irgendeinem Verbrechen, über das ich Auskunft geben könnte.«

Der Beamte ließ sich nicht aus seiner Zurückhaltung bringen.

»Ich bin nicht näher unterrichtet,« lehnte er höflich ab. »Es handelt sich, wie ich schon bemerkte, um die Anordnung einer auswärtigen Behörde.«

 

Zehn Minuten später stand Gerold im Amtszimmer eines anderen ebenso ernst blickenden und ebenso unnahbar höflichen Herrn, der ihn nach rascher, scharfer Musterung durch eine Handbewegung einlud, Platz zu nehmen.

»Sie sind Herr Winfried Gerold? Sie haben Ihren ständigen Wohnsitz nicht in Leipzig?«

»Nein. Während der Konzertzeit wohne ich nirgends dauernd. Vom Herbst bis zum Frühling ziehe ich von Stadt zu Stadt und von einem Hotel ins andere. Mein Beruf bringt das mit sich. Nur während der Sommermonate kann ich mir das Vergnügen gönnen, mein Landhäuschen im Thüringer Wald zu bewohnen.«

»Wann trafen Sie in Leipzig ein?«

»Heute nacht zwischen zwei und drei Uhr.«

»Sie wurden schon gestern hier erwartet, um in einem Konzert mitzuwirken.«

»Es verhält sich so, wie Sie sagen.«

»Warum haben Sie im letzten Augenblick Ihre Mitwirkung abgesagt?«

»Ich versäumte den richtigen Zug. Wenn ich nicht irre, wurde ich nicht hierher geholt, um über mich und meine künstlerischen Verpflichtungen Auskunft zu geben, sondern über ein Verbrechen, von dem ich nichts weiß.«

Wieder streifte ein kurzer, forschender Blick des Beamten den Sänger.

»Kennen Sie ein Fräulein Hilde Wörner?«

Der Ausdruck sorgloser Gleichmütigkeit schwand augenblicklich aus Gerolds Zügen. Aufhorchend erhob er den Kopf.

»Ich kenne die Dame. Sie steht doch wohl nicht in irgendeinem Zusammenhang mit einem Verbrechen?«

»Allerdings. Und in einem sehr traurigen. Gestern nachmittag ist sie in ihrer Wohnung ermordet worden.«

Jäh fuhr Gerold von seinem Stuhl auf. Kreidebleich stand er an dem Schreibtisch des Beamten.

»Das ist nicht wahr und kann nicht wahr sein. Es ist unmöglich!«

»Bitte –bleiben Sie ruhig. Ich wiederhole: Fräulein Wörner wurde gestern um die sechste Stunde in ihrem Ankleidezimmer erstochen. Haben Sie eine Vermutung über die Person des Täters?«

Die muskulösen Hände Gerolds klammerten sich um ein Buch, das ihm zwischen die Finger gekommen war, ohne daß er es merkte. Als hätte er die letzte Frage des Beamten gar nicht gehört, sagte er: »Es soll wahr sein? Sie ist tot – tot! Wo finde ich ihren Mörder? Ich muß – ich muß …«

»Ich ersuche Sie nochmals, sich zu beherrschen. – Stand die Dame Ihnen so nahe?«

»Verschonen Sie mich mit Fragen. Sehen Sie denn nicht, daß ich fast sinnlos bin und den Verstand verliere? – Ermordet! Ums Himmels willen. Wozu stehe ich hier! Ich muß fort. Ich muß …«

»Bitte – nicht von der Stelle!« rief laut und hart der Beamte, noch ehe Gerold die Tür erreicht hatte. »Sie sind herbeschieden worden, um mir Rede zu stehen, und ich erwarte, daß Sie mir meine Pflicht nicht erschweren. Geht Ihnen der Tod der Dame so nahe, so muß Ihnen daran gelegen sein, zu seiner Aufklärung beizutragen. Ich bitte, fassen Sie sich.«

»Wie kann ich das?« rief der Sänger verzweifelt. »Ich weiß doch nichts – ich kann ja gar nichts wissen. Es war mir nicht einmal vergönnt, sie wiederzusehen.«

»Sie waren gestern in der Wohnung Fräulein Wörners. Noch einmal bitte ich Sie um Auskunft, in welchen Beziehungen standen Sie zu dieser Dame?«

»Ich habe sie geliebt. Seit vielen Jahren. Und seit Jahren suchte ich sie. Denn sie war wie von der Erde verschwunden. Gestern endlich hatte ich sie gefunden. Und jetzt –«

Er sank auf einen neben der Tür stehenden Stuhl und preßte das Gesicht zwischen die Hände. Der Beamte gönnte ihm ein paar Sekunden Zeit, dann begann er in freundlicherem Tone: »Die Untersuchung des Falles ist nicht unsere Sache. Ich bin nur vor die Aufgabe gestellt, einige bestimmte Fragen an Sie zu richten. Es wird wenig Zeit beanspruchen, wenn Sie sich aus freien Stücken bereit erklären, noch mit dem Münchener Nachtschnellzug, der in Leipzig gegen fünf Uhr morgens eintrifft, dorthin zurückzukehren und sich der Polizei zu Ihrer Vernehmung zur Verfügung zu stellen.«

»Ich werde reisen,« erwiderte Gerold matt, ohne den Kopf zu erheben. »Wenn Sie mich noch etwas zu fragen haben, so tun Sie es, bitte. Ich werde mich zu fassen suchen.«

»Wann waren Sie gestern bei Fräulein Wörner?«

»Zum erstenmal gegen ein Uhr mittags. Ich fand sie nicht zu Hause und konnte nur mit ihrem Mädchen sprechen.«

Die Stimme des Beamten klang unverändert kühl und ruhig, da er weiter fragte: »Und das zweitemal? Wann waren Sie da im Hause am Rüsternweg?«

»Ich war nicht im Hause, denn trotz wiederholten Klingelns wurde mir nicht geöffnet. Die Zeit kann ich nicht genau angeben. Es mag zwischen sieben und acht Uhr abends gewesen sein.«

»Was veranlaßte Sie zu diesem zweiten Besuch?«

»Nachdem ich den Zug versäumt, wollte ich schon am frühen Nachmittag wieder hinausfahren, aber ich traf einen mir befreundeten Herrn, den ich lange nicht mehr gesehen, und es gelang mir nicht, mich von seiner Gesellschaft zu befreien. Als ich meine Ungeduld nicht mehr zügeln konnte und ihm offen sagte, daß ich noch einen für mich sehr wichtigen Besuch zu machen habe, ließ er sich's nicht nehmen, mich bis in die Villenkolonie zu begleiten. Wir verabschiedeten uns vor dem Hause am Rüsternweg, und nachdem ich mich, ohne Einlaß zu erhalten, von dort hatte entfernen müssen, traf ich am Endpunkt der Straßenbahnlinie, wo er auf den Abgang des nächsten Wagens gewartet hatte, wieder mit ihm zusammen. Er begleitete mich dann noch bis an mein Hotel. Aber was soll das alles mit diesem schrecklichen Mord zu schaffen haben?«

»Der Herr, von dem Sie sprechen, würde Ihre Angaben durch sein Zeugnis bestätigen können?«

»Gewiß. – Wenn ich nur verstehen könnte – aber mein Gott, man glaubt doch nicht, daß ich – ich …«

Er wendete dem Fragenden das totenbleiche Gesicht zu. Fassungsloses Erstaunen spiegelte sich jetzt darin.

»Ich weiß nicht, Herr Gerold, was man drüben glaubt oder nicht glaubt. Ich bin über die dortigen Feststellungen nur ganz allgemein unterrichtet. Es ist möglich, daß Verdacht gegen Sie vorliegt, aber ...«

Der Sänger erhob sich und trat wieder an den Schreibtisch heran. Er sah verzweifelt aus, aber er hatte seine Haltung zurückgewonnen.

»Wenn man Verdacht gegen mich hegt, so ist mir das in diesem Augenblick ganz gleichgültig. Für mich handelt es sich darum, alles zu tun, um den Mörder zu finden. Man wird mir erlauben, mit dem Frühzug zu reisen?«

»Ich sagte es Ihnen. Daß Sie in Begleitung eines Polizeibeamten fahren müssen, werden Sie nach Lage der Dinge begreiflich finden.«

»Das ist für mich nebensächlich. Wenn ich nur so rasch als möglich hinkomme.«

Auch wenn er nicht von der Schuldlosigkeit dieses Mannes überzeugt gewesen wäre, würde der erfahrene Kriminalist es nicht mehr über sich vermocht haben, Gerold hart zu behandeln. Er sah einen gebrochenen Menschen vor sich, und fühlte aufrichtiges Mitleid mit seinem Schmerz.

»Sie wohnen im Hotel Europäischer Hof?«

Gerold bejahte.

»Ich will Sie nicht hindern, dahin zurückzukehren und die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges in Ihrem Zimmer zu verbringen. Sie geben mir Ihr Wort, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Er würde Ihnen nicht gelingen, denn Sie werden unter sicherer Bewachung stehen, wenn auch niemand im Hotel das geringste davon wahrnehmen soll. Man wird Sie um vier Uhr wecken, und Sie werden sich in Begleitung des Herrn, der Sie hierher gebracht, zum Bahnhof begeben. Das ist alles, was ich tun kann, ohne meine Pflicht zu verletzen.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Rücksicht zu Dank verpflichtet; aber Sie müssen verzeihen, wenn ich in meiner augenblicklichen Verfassung wenig Wert darauf lege, wie man mit mir verfährt. Das Versprechen, das Sie verlangen, gebe ich Ihnen. Weshalb sollte ich entfliehen? Ich habe ja keinen sehnlicheren Wunsch als den, an Ort und Stelle zu erfahren, wie das Entsetzliche geschehen ist. Und ich muß sie wiedersehen, und wäre es …«

Die letzten Worte erstickten in seiner Kehle; ein Fieberschauer schüttelte seinen Körper. Der Beamte drückte auf einen Klingelknopf und wechselte einige Worte mit dem eintretenden Untergebenen. Als darauf der höfliche Herr wieder erschienen war, sah sich Gerold in fast verbindlichen Formen entlassen. Aber die Art seiner Behandlung schien für ihn völlig bedeutungslos zu sein. Mit herabgezogenen Mundwinkeln, durchfurchter Stirn und starrem Blick schritt er wortlos an der Seite seines stummen Begleiters dahin. Er kümmerte sich nicht darum, auf welche Weise im Hotel die angekündigte Überwachung ausgeübt wurde.

Aber er machte auch keinen Versuch zu schlafen. Wohl streckte er sich, ohne seine Kleidung abzulegen, zuweilen auf das im Zimmer stehende Ruhebett, doch seine Augen starrten dann unverwandt zur Decke empor. Von Zeit zu Zeit rang es sich wie ein schluchzendes Stöhnen aus seiner Brust, und nach kurzer Zeit sprang er wieder auf, um ruhelos über den Teppich zu schreiten. Unzähligemal sah er auf die Uhr, und als die vierte Morgenstunde sich ihrem Ende näherte, vertauschte er rasch den Frack, den er noch immer anhatte, mit dem Reiseanzug.

Er stand schon in Hut und Überrock lange bevor der Beamte an die Tür des Zimmers klopfte, und nachdem er unten seine Rechnung beglichen hatte, bestieg er mit fahlem, übernächtigem Gesicht, doch in beherrschter Haltung den draußen wartenden Wagen.

*

In dem Raum, darin um die Mittagszeit die vom Gericht angeordnete ärztliche Leichenöffnung stattfinden sollte, lag Hilde Wörners irdische Hülle unter einem weißen Linnen, das den Körper bis zum Halse hinauf bedeckte.

Es war gegen neun Uhr morgens, als sich die Tür des Gemaches öffnete, um drei Besucher einzulassen. Es waren Winfried Gerold, der Kriminalkommissar Zabel und der zum Untersuchungsrichter bestellte Amtsgerichtsrat Klaußner. Dem schon auf der Eisenbahnfahrt geäußerten Wunsche des Sängers, sofort einer richterlichen Person vorgeführt zu werden, war bereitwillig entsprochen worden, und als er dann gebeten hatte, noch vor seiner Vernehmung die Entseelte sehen zu dürfen, erteilte der Untersuchungsrichter nach kurzem Überlegen auch dafür die Erlaubnis. Offenbar zweifelte auch er, daß Gerold der Mörder sei, und war durch den persönlichen Eindruck, den der Sänger auf ihn machte, im Glauben an eine polizeiliche Übereilung noch mehr bestärkt worden. Er gab das nicht in Worten zu erkennen, aber Gerold hätte es leicht aus seinem Benehmen erraten können, wenn er in der Gemütsverfassung gewesen wäre, darauf zu achten.

Nun trat er, die Lippen fest zusammenpressend, mit raschen Schritten an den Marmortisch inmitten des Raumes. Seine Begleiter beobachteten ihn scharf, und für Sekunden wußte sich keiner von ihnen die Veränderung zu deuten, die blitzschnell im Gesichtsausdruck des Sängers vorgegangen war.

Seine im Übermaß eines herzzerreißenden Schmerzes leidvoll erstarrten Züge hatten plötzlich wieder Leben gewonnen. Und es schienen Empfindungen widersprechendster Art, die sie in jähem Wechsel spiegelten Schrecken zuerst und höchste Überraschung, dann aber ein unverkennbares Aufleuchten erlösender Freude, wie es an diesem Ort und im Angesicht eines von Mörderhand gefallenen jungen Weibes als die befremdlichste und unbegreiflichste aller seelischen Regungen erscheinen mußte.

Sekundenlang hatte er schweigend auf das wie in ruhigem Schlummer verklärte Antlitz der Toten geblickt; dann wandte er sich mit einer raschen Kopfbewegung an den Untersuchungsrichter: »Ist dies die Ermordete?«

»Gewiß. – Zweifeln Sie daran? Sie müssen sie doch erkennen.«

»Nein, ich kenne sie nicht. Ich habe sie nie zuvor gesehen.«

Die beiden Männer sahen sich fragend an. Dann sagte der Kommissar sehr nachdrücklich: »Sie behaupten, diese Tote sei nicht Fräulein Wörner, die Sie gekannt haben?«

»Ich behaupte es und will darauf schwören. Kein Zug von Ähnlichkeit besteht zwischen ihr und der, die ich zu finden fürchtete. Ich weiß nicht, wer diese Tote sein mag; Hilde Wörner ist sie nicht.«

»Wenn ich Ihnen erkläre, daß jeder Zweifel über die Persönlichkeit ausgeschlossen ist, was sagen Sie dann? Die Leiche ist nicht nur von dem Dienstmädchen der Ermordeten, sondern auch von Leuten aus der Nachbarschaft, die sie genau kannten, gesehen worden. Niemand äußerte auch nur den leisesten Zweifel; alle erkannten sie als Fräulein Wörner. Die Art ihrer Auffindung ließ keinen Gedanken an die Möglichkeit eines Irrtums aufkommen.«

»Darauf kann ich nur erwidern, daß sie nicht diejenige ist, die ich als Hilde Wörner kannte.«

»Sie äußerten, daß Sie die Dame seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Vielleicht ist es eine inzwischen eingetretene Veränderung in ihrem Aussehen, die Sie jetzt irreführt.«

»Nein. – Daß sie es nicht sein kann, will ich Ihnen beweisen.«

Er entnahm seiner Brieftasche ein Lichtbild, das er dem Untersuchungsrichter überreichte. Es war die künstlerisch ausgeführte Aufnahme eines sehr schönen jungen Mädchens mit großen, schwärmerisch blickenden Augen und anmutig lächelndem Munde. Kopfschüttelnd gab der Richter nach kurzer Betrachtung die Photographie dem Polizeibeamten.

»Daß die Dame im Bilde und die Tote zwei verschiedene Personen sind, ist gewiß,« sagte dieser. »Damit ist am Ende weiter nichts bewiesen, als daß es sich eben nicht um ein Bildnis der Hilde Wörner handelt. Wann soll es angefertigt sein? Und von wem haben Sie es erhalten?«

»Aus ihren eigenen Händen. Sie selbst schrieb damals ihren Namen auf die Rückseite des Bildes.«

Der Beamte überzeugte sich, daß dort zu lesen stand »an Erinnerung an Ihre Freundin Hilde Wörner und an die schönen Züricher Frühlingstage.« Verständnislos hob er die Schultern.

»Das ist allerdings merkwürdig. Oder es scheint wenigstens so. Man wird versuchen, es aufzuklären. Sie bleiben also dabei, die Leiche der hier vor uns liegenden Persönlichkeit nicht zu kennen?«

»Ich wiederhole, daß ich sie im Leben nie gescheit habe.«

»Dann können wir, wenn der Herr Amtsgerichtsrat einverstanden sind, gehen.«

Bald darauf bestiegen die drei Herren den vor dem Schauhause wartenden Wagen, und der Kommissar verabschiedete sich im Innern des Gerichtsgebäudes von Klaußner.

»Eine überraschende Verwicklung,« sagte er leise zu ihm. »Für einen Verbrechertrick wäre es zu dumm. Aber wir werden bald herausgebracht haben, was dahinter zu suchen ist.«

Gerold folgte dem Untersuchungsrichter in sein Amtszimmer, in dem bald auch einer der Gerichtschreiber erschien. Der Sänger durfte sich setzen, und die Vernehmung begann.

Die in Gerolds Aussehen und in seinem Wesen eingetretene Veränderung war augenfällig. Mit dem furchtbaren Druck, unter dem er so lange gestanden, war auch alle Müdigkeit von ihm gewichen. Sein Mienenspiel war lebendig, seine Haltung wieder straff.

»Ehe wir über die Ereignisse des vorgestrigen Tages sprechen, möchte ich von Ihnen hören, wie Sie Fräulein Wörner kennen lernten und welcher Art die Beziehungen waren, die zwischen Ihnen und ihr bestanden.«

»Ich bin vor etwas mehr als sechs Jahren in Zürich mit ihr bekannt geworden, wo ich damals als etwa Zweiundzwanzigjähriger studierte. Sie war die Tochter eines wohlhabenden deutschen Rentners, der, von seinen Geschäften zurückgezogen, in der Schweiz lebte. Er hielt ein gastliches Haus und war ein geistig regsamer Mensch, der es liebte, junge Akademiker bei sich zu sehen. Durch einen Freund bei ihm eingeführt, verdankte ich es vor allem meiner Stimme, daß er mich besonders bevorzugte. Obwohl ich damals gesanglich ungeschult war, musizierte ich häufig mit seiner Tochter. Sie begleitete mich und wir sangen auch gelegentlich leichtere Duette. Dadurch kamen wir einander näher und …«

»Und Sie verliebten sich in das junge Mädchen.«

»Ich fühlte mich von tiefer Leidenschaft für sie ergriffen, und ich wußte schon damals, daß ich nie aufhören würde, sie zu lieben.«

»Waren Sie mit ihr verlobt?«

»Nein. Lange Zeit fehlte mir der Mut, ihr von meiner Liebe zu sprechen. An eine baldige Heirat wäre auch unter günstigeren äußeren Umständen unserer Jugend wegen nicht zu denken gewesen. Hilde war ja kaum siebzehn Jahre alt.«

»Schließlich aber erklärten Sie sich doch. Erwiderte sie Ihre Neigung?«

»Ja. Eines Tages erhielt ich die Gewißheit, daß auch sie mir gut war. Es ist wohl unnötig, daß ich erzähle, wie es geschah.«

»Das ist für uns ohne Bedeutung. Die junge Dame scheint dann aber wieder anderen Sinnes geworden zu sein. Wie wäre es sonst zu erklären, daß Sie sechs Jahre lang nichts mehr von ihr hörten, und daß sie sich sogar, wie aus Ihrem Briefe hervorzugehen scheint, vor Ihnen verbarg?«

»Das Schicksal trennte uns. So schüchtern und beinahe kindlich unschuldig unsere Liebe war, ihr Vater mußte unsere Beziehungen doch bemerkt haben, und von dem Augenblick an gestattete er meine Besuche in seinem Hause nicht mehr. Nur mit großer Mühe gelang es mir, Hilde noch einigemal zu heimlichen Zusammenkünften zu bewegen; bei der letzten dieser Begegnungen erklärte sie, daß alles zwischen uns aus sein müsse. Ich war verzweifelt, denn ich sah, daß sie schwer darunter litt; aber da ich um eben diese Zeit durch den unglücklichen Ausgang eines Nachlaßprozesses den Besitz eines kleinen Vermögens verlor, das mir zum Aufbau meiner Zukunft hatte dienen sollen, durfte ich nicht einmal den Versuch machen, sie durch ein Treugelöbnis an mich zu binden. In der Stille meines Herzens gelobte ich mir, sie doch zu gewinnen, da ich mich weder damals noch später mit dem Gedanken abfinden konnte, sie für immer verloren zu haben. Wie dieser Entschluß in mir feststand, so war auch meine Zuversicht unerschütterlich, daß sie keinen anderen als mich lieben würde. Sie hatte mich gebeten, ihr nicht zu schreiben, und während der nächsten zwei Jahre, die mich in verschiedene deutsche Städte führten, erfüllte ich ihren Wunsch. Da besserten sich meine Verhältnisse und ich durfte darauf hoffen, es als Künstler zu Wohlstand zu bringen; ich schrieb an ihren Vater und warb um sie. Den Brief erhielt ich mit dem Vermerk zurück, der Adressat sei verstorben. Seit jenem Tage suchte ich vergebens nach Hilde Wörner. Aus Zürich war sie bald nach ihres Vaters Tode abgereist; wohin, vermochte ich nicht zu erfahren. Trotzdem verließ mich die Hoffnung nie, sie endlich wiederzufinden.«

»Sie glaubten ernstlich daran, daß ein schönes, begehrenswertes Mädchen so lange auf Sie gewartet haben würde?«

»Ich brauchte nur an die Tage unseres kurzen Frühlingsglückes zu denken, um meinen Glauben nicht zu verlieren.«

»Sie sagen, daß alle Ihre Bemühungen ergebnislos geblieben seien, bis in die jüngste Zeit. Wann und wie gelang es Ihnen nun, den Aufenthalt der Dame zu erfahren?«

»Durch eine Verkettung der glücklichsten Zufälle. Wenigstens mußte ich die Umstände noch vorgestern dafür halten. Nun, wo ich glauben soll, daß eine andere unter ihrem Namen in dem Hause am Rüsternweg wohnte, ist alles wieder ungewiß.«

»Darüber werden wir uns noch Klarheit zu verschaffen haben. Darf ich nun hören, durch welche Zufälle Ihnen der Aufenthalt Fräulein Wörners bekannt wurde?«

»Vor zwei Jahren erwarb ich ein entlegenes Landhäuschen in Thüringen, in dem ich seither die Sommermonate verbrachte. Aber ich wünschte während des ganzen Jahres eine solche Zufluchtstätte zu besitzen, die in unmittelbarer Nähe einer Großstadt liegen konnte, zu der meine Konzertreisen mich immer wieder zurückführten. Vor einigen Wochen schrieb ich deshalb einem hiesigen Grundstücksvermittler, der mir etwas Passendes verschaffen sollte. Der Mann machte mir eine Reihe von Vorschlägen, und ich besah wohl ein Dutzend Villen im näheren und weiteren Umkreise der Stadt. Aber die Umgebung war mir immer nicht still genug. Da nannte er mir zuletzt die neu entstandene Villenkolonie Süd und schlug mir zugleich ein zum Verkauf gestelltes Häuschen am Rüsternweg vor, das augenblicklich an eine alleinstehende Dame vermietet sei; wenn man ihr eine entsprechende Abfindung biete, werde sie vielleicht mit sich reden lassen. Ich zeigte wenig Neigung für diesen Vorschlag, aber der Agent wollte sich offenbar den möglichen Verdienst nicht entgehen lassen, und noch ehe ich ihm ablehnend schrieb, kam er zu mir, um mir mitzuteilen, der Besitzer des Häuschens sei, wenn ich es wünsche, gern bereit, mit Fräulein Wörner wegen einer Lösung ihres Mietsvertrages zu verhandeln. Ich horchte auf, als ich den Namen hörte, und noch mehr, als ich auf meine Frage auch den teueren Vornamen vernahm. Noch wagte ich nicht, an mein Glück zu glauben. Erst als ich durch eine Anfrage bei dem Eigentümer des Landhauses bestätigt erhielt, daß es sich um eine Dame handle, die früher in Zürich gewohnt habe, und daß auch meine Altersangabe ungefähr stimmen könne, verloren sich meine letzten Zweifel. Das war vor drei Tagen. Am nächsten Vormittag machte ich mich auf den Weg«

»Ich finde Ihre Erzählung nicht so unglaubhaft; solche Zufälle sind möglich. Viel merkwürdiger scheint mir, daß die Dame nun doch die Gesuchte nicht gewesen sein soll. Besaß Fräulein Hilde Wörner, die Sie in Zürich kannten, eine Schwester, eine Base oder sonst eine Verwandte desselben Namens und annähernd gleichen Alters?«

»Nein. Sie war das einzige Kind ihres Vaters. Er klagte manchmal darüber, keinen Sohn zu haben, denn er sei der letzte männliche Sproß seiner Familie. Von Verwandten hörte ich im Hause nie reden.«

»Etwas sehr Seltsames wäre noch zu erklären. Das Mädchen Reimann hat angegeben, und durch eine Stelle in dem von Ihnen hinterlegten Briefe findet sich bestätigt, daß Sie beim Betreten des Salons die darin befindlichen Einrichtungstücke als die des Fräulein Wörner erkannt haben. Verhält sich das so? Oder könnte Ihr Gedächtnis Sie getäuscht haben?«

Als würde er selbst sich dieses Umstandes erst jetzt wieder bewußt, erwiderte Gerold rasch: »Wahrhaftig! Dies ist von allem Unverständlichen das Unbegreiflichste. Nein, in diesem Falle ist Täuschung unmöglich. Nicht nur die Möbel, sondern auch fast alle anderen Ausstattungstücke waren dieselben, die ich aus der Züricher Zeit in der Erinnerung hatte. Die Umgebung, in der man einst glücklich war, vergißt man so leicht nicht. Bis ins kleinste könnte ich auch in diesem Augenblick alles beschreiben.«

»An zufällige Ähnlichkeit wäre demnach nicht zu denken?«

»Nein! Die Sachen gehörten bestimmt dem Fräulein Wörner, das ich gekannt habe.«

»Wie wollen Sie erklären, daß sie sich jetzt in der Behausung einer anderen Hilde Wörner befanden?«

»Nach einigem Nachdenken erklärte Gerold: »Ich finde keine Erklärung, denn ich mag nicht an die Wahrheit einer Vermutung glauben, die sich mir aufdrängt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Hilde Wörner ist das Opfer eines Verbrechens geworden. Vielleicht hat man der Toten ihr Eigentum gestohlen wie ihren Namen.«

Der Amtsgerichtsrat erwiderte ruhig: »Wir leben glücklicherweise nicht mehr in Zeiten, wo das so leicht möglich wäre. Ein Mensch kann heute nicht mehr spurlos verschwinden, um in anderer Gestalt wieder aufzutauchen und weiter zu leben. Noch weniger glaubhaft ist die Verschleppung einer ganzen Wohnungseinrichtung.«

»Ich stehe vor einem Rätsel, das ich nicht zu lösen vermag.«

»Überlassen wir diese Arbeit der Polizei. Nun erzählen Sie mir genau, was Sie vorgestern getan und erlebt haben.«

Gerold bemühte sich, klar und deutlich zu sein, obwohl es ihm schwer fiel, sich dem Druck der düsteren Gedanken zu entziehen, die ihn peinigten. Er wiederholte eigentlich nur, was er schon gestern dem Leipziger Polizeibeamten erklärt hatte. Als der Untersuchungsrichter nach dem Namen des Bekannten fragte, der ihn bei seinem zweiten Besuche bis an Hilde Wörners Haus begleitet haben sollte, nannte er den Namen eines jungen Arztes, der zufällig zu den Bekannten des Amtsgerichtsrats gehörte.

Schon jetzt war der Richter überzeugt, daß sich ein Haftbefehl gegen den Sänger nicht aufrecht erhalten lassen werde, und deshalb darauf bedacht, sich die Richtigkeit der Aussagen so rasch als möglich bestätigen zu lassen. Er verlangte eine telephonische Verbindung mit dem Polizeipräsidium und fragte nach dem Kriminalkommissar Zabel. Der war soeben in sein Büro zurückgekehrt und teilte ihm zunächst mit, er habe die Anna Reimann aus der Wohnung ihrer Eltern geholt und an die Leiche der Ermordeten geführt; sie habe den Gedanken, daß es sich um eine andere als ihre Dienstherrin handeln könne, entschieden zurückgewiesen, und sei auf Befragen sogar imstande gewesen, ein besonderes körperliches Kennzeichen anzugeben, dessen Vorhandensein am Leibe der Toten er sofort festgestellt habe. In diesem Falle gebe es keinen Zweifel mehr. Sonst habe er Neues nicht zu berichten, sei aber im Begriff, weitere Nachforschungen anzustellen, die vor allem auf die Ermittlung der Personen gerichtet sein sollten, mit denen Fräulein Werner Verkehr gepflegt habe. Zuletzt fügte er hinzu, daß er eine Beteiligung Gerolds an der verbrecherischen Tat für unwahrscheinlich halte und seine Freilassung um so eher empfehlen würde, als ein Fluchtverdacht nicht zu befürchten sei.

Klaußner dankte und brach das Gespräch ab. Dann ließ er einen Gerichtsdiener kommen und beauftragte ihn, Herrn Gerold in eines der Haftzimmer zu führen, wo ihm Gelegenheit geboten sei, sich von der Reise auszuruhen.

»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, um Sie sobald als möglich aus dieser unangenehmen Lage zu befreien,« sagte er freundlich. »Über die Erfüllung gewisser Formalitäten aber kann ich mich aus eigener Machtvollkommenheit nicht hinwegsetzen.«

»Das sehe ich vollkommen ein,« erwiderte der Sänger ruhig, »Ich begreife, daß man mich für verdächtig halten konnte, und ich wünsche völlig gerechtfertigt zu sein, ehe ich in die Freiheit zurückkehre.«

*

Die Vernehmung des durch den Fernsprecher herbeigerufenen Doktor Walldorf endete mit dem vom Untersuchungsrichter erwarteten Ergebnis. Der junge Arzt, den er genügend kannte, um ihn als einen einwandfreien Zeugen ansehen zu dürfen, bestätigte Wort für Wort die Angaben seines Freundes Gerold. Er sei von vier Uhr nachmittags, wo er ihm in der Nähe des Hotels Königshof auf der Straße begegnete, bis zehn Uhr abends mit einer sehr kurzen Unterbrechung in seiner Gesellschaft gewesen. Von dem Augenblick, wo er sich vor der Gartenpforte des Hauses am Rüsternweg von ihm verabschiedete, bis zu ihrem erneuten Zusammentreffen an der Straßenbahnhaltestelle seien nicht mehr als fünf Minuten vergangen. Gerold habe ihm unverkennbar sehr enttäuscht und niedergeschlagen mitgeteilt, daß der beabsichtigte Besuch zum zweitenmal vergeblich gewesen sei. Die Dame sei offenbar noch nicht nach Hause zurückgekehrt, da man ihm auf wiederholtes Klingeln nicht geöffnet habe. Er sei dann für den ganzen Rest des Abends entgegen seiner sonstigen munteren Art ziemlich verstimmt gewesen, so daß ihm, Walldorf, die Vermutung gekommen sei, es müsse sich um eine Herzensangelegenheit handeln. Ungewöhnliche Aufregung oder gar Verstörtheit habe er nicht an Gerold wahrgenommen. Ihr Abschied im Eingang des Hotels sei ruhig und herzlich gewesen.

Durch diese Aussage schien der Konzertsänger so völlig entlastet, daß nur noch eine kurze Rücksprache mit dem Oberstaatsanwalt nötig wurde, um den gegen ihn erlassenen Haftbefehl aufzuheben. Mit höflichster Erklärung des Bedauerns über die unvermeidlichen Widerwärtigkeiten, die man ihm habe bereiten müssen, eröffnete ihm der Untersuchungsrichter im Laufe des Nachmittags, daß ihm seine Freiheit zurückgegeben sei.

»Allerdings wäre es mir sehr lieb,« fügte er hinzu, »wenn Sie sich noch für einige Zeit zu unserer Verfügung halten wollten. Die Verwirrung, die durch die Ungewißheit über die Persönlichkeit der Ermordeten entstanden ist, könnte Ihre nochmalige Vernehmung wünschenswert machen.«

»Ich werde vorläufig hier bleiben,« erklärte Gerold. »Noch heute werde ich alle für die nächsten Wochen getroffenen Vereinbarungen rückgängig machen. Nicht bloß deshalb, weil ich vorderhand kaum in der Stimmung sein werde, zu singen, sondern vor allem, weil ich jetzt unbedingt Gewißheit über Hilde Wörners Schicksal haben muß. Ich muß endlich ihre Spur finden, wenn mich Verlangen und Ungewißheit nicht ganz und gar aufzehren sollen.«

»Auch uns ist alles an einer Klarstellung gelegen. Zunächst stehen wir noch vor einem undurchdringlichen Geheimnis. Soviel nur kann ich Ihnen vorläufig mitteilen, daß der ärztliche Befund bei der inzwischen erfolgten Leichenöffnung Ihre Behauptung zu unter. stützen scheint.«

»Inwiefern, Herr Rat?«

»Nach Ansicht der Ärzte muß die Tote unbedingt älter als dreiundzwanzig Jahre gewesen sein. Man schätzt sie auf mindestens achtundzwanzig bis dreißig. Wahrscheinlich aber war sie sogar schon über ihr dreißigstes Lebensjahr hinaus. Das stimmt nicht zu den in ihren Papieren enthaltenen Angaben, die sich ja mit den Ihrigen decken. Nach dem Sektionsergebnis ist der tödliche Stich mit einer scharfen, spitzen Waffe und mit großer Kraft geführt worden. Wahrscheinlich verlor die Getroffene sofort das Bewußtsein, weil das in das Lungengewebe eingedrungene Blut eine erstickende Wirkung übte.«

»Grauenhaft. – Und man hat noch keine Spur von dem Mörder?«

»Keine – leider! Es sieht so aus, als ob wir noch lange im Dunkeln tappen müssen, wenn uns nicht bald ein günstiger Zufall zu Hilfe kommt.«

*

Gerold suchte sein Hotel auf, wo man – nach der Unbefangenheit des Empfanges zu urteilen – offenbar nichts von dem schweren Verdacht ahnte, der für kurze Zeit auf ihn gefallen war. Außer stande, sich unter fremden, gleichgültigen Menschen zu bewegen, blieb er auf seinem Zimmer, wenn auch die quälenden Gedanken, die er nicht zu bannen vermochte, ihn sehr trübselig und finster stimmten. Obwohl er seit gestern nichts mehr genossen, brachte er doch nur widerwillig einige Bissen über die Lippen.

Er schickte sich eben an, sich mit der Aussicht auf eine zweite schlaflose Nacht zu entkleiden, als ein Hoteldiener an die Tür des Zimmers klopfte, um ihm die Karte eines späten Besuchers zu überbringen. Entschieden zur Abweisung entschlossen, warf Gerold nur einen flüchtigen Blick auf den Namen. Aber er stutzte, als er ihn gelesen, und legte für einen Augenblick nachsinnend die Hand an die Stirn.

»Doktor Ralph Meussi« stand auf dem schmalen, weißen Kartonstreifen, ohne jede weitere Standesbezeichnung oder Wohnungsangabe. Gerold mutete der Name an wie ein längst verwehter, plötzlich wieder lebendig gewordener vertrauter Klang aus ferner Vergangenheit, und wenn er sich auch durchaus nicht auf seinen Träger zu besinnen vermochte, fühlte er doch etwas wie einen inneren Zwang, der ihm verbot, diesen Besuch abzuweisen.

»Ich lasse bitten,« sagte er und blickte mit einer Spannung, die ihm selbst verwunderlich vorkam, auf die Tür.

Als der Gemeldete eintrat, erkannte er ihn nicht. Es mochte sein, ja, es schien ihm beinahe gewiß, daß er dies glattrasierte, schmale, scharf geschnittene Gesicht schon früher gesehen, aber in seiner Erinnerung regte sich nichts. Er erwiderte die grüßende Verbeugung des wohlgekleideten Mannes mit kühl abwartender Höflichkeit.

»Entschuldigen Sie, Herr Gerold, daß ich Ihnen so spät lästig falle. Sie scheinen sich meiner nicht mehr zu erinnern.«

»In der Tat, Herr Doktor, ich besinne mich im Augenblick nicht …«

»Es ist lange her, daß wir auf der gleichen Schulbank saßen, und seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen.«

 

Gerold machte eine Bewegung der Überraschung. Die Worte des Besuchers hatten mit einem Male volle Klarheit in das nebelhafte Erinnerungsbild gebracht, und ein Stück seiner Jugendzeit war greifbar lebendig geworden. Das war ja Ralph Meussi, der »Spion«! Deutlich erinnerte er sich an den blassen, schmächtigen Knaben, der von keinem seiner Mitschüler geliebt und von allen gefürchtet wurde. Nicht als Raufbold und Gewaltmensch, sondern um der eigenartigen geistigen Überlegenheit willen, von der er meist für die naiven Knabengemüter unheimlichen Gebrauch zu machen wußte.

Er war kein Musterschüler gewesen, und seine Leistungen standen in den meisten Fächern hinter denen der anderen zurück. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften überragte er sie alle. Da war ihm keine Aufgabe zu verwickelt, keine physikalische Berechnung zu schwierig gewesen. Immer aufs neue erregten sein Scharfsinn und sein unfehlbares Gedächtnis das Staunen der Lehrer.

Aber es war nicht das, was ihm seine besondere Stellung unter Mitschülern verschaffte; daß sie ihm in kaum verhehlter Scheu aus dem Wege gingen, hatte seinen Grund in der unbegreiflichen Fähigkeit Meussis, ihre kleinen Geheimnisse zu ergründen, und sie durch seine Kenntnis von Dingen, Handlungen, ja selbst von Gedanken zu überraschen, die sie wohl verborgen wähnten. Ein Anschlag mochte noch so heimlich vorbereitet, ein Plan noch so verschwiegen behandelt worden sein, die Beteiligten konnten doch sicher darauf rechnen, daß Meussi bei irgendeiner Gelegenheit durch ein mit sarkastischem Lächeln hingeworfenes Wort zu erkennen gab, wie genau ihm die Urheber und ihre Absichten bekannt waren.

Die Knaben wußten nie, welcher Mittel er sich bediente, um zu dieser absonderlichen Art von Allwissenheit zu gelangen. Niemand hätte behaupten können, daß Meussi je den Versuch gemacht hätte, ihn auszufragen, und keiner hatte ihn als Lauscher oder Schnüffler überrascht. Trotzdem hegte man keinen Zweifel, daß er nur auf solchen Wegen in die Geheimnisse anderer einzudringen vermöchte, und er hieß darum für seine Mitschüler nur der »Spion«, mit all dem Schwergewicht von Verachtung, das für unverdorbene jugendliche Gemüter mit diesem Begriff verbunden ist.

Hie und da war es geschehen, daß ihn einer zur Rede stellte und ihm unter Drohungen verbot, seinen Angelegenheiten und Handlungen nachzuspüren. Dann pflegte ihm Ralph Meussi mit seinen kalten, ruhigen Augen unverwandt ins Gesicht zu sehen und zu erwidern: »Ich brauche dir nicht nachzuspüren, um zu wissen, was du denkst und tust. Es steht dir ja auf der Stirne geschrieben, und du selber verrätst es, sobald du dich zu bemühen anfängst, es mir oder anderen zu verbergen.«

Das verstanden sie nicht und hielten es für leere Redensarten. Aber zu einer Ausführung der Drohungen, mit denen sie ihn an seiner »Spionage« zu hindern suchten, kam es doch nie. Trotz seiner· körperlichen Schwächlichkeit war in seiner Persönlichkeit etwas geheimnisvoll Zwingendes, das es selbst den wildesten Burschen unmöglich machte, die Hand gegen ihn zu erheben.

Auch konnte man ihm nichts Übles oder gar Schlechtes nachsagen, denn er mißbrauchte sein Wissen von heimlichen Dingen nie, um den Beteiligten zu schaden. Seinem vermeintlichen »Spionentum« fehlte das wesentlichste Kennzeichen: die Angeberei. Es schien, als betriebe er es lediglich zu seinem eigenen Vergnügen und vielleicht war es gerade das, was ihn seinen Mitschülern so unheimlich machte.

Gerold hatte die Abneigung der Klasse gegen Ralph Meussi durchaus geteilt. Bei ihm, dem Offenherzigsten und Aufrichtigsten von allen, war sie sogar besonders stark ausgeprägt gewesen. Er erinnerte sich noch sehr gut, wie schroff er wiederholt freundschaftliche Annäherungsversuche des »Spions« zurückgewiesen, und es war begreiflich, daß diese Erinnerung ihm jetzt ein gewisses Unbehagen verursachte. Jeden anderen seiner ehemaligen Schulkameraden würde er unbefangener und freudiger willkommen geheißen haben als Meussi.

 

»Nun erinnere ich mich,« sagte er, ihm die Hand reichend. »Wenn ich nicht irre, sahen wir uns zuletzt vor ungefähr zwölf Jahren. Sie gingen damals an eine andere Anstalt über.«

»Ja. Und ich vermute, daß keiner meiner Mitschüler mich vermißte. Sie konnten mir's nicht verzeihen, daß es mir so leicht wurde, sie zu durchschauen.«

»Vielleicht war es wirklich so,« gestand der Sänger mit einem leisen Gefühl von Beschämung zu. »Menschen, vor denen man nichts verheimlichen kann, werden einem leicht unbequem.«

»Ganz richtig. Das mußte ich im späteren Leben manchmal erfahren. Sie werden erstaunt sein, daß ich mir erlaubt habe, Sie so spät heimzusuchen. Die Sehnsucht, einen Kameraden aus der schönen Pennälerzeit wiederzusehen, kann ich kaum als Entschuldigungsgrund anführen, obwohl ich während der letzten Jahre mehr als einmal beabsichtigte, mich Ihnen zu nähern.«

»Warum versuchten Sie es nicht? An seine Jugend läßt man sich immer gerne erinnern.«

»Ich war nicht so sicher, daß es Ihnen angenehm sein würde. Heute war es jedenfalls keine Regung solcher Art, die mich herführte. Sie sind in einen Kriminalfall verwickelt worden, der mich von Berufs wegen lebhaft interessiert.«

»Von Berufs wegen? Sie sind Jurist geworden?«

»Ich habe mich allerdings einige Jahre auf verschiedenen Hochschulen der Juristerei befleißigt, aber ich fand doch nicht Geschmack genug daran, um in Staatsdienste zu treten oder Rechtsanwalt zu werden. Nachdem ich kurze Zeit im Polizeidienst gestanden war, bin ich – erschrecken Sie nicht! – Privatdetektiv geworden.«

»Ah!«

Etwas von der Geringschätzung, die er als Schüler für den »Spion« gehabt, regte sich wieder in Winfried Gerold. Meussi mußte es ihm vom Gesicht abgelesen haben, denn um seinen schmalen Mund zuckte ein sarkastisches Lächeln.

»Sie sind doch erschrocken. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Wer einen Beruf gleich dem meinigen erwählt, muß darauf verzichten, daß man ihm mit ausgesuchter Hochachtung begegnet. Aber was sollte ich tun? Der Lebenslauf eines Menschen wird durch Naturgaben bestimmt. Es ist nicht meine Schuld, daß die meinigen mich auf diesen Weg brachten.«

»Es bedarf keiner Entschuldigung, Herr Doktor! Ich habe vom Beruf eines Detektiv viel zu unbestimmte Vorstellungen, als daß ich mir ein abfälliges Urteil erlauben dürfte. Woher wußten Sie, was mir in diesen Tagen widerfahren ist?«

»Der Fall Wörner erregte von Anfang an meine Teilnahme. Ich erkannte aus dem ersten lückenhaften Bericht, daß die Polizei es nicht leicht haben würde, den Mörder zu finden. Meine Beziehungen erleichterten mir den Einblick in die weitere Entwicklung der Dinge, und sobald ich von Ihrer übereilten Festnahme in Leipzig hörte, entschloß ich mich, Sie vor weiteren Mißgriffen zu schützen.«

»Das geschah gewiß in freundlicher Absicht. Und ich danke Ihnen dafür. Aber wie Sie sehen, bin ich wieder frei.«

»Ich weiß davon seit einer Stunde. Aber ich erfuhr auch einiges andere, das meine Teilnahme an dem Fall Wörner verstärkte. Als unabhängiger, leidlich vermögender Mann arbeite ich nicht selten zu meinem Vergnügen. Ich könnte sagen: um der Gerechtigkeit willen, aber das entspräche nicht ganz der Wahrheit.«

»Sie betreiben Ihren Beruf also gewissermaßen sportmäßig? Das ist Geschmacksache, über die sich nicht streiten läßt. Erwarten Sie von mir, daß ich Ihnen irgendwie behilflich bin?«

»Vielleicht. In diesem Augenblick weiß ich noch nicht, ob Sie dazu imstande sind. Es ist der Verdacht entstanden, daß die Ermordete nicht diejenige war, für die sie sich ausgegeben; wenn ich recht berichtet bin, waren Sie es, der diesen Verdacht zuerst ausgesprochen.«

»Verdacht ist nicht das richtige Wort, Herr Doktor, ich behaupte mit voller Gewißheit, daß die Ermordete nicht die Person gewesen ist, deren Papiere sie besaß.«

»Es würde also nicht nur darauf ankommen, den Mörder der angeblichen Hilde Wörner zu finden, sondern auch festzustellen, was mit der wirklichen Hilde Wörner geschehen ist. Würden Sie mich bei diesen Nachforschungen unterstützen, Herr Gerold?«

»Unbedenklich!« rief der Sänger. »Für mich wird es von nun an zur Lebensaufgabe, Gewißheit über Hilde Wörners Schicksal zu erlangen.«

Gerolds Eifer brachte Doktor Meussi aber nicht aus seiner kühlen Ruhe.

»Welche Meinung haben Sie sich über den Fall gebildet?« fragte er. »Wie versuchen Sie sich die Namensgleichheit zu erklären?«

»Ich finde keine. Hinter all dem Unwahrscheinlichen und Unmöglichen, das ich mir da zurechtlege, taucht immer wieder die eine grauenvolle Vermutung auf: Das ganze Lügengebäude kann nur auf einem an der wirklichen Hilde Wörner verübten Verbrechen aufgebaut sein.«

»Es wären auch noch andere Möglichkeiten denkbar. Zum Beispiel, daß der Betrug vor kürzerer oder längerer Zeit mit ihrer Einwilligung geschehen konnte. Vielleicht gab es auch für sie Gründe, irgendwo unter fremdem Namen zu leben.«

»Das ist nicht möglich,« widersprach Gerold lebhaft. »Nie würde sich Hilde Wörner zu solchem Lügenspiel erniedrigt haben. Sie war ein durchaus wahrhaftiges Geschöpf.«

»Auch die besten und edelsten Menschen sind fähig, Handlungen zu begehen, deren Beweggründe man kennen muß, um sie wenigstens begreiflich, wenn auch nicht entschuldbar zu finden. Ich deutete ja auch nur die Möglichkeit an, die am Ende so viel oder so wenig Wahrscheinlichkeit für sich hat wie jede andere. Ich vermute nur, ohne damit ein Urteil über Personen fällen zu wollen, die mir unbekannt sind. Nichts ist im Augenblick gewiß, und für sicher halte ich vorläufig nur, daß es der Polizei kaum gelingen dürfte, den Fall aufzuklären. Darin liegt für mich auch der Reiz, zu versuchen, ob es mir möglich wäre, ein Geheimnis aufzuklären, das über der Vergangenheit der Ermordeten waltet.«

»Sie scheinen keine hohe Meinung von den Fähigkeiten der Polizeileute zu haben.«

»Mißverstehen Sie mich nicht, wenn ich sage, solange sie es mit gewerbsmäßigen Verbrechern zu tun haben, sind unsere Kriminalisten die tüchtigsten und findigsten Leute. Sie kennen alle Praktiken und Kniffe und verstehen es oft genug geradezu meisterhaft, selbst die schlauesten Burschen zu überlisten. Sobald das Allgemein-Menschliche in Frage kommt, verhält es sich anders. Seelischen Verwickelungen stehen sie fast immer mit geringem Glück gegenüber. Deshalb sind es nur solche Fälle, die mich reizen. Mir fehlt der Ehrgeiz, mich um Dinge zu mühen, die andere ebensogut, wenn nicht besser zu behandeln vermögen. Was mich zur Anspannung meiner Kräfte verlocken kann, ist das Suchen nach verborgenen Motiven und nach schwer ergründlichen seelischen Zusammenhängen. Und vor eine solche Aufgabe glaube ich mich hier gestellt.«

»Wenn es Ihnen gelänge, sie zu lösen, Sie könnten meiner dauernden Dankbarkeit gewiß sein. Auf Dankbarkeit, die sich nicht nur in Worten gefällt. Was Sie auch fordern würden, ich bin bereit, es zu zahlen.«

»Darüber können wir später reden. Vorläufig ist mir dieser Punkt gleichgültig, und ich bin nicht geneigt, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen. Ich muß volle Freiheit behalten, mich nur so lange mit einem Fall beschäftigen zu müssen, als es mir von Belang scheint. Augenblicklich bin ich es, der Bedingungen stellt, die Ihrerseits zu erfüllen wären.«

»Darf ich bitten, darüber klar zu sprechen, Herr Doktor?«

»Sie dürfen mir keinesfalls in meine Arbeit pfuschen, weder durch eigene Nachforschungen, noch durch irgendwelche anderen ohne mein Wissen unternommenen Schritte. Wo es mir nötig und zweckmäßig erscheint, werde ich mich gerne Ihrer Hilfe bedienen. Auf eigene Hand aber dürfen Sie nichts versuchen, wenn Sie mir nicht alle Lust dauernd verleiden wollen.«

»Das ist eine seltsame Forderung. Wollen Sie mir vielleicht auch vorenthalten, was Sie zunächst zu tun beabsichtigen?«

»Fragen Sie danach heute nicht. Jetzt könnte ich Ihnen schon deshalb nichts sagen, weil ich selbst noch nicht weiß, womit ich beginnen werde.«

»Und ich soll trotzdem untätig bleiben und soll geduldig auf das Ergebnis Ihrer Bemühungen warten, die Sie möglicherweise morgen oder übermorgen einstellen, wenn Ihnen, wie Sie sagten, die Lust vergeht? Ich müßte nicht mit meinem ganzen Herzen beteiligt sein, wenn ich Ihnen das sofort zugestehen könnte.«

»Was könnten Sie denn unternehmen? Lassen Sie uns einmal die augenblickliche Lage betrachten. Irgend jemand, den niemand von uns kennt, ermordete eine Frau, die Ihnen nie im Leben begegnet ist, und von der Sie weiter nichts wissen, als daß sie offenbar fälschlich den Namen einer anderen, Ihnen einst nahestehenden Dame geführt hat. Sie wünschen zu erfahren, was aus der wahren Hilde Wörner geworden ist, aber der einzige Mund, der darüber vermutlich Auskunft geben könnte, ist für immer verstummt. Wo Sie bei Ihren Nachforschungen auf die Spuren einer Hilde Wörner stoßen würden, darf man tausend gegen eins wetten, daß es nur die Spuren der falschen Hilde Wörner wären. Aller Voraussicht nach würde nicht einmal das gelingen. Ich kenne den Inhalt der während der beiden letzten Tage entstandenen Akten genau und weiß, daß die Ermordete bis vor etwa neun Monaten in Moskau gewesen ist. Wer könnte nach Rußland reisen, um dort ihrer Vergangenheit nachzuspüren? Und wenn es möglich wäre, glauben Sie, daß Sie irgend einen Erfolg erleben würden? Die Hilde Wörner, die Sie kannten, ist vor fünf Jahren aus Zürich abgereist, und Sie suchten während dieser Zeit vergebens nach ihr. Wo wollten Sie jetzt mit neuen Nachforschungen beginnen? Woran wollen Sie sich halten? In Wahrheit käme es zu nichts anderem als hoffnungslosem Tappen in undurchdringlicher Finsternis.«

Niedergeschlagen und düster sah Gerold zu Boden.

»Ich dachte an einen wiederholten Aufruf in allen großen Zeitungen Deutschlands und auf Umwegen vielleicht auch in denen des Auslandes. Sind nicht auf solche Art die Spuren gar manches Vermißten gefunden worden?«

»Sie würden damit so wenig Erfolg haben als mit allen bisher unternommenen ähnlichen Versuchen. Wenn Ihre Jugendfreundin noch lebt, und wenn einer dieser Aufrufe sie erreicht – was eine außerordentliche Glückssache wäre –, so könnte er höchstens die Wirkung haben, sie noch tiefer in die Verborgenheit zu treiben, in die sie sich gewiß nicht ohne Ursache flüchtete. Nein, mit solchen Mitteln löst man eine Aufgabe gleich dieser nicht. Und man löst sie überhaupt nicht von heute auf morgen. Zunächst handelt es sich einzig darum, ob Sie Vertrauen genug zu mir haben, mich ungestört wirken zu lassen.«

»Wenn ich darauf mit ja antworte?«

»Dann werden wir an einem der nächsten Tage weiter darüber reden. Für einige Zeit müssen wir es wohl noch mit ansehen, wie sich die Polizei mit der Lage der Dinge abzufinden sucht. Ich darf Ihr Versprechen als gegeben annehmen, daß Sie auf eigene Hand vorläufig nichts unternehmen?«

»Was bleibt mir anderes übrig, als Ihnen mein Wort zu geben, daß ich es halten will?«

Doktor Meussi erhob sich.

»Das genügt mir. Ich danke. Ich werde noch eine Menge von Fragen an Sie zu richten haben, aber Sie sind müde und abgespannt. Erst wenn Sie wieder klar und ruhig denken, kann mir Ihre Hilfe wertvoll sein.«

Ohne Wärme wie die Begrüßung war auch der Abschied der beiden einstigen Schulkameraden. Der Eindruck, den das unerwartete Wiedersehen in Winfried Gerold zurückließ, glich mehr tiefem Unbehagen als neu gewecktem Hoffen.

*

Befaßte man sich in der Öffentlichkeit mit dem Fall Wörner zuerst nur als einer aufregenden Mordgeschichte, so wurde er zu einem höchst erregenden und geheimnisvollen Vorgang, seit man wußte, daß die Ermordete seit Monaten hier unter falschem Namen gelebt hatte. Man wartete ungeduldig darauf, den Schleier des Geheimnisses gelüftet zu sehen, und die Frage nach dem Mörder trat beinahe zurück vor dem Verlangen, Näheres über den Namen und die Vergangenheit seines unglücklichen Opfers zu erfahren.

Die Polizei und der Untersuchungsrichter unternahmen alles, was in ihren Kräften stand, um das Dunkel zu lichten. Die umfangreichen, weitverzweigten Mittel und Hilfskräfte, die ihnen zur Verfügung standen, wurden mit aller durch die Sachlage gebotenen Umsicht und Hartnäckigkeit in Bewegung gesetzt; während der nächsten acht Tage wurden noch zwei verdächtige Persönlichkeiten festgenommen.

Im ersten Falle handelte es sich um einen übel beleumundeten, mehrfach vorbestraften Menschen, den mehrere später aufgetretene Zeugen am Tage vor Hilde Wörners Ermordung um das Haus streichen sahen.

Dann verhaftete man eine gleichfalls wiederholt auf Abwege geratene Näherin, die vor etlichen Wochen von Fräulein Wörner mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt worden war. Sie wurde von ihrer Hauswirtin angezeigt, weil sie sich durch allerlei sonderbare Äußerungen verdächtig gemacht haben sollte.

Aber man mußte beide nach ihrer ersten Vernehmung wieder entlassen, da es ihnen leicht gelang, ihre Schuldlosigkeit zu erweisen. Der Entdeckung des Täters war man damit nicht näher gekommen, und über Namen und Herkunft der Ermordeten wußte man nach einer Woche so wenig als am ersten Tage. Die Bemühungen, die Dame zu finden, die nach der Aussage des Dienstmädchens Fräulein Wörner einige Tage vor ihrem Tode besucht hatte, blieb erfolglos.

Auch Winfried Gerolds Name war ein paarmal in Verbindung mit Berichten über den Mord durch die Blätter gegangen. Trotz der von den Behörden geübten Verschwiegenheit waren findige Berichterstatter hinter die Vorgänge der ersten achtundvierzig Stunden gekommen. Die Berühmtheit des Sängers machte seine Beziehungen zu dieser rätselhaften Tat zu einem romantischen Ereignis. Die abenteuerlichsten Vermutungen gingen von Mund zu Mund, und unter der Maske freundlicher Teilnahme wagte sich die Neugier vielfach so zudringlich an Gerold heran, daß er sich gezwungen sah, seine Wohnung im Hotel aufzugeben und in einem Privathause Zuflucht zu suchen. Als er vom Untersuchungsrichter zum drittenmal um seinen Besuch gebeten wurde, erklärte er ihm, nicht länger hier bleiben zu wollen, und der Amtsgerichtsrat erwiderte höflich, seine Abreise könne zu jeder Stunde erfolgen.

»Ich glaube nicht, Herr Gerold,« sagte er, »daß wir durch Ihre Angaben weiter kommen. Auch wir halten es jetzt für sicher, daß die Ermordete kein Recht auf den von ihr geführten Namen besaß. Es wäre uns von größtem Wert gewesen, Bestimmtes über die wirkliche Hilde Wörner zu ermitteln, aber wir müssen die Hoffnung aufgeben, daß Sie uns dazu behilflich sein könnten. Von dem Augenblick an, da das junge Mädchen vor fünf Jahren Zürich verließ, ging jede Spur verloren. Feststellen konnten wir nur, daß sie vor der Abreise einen Teil der Hinterlassenschaft ihres Vaters verkaufte, während der wertvollere Teil des Mobiliars und der sonstigen Wohnungseinrichtung einem Züricher Spediteur in Verwahrung gegeben wurde. Vor etwa einem Jahre erhielt dieser unter Einsendung des Verwahrungsscheines in einem aus Moskau datierten und mit Hilde Wörner unterzeichneten Briefe den Auftrag, die Sachen nach Berlin zu senden. Damit ist aufgeklärt, wie sie in den Besitz der Ermordeten gelangt sind. Offenbar hatte die Unbekannte zugleich mit den Legitimationspapieren der Hilde Wörner auch jenen Verwahrungsschein in ihre Hände gebracht, um sich das Mobiliar zu verschaffen. Ich ziehe daraus den Schluß, daß die Wörner vor fünf Jahren nach Rußland ausgewandert ist, und daß wir die Lösung des Rätsels jenseits der deutschen Grenze suchen müßten. Nachforschungen in Rußland haben keine Aussicht auf Erfolg.«

»Sie hegen demnach keine Hoffnung, das Geheimnis aufzuklären?«

Der Untersuchungsrichter hob die Schultern.

»Wenn wir nicht auf dem Umwege über die Entdeckung des Mörders dazu gelangen, die wahre Hilde Wörner zu finden, sehe ich augenblicklich keine Möglichkeit. Ich nehme an, daß auch das am Rüsternweg verübte Verbrechen im Zusammenhang mit Dingen steht, die sich in Rußland abgespielt haben. Und das Dunkel, das über der Vergangenheit der Ermordeten liegt, macht es fast aussichtslos, eine Spur zu finden.«

Tief entmutigt verließ der Sänger das Amtszimmer.

 

Am gleichen Nachmittag empfing Gerold den Besuch seines ehemaligen Schulkameraden, der ihn seither nur durch einige kurze briefliche Mitteilungen auf sein Wiederkommen vertröstet hatte. Ohne große Erwartungen sah ihn der Sänger eintreten, und er konnte sich sehr bald davon überzeugen, daß er den bisherigen Erfolg seiner Tätigkeit damit nicht zu niedrig eingeschätzt hatte.

»Ich wäre früher gekommen,« sagte Meussi, »wenn ich Ihnen Nennenswertes mitzuteilen hätte. Ich sagte ja voraus, daß wir zunächst abwarten müßten, was die Polizei ausrichten würde. Nun habe ich lange genug zugesehen und möchte nun versuchen, was mir gelingen kann.«

»Sie sind noch immer entschlossen, etwas zu tun? Obwohl der Untersuchungsrichter mir heute zu verstehen gab, daß er den Fall für nahezu aussichtslos hält?«

»Darf ich hören, was er Ihnen sagte?«

Gerold erzählte, und Meussi hörte aufmerksam zu.

»Der Herr hat recht,« erklärte er dann. »Trotzdem bin ich entschlossen, morgen oder übermorgen nach Zürich zu reisen und den Spuren der Hilde Wörner nachzugehen.«

»Wünschen Sie, daß ich Sie begleite?«

»Nein! Das ist ganz unmöglich; einen Mann, den man in Zürich kennt, kann ich bei meinen beabsichtigten Nachforschungen nicht brauchen.«

»Ich möchte fort, denn hier halte ich es auf keinen Fall länger aus. Man überschüttet mich mit mehr oder weniger unverschämten Briefen. Und wenn ich mich auf die Straße wage, darf ich sicher sein, daß soundsoviele Vorübergehende mich wie ein Wundertier anstarren.«

»Das kann ich mir vorstellen. Es gibt für Sie nur ein Mittel, dieser lästigen Neugier zu entgehen. Je beharrlicher Sie sich verstecken, desto mehr Anlaß bieten Sie dem unsinnigen Geschwätz der Leute. Sie müssen Ihre künstlerische Tätigkeit wieder aufnehmen und sich dem Publikum so unbefangen zeigen, als wäre nicht das geringste geschehen. Es muß ja nicht hier sein. Sie haben doch genug Verbindungen, die Ihnen ein Auftreten in möglichst weiter Ferne vom hiesigen Schauplatz ermöglichen.«

»Ich könnte nach Wien gehen, von wo mir erst vor einigen Tagen verlockende Anerbietungen gemacht wurden. Aber ich fühle mich nicht in der Stimmung, öffentlich zu singen,«

»Versuchen Sie es nur; die Lust dazu wird sich bald einstellen. Ich rate Ihnen dringend, nach Wien zu gehen. Richten Sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein, das Reisen und die Tätigkeit wird Ihnen sicher gut bekommen. Während Sie sich in Wien erholen, werde ich in Zürich tätig sein, wir werden in ständiger brieflicher Verbindung miteinander bleiben, und Sie erhalten sofort Nachricht, sobald wichtige Ergebnisse dazu nötigen.«

»Und das alles tun Sie aus bloßer Liebhaberei? Ohne zu sagen, wie weit ich damit in Ihrer Schuld stehe?«

»Es ist mir lieb, daß Sie das treibende Motiv nicht in unserer Jugendfreundschaft suchen, denn mit Berufung darauf befände ich mich in Verlegenheit. Ja, ich tue es, wie Sie sagen, aus Liebhaberei. Ich bin außerdem nicht ohne Ehrgeiz. Wenn in einigen Jahren meine Arbeit über ›Neue Wege der Kriminalistik‹ erscheint, für die ich aus Werken anderer und aus eigenen Erfahrungen Material sammle, werden Sie die Gründe meines Eifers besser verstehen. Doch genug darüber. Erzählen Sie mir möglichst ausführlich alles, woran Sie sich aus der Zeit Ihres Züricher Verkehrs mit Vater und Tochter erinnern. Schildern Sie mir die einzelnen Personen ihres näheren Umgangs, und vergessen Sie nicht, mir zu sagen, ob Ihnen nach irgend einer Richtung befremdliche Vorgänge aufgefallen sind.«

Doktor Meussi sah den Sänger erwartungsvoll an.

Gerold erwiderte: »Was soll ich Ihnen berichten? Herr Wörner hielt ein offenes Haus für alle, die ihm gefielen; man traf in seinem Hause die verschiedensten Leute. Besondere Vorliebe zeigte er für Studenten und junge aufstrebende Talente. Es waren zu viele Menschen, mit denen ich dort oft nur flüchtig zusammentraf, meist viel zu kurz, als daß ich versuchen könnte, über einzelne Gestalten jetzt noch Besonderes zu sagen.«

«Ihre Verliebtheit machte Sie blind für alles andere. Vielleicht gab Ihnen der eine oder der andere von Herrn Wörners Gästen Anlaß zur Eifersucht. Wäre das nicht denkbar?«

»Nein. Hilde Wörner benahm sich so vornehm und selbstsicher und hielt Zudringliche so von sich fern, daß ich nichts zu sagen wüßte. Auch stand ihre Wahrheitsliebe für mich viel zu hoch, als daß ich hätte an ihr zweifeln können.«

»Sie waren noch sehr jung. In solchem Alter erhöht man das geliebte Wesen leicht zu einer Heiligen. Wenn Sie mir sonst nichts Besonderes zu erzählen wissen, das werden Sie mir doch sagen können: Verkehrten unter den Leuten, die Sie im Wörnerschen Hause trafen, auch Russen?«

»Gewiß begegnete ich hier und da auch einem russischen Studenten, aber ich wüßte Ihnen keinen Namen zu nennen. Es waren meist Schwarmgeister, deren Ideen mich nicht anzogen. Meine Lebensziele führten mich in eine andere Richtung.«

»Ich sehe, daß auf Ihre Unterstützung recht geringe Hoffnungen zu setzen sind. Aber ich erwartete auch kaum mehr. Möglich könnte es werden, daß ich Sie von Zürich aus nach dem einen oder dem anderen fragen müßte. Darum muß ich über Ihren Aufenthalt immer genau unterrichtet sein. Das ist vorläufig alles, was ich von Ihnen verlange. Wann werden Sie nach Wien reisen?«

»Wenn ich das Anerbieten annehme, müßte ich noch heute telegraphisch zusagen, denn das Konzert soll in der kommenden Woche stattfinden. Ich müßte dann morgen oder übermorgen fahren.«

»Seht gut. Tun Sie das auf jeden Fall, Herr Gerold! Ich wünsche aus den verschiedensten Gründen Sie viel lieber in Wien als hier zu wissen.«

Der Sänger fragte nicht nach diesen Gründen; sie waren ihm beinahe gleichgültig, denn er setzte nur noch geringe Hoffnungen auf Meussis Bemühungen, ja er glaubte nicht einmal an den Ernst seiner Absichten. »Wahrscheinlich werde ich nichts mehr von ihm hören,« dachte er, als Meussi gegangen war.

Seinen Rat befolgte er doch und sandte noch in derselben Stunde die Depesche ab, deren Inhalt ihn für eine Reihe von Konzerten in Wien verpflichtete. Er tat es mit schwerem Herzen, denn er hätte sich viel lieber in die tiefste Einsamkeit geflüchtet. Jetzt erst fühlte er ja mit voller Deutlichkeit, daß die Hoffnung auf eine späte Verwirklichung seines ersten köstlichen Liebestraumes während dieser letzten Jahre die treibende Kraft in seinem Leben gewesen war. Mit der Gewißheit, daß ihm die Jugendgeliebte auf ewig verloren sei, fühlte er gleichsam den Boden unter seinen Füßen schwinden, und er wollte daran verzweifeln, daß es ihm je gelingen werde, in seiner Brust wieder jene heilige Flamme der Begeisterung anzufachen, ohne die sich kein Talent zu wahrer und großer Künstlerschaft erheben kann.

*

Winfried Gerold stand nun doch wieder auf dem Konzertpodium und sah Hunderte von Gesichtern eines gewählten Hörerkreises erwartungsvoll auf sich gerichtet. Schon der Anblick einer solchen Zuhörerschaft hatte sonst belebend und anfeuernd auf ihn gewirkt. Heute aber riß ihn nichts aus seiner Niedergeschlagenheit empor. In den wenigen Tagen seines Wiener Aufenthalts war es ihm zu Ohren gekommen, daß Nachrichten von seiner Verwicklung in den geheimnisvoll gebliebenen Mord auch hierher gedrungen waren, und er konnte die peinliche Empfindung nicht überwinden, daß ein Teil der Menschen, die den Saal füllten, lediglich durch widerwärtigste Neugier angelockt worden war. Er kam sich wie ein lebendiges Schaustück vor. Das brachte ihn um Stimmung und Sicherheit. Im Vortrag seiner ersten Lieder offenbarte sich nichts von der tiefen inneren Beseelung und dem hinreißenden Temperament, das ihm sonst eigen war. Nichts als der metallische Wohllaut der Stimme schien ihm geblieben, und die ungewohnte Lauheit des Beifalls ließ ihm keinen Zweifel an der Enttäuschung der Hörer.

Die Erkenntnis des drohenden Mißerfolgs weckte in ihm eine Regung des Trotzes. Hatten diese Menschen denn überhaupt einen Anspruch darauf, daß er ihnen die Tiefen seiner Seele erschloß? War es denn nicht schon genug, wenn sie sich überzeugen konnten, wie einer aussieht und sich benimmt, auf dem durch vierundzwanzig Stunden der Verdacht geruht, ein Mörder zu sein, und der nach ihrer Meinung vielleicht noch immer nicht als völlig unschuldig anzusehen war? Lohnte es der Mühe, diesen Leuten zu beweisen, daß dieser Verdächtige ein begnadeter Künstler sei?

Nein, mochte er damit auch seinen Sängerruhm aufs Spiel setzen, er spürte keinen Drang, ihnen das Beste zu geben. Kein innerliches Band verknüpfte ihn mit diesen Neugierigen; sie mochten sich genügen lassen an dem, was er ihnen an äußerlicher Fertigkeit bieten konnte.

Die nächste Programmnummer war Löwes Olufballade, das Hohelied der bis in den Tod getreuen Liebe, die jeder Lockung, jeder Versuchung widersteht. Es war eines seiner Lieblingslieder; heute aber setzte er gleichgültig ein:

»Herr Oluf reitet spät und weit,
Zu bieten auf seine Hochzeitsleut ...«

Während er sang, streifte sein gleichgültiger Blick über die Hörer der ersten Sesselreihe; unwillkürlich blieb er an einer Erscheinung, einem Gesicht haften. Es war ein Frauenantlitz von seltsam fremdartiger Schönheit. Aber nicht um seiner dunklen, rassigen Schönheit willen hielt es den Blick des Sängers fest; was ihn fesselte, war die andächtige, fast verzückte Hingabe, die sich in den Gesichtszügen und in den Augen des jungen Weibes zu spiegeln schien. Ein geheimnisvoller Strom des Verstehens, seelischen Verbundenseins drang fast körperlich fühlbar auf ihn ein, und er begann mit einem Male mit lebendiger Kraft zu singen:

Da tanzten die Elfen am grünen Strand.
Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand:
»Tritt näher, Herr Oluf, komm, tanze mit mir;
Zwei silberne Sporen schenke ich dir.«

Die Hörer lauschten gespannt; jetzt erkannten fast alle, die ihn schon früher gehört hatten, den gefeierten Sänger wieder; und die ihn zum erstenmal vernahmen, begriffen die begeisterte Verehrung und die Anerkennung, die ihm vorausgegangen war.

Gerold verwandte seinen Blick nicht mehr von dem feinen Oval des ausdrucksvollen Frauenantlitzes, das ihm regungslos zugekehrt blieb; er glaubte in ihm alle Regungen einer Seele zu lesen, die der schlichten kleinen Tragödie vom getreuen Herrn Oluf mit innigster Anteilnahme folgte, und er setzte, getrieben von innerstem Zwang, seine herrlichsten Mittel ein, um die ergreifende Ballade mit blutwarmem Leben zu erfüllen. – –

»Die Braut hob auf den Scharlach rot;
Da lag Herr Oluf und war tot.«

Atemlose Stille herrschte im Saale, auch dann noch, als das Nachspiel des Begleiters am Flügel verklungen war. Gleichzeitig von allen Seiten her brach ein Sturm des Beifalls los. Nur die Dame im schwarzen Samtkleide klatschte nicht. Sie hielt ihren kleinen entfalteten Schildpattfächer vor das Gesicht. Erst als Gerold zum zweitenmal dankend auf dem Podium erschien, begegnete er wieder dem vollen Blick der glänzenden dunklen Augen.

Nicht die Erinnerung an den begeisterten Beifall, sondern nur den unauslöschlichen Eindruck an diesen Blick nahm er mit in das Künstlerzimmer hinüber, darin er sich jetzt, während des Vortrags einer Klaviernummer, eine viertelstündige Erholung gönnen durfte.

Er war tief bewegt, ohne den Grund dieser Erregung klar zu erkennen. Zum erstenmal seit seiner Trennung von Hilde war es geschehen, daß ein weibliches Wesen ihn um die Ruhe seines Herzens gebracht; eine Fremde, von der er nichts weiter wußte, als daß sie körperlich schön war und ihm mit unverhehlter Hingebung gelauscht hatte.

Von seiner Kunst bezauberte Frauen, die ihn während der letzten Jahre umschwärmt und umschmeichelt, hatte er viele kennen gelernt, ohne daß er in ihrer Nähe je die tiefe Unruhe empfunden hätte, die ihn jetzt erfüllte. Er wünschte zu erfahren, wer sie sei; doch war er überzeugt, daß er nicht das geringste unternehmen würde, es zu erfahren. Er dachte nicht daran, daß seine Empfindung eine erste Aufwallung von Verliebtheit sein könnte; er nahm diesen befremdlichen Zustand für eine ihm selber unbegreifliche Regung, die ebenso rasch wieder verschwinden würde, wie sie gekommen war.

Da wurde an die Tür geklopft, und einer der Saaldiener brachte ihm eine Karte.

»Doktor Gregor Basaroff« stand darauf gedruckt, und darunter in unsicheren, schwer leserlichen Bleistiftzügen: »bittet Herrn Winfried Gerold dringend um einige Augenblicke Gehör.«

Der Sänger wollte mit einer höflichen Abweisung antworten; aber der Saaldiener fühlte sich veranlaßt zu sagen: »Es sind der Herr und die Dame, die in der Mitte der ersten Reihe saßen; die Dame trägt ein schwarzes Samtkleid.«

Heiß schoß es Gerold zum Herzen; er erwiderte rasch: »Ich lasse bitten.«

Er war erstaunt, daß sie nicht sofort eintraten; aber als sie dann auf der Schwelle standen, begriff er die Ursache der Verzögerung. Der mittelgroße hagere Herr, der sich als Doktor Gregor Basaroff hatte anmelden lassen, war ein bedauernswerter Krüppel. Halb auf den Arm seiner schönen, hochgewachsenen Begleiterin und halb auf die Elfenbeinkrücke eines Stockes gestützt, konnte er sich nur langsam bewegen. Aufatmend ließ er sich in den mit einem leisen Dankeswort angenommenen Sessel sinken, den ihm der Sänger rasch zugeschoben.

Doktor Basaroff hatte das schmale, wachsbleiche Gesicht eines kranken Vierzigers; ein kluges, vornehmes Antlitz, das Gerold vorhin ebensosehr wegen seiner sympathischen Züge als wegen seines leidenden Ausdrucks aufgefallen war. Aber er hatte da nur an eine zufällige Nachbarschaft, nicht an eine Zusammengehörigkeit des hinfälligen Mannes und der lebensprühenden Schönheit an seiner Seite geglaubt. Sie jetzt mit unverkennbar zärtlicher Fürsorge um ihn bemüht zu sehen, verursachte ihm im ersten Augenblick eine fast peinliche Empfindung.

»Verzeihen Sie, mein Herr, wenn meine Zudringlichkeit Sie um kostbare Minuten der Erholung bringt,« begann Basaroff mit leiser, angenehm klingender Stimme und in fließendem Deutsch, das in kaum merklichen fremdartigen Anklängen den Ausländer erkennen ließ. »Meines etwas angegriffenen Zustandes wegen werde ich das Konzert leider schon jetzt verlassen müssen; es war uns Bedürfnis, Ihnen für den erlesenen künstlerischen Genuß zu danken, den Sie uns bereitet haben. – Gestatten Sie, daß ich Sie mit meiner Verwandten bekannt mache: Frau Hala Stablewska.«

Sie erschien Gerold jetzt, da er sie in unmittelbarer Nähe vor sich sah, nicht mehr so fehlerlos schön als vorhin im Saale; aber ihre Augen hatten nichts von dem eigenartigen Zauber verloren. Als sie ihm auf seine Verbeugung hin ihre Hand reichte, war er entzückt von der Weiße und Schönheit der schlanken Finger.

»Auch ich weiß die Ehre zu schätzen, Ihnen persönlich danken zu dürfen, Herr Gerold! Nie ergriff mich ein Gesang so tief.«

Nahe daran, ihr zu sagen, wie groß ihr eigener Anteil an dieser Wirkung gewesen, fand er doch die Worte nicht, die seine Erwiderung zu mehr als einer plumpen Schmeichelei gemacht hätten, und er begnügte sich darum, nachdem er ihre Hand flüchtig mit den Lippen berührt, mit einer stummen Verneigung.

»Sie sehen, daß ich nicht sehr gut auf den Füßen bin,« fuhr Doktor Basaroff mit einem wehmütig liebenswürdigen Lächeln fort. »Seit Monaten besuchte ich deshalb keine öffentliche Vergnügungstätte mehr. Es war der Klang Ihres Namens, der mich heute dazu bestimmte. Aber ich fühle, daß ich meine Kräfte überschätzt habe, und ich werde ihn nicht so bald wiederholen können. Das ist sehr schmerzlich für mich, aber es gibt mir doch den Mut zu einer großen –einer sehr großen Bitte.«

»Wenn es in meiner Macht steht, sie zu erfüllen, Herr Doktor …«

Gerold hatte beobachtet, daß Frau Hala Stablewska in gespannter Erwartung ihren Begleiter angesehen, und er fühlte, daß die Bitte Basaroffs auch die ihrige war.

»Es ist sehr unbescheiden,« klang die leise, weiche Stimme weiter. »Sie sind gewiß durch glänzende Geselligkeit verwöhnt, und wenn ich Sie jetzt einlade, uns die Ehre Ihres Besuches zu schenken, so kann ich Ihnen gewiß nichts Ähnliches bieten. Mein Befinden und meine Lebensgewohnheiten gestatten mir leider nicht, Gastlichkeit in größerem Sinne zu üben. Ich fürchte sehr, daß Sie wenig geneigt sein werden, diesen oder jenen Ihrer vielumworbenen Abende einem kränklichen Verehrer Ihrer Kunst und einer einzelnen gleichgestimmten Dame zu opfern.«

Winfried Gerold wunderte sich über sich selbst, daß ihm ohne Zögern und Überlegen die Antwort von den Lippen kam: »Es wäre mir unmöglich, einer so liebenswürdigen Aufforderung zu widerstehen, zumal ich durchaus kein Freund geräuschvoller Geselligkeit bin.«

Doktor Basaroff freute sich aufrichtig.

»Sie sind sehr gütig. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Zusage. Sie finden die Angabe meiner Wohnung auf der Karte, die ich Ihnen überreichen ließ, und ich bitte Sie, nach Ihrer Bequemlichkeit einen Abend zu bestimmen, den Sie uns schenken wollen.«

Gerold erwiderte, daß er während der nächsten fünf Tage Herr seiner Zeit sei, und sie setzten den übernächsten Abend für seinen Besuch fest. Dann erhob sich Doktor Basaroff mühsam und stützte sich auf den bereitwillig dargebotenen Arm der schönen Frau.

Noch einmal, ehe sie Gerold verließen, begegnete der Sänger ihrem Blick, der ihm mehr sagte als die beredtesten Dankesworte. In dem Aussehen und der Art dieser Frau war etwas Zwingendes gewesen, dem er nicht widerstehen konnte; etwas, das ihn mit dem Verlangen erfüllte, ihr nahe zu sein, wenn dieser Wunsch auch weit entfernt war von leidenschaftlichem Begehren. Er empfand keine Eifersucht gegen den Kranken, dessen Hausgenossin und Pflegerin sie zu sein schien; die flüchtige peinliche Empfindung von vorhin war rasch gewichen, und er redete sich ein, daß es ihm gleichgültig sein würde, auch wenn er hören würde, daß sie seine Frau oder seine Geliebte sei. Was ihn an Hala Stablewska reizte, war das seltsam Geheimnisvolle in ihrem Wesen, die verborgene Glut, die er unter der Hülle äußerer Beherrschtheit und Ruhe glimmen zu sehen meinte.

Er kehrte, als seine Zeit gekommen war, in den Konzertsaal zurück und sang schöner als je zuvor. Die beiden Plätze in der ersten Stuhlreihe waren leer; aber die Erinnerung an die dunklen Rätselaugen war ihm geblieben. Er sah sie immerfort vor sich, und alles andere verschwamm in nichts.

Als das Publikum am Schlusse des Konzerts nicht müde wurde, ihm zuzujubeln, lag ein fast mitleidiges Lächeln auf seinen Lippen. Waren es doch nicht diese gleichgültigen Menschen gewesen, um deren Beifall er gesungen.

*

Doktor Basaroffs Mietwohnung, die Gerold zwei Tage später betrat, war anscheinend nicht sehr geräumig; aber sie lag in einem Hause der teuersten Stadtgegend. Ein Diener ließ ihn ein, und der Hausherr erwartete ihn, auf seinen Stock gestützt, im ersten der hellerleuchteten Gemächer. Er sah leidender aus als bei der ersten Begegnung, und ab und zu ließ ein unwillkürliches Zucken seiner Gesichtsmuskeln verraten, daß er von Schmerzen gepeinigt werde. Die Liebenswürdigkeit seines Benehmens aber wurde dadurch nicht beeinträchtigt, und in seiner schwachen, leisen Stimme lag ein Klang von Wärme und Herzlichkeit, der Gerold angenehm berührte.

Frau Stablewska war zunächst nicht anwesend, und Basaroff entschuldigte sie, wie wenn er den Besucher wegen ihres Fernseins tun Verzeihung zu bitten hätte.

»Mein Hauswesen ist, wie Sie sehen, nur klein, aber alle seine Lasten ruhen, ohne daß ich es hindern kann, auf den Schultern meiner Verwandten. Und nicht nur diese Lasten allein, sondern auch die, die meine schlechte Gesundheit ihr auferlegt. Eben jetzt spricht sie wieder mit dem Arzt, der mich vorhin besuchte, und ich bin es gewöhnt, daß diese Unterredungen sich sehr lang ausdehnen. Darum muß ich Sie bitten, einstweilen mit mir vorlieb zu nehmen.«

Als sich das Gespräch Gerolds Kunst zuwandte, überraschten ihn das feine Verständnis und die geistreiche Betrachtungsweise Basaroffs. Die Beweglichkeit seines Geistes ließ den Sänger die körperliche Gebrechlichkeit seines Wirtes sehr bald vergessen. Immer lebhafter fühlte er sich zu diesem klugen Manne hingezogen, und er würde es kaum noch als schwere Enttäuschung empfunden haben, wenn er auf ein Wiedersehen mit seiner schönen Hausgenossin gänzlich hätte verzichten müssen.

Als sie dann erschien, wirkte sie jedoch wieder mit dem zuerst gefühlten Zauber auf ihn ein. Sie gab sich dem Gaste in unbefangenster Heiterkeit; aber so bezaubernd auch dieser gehaltene Frohmut sein mochte, Gerold verlor doch die Empfindung nicht, daß sie nur Maske sei; ihre Lippen lächelten wohl, aber ihre Augen konnten nicht lachen, es blieb in ihnen immer etwas von dem trüben Schimmer einer schwärmerischen Traurigkeit. Und wenn es zuweilen heißer in ihnen aufleuchtete, glaubte der Sänger wieder einen aufspringenden Funken jener verborgenen Glut zu sehen, an deren Vorhandensein ihn die leichte, tändelnde Anmut ihres Wesens nicht irre machen konnte.

Sie plauderten eine Weile; dann, als das Gespräch auf russische Volkslieder kam, erbot sich Frau Stablewska, ihm einige wenig bekannte Weisen vorzuspielen, und sie begaben sich in das anstoßende Musikzimmer, in dem ein wertvoller Flügel stand. Ohne ungewöhnliche technische Fertigkeit, aber mit tiefer seelischer Empfindung spielte die junge Frau einige schwermütige Melodien; dann sah sie den Sänger bittend an, und er verstand ohne Worte, was sie von ihm begehrte. Als sei es selbstverständlich, setzte er sich vor das Instrument und sang, sich selbst begleitend, einige seiner schönsten, innigsten Lieder. Nach dem dritten fühlte er Doktor Basaroffs schmale, abgezehrte Hand auf seiner Schulter.

»Ich gerate immer tiefer in Ihre Schuld, Herr Gerold! Und ich kann sie wohl kaum abtragen, denn die Freundschaft eines kranken, zur Einsamkeit verurteilten Mannes kann Ihnen kaum Lohn bieten.«

Seine tiefbewegt zitternde Stimme griff Gerold so rührend ans Herz, daß er sich erhob und die magere, kraftlose Rechte Basaroffs fest zwischen seine beiden Hände nahm.

»Solange ich in Wien bleibe, dürfen Sie jederzeit über mich verfügen, Herr Doktor! Es wird mir immer eine seltene Freude sein, Sie mit meinem Gesang zu unterhalten.«

Die Türvorhänge wurden zurückgeschlagen, und der Diener meldete, das Abendessen sei angerichtet. Der für drei Personen gedeckte runde Tisch war mit Blumen fast überreich geschmückt, und gute Weine würzten das Mahl.

Die Unterhaltung aber war trotzdem jetzt weniger lebhaft als zuvor. Frau Hala schien zerstreut, und auch Doktor Basaroff, der offenbar nur aus Höflichkeit von den Speisen nahm, versank zuweilen in stummes Sinnen.

Gerold konnte darüber nicht klar werden, in welchem Verhältnis diese beiden Menschen zueinander standen. Daß sie sich duzten und mit dem Vornamen anredeten, war durch ihre Verwandtschaft erklärt; aber der Sänger glaubte aus kleinen Beobachtungen doch auf andere als nur verwandtschaftliche Beziehungen zwischen ihnen schließen zu dürfen. In dem Benehmen Basaroffs gegen die schöne Frau gewahrte er zu viel verhaltene Zärtlichkeit, und in der Art, wie sie ihn bediente, manches, was nur möglich sein konnte durch Gewohnheiten eines vertrauteren Umgangs. Er beobachtete es ohne Eifersucht, doch mit der geschärften Aufmerksamkeit eines nicht völlig Unbeteiligten und gewann dabei Eindrücke, die ihn rätselhaft anmuteten.

Wenn zwischen beiden wirklich ein Liebesverhältnis bestand, so waren es jedenfalls Beziehungen von eigener Art, denn es gab in flüchtigen Sekunden schwer deutbare Bewegungen oder Blicke, die er auffing, und aus denen er in unklarer Weise den Schluß zog, zwischen zwei Feinden zu sitzen; Augenblicke, wo ein leicht und unabsichtlich geäußertes, scheinbar unverfängliches Wort blitzartige Wandlungen im Gesichtsausdruck der beiden hervorrief. Dann konnten Frau Halas Augen seltsam aufleuchten, und in die feinen Züge des Doktors trat ein Ausdruck tiefer Qual. Es waren an sich geringfügig scheinende Wandlungen, die jäh entstanden, um rasch wieder zu verschwinden; aber sie wiederholten sich zu oft, als daß Gerold glauben konnte, sich getäuscht zu haben.

Jede dieser Wahrnehmungen berührte ihn peinlich und reizte ihn doch, dem phantastischen Bilde, das er sich von Frau Hala Stablewska gemacht, immer neue Züge zuzudichten. Es schien ihm unmöglich, daß in der Umgebung dieser Frau Friede und ungetrübtes Behagen möglich sein konnte; keine scheinbare Ruhe vermochte ihn darüber hinwegzutäuschen, daß ihr eigentliches Lebenselement die Stürme der Leidenschaft seien.

Als der Diener den Herren Zigarren gereicht und Frau Hala ein paar Züge aus ihrer Zigarette getan hatte, zog sie sich mit einer Entschuldigung zurück. Als sie gegangen war, entstand eine kleine Pause, bis Doktor Basaroff unvermittelt begann:

»Sie halten mich hoffentlich nicht für taktlos und unbescheiden, wenn ich über einen Ihnen unerfreulichen Vorgang zu sprechen wage. Die Zurückgezogenheit, zu der ich durch mein Leiden genötigt bin, brachte mich auf allerlei sonderbare Grübeleien, unter anderem beschäftige ich mich mit dem Studium interessanter Kriminalfälle. Es gibt ein Alter, in dem uns die besten Romane nichts mehr sagen. Und doch ist nichts merkwürdiger als der Mensch mit all seinen dunklen Seiten, die sich im leidenschaftlich erfüllten Gemütsleben offenbaren. Das ist der Grund, weshalb ich mich gerne mit aktenmäßigen Darstellungen von Kriminalfällen beschäftige, mit denen keine dichterische Kraft sich an Spannung messen kann. Nun las ich kürzlich in den Zeitungen, daß Sie schuldlos in einen solchen Fall verwickelt wurden. Möchten Sie mir nicht, vorausgesetzt, daß es Ihnen nicht unangenehm ist, einiges davon erzählen?«

Doktor Basaroff sprach leise, beinahe flüsternd. Gerold achtete kaum darauf, denn er war im ersten Augenblick von lebhaftem Unbehagen erfüllt, das die unerwartete Bitte in ihm hervorgerufen. Sollte auch hinter aller Herzlichkeit, die man hier ihm entgegengebracht, auch nur Neugier verborgen sein? Diesmal hätte ihn die Wahrheit dieser Vermutung empfindlicher getroffen als in jedem anderen Fall.

Unwillkürlich faltete sich seine Stirne, während er seinen Gastgeber ansah; aber die offenbar hilflose Schüchternheit in Basaroffs Gesicht entwaffnete seinen Unwillen. Dieser Mann konnte nicht gelogen haben, als er ihm vorhin so rührend für seine Lieder gedankt; gewiß gab ihm nur die freundliche Aufnahme dieses Dankes den Mut, nun auch noch die Erfüllung dieses weiteren, aus rein menschlicher Anteilnahme gebotenen Wunsches von ihm zu erwarten.

»Sie sagten schon, Herr Doktor, daß ich ohne Schuld in jenen Kriminalfall verwickelt worden bin; es war durch Zufall geschehen. Mir blieb dieser Mord so fremd und unerklärlich wie jedem anderen.«

Basaroff erwiderte rasch: »Ich weiß – ich weiß; ich habe das aus den Zeitungen entnommen. Als Sie die Dame aufsuchen wollten, die später ermordet wurde, hielten Sie sie für eine andere. Sie könnten indes gewiß über Einzelheiten des Falles berichten. Vielleicht haben Sie die Ermordete gesehen?«

»Ja. Denn erst nachdem ich sie gesehen hatte, konnte ich aussprechen, daß sie, nach allen Begleitumständen zu schließen, eine Betrügerin gewesen sein mußte.«

»Eine Betrügerin, sagen Sie? Sie werden Ihre Gründe haben, sie so zu nennen, obgleich man erst genau wissen müßte, wie die Zusammenhänge liegen, um die Tote zu verdammen. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß es bei allem menschlichen Tun allein nur auf die Ermittlung der wahren Beweggründe ankommt?«

»Gewiß! Nur kann ich in diesem Fall nicht an entschuldbare Anlässe glauben. Ich vermute als Gründe sogar die allerschlechtesten Motive.«

»Haben Sie Beweise dafür? Sie behaupten, diese Unglückliche sei eine Betrügerin gewesen; vielleicht war es die einzige Unwahrhaftigkeit ihres ganzen Lebens, daß sie einen fremden Namen führte. Würden Sie für den Fall, daß dies so wäre, sie auch dann noch für eine Verworfene halten?«

»Um darauf antworten zu können, müßte ich wissen, was aus der berechtigten Trägerin jenes angenommenen Namens geworden ist. Das ist für mich der einzige Umstand, der an der Ermordung der falschen Hilde Wörner für mich bedeutsam ist.«

»Ich begreife es,« murmelte Basaroff. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Sie haben die Leiche gesehen? – Sie war sehr entstellt –nicht wahr?«

»Nein. Sie glich einer ruhig Schlafenden. Die Ärzte meinten, daß ihr das Verbrechen, dem sie zum Opfer fiel, kaum mehr zum Bewußtsein gekommen ist, denn der Tod müsse fast unmittelbar dem Dolchstoß gefolgt sein.«

Basaroff strich sieh mit der Hand über die Stirn.

»Es muß schrecklich gewesen sein. Ich sah in meinem Leben viel Schreckliches. Und doch erschüttert mich die bloße Vorstellung, wenn ich daran denke. Ein Weib! Eine einsame, verlassene, schutzlose Frau! Und wie wurde sie getötet? Durch einen Dolchstoß, sagen Sie.«

»Ja. Durch einen Stich mit einem schmalen, spitzen Stilett.«

»Man fand es nicht bei der Unglücklichen?«

»Nein. Ich erinnere mich nicht, daß man die Waffe gefunden hätte.«

»Und es besteht kein Verdacht? Man fand keine Spur? Vielleicht gab man es auf, nach dem Mörder zu suchen. Es ist grauenvoll, denken zu müssen, daß irgend eine Tat ohne Sühne bleiben soll.«

»Das ist wohl nicht zu fürchten. So leicht gibt sich bei uns die Justiz nicht zufrieden; ich hoffe zuversichtlich, daß es ihr gelingen wird, den Schuldigen zu finden.«

»Er wird seiner Strafe nicht entgehen –glauben Sie mir, Herr Gerold! – auch wenn die irdische Gerechtigkeit ihn nie ereilt. Es liegt eine große, tiefe Wahrheit in dem alten Mythos von den rächenden Erinnyen; sie sind für den Mörder schrecklicher als Zuchthaus und Schafott.«

Als Gerold das bleiche Gesicht des kranken Mannes betrachtete, fühlte er sich besorgt für ihn, den der Gedanke an ein ungesühntes Verbrechen, dessen Opfer er nicht kannte, so ergriff. Er sagte: »Wir sollten nicht über so düstere Dinge reden, Herr Doktor! Konnte ich ahnen, daß Sie an dem Tode dieser Unbekannten so tiefen Anteil nehmen …«

Doktor Basaroff suchte seine Fassung wieder zu gewinnen. »Sie haben recht, ich danke Ihnen für diese Mahnung,« sagte er mit gezwungenem Lächeln. »Wir sollten nicht weiter davon reden! – Möchten Sie sich nicht bedienen, Herr Gerold?«

Artig schob er dem Sänger das Zigarrenkästchen zu. Nach Gerolds Empfinden trat im rechten Augenblick Frau Hala wieder ins Zimmer. Ihr erster Blick galt Basaroff; mit einigen raschen Schritten trat sie an seine Seite und sagte mit sanftem Vorwurf: »Du hättest nicht von dem Burgunder nehmen sollen, Gregor. Gewiß leidest du jetzt wieder Schmerzen.«

Er bestritt es mit freundlicher Entschiedenheit; Gerold glaubte trotzdem den geeigneten Augenblick für seine Verabschiedung gekommen. Sie war von seiten seines Wirtes ebenso herzlich wie der Empfang. Nur der eindringliche Widerspruch des Gastes konnte Basaroff daran hindern, ihn bis an die Ausgangstür der Wohnung zu begleiten. Statt seiner geleitete ihn Frau Hala. Als der Diener, der ihm beim Anlegen des Überrockes behilflich gewesen war, sich zurückgezogen hatte, sagte sie:

»Sie haben durch Ihr Kommen ein viel größeres Liebeswerk getan, als Sie ahnen können. Ich danke Ihnen von Herzen. Auch dann, wenn Sie es, wie ich fürchte, nicht über sich gewinnen können, Ihren Besuch zu wiederholen.«

»Warum nicht? Ich versprach Herrn Doktor Basaroff, wieder zu kommen.«

In einer Aufwallung heißen Dankes bot sie ihm ihre Hand: »Sie werden Ihr Versprechen halten? Wie gut ist das! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich darüber freue.«

»Sie beschämen mich, Frau Stablewska! Nur die Befürchtung, meine Besuche könnten ungünstig auf den Gesundheitszustand Ihres Verwandten wirken, bereitet mir Unruhe.«

»Gerade das Gegenteil ist der Fall. Sein Zustand ist nicht so, daß er durch irgend eine Ablenkung oder Zerstreuung verschlimmert werden kann. Er leidet unter seiner Vereinsamung viel mehr, als es ihm selber bewußt ist. Darunter leide auch ich. Daß Sie auch mir durch Ihr Kommen ein Vergnügen bereiten, soll für Sie jedoch nicht bestimmend sein. Aber es ist hoffentlich kein Grund, der Sie zum Fernbleiben veranlassen könnte.«

»Verfügen Sie über mich, gnädige Frau! So oft Sie es wünschen, werde ich kommen.«

Ihr Händedruck war so fest, daß es von ihm wie ein Glutstrom ausging, der heiß zu Gerolds Herzen drang. Verwirrt verließ er das Haus. In seinem Ohre klang unablässig die immer wiederholte standhafte Antwort des treuen Ritters Oluf wieder:

»Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag;
Denn morgen ist mein Hochzeitstag«

Und in seinem Herzen klagte eine Stimme, die ihn strafte, als hätte er der in unbekannte Fernen entrückten Jugendgeliebten die Treue gebrochen.

*

»Ja, da bin ich wieder,« sagte Doktor Ralph Meussi, als er am nächsten Tage unvermutet in Gerolds Zimmer trat. »Schneller, als Sie vermuten konnten. Ich bin kein Freund von Zeitvergeudung, und in Zürich fand ich vorläufig nichts mehr zu tun.«

»Sie haben nichts erfahren?«

»Einen kleinen Schritt glaube ich weiter gekommen zu sein. Sagten Sie nicht, Hilde Wörners Vater sei reich gewesen?«

»Seiner Lebensführung nach ohne Zweifel.«

»Es kann sein, daß er zu Ihrer Zeit noch reich war, oder daß er den Schein aufrechthielt. Als er starb, war er so gut wie bankrott.«

»Ist das möglich?«

»Meine Auskünfte sind sicher. Sein Nachlaß bestand in beträchtlichen Schulden. Sogar auf die Möbel wurde nach seinem Tode von einigen Gläubigern Hand gelegt.«

»Arme Hilde! Wie schwer mag sie gelitten haben! Und vielleicht war kein Mensch um sie, der sich ihrer annahm?«

»Es muß doch jemand dagewesen sein, denn einige Wochen nach dem Begräbnis ordnete Fräulein Wörner alle Verbindlichkeiten ihres verstorbenen Vaters – es handelte sich um Tausende – und löste auch die gepfändete Wohnungseinrichtung aus. Woher konnte sie diese Summe erhalten haben? Einem alleinstehenden jungen Mädchen fällt es sonst nicht leicht, solche Summen aufzubringen.«

»Jedenfalls kam sie auf rechtschaffene Weise dazu.«

Meussi überging diese Erwiderung: »Ich bemühte mich, Näheres über die Leute zu erfahren, mit denen sie während der letzten Lebenszeit ihres Vaters und nach seinem Tode verkehrte. Ob ich dadurch auf eine richtige Spur geführt worden bin, läßt sich noch nicht beurteilen, ich halte es nicht für unmöglich. Übrigens – Sie sehen heute besser aus als bei unserem letzten Zusammensein. Die Wiener Luft scheint Ihnen gut zu bekommen.«

»Davon verspüre ich nichts. Jedenfalls ist es mir noch immer unerwünscht, mich unter Menschen zu mischen.«

»Sie pflegen keinen Verkehr?«

»So gut wie keinen. Weshalb fragen Sie übrigens danach?«

»Ich hoffte, daß Sie mir nützlich sein könnten. Ein beliebter Künstler knüpft leicht gesellschaftliche Beziehungen an, und daran wäre mir viel gelegen. Hier leben viele Russen, und ich möchte gerne und möglichst unauffällig Fühlung gewinnen mit diesen Kreisen. Ich nahm an, Sie könnten mich in das eine oder das andere Haus einführen, wo solche Leute verkehren.«

Gerold erwiderte: »Es trifft sich sonderbar – doch nein, das ist jedenfalls nichts, was für Sie in Betracht käme.«

»Haben Sie hier vielleicht doch schon Russen kennen gelernt?«

»Ich war gestern abend Gast eines Doktor Gregor Basaroff.«

»Kannten Sie den Herrn schon früher?«.

»Nein. Er hörte mich singen und suchte mich während einer Pause auf, um mich in sein Haus einzuladen. Da er krank und halb gelähmt ist, nahm ich die Einladung an, um ihm eine kleine Freude zu bereiten.«

»Wissen Sie Näheres über diesen Doktor Basaroff?«

»Er lebt sehr zurückgezogen mit einer Verwandten, einer Frau Hala Stablewska.«

»Stablewski? Das war ein Verschwörer, der vor Jahren als Mitschuldiger an einem Attentat in Petersburg hingerichtet wurde. Sollte diese Frau Stablewska seine Witwe sein?«

»Darüber kann ich nichts sagen. Doktor Basaroff ist ein feiner, stiller Mann, der sich politisch kaum betätigt.«

»Wie es scheint, kennen Sie ihn doch schon näher?«

»Bis jetzt verbrachte ich nur ein paar Stunden in seiner Gesellschaft; wir sprachen kein Wort über Politik. Er scheint sich für Kriminalistik zu interessieren. Was Sie suchen, würden Sie in diesem Hause kaum finden.«

»Jedenfalls wäre es ein Anfang, um weitere Bekanntschaften machen zu können. Wollen Sie mich bei Doktor Basaroff einführen?«

»Das dürfte kaum möglich sein, denn er sagte mir, er sei kein Freund der Geselligkeit. Meine Beziehungen zu ihm sind so lose, daß ich nicht ohne weiteres jemand bei ihm einführen könnte.«

»Sie unterschätzen die russische Gastfreundschaft. – Wenn Sie mich auch nicht als Detektiv vorstellen dürften, könnten Sie ihm doch sagen, daß meine Liebhabereien mit den seinigen übereinstimmen. Ich würde mit ihm soviel über kriminelle Vorfälle sprechen können, daß er Ihnen aus meiner Einführung gewiß keinen Vorwurf machen würde.«

»Weshalb liegt Ihnen soviel daran?«

»Die Bekanntschaft mit ihm soll mir helfen, weitere Beziehungen anzuknüpfen. Gebildete Russen, die im Ausland leben, stehen mehr oder weniger alle miteinander in Verbindung.«

»Ich kann Sie nicht einführen, ohne vorher bei ihm anzufragen,« sagte Gerold zögernd. »Doktor Basaroff und seine Verwandte nahmen mich so liebenswürdig auf, daß ich keinen Verstoß gegen gesellschaftliches Herkommen begehen darf.«

»So fragen Sie zuvor an. Nennen Sie mich Ihren Jugendfreund und alten Schulkameraden; verbürgen Sie sich gesellschaftlich für mich. Alles weitere soll meine Sache sein.«

Gerold fand keinen Vorwand zur Ablehnung mehr und schrieb an Doktor Basaroff. Am nächsten Morgen erhielt er Antwort.

»Verehrter Herr Gerold!

Doktor Basaroff wird sehr erfreut sein, Ihren Freund kennen zu lernen, und läßt Ihnen herzlich Dank sagen für Ihre gute Absicht, seine Einsamkeit zu beleben. Ich hoffe, Sie und Ihr Freund, den auch ich aufrichtig willkommen heiße, werden mir den kleinen Wink nicht verübeln, wenn ich erkläre, daß bei Gesprächen über aufregende Kriminalfälle Vorsicht geboten ist. Gregors lebhafte Einbildungskraft reißt ihn zuweilen weiter fort, als für seinen Zustand ratsam sein dürfte. Ist Ihr Freund vielleicht Schachspieler? Gregor sehnt sich schon seit langem nach einem Partner, der ich leider nicht sein kann, weil es mir zum Spiel an der nötigen Ruhe fehlt.

Wir erwarten Sie morgen, und zwar – wenn es mir erlaubt ist, es auszusprechen – mit wahrer Freude.

Ihre Hala Stablewska.«

Gerold gab Meussi den Brief, der, ihn nach flüchtiger Durchsicht zurückreichend, gleichgültig sagte: »Wenn es nichts nützt, so kann es doch auch nichts schaden. Sollte diese Frau die Witwe Stablewskis sein, dann ist sie gewiß eine nicht gewöhnliche Frau.« –

 

Wenn Gerold der Aufnahme Meussis in Basaroffs Haus nicht unbesorgt entgegengesehen hatte, so mußte der Verlauf der Dinge ihn bald beruhigen, denn der einstige Schulfreund übertraf ihn an weltmännischer Gewandtheit und an taktvoller Beherrschtheit des Benehmens. Er fand sofort den richtigen Ton, sowohl dem Kranken als auch seiner schönen Verwandten gegenüber. Basaroff nahm sogleich aufrichtiges Gefallen an ihm.

Der Beginn des Abends verlief fast genau so wie bei Gerolds erstem Besuch; man plauderte unverfänglich über künstlerische Dinge. Gerold sang einige Lieder, und man vereinigte sich an dem blumengeschmückten runden Tische zum Abendessen. Dann brachte Meussi die Rede auf das königliche Spiel, und es währte nicht lange, bis auf freundliches Zureden der beiden anderen der Doktor und Meussi beim Schachspiel saßen.

Gerold, der selbst nicht spielte, unterhielt sich mit Frau Stablewska, und sie bot ihm keinen Anlaß, es zu bedauern. Auf seine Bitte erklärte sie sich bereit, im anstoßenden Musikzimmer noch einige slawische Volksweisen vorzuspielen, von denen sie sehr viele im Gedächtnis zu haben schien. Als sie nach einer Weile die schlanken Hände auf den Tasten ruhen ließ, kamen sie bald in eine lebhafte, fast vertrauliche Unterhaltung.

»Ihr Freund ist ein sehr angenehmer Gesellschafter,« sagte Frau Hala. »Ist es unbescheiden, nach seinem Beruf zu fragen?«

Gerold erwiderte ausweichend: »Er ist wohlhabend und befaßt sich aus Liebhaberei mit allerlei Studien.«

»Besonders mit kriminalistischen, wie aus Ihrem Briefe hervorging. Ich verstehe diese Neigung kaum zu würdigen.«

»Die er aber mit Ihrem Verwandten teilt.«

»Gewiß, es verhält sich so, aber ich sehe es nicht gern, wenn man ihn darin unterstützt.«

»Die Aufgabe, die Sie mit seiner Pflege auf sich genommen haben, ist gewiß nicht leicht. Ich bewundere Sie deshalb, gnädige Frau!«

»Überschätzen Sie mich nicht, es ist nichts Bewunderungswürdiges dabei. Ich bin vom Leben verwöhnt worden. Auf das große Glück, von dem alle Mädchen und viele junge Frauen träumen, warte ich vergebens.«

»Und doch gibt es nicht viele, die so begründeten Anspruch darauf erheben dürften.«

»Warum? Ich fühle mich nicht besser als tausend andere, und Sie haben keinen Beweis dafür, ob ich nicht noch weniger Anspruch an das Leben habe als Durchschnittsfrauen.«

»Es ist eine weise Einrichtung der Natur, daß sie jedem Menschen gewisse Beweise seines Wertes schon in seinem Äußern mit auf den Weg gibt.«

»Sehr hübsch gesagt und sicher sehr schmeichelhaft gemeint; aber Sie müssen mir gestatten, an der unbedingten Gemeingültigkeit dieses Satzes zu zweifeln. Ihr Freund wird Ihnen bestätigen können, daß es nicht immer häßliche, äußerlich abstoßende Menschen sind, die als Angeklagte vor den Gerichten stehen.«

»Wohin verirren wir uns!« sagte Gerold lächelnd. »Wir sprachen von Ihnen, und Sie ziehen Vergleiche mit den Helden und Heldinnen von Kriminalgeschichten. Wahrhaftig, das ist ein gar zu weiter Gedankensprung.«

»Die Liebhabereien der beiden Herren wirken, wie es scheint, ansteckend,« sagte sie lächelnd. »Jetzt fehlte nur noch, daß auch wir über Mordfälle plauderten, als ob es keinen angenehmeren Unterhaltungsstoff gäbe. Wie lange gedenken Sie noch hier zu bleiben, Herr Gerold?«

»Einige Wochen dürften noch darüber vergehen.«

»Das freut mich aufrichtig. Geben Sie acht, daß Ihnen die Wiener Damen nicht allzu gefährlich werden, ein paar Wochen sind Zeit genug, um die schönsten oder verhängnisvollsten Romane zu erleben.«

»Darüber bin ich beruhigt. Der einzige Roman meines Lebens liegt hinter mir; es war ein Alltagsroman der unschuldigsten Art.«

»Daß er der letzte gewesen sein sollte, daran glauben Sie doch nicht ernstlich. Wer sich so sicher fühlt, verstrickt sich gewöhnlich am leichtesten in den Schlingen des kleinen Gottes. Ich glaube übrigens nicht, daß Sie den Künsten einer Frau, die es ernstlich auf Sie abgesehen hat, lange widerstehen könnten. Oder sollten Sie wirklich etwas von Ihrem törichten Ritter Oluf in sich tragen?«

»Warum nennen Sie ihn töricht, Frau Hala? Ist Treue Torheit?«

»Zuweilen – ja. Unter allen Umständen aber dann, wenn sie keinem lebendigen Wesen, sondern einem Phantom gilt.«

Das klang fast, als sei sie über seine innersten Herzensangelegenheiten unterrichtet.

»Ein Wesen, das man nur zeitweilig verloren hat – das man früher oder später wiederzufinden hofft, ist kein Phantom.«

»Verzeihen Sie! Ich dachte nicht daran, mich in Ihre Geheimnisse zu drängen. Vielleicht sehen wir nach, wie weit die beiden Herren inzwischen mit ihrer Partie gekommen sind.«

Sie kamen eben dazu, als Basaroff die Figuren zusammenschob.

»Ihr Freund setzte mich matt, Herr Gerold,« sagte er. »Aber es war eine genußreiche Partie. Solcher Kombinationsgabe und Beharrlichkeit gleich der des Herrn Doktor Meussi bin ich noch nie begegnet, Herr Doktor!«

Meussi erwiderte: »Auf dem Schachbrett sind schwierige Probleme leichter zu lösen als im Leben; die Figuren lassen sich da nicht so bequem hin und her schieben.«

Gerold war überzeugt, daß diese Bemerkung ironisch gemeint war, aber sie wurde weder von Doktor Basaroff noch von Frau Hala so empfunden. In liebenswürdigstem Geplauder ging der Abend zu Ende, und als sich die beiden Herren empfahlen, hatten sie das feste Versprechen gegeben, bald wieder zu kommen.

*

Kurze Zeit waren der Sänger und Doktor Meussi stumm nebeneinander her gegangen; dann unterbrach Meussi das Schweigen.

»Frau Hala ist die Witwe des Hochverräters Stablewski. Als sie ihn nach fünfmonatiger Ehe auf diese ungewöhnliche Art verlor, war sie beinahe noch ein Kind.«

»Hat Basaroff es Ihnen erzählt?«

»Wenn ich mit jemand Schach spiele, erzählt er mir alles, was ich von ihm zu erfahren wünsche. Es ist kein Kunststück, einem Menschen, dessen Gedanken angestrengt auf andere Dinge gerichtet sind, Geheimnisse zu entlocken.«

»Ich werde mich hüten, mich auf irgend ein Spiel mit Ihnen einzulassen.«

»Mein lieber Gerold, Ihre Geheimnisse ergründet man auch ohne das. Schon auf der Schule waren Sie für mich immer leicht zu durchschauen. Und – ohne Ihnen schmeicheln zu wollen – ich entdeckte an Ihnen immer nur Angenehmes.«

»Sehr verbunden. Machten Sie während Ihrer Partie noch weitere Entdeckungen?«

»Nicht mehr, als was man so nebenher auffischt. Es ist ein Herzensband, das die beiden miteinander verknüpft, aber ein Liebesverhältnis gewöhnlicher Art ist es nicht.«

Der Sänger erinnerte sich an seine Wahrnehmungen beim ersten Besuch; aber er war nicht aufgelegt, davon zu sprechen.

»Wodurch sollte es sich von anderen Liebesverhältnissen unterscheiden?« fragte er obenhin. »Höchstens dadurch, daß es sich um die Liebe eines kranken, gebrechlichen Mannes handelt.«

»Das ist nicht das Wesentliche. Diese beiden führen einen grausamen Kampf gegeneinander. Und es macht nicht den Eindruck, daß der sieche Mann in diesem Ringen unterliegen wird.«

»Ihr Scharfblick ist unheimlich – vorausgesetzt, daß Ihre Beobachtungen richtig wären. Einstweilen erlaube ich mir, noch zweifeln zu dürfen. Ich bemerkte von einer solchen Kampfstimmung bisher nichts.«

»Sie schwärmen für die schöne Frau Hala.«

»Das ist eine unnötige Bemerkung. Ich möchte indes gerne hören, worauf sich Ihre Vermutungen gründen.«.

»Das läßt sich nicht so ohne weiteres sagen, mein Lieber! Daß dies Haus von einer schwülen Atmosphäre erfüllt ist, empfand ich schon kurz nach meinem Eintritt. Was zwischen den beiden steht, kann ich natürlich nicht wissen. Sicher ist nur, daß sie sich voreinander fürchten. Am meisten fürchtet sich die schöne Frau. Es machte mir den Eindruck, als ob sie beständig auf dem Sprunge wäre, sich gegen einen Angriff zu decken.«

»Hören Sie auf – ich bitte Sie. Sonst fange ich an, Sie für einen Dichter zu halten.«

»Und warum sollte ich es nicht sein? Das ist ja das Unglück gewöhnlicher Durchschnittskriminalisten, daß sie keine Dichter sind. Halten wir uns darum lieber an das Tatsächliche; ich weiß jetzt auch, in welchem Zusammenhang mir der Name Gregor Basaroff früher begegnet ist. Vor fünf oder mehr Jahren wurde er unter den Teilnehmern an einer Petersburger Verschwörung aufgezählt. Es wäre möglich gewesen, daß es sich um einen anderen Russen dieses Namens handeln könnte. Aber aus den Antworten, die unser liebenswürdiger Wirt mir auf einige beiläufig gestellte Fragen gab, ging hervor, daß er russische Kerker auch von innen kennen gelernt hat. Wie er ihnen entronnen ist, wird er mir sicher gelegentlich sagen.«

»Sie denken daran, den Verkehr fortzusetzen?«

»Die Absicht besteht meinerseits allerdings. Sehen Sie es nicht gern?«

»Offen gestanden, gefällt es mir nicht, daß Sie diese freundlichen, vertrauensvollen Menschen ausforschen, als ob es sich darum handelte, ihnen ein Verbrechen nachzuweisen. Es erscheint mir als unwürdiger Mißbrauch der Gastfreundschaft.«

»Ich schade Ihnen ja damit nicht. Daß ich jede Gelegenheit zur Bereicherung meiner Menschenkenntnis zu nützen suche, darf Sie nicht überraschen. Und wenn ich mich über meine Beobachtungen so offen gegen Sie ausspreche, geschah es aus besonderem Grunde.«

»Darf ich ihn nicht erfahren?«

»Gewiß. Die Bemerkung, die Sie vorhin eine unnötige Abschweifung nannten, war sehr ernst gemeint. Hüten Sie sich vor Frau Hala Stablewska, mein lieber Herr Gerold.«

»Ich danke Ihnen; aber ich glaube erfahren genug zu sein, um auf solche Ratschläge verzichten zu können.«

»Sie sollten die gutgemeinte Absicht meiner Warnung nicht verkennen. Erinnern Sie sich, daß Sie von mir verlangten, ich solle das Verhältnis der beiden respektieren. Sollte das nur für mich gelten und nicht auch für Sie?«

»Handle ich vielleicht nicht nach meinen Worten?«

»Möglicherweise ist Ihnen noch nicht bewußt geworden, daß Sie sich auf einem gefährlichen Wege befinden. Von Ihrer Ehrenhaftigkeit bin ich fest überzeugt; aber Frau Stablewska begann damit, ein bedenkliches Spiel mit Ihnen zu treiben. Ich kenne diese kleinen Künste. Anfänglich wirkt alles ganz harmlose und unverfänglich. Ein schwärmerischer Augenaufschlag, eine scheinbar unabsichtliche Berührung, ein verheißungsvolles Lächeln, ein Händedruck – sie bedeuten an sich wenig; aber jedes ist eine weitere Masche des Netzes, in dem Sie gefangen werden sollen. Wenn es einmal zugezogen ist, fällt es dem Gefangenen gewöhnlich verzweifelt schwer, sich wieder zu befreien.«

»Sie beunruhigen sich unnötig. Frau Stablewska denkt nicht daran; und wenn sie es tun würde, müßte sie eine arge Enttäuschung erleben.«

»Um so besser. Ich hielt es für nötig, Sie zu warnen, denn es wäre doch ein recht kläglicher Ausgang, wenn Sie der verlorenen Jugendgeliebten gerade in dem Augenblick gegenüberstehen würden, wo Sie in den Banden eines anderen weiblichen Wesens liegen.«

»Führen Sie mir Hilde Wörner zu, und Sie sollen mein Wort haben, daß sie mich so wiederfinden wird, wie ich sie verlassen.«

»Hoffen wir es. Auch wenn Ihre Hilde Wörner im Schattenreich weilen sollte, für ein Spielzeug oder ein Opfer dieser schwarzäugigen Schönheit wären Sie zu schade.«

Er zog, da sich hier ihre Wege trennten, seinen Hut und ging rasch davon.

Gerold war voll Unmut über seine Dreistigkeit. Aber wahrscheinlich hätte er diesen Unmut weniger lebhaft empfunden, wenn sein eigenes Gewissen von jedem Vorwurf frei gewesen wäre.

*

Frau Hala Stablewska beschäftigte sich nach der Verabschiedung der beiden Gäste damit, die Schachfiguren zu ordnen. Eine kleine Falte zwischen den Brauen gab ihrem Gesicht ein fast düsteres Aussehen. «Sie sprach nicht, und sie warf auch keinen Blick zu Basaroff hinüber, der müde in einem Sessel lag und unverwandt zur Decke des Zimmers emporblickte.

Nun erschien der Diener und verharrte schweigend auf der Schwelle. Mit einer Handbewegung bedeutete ihm Basaroff, sich zurückzuziehen.

»Ich wünsche noch nicht zu Bett zu gehen. Wenn ich Sie brauche, werde ich klingeln.«

Sie waren wieder allein, und Hala, ohne von ihrer Beschäftigung aufzusehen, begann: »Es ist spät; warum willst du noch aufbleiben? Du weißt, daß es dir nicht gut tut.«

»Ich muß noch mit dir reden. Du fühlst dich zu diesem Sänger hingezogen; vielleicht bist du schon auf dem Wege, dich in ihn zu verlieben?«

»Seit wann bist du eifersüchtig, Gregor? Ich meinte, darüber seiest du hinaus.«

»Ich bin nicht eifersüchtig, aber ich finde, daß du beginnst, dich sehr ungeeigneter Mittel zu bedienen.«

«Ungeeigneter Mittel? Zu welchem Zweck?«

»Das brauche ich dir nicht zu sagen. Ist dir nicht mehr im Gedächtnis, was wir heute morgen, gestern, vorgestern und alle diese Tage gesprochen haben?«

»Ich würde nicht mehr daran gerührt haben; Du läßt diese Dinge nicht ruhen.«

»Ja. Weil ich sehe, daß du deine Absicht jetzt auf anderen Wegen zu erreichen suchst; ich warne dich davor.«

»Das ist unnötig. Ich erinnere dich daran, daß nicht ich es war, die Herrn Gerold ins Haus zog. Du warst es, der sein Konzert besuchen wollte, und auch der Wunsch, ihn kennen zu lernen und einzuladen, kam von dir. Daß es ohne Kunstbegeisterung geschah, darüber täusche ich mich nicht.«

»Ich wollte ihn hier haben, weil ich ihn nach Elwine fragen konnte.«

»Was sollte er dir von ihr zu erzählen wissen? Sie war ihm doch fremd.«

»Er sah sie auf ihrem Totenbett. Und ich wollte von ihm hören, ob sie vor ihrem Ende leiden mußte.«

»Nun? Was konnte er dir darüber sagen?«

»Nach seinen Worten machte sie den Eindruck einer ruhig Schlafenden. Die Ärzte waren der Meinung, daß ihr kaum mehr zum Bewußtsein gekommen sein könne, was ihr geschah. Sie vermuten es. Aber wer bürgt mir dafür, daß dies die Wahrheit ist.«

Frau Hala hob die Schultern und schwieg.

Basaroff wandte den Blick nicht mehr von ihrem gesenkten Kopfe, aber ihre Augen begegneten den seinen nicht. Sie beschäftigte sich wieder mit dem Einordnen der Schachfiguren.

»Hast auch du mit Gerold über Elwine gesprochen?« fragte er nach kurzem Schweigen.

»Nein. Wozu auch?«

»Du bemühtest dich doch, mit ihm allein zu sein, und dein Klavierspiel hörte bald auf. Wovon habt ihr euch so lange unterhalten?«

»Ich weiß es nicht mehr, denn es war nichts Besonderes. Ich habe auch keine Lust, darüber zu sprechen. Bin ich denn ein unmündiges Kind?«

»Ich frage nicht aus Eifersucht. Wenn ich Klarheit haben will, geschieht es, weil ich entschlossen bin, ihn vor dir zu schützen.«

Nun warf sie mit heftiger Bewegung den Kopf zurück, und ihre Augen sprühten ihn an.

»Woher nimmst du das Recht, mich zu beleidigen?«

»Ich kenne dich, Hala! Es hat mich genug gekostet, bis ich dahin gelangte, und ich möchte diese Erkenntnis nicht umsonst gemacht haben.«

»Als was erkanntest du mich? Als ein Weib, das alles für dich geopfert, was es zu geben hatte? Seine Jugend, seine Schönheit und seine Glückshoffnungen. Nie konntest du mich anders kennen lernen.«

»Hättest du nur geopfert, was dein war, so würde ich nie aufgehört haben, dir dafür zu danken. Aber du opfertest auch, was dir nicht gehörte: meine Ehre und das Lebensglück einer anderen.«

Ihre Oberlippe wölbte sich trotzig.

»Elwine – sie, und immer nur sie! Wenn sie dich so sehr liebte, warum hat sie dich dann verlassen?«

»Das fragst du? Sie ging, weil sie zu stolz war, mit dir um mich zu kämpfen. Sie ging, weil sie gelernt hatte, mich zu verachten.«

»Ich will dir sagen, warum sie mit dir brach. Sie fand sich enttäuscht. Sie wähnte, einen heldenhaften Märtyrer befreit zu haben, und du kamst als schwacher, kranker Mann aus dem Gefängnis, als ein Eigensüchtiger, dem sie Spielzeug und Pflegerin sein sollte, wie ich es dir alle diese Jahre hindurch gewesen bin. Hätte sie dich wahrhaft geliebt, so wie ich dich liebte, sie müßte über alles hinweggesehen, und kein törichter Stolz würde sie abgehalten haben, um deinen Besitz zu ringen. Wenn eine Frau beginnt, sich auf ihren Stolz zu berufen, hat sie aufgehört, zu lieben.«

»Wenn du so über sie urteilst, warum hast du sie dann von der ersten Stunde an so gehaßt? Warum hast du immer nur die Todfeindin, die Nebenbuhlerin in ihr gesehen?«

»Wer sagt dir, daß ich sie haßte? Sie war mir gleichgültig! Es verlangte mich nicht einmal danach, sie je zu sehen.«

»Hast du sie in Wahrheit nie gesehen, Hala?«

»Nein. – Du weißt doch, daß es so ist. Meine Wege und die ihren haben sich nie gekreuzt.«

»Aber sie war dir ein Hindernis für die Erfüllung deiner Wünsche, du sehntest dich danach, daß sie fort sei, am liebsten für immer. Leugne nicht; denn ich würde dir nicht glauben.«

»Sollte ich sie lieben? Stand sie nicht immer zwischen uns? War sie nicht die Ursache, daß du mich nicht zu deinem Weibe machen wolltest, wie es nach göttlichem und menschlichem Gesetz deine Pflicht gewesen wäre? Mußte ich hinter deiner Weigerung, hinter dritten Ausflüchten nicht die Hoffnung lebendig glauben, daß du wünschtest, sie könnte vielleicht doch eines Tages zu dir zurückkehren?«

»Du kennst die wahren Gründe, die mein Zögern bestimmten. Ich habe sie dir oft genug klargelegt.«

»Vorwände, nichts als Vorwände. Elwine besaß längst keine Rechte mehr auf dich, weder auf deine Person, noch auf dein Vermögen. Das Eheversprechen, das du ihr gegeben, hatte mit dem Augenblick, da sie sich von dir wandte, seine Gültigkeit verloren.«

»Das mag deine Auffassung sein, die meine war es nicht.«

»Eine Ausflucht war es. Wenn dich dein Versprechen wirklich an die Lebende gebunden hätte, an die Tote bindet es dich nicht mehr. Und doch versagst du mir auch jetzt noch, was ich fordern darf.«

»Ich weigerte mich nicht, dich zu heiraten, wenn es in Wahrheit noch Wert für dich hat, die Frau eines todkranken Mannes zu werden. Ich verlangte nur eine Frist, und du solltest dich damit abfinden.«

»Ich finde mich nicht damit ab,« rief sie leidenschaftlich. »Schon deshalb nicht, weil du nachher irgend einen anderen Grund finden würdest, unsere Verbindung abermals hinauszuschieben.«

»Ich gab dir mein Wort, daß ich unser Aufgebot veranlassen werde an demselben Tage, an dem der Mörder Elwinens entdeckt ist.«

»Wenn das kein Vorwand ist, so ist es eine unsinnige Marotte. Soll die Findigkeit oder das Ungeschick der Polizei über meine Zukunft entscheiden?«

»Ja, so soll es sein!« sagte er, und ein Klang von stählerner Härte lag in seiner sonst schwachen, sanften Stimme. Als sei sie durch diesen Ton eingeschüchtert, verharrte Hala lange in Schweigen; ihre Brust hob sich stürmisch, und ihre Nasenflügel zitterten. Plötzlich machte sie ein paar Schritte auf ihn zu.

»Wozu das Versteckspiel, Gregor? Warum findest du nicht den Mut, offen zu sein?«

»Es gibt Dinge, an die man nicht mit Worten rühren darf, wenn sie nicht zermalmend über einen hereinbrechen sollen. Es ist genug, daß sie Tag und Nacht wie ein fressendes Feuer in meinem Gehirn und in meinem Herzen wühlen.«

»Ich soll also geduldig warten, bis du von deiner fixen Idee geheilt bist? –Nein, das geht über meine Kraft.«

Nach der jähen Aufwallung, die ihn für einen Augenblick hart und gebieterisch gemacht hatte, sank Basaroff noch mehr in sich zusammen. Wie ein hinfälliger Greis lag er nun in seinem Stuhl.

»Du mußt dich damit abfinden,« wiederholte er, »du lehnst dich umsonst dagegen auf.«

»Hüte dich, mich zum Äußersten zu treiben, Gregor! Ich lasse mich nicht wie eine Sklavin behandeln.«

»Was willst du mir antun? Willst du mich umbringen?«

Ein schneidendes Auflachen kam von ihren Lippen; dann rief sie: »Darauf antworte ich nicht. Wir spielen hier nicht Theater.«

»Denkst du mich zu einem Entschluß zu drängen, indem du mich eifersüchtig machst? Nach deinem Benehmen gegen diesen Sänger könnte ich das vermuten. Es wäre nicht das erste Mal, daß du es damit versuchst. Diesmal aber versagen diese Künste.«

»Weil du mich nicht mehr liebst. Sage doch, daß ich dir unerträglich geworden bin!«

»Dein Himmel würde ich danken, wenn es so wäre. Dann fände ich auch die Kraft, dieser unsäglichen Qual ein Ende zu machen. Ich weiß nicht, ob es noch Liebe ist, was ich für dich fühle; wäre es auch nichts anderes als die Erinnerung an einen verflogenen Rausch – du weißt, was mich noch immer an dich bindet, und wir werden wahrscheinlich eines Tages beide daran zugrunde gehen.«

Während seiner letzten Worte mußte er, ohne daß Hala es wahrgenommen, auf den Klingelknopf gedrückt haben, der sich im Bereich seiner Hand befand. Als sie die Lippen zu einer Erwiderung öffnen wollte, stand der Diener wieder auf der Schwelle.

»Der Herr Doktor wünschen?«

»Ich will zu Bett gehen. Führen Sie mich in mein Schlafzimmer.«

Der Diener sah, was er allabendlich zu sehen gewöhnt war: die schöne Frau Stablewska, die ihm sorgsam half, den halb Gelähmten aus seinem Stuhle aufzurichten, und den verbindlich lächelnden Doktor Basaroff, der ihr die Hand küßte und »Gute Nacht!« wünschte. Von den Gedanken, die ihm während dieser fast zärtlichen Verabschiedung durch den Kopf gehen mochten, war nichts auf seinem unbeweglichen Gesicht zu lesen.

*

Gräfin Arabella Hohenwart war eine kleine, weißhaarige, trotz ihrer siebzig Jahre noch sehr bewegliche Dame mit freundlichem, gütigem Matronengesicht. Sie war vor ungefähr sechs Wochen auf die dringenden Bitten einer jungverheirateten Enkelin aus der Mark zu mehrmonatigem Aufenthalt nach Wien gekommen; aber sie war nicht zu bewegen gewesen, bei dem jungen Ehepaar zu wohnen.

»Schwiegermutter oder Schwiegergroßmutter – das ist alles eins,« pflegte sie zu sagen, »die eine wie die andere ist in einem jungen Haushalt vom Übel. Als Gast beim Abendessen oder einem Nachmittagstee könnt ihr mich sehen, so oft ihr wollt; von den Intimitäten eures häuslichen Lebens aber will ich nichts sehen und hören. Außerdem möchte ich mir auch die eigene Freiheit bewahren. Wenn man mehr als zwanzig Jahre auf dem Lande verlebte, will man die Annehmlichkeiten des Großstadtlebens genießen, ohne sich jedesmal erst eine Erlaubnis dazu holen zu müssen.«

Das war scherzhaft gemeint; ein Körnchen Wahrheit aber lag auch darin. Unter den Gästen der Fremdenpension zählte die alte Dame zu den lebenslustigsten; sie besuchte Theater und Konzerte, als wolle sie innerhalb weniger Wochen alles zwanzig Jahre lang Versäumte nachholen.

Sie war in Begleitung einer jungen Gesellschafterin gekommen, deren anmutige Erscheinung besonders unter den männlichen Pensionsgästen nicht unbeachtet geblieben war. Der Ausdruck der verträumt blickenden großen blauen Augen hatte es etlichen leicht entzündlichen Herzen angetan. Aber keiner der Herren war bis jetzt von ihr beachtet worden. Die beiden Damen nahmen alle Mahlzeiten auf ihren Zimmern, und bei den Ausgängen der Gräfin sah man das blonde Fräulein Sylvander nur selten in ihrer Gesellschaft.

Man fand es nicht hübsch von der sonst so liebenswürdigen alten Dame, daß sie dem jungen Mädchen so wenig Vergnügen und Unterhaltung gönnte und es zu einer Zurückgezogenheit zwang, die fast wie Gefangenschaft aussah. Aber man würde rasch inne geworden sein, wie unrecht diese Auffassung war, wenn man die Unterhaltung hätte belauschen können, die sie an diesem Nachmittag in ihrem kleinen Salon mit der Gesellschafterin führte.

»Das ist alles ganz schön und gut, liebes Kind,« sagte sie im Verlauf eines lebhaft geführten Gespräches. »Ich weiß es zu schätzen, daß Sie so wenig vergnügungssüchtig sind und kein Verlangen danach tragen, sich von jungen und alten Narren den Hof machen zu lassen; aber Ihre Scheu vor dem Leben ist beinahe altjüngferlich. Und das liebe ich nicht, am wenigsten aber bei einem weiblichen Wesen in Ihren Jahren. Auf Schloß Warteck waren Sie nicht so zimperlich wie hier. Es sieht ja aus, als fürchteten Sie sich vor den Menschen und suchten sich vor ihnen zu verstecken; das kann ich nicht länger mitansehen, ich will nicht, daß Sie in der Einsamkeit versauern. Von heute ab werden wir an der gemeinsamen Tafel speisen, und morgen begleiten Sie mich in die Oper. Es scheint, daß man Ihnen mit Gewalt ein bißchen Lebensfreude beibringen muß, wenn es auf gütliche Weise nicht zu erreichen ist.«

»Aber es fehlt mir ja nicht an Lebensfreude, Frau Gräfin, ich fühle mich in der Stille so glücklich.«

»Es ist unnatürlich und macht Sie vorzeitig alt, und ich schätze Sie viel zu hoch, um das geschehen zu lassen. Dafür, daß mein unschuldiges weißes Schäfchen nicht die Beute irgend eines reißenden Wolfes wird, will ich schon sorgen.«

Die Gesellschafterin schwieg; aber es schien nicht, als ob sie Freude an der Veränderung hätte, die in ihrer Lebensführung eintreten sollte. Die alte Dame plauderte weiter: »Ich wollte Sie noch etwas fragen: leben Angehörige von Ihnen in Kurland?«

Das junge Mädchen, auffallend errötend, beugte sich tief auf die Handarbeit; ein paar Sekunden verstrichen, ehe es erwiderte: »Ich glaube nicht, Frau Gräfin.«

»Sie glauben nicht? Mein Gott, das muß man doch wissen. Irgend jemand sprach gestern abend in meiner Nähe von einem kurländischen Pastor Sylvander. Weil Sie diesen Namen tragen, fragte ich, was für eine Bewandtnis es mit diesem Pastor hätte. Da erzählte er mir eine höchst romantische Geschichte. Der Pastor hatte eine sehr schöne Tochter, die er liebte und sorgsam vor allem behütete. Eines Tages erhielt er den Besuch eines Russen, eines Doktor Basaroff oder so ähnlich, der ihm von seinem in Petersburg lebenden Freunde empfohlen worden war. Der Pastor erwies ihm eine Woche lang die herzlichste Gastfreundschaft auf seinem Pfarrhofe. Vierundzwanzig Stunden nach der Abreise des Doktors aber war auch die schöne Tochter des Hauses verschwunden, und der Vater sah sie nie wieder. Sie war dem Russen nachgereist – wahrscheinlich mit seinem Einverständnis –, weil sie sich in ihn verliebt hatte. Hätte er sie geheiratet, so wäre es ja so schlimm nicht gewesen; aber das geschah leider nicht. Der Mann war, wie Pastor Sylvander durch Nachforschungen erfuhr, der einzige Sohn und Erbe eines reichen Petersburger Großkaufmannes, aber ein politischer Schwarmgeist. Es war ihm offenbar gelungen, auch das arme unerfahrene Kind zu seinen Ansichten zu bekehren. Sie soll sich im Dienste ihrer Idee an den verschiedensten Orten Europas umhergetrieben haben; bis zuletzt galt sie als verschollen. Der Pastor konnte den Verlust seiner vergötterten Tochter nicht überwinden, er siechte dahin, und als er eines Tages in der Zeitung las, daß der Russe, dem sie gefolgt war, mit anderen Verschwörern wegen Hochverrats in die Peter-Pauls-Festung gebracht worden sei, erlag er einem Herzschlag. Ist das nicht ein richtiger Roman?«

Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, sagte die Gesellschafterin leise: »Es ist eine traurige Geschichte.«

»Sie sind mit dem kurländischen Pastor Sylvander nicht verwandt?«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Sie stammen doch aus Kurland? Ich erinnere mich doch, es in Ihren Papieren gelesen zu haben, als Sie sich vor vier Jahren um die Stellung in meinem Hause bewarben. Oder ist es schon länger her? In meinem Alter nimmt man es mit der Zeitrechnung nicht mehr so sehr genau.«

»Es sind beinahe fünf Jahre, Frau Gräfin.«

»Ihr Familienname scheint in Kurland nicht selten zu sein. – Wissen Sie, was aber das merkwürdigste an der Geschichte ist? Des Pastors Tochter hieß Elwine wie Sie. Ist denn dieser Vorname, an den ich mich, wie Sie wissen, schwer gewöhnen konnte, dort so häufig?«

»Ich nehme es an; Frau Gräfin vermuten doch nicht etwa, daß ich …«

Die alte Dame lachte herzlich und erwiderte: »Daß Sie die landflüchtige Nihilistin sein könnten? Nein, mein Kind, dafür kenne ich Sie denn doch schon zu lange und zu gut. Ich dachte im ersten Augenblick nur daran, daß Sie mit der Pastorfamilie verwandt sein könnten, ohne darum zu wissen. Sie sagten mir ja auch, daß Sie seit frühester Kindheit in Deutschland gelebt haben.«

»Es ist die Wahrheit, Frau Gräfin.«

»Dann erklärt es sich von selbst, daß Sie nichts von diesen Dingen wissen. Jetzt aber sollten Sie mit der Näherei aufhören. Das viele Sitzen bekommt Ihnen schlecht. Sie sehen seit einigen Tagen so bleich aus, daß man sich um Sie ängstigen könnte.«

Die alte Dame ging in das Nebenzimmer, während Elwine Sylvander ihre Arbeit zusammenlegte. Als sich die Tür hinter der Greisin geschlossen hatte, preßte die Gesellschafterin beide Hände auf das Herz, und ihr blonder Kopf sank tief herab. Erst als aus dem anstoßenden Gemache die Stimme der Gräfin laut wurde, die nach ihr rief, raffte sie sich wieder zusammen. Aber ihr schönes Gesicht war noch immer erschreckend blaß, und ihre Brust hob sich schwer wie unter dem Druck einer atembeklemmenden Angst.

 

Am nächsten Abend holte das junge Ehepaar die Großmutter zum Besuch der Oper ab, und Elwine Sylvander, die vergebens gebeten hatte, zurückbleiben zu dürfen, mußte den vierten Platz im Wagen einnehmen. Da in der kleinen Loge nur zwei Vordersitze waren, blieb sie auf die hintere Reihe angewiesen. An der lebhaften Unterhaltung der drei anderen, solange der Vorhang geschlossen blieb, beteiligte sie sich nicht, aber sie hörte alles, was sie sprachen.

Nach dem ersten Sinken der Gardine sagte der junge Baron Ronay: »Eine gute Aufführung; aber unter den Sängern ist keiner, der sich an Schönheit der Stimme und des Ausdrucks mit Winfried Gerold vergleichen könnte. Stella und ich haben ihn gestern gehört. Er singt wie Orpheus und sieht aus wie Apoll. Du mußt ihn unbedingt sehen und hören, Großmama!«

»Ein Vergnügen, das du gleich genießen kannst,« fügte die junge Frau hinzu. »Er sitzt uns gegenüber.«

Die alte Gräfin ließ sich von ihrer Enkelin die Loge bezeichnen, in der sie den gefeierten Konzertsänger erspäht hatte.

»Ein hübscher Mann,« sagte sie anerkennend. »Und mit einer ebenso schönen Frau verheiratet, wie es scheint, denn die beiden sind doch gewiß ein Paar.«

»Zusammen gehören sie auf jeden Fall, denn sie saß auch gestern in der ersten Reihe und lächelte ihm zu, wie eine Frau nur ihrem besten Freunde zulächelt. Aber verheiratet sind sie nicht. Ich hörte es von Aldringen, der bekanntlich alles weiß, Gerold ist noch Junggeselle; die Dame ist eine Polin oder Russin, eine junge Witwe, mit der man ihn schon mehrfach öffentlich gesehen hat, eine Frau Stablewska, von der Aldringen, der sonst Allwissende, nichts als ihren Namen zu berichten wußte.«

»Also nicht Mann und Frau? Allzuweit scheinen sie aber nicht mehr davon entfernt. Sieh nur, Stella, wie sie ihn anschmachtet. Und wie schön sie ist! Wer sich einmal in den Händen eines solchen Geschöpfes befindet, macht sich nicht so leicht wieder frei. – Heiß ist es hier! Mein Hals ist ganz trocken. Möchten Sie mir nicht eine von meinen Pastillen geben, Fräulein Elwine?«

Sie hatte sich nach der hinter ihr Sitzenden umgewendet, und ihr gutes altes Gesicht zeigte im selben Augenblick die lebhafteste Bestürzung.

»Was ist Ihnen, mein Kind? Sie sehen ja aus wie der Tod.«

»Ich habe Kopfschmerzen, Frau Gräfin, darf ich nicht nach Hause gehen?«

Baron Ronay erbot sich sofort, sie zu begleiten. Die Gesellschafterin bat ihn so entschieden, davon abzustehen, daß er an dem Ernst ihres Wunsches, allein gehen zu wollen, nicht zweifeln konnte. Man wünschte ihr herzlich gute Besserung, und die Logentür fiel hinter ihr zu.

»Ich weiß nicht, was mit dem Mädchen ist,« sagte die Gräfin. »Seit dem Augenblick, wo sie hörte, daß sie mit mir nach Wien fahren solle, ist sie wie ausgewechselt. Zu den überschäumend Fröhlichen gehörte sie ja nie; aber sie war doch immer gleichmäßig ruhig und heiter. Obwohl sie nie darüber spricht, glaube ich doch, daß sie schon früh Schweres erleiden mußte. Es scheint, daß in der letzten Zeit die Erinnerung daran quälend auf sie gewirkt hat.«

»Sie muß doch noch ein halbes Kind gewesen sein, als sie zu dir ins Haus kam, Großmama! Noch jetzt, nach fünf Jahren, sieht sie aus wie ein junges Mädchen.«

»Der Schein trügt zuweilen, liebe Stella! Nach den Papieren, die sie mir auf mein Zeitungsgesuch einschickte, war sie damals fünfundzwanzig Jahre alt. Als sich mir dann ein hübsches Ding vom Aussehen einer Achtzehnjährigen vorstellte, war ich sehr überrascht. Wäre sie nicht so anmutig gewesen, so würde ich sie wahrscheinlich nicht als Gesellschafterin behalten haben. Sie besaß keine Zeugnisse, weil sie zum ersten Male Stellung suchte. Ich dachte zuerst, daß sie nicht lange bleiben würde, aber ich bedauere nicht, sie aufgenommen zu haben. Sie ist an Wahrhaftigkeit, Herzensreinheit und Aufopferungsfähigkeit geradezu ein Juwel. Ich denke schon jetzt mit Bangen an den Tag, wo sie ein glücklicher Freier mir entführen wird.«

Mit dem Emporrauschen des Vorhangs verstummte das Gespräch. Doch ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Vorgängen auf der Bühne zuwandte, konnte die junge Frau sich nicht enthalten, der Gräfin zuzuflüstern. »Gerold und seine Begleiterin sind während des Zwischenaktes aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Ihre Plätze sind leer.«

*

Hinter einem dicken Pfeiler halbversteckt war Elwine Sylvander im Logengang stehen geblieben, bis die dort auf und ab Gehenden in den Zuschauerraum zurückkehrten; dann erst hatte sie an der Kleiderabgabe ihren Mantel und ihr Theatertuch geholt. Sie zog das flockige Seidentuch so weit über die Stirn herab, daß es ihr Gesicht völlig beschattete, und eilte dem Ausgang zu.

Eben hatte sie den Fuß auf die teppichbelegte Treppe gesetzt, als von der anderen Seite her ein Herr und eine Dame kamen, die fast unmittelbar neben ihr die breiten Stufen hinabgingen. Sie plauderten lebhaft; die schlanke Frau stützte sich auf den Arm ihres hochgewachsenen Begleiters und sah unverwandt zu ihm empor, während sie sagte: »Wie übertrieben gewissenhaft Sie sind! Wir hätten ruhig noch eine oder zwei Stunden fortbleiben können. Gregor weiß ja, daß ich im Theater bin; er wird erstaunt sein, wenn ich so früh zurückkehre.«

»Wenn er aber erfährt, daß ich Sie begleitet habe, Frau Hala?«

»Wer sollte es ihm erzählen? Er verkehrt ja mit niemand. Ihrem Freunde Meussi, der ihm heute abend wieder die Zeit vertreibt, werden Sie doch nichts gesagt haben?«

Mehr hörte Elwine Sylvander nicht, denn sie war in der Eingangshalle angelangt und stand nach einigen weiteren Schritten auf der Straße.

Die beiden anderen schienen es nicht eilig zu haben. Als sie in den milden, sternenklaren Abend hinaustraten, schien Gerold willens, eine der in langer Reihe wartenden Droschken heranzurufen; Hala Stablewska legte indessen ihre Hand mit festerem Druck auf seinen Arm und sagte bittend: »Wollen wir nicht lieber zu Fuß gehen? Mir ist so heiß. Ich möchte nicht gerne in einem engen Wagen allein nach Haus fahren.«

»Aber der Weg ist weit. Und Ihre feinen, dünnen Schuhe …«

»Wenn man jahrelang über Dornen und spitzige Steine gewandert ist, gewöhnt man sich die Empfindlichkeit ab. Oder glauben Sie mir nicht, Winfried? Halten Sie mich noch immer für ein Schoßkind des Glückes?«

»Ich weiß nicht mehr, wofür ich Sie halten soll. Sie sind mir rätselhaft. Wie konnte es nur geschehen, daß Ihr Leben sich so seltsam gestaltete?«

»Ich begreife es selbst kaum. Ich bin immer von den Wirbeln des Schicksals umhergetrieben worden. Als ich meinem Gatten folgte, war ich ein ahnungsloses Kind von sechzehn Jahren. Er war ein Fanatiker und ein Mensch, der die großen Worte liebte. Die bewundernde Scheu, die mir sein leidenschaftliches Wesen einflößte, hielt ich für Liebe. Aber ich war nie glücklich mit ihm; nicht eine Stunde. Als ihn sein Verhängnis ereilte – Sie hörten doch …«

»Man sagte mir, daß er um seiner Ideen willen den Tod erleiden mußte.«

»Er ist ein aufrechter Mann geblieben bis zu seinem letzten Augenblick. Gregor dagegen …«

»Sie lernten Doktor Basaroff erst nach dem Tode Ihres Gatten kennen, Frau Hala?«

»Ja. Zu einer Zeit, als es ihm gelungen war, aus einem sibirischen Gefängnis zu flüchten; damals hielt ich ihn für einen Helden von der Art meines Mannes. Er ist es nie gewesen.«

»Hat er nicht für seine Überzeugung gelitten gleich ihm?«

»Es war mehr die Folge bloßer Unvorsichtigkeit gewesen als die einer großen Tat. Jahre hindurch stand sein Name auf der Liste der Verfemten, und er hielt sich deshalb ständig im Ausland auf. Daß er es wagte, nach Petersburg zurückzukehren, war die einzige Kühnheit, zu der er sich in seinem Leben aufgerafft. Er hätte sie mit lebenslänglicher Gefangenschaft büßen müssen, wenn sich nicht ein opferwilliges Geschöpf gefunden hätte, das es unter eigener Lebensgefahr unternahm, seine Wächter zu bestechen und ihm nach einer Zeit der Verborgenheit den Weg ins Ausland zu bahnen.«

»Diese Tat wagten Sie, Frau Hala?«

»Nein. Ich sagte Ihnen, daß ich ihm erst begegnete, als er frei geworden war. Wir lernten uns in einem deutschen Badeort kennen, wo er Heilung von einem Leiden suchte, das ihn während seiner Gefangenschaft befallen hatte. Es schien damals besser mit ihm zu werden; erst später trat ein Rückfall ein, von dem er sich bis heute nicht wieder erholte. Die Ärzte halten seine Krankheit für unheilbar.«

»Wie schwer müssen Sie unter dieser traurigen Gewißheit leiden!«

»Sie glauben, daß ich ihn liebe?«

»Verzeihung – ich möchte mich nicht in Ihre Herzensangelegenheiten drängen, aber da ich nach allem annehmen muß, daß Sie nicht mit Doktor Basaroff verwandt sind …«

»Wir sind entfernt verwandt. Das war es, was ihn in jenem Badeort veranlaßte, sich mir zu nähern. Aber Sie beurteilen trotzdem die Lage richtig. Und Sie haben deshalb keine sehr gute Meinung von mir – nicht wahr?«

»Wie käme ich dazu? Ich sehe ja, wie Sie sich für ihn opfern, und wie wenig der kranke Mann Ihnen dafür zu bieten hat.«

»Nichts hat er mir zu bieten!« brach sie leidenschaftlich aus. »Wenn ich dieses Leben ertrage, dulde ich es nur, weil ich vor der Welt gerechtfertigt sein will, daß er mir seinen Namen gibt. Darum harre ich bei ihm aus. Vielleicht würden Sie mich mehr achten, wenn ich Ihnen das nicht gesagt hätte; aber Sie sollen mich so kennen, wie ich wirklich bin. Sie sollen nicht glauben, daß es Liebe ist, was mich an ihn fesselt.«

Sie stützte sich schwer auf Gerolds Arm und kam ihm so nahe, daß er die Wärme ihres Körpers fühlte. Ihre Augen funkelten durch das Gewebe des Schleiers zu ihm empor, heiß und begehrlich, als wollten sie die ungeduldig erwartete Antwort von den Lippen lesen. Schweigend ging Gerold an ihrer Seite weiter; sein Blick war geradeaus gerichtet.

Sie wartete lange, dann sagte sie leise : »Was dachten Sie von mir, als ich Sie bat, mich hie und da ins Theater oder sonstwohin zu begleiten? Ich fürchte, Sie hielten mich für unweiblich und erfüllten meine Bitte nur ungern.«

»Wenn ich Bedenken hegte, so geschah es nur um Ihretwillen, Frau Hala! Gerade daß es heimlich geschieht, kann Sie Ihrem – kann Sie Herrn Doktor Basaroff gegenüber leicht in eine unerwünschte Lage bringen.«

»Soll ich verurteilt sein, wie eine Klosterschwester zu leben, nur weil er durch Krankheit an das Haus und an den Lehnstuhl gefesselt ist?«

»Es handelt sich um Ihren künftigen Gatten, das dürfen Sie nicht vergessen.«

»Er wird es nicht lange sein. Seine Kräfte schwinden zusehends dahin. Und wenn ich frei bin – glauben Sie, Winfried, daß ich dann schon zu alt sein werde, um das Glück zu suchen?«

Es überrieselte ihn kalt. Der bestrickende Zauber ihres Wesens, gegen den er sich in den letzten Tagen immer schwächer zur Wehr gesetzt hatte, war mit einem Male verflogen. Sie erschien ihm plötzlich lügenhaft und herzlos, und für den Augenblick verloren ihre verführerischen Künste alle Macht über ihn.

»Was soll ich darauf antworten, Frau Stablewska? Wäre das Nein, das Sie erwarten, nicht gleichbedeutend mit dem Wunsche …«

»Daß Gregor bald von seinen Leiden erlöst werde? Ich bin selbstsüchtig genug, es ihm und mir zu wünschen. Und Sie – Sie sollten der letzte sein, mich deshalb zu schelten.«

»Ich wage es nicht, über Sie zu urteilen. Aber ich verstehe nicht, weshalb Sie mich in Zusammenhang bringen mit Ihrem Verlangen nach Glück.«

Ihre Hand glitt von seinem Arm herab. Ein leises, spöttisches Lachen klang unter dem Schleier hervor.

»Wenn Sie es nicht verstehen – erklären kann ich es Ihnen nicht. Und nun sind Sie ja auch von mir befreit. Ich bin zu Haus und danke Ihnen für Ihren ritterlichen Schutz.«

Obwohl sie noch ein paar Dutzend Schritte von ihrer Wohnung entfernt waren, reichte sie ihm doch bereits zum Abschied die Hand.

»Gute Nacht, Herr Oluf! Träumen Sie süß von Ihrem Fräulein! Ich bin großmütiger als die Tochter des Erlkönigs und will Ihnen den tödlichen Schlag aufs Herz in Gnaden ersparen.«

Während er langsam seines Weges zurückging, wußte Gerold nicht einmal, ob er ihren seltsamen Gutenachtgruß erwidert oder sich stumm von ihr abgewendet hatte. Er wußte nur, daß sein Verkehr mit Doktor Basaroff und seiner schönen Hausgenossin mit diesem Abend zu Ende sein mußte, und es fiel ihm nicht leicht, eine Antwort zu finden auf die Frage, ob er in der letzten Stunde wie ein rechtschaffener Mann gehandelt habe oder wie ein Narr.

*

Noch hatte der Sänger seine Wohnung nicht erreicht, als jemand, der ihm raschen Schrittes gefolgt war, die Hand auf seine Schulter legte.

»Verzeihen Sie, Verehrtester, daß ich Sie Ihren schönen Erinnerungen entreiße; aber ich muß noch ein paar Worte mit Ihnen reden.«

Es war Doktor Meussi, der, abweichend von seiner sonstigen kühlen Zurückhaltung, seinen Arm unter den Gerolds schob und ihn damit zum Stillstehen nötigte.

»Drüben in dem kleinen Kaffeehause finden wir zu dieser Stunde einen stillen Winkel. Schlagen Sie es, bitte, nicht aus. Es sind beachtenswerte Neuigkeiten, die Sie hören werden.«

Als sie in dem Kaffeehaus an einem Tische saßen, neigte sich Doktor Meussi Gerold zu und flüsterte: »Doktor Basaroff ist heute abend, während Sie mit seiner Freundin im Theater oder sonstwo waren, plötzlich sehr schwer erkrankt – während wir Schach spielten. Ich fürchte, es war die letzte Partie, die er in seinem Leben gespielt hat.«

»Schwer erkrankt – sagen Sie, lebensgefährlich?«

»Es gehörte nicht mehr viel dazu, dies schwache Flämmchen zum Erlöschen zu bringen. Der auf meine Veranlassung sofort gerufene Arzt war der Meinung, daß sich dies letzte Stadium von Basaroffs hoffnungsloser Krankheit noch über Tage, ja sogar Wochen erstrecken könne. Wenn Sie wollen, können Sie ihn immerhin morgen noch einmal besuchen.«

»Und der jähe Zusammenbruch, erfolgte er durch irgend eine besondere Ursache?«

»Möglich, daß gewisse Erinnerungen ihn über das Maß seiner Widerstandsfähigkeit erregt hatten. Er erzählte mir heute abend allerlei aus seinem Leben. Und das war es, was mich veranlaßte, Ihnen so rasch nachzulaufen.«

»Mir? Sie wußten also …?«

»Halten Sie mich nicht für scharfsinniger, als ich es bin. Als sich der Arzt mit dem Kranken beschäftigte, stellte ich mich ans Fenster, um die Heimkehr der Frau Stablewska abzuwarten. Denn da ich gewissermaßen zu einem Freunde des Hauses geworden bin, hielt ich mich dazu verpflichtet, ihr meine Hilfe anzubieten. So kam es, daß ich Ihre Verabschiedung von der schönen Frau beobachtete. Und da sie in ihrer begreiflichen ersten Aufregung meine Dienste zunächst ablehnte, konnte ich mich eilig genug verabschieden, um Sie noch einzuholen.«

Gerold atmete auf.

»Doktor Basaroff hatte nicht erfahren, daß ich …«

»Daß Frau Hala hinter seinem Rücken Ihre Gesellschaft suchte – nein. Seien Sie unbesorgt; davon wußte er nichts. Sie brauchen sich keine Gewissensbisse zu machen wegen seiner plötzlichen Erkrankung. Das alles ist im Augenblick für uns nebensächlich. Wichtiger ist, daß ich die Lösung des Rätsels gefunden habe.«

Ungläubig sah ihn der Sänger an.

»Sprechen Sie von Hilde Wörner? Sie fanden ihre Spur?«

»Ja. Was mir jetzt noch zu tun bleibt, ist nicht mehr schwer. Hilde Wörner ist tot; aber Elwine Sylvander kann noch am Leben sein. Wenn man nur seinen Namen kennt, besteht in dieser kleinen Welt Hoffnung genug, einen Lebenden zu finden.«

»Ich verstehe Sie nicht. Elwine Sylvander – wer ist das?«

»Sagte ich Ihnen nicht schon vor Wochen, daß nach meiner Ansicht der Namenstausch seinerzeit mit dem Einverständnis Fräulein Wörners geschehen sein müsse? Nun bestätigten die Tatsachen mein Ahnungsvermögen.«

»Ich kann Ihnen noch nicht glauben. Woher wollen Sie es wissen? Doch nicht von Basaroff? Was hat er damit zu schaffen?«

»Um seinetwillen ist alles das geschehen.«

»Foltern Sie mich nicht. Lassen Sie mich alles hören.«

»Als ich Sie bat, mich bei Basaroff einzuführen, leitete mich nur der Wunsch, auf diese Weise mit weiteren hier lebenden Russen bekannt zu werden. In Zürich hatte ich erfahren, daß Fräulein Wörner während der letzten Zeit, als sie dort lebte, in freundschaftlichem Verkehr mit einer jungen Russin oder Baltin gestanden habe, einem Fräulein Sylvander, die für eine Nihilistin galt und anscheinend über große Summen verfügte. Sie war aus Wien gekommen und sollte fast gleichzeitig mit der Tochter des verstorbenen Wörner aus Zürich abgereist sein. Das brachte mir eine Erklärung der unerwarteten Ordnung des Wörnerschen Nachlasses, und es lag nahe, hier in Wien nach Spuren zu fahnden. Was ich Ihnen einst über meine Wünsche sagte, war die reine Wahrheit. Aber schon während meines ersten Besuches bei Basaroff geriet ich auf den Gedanken, daß ich vielleicht gar nicht weiter zu suchen brauche, um das Geheimnis zu enträtseln. Ich erinnerte mich an Ihre Erzählung von der lebhaften Teilnahme Basaroffs an dem Wörnerschen Mord, und es machte mich stutzig, daß er während unserer ersten Schachpartie wieder davon zu sprechen begann. Ein paar überlegte Zwischenbemerkungen genügten mir, um aus seinen Antworten herauszuhören, daß diese Teilnahme keiner bloßen Liebhaberei für Kriminalfälle entsprang; ich glaubte daran, daß persönliche Gründe bedingend sein müßten. Nun begreifen Sie meinen Eifer, diesen Verkehr weiter zu pflegen.«

»Ich habe diese Beharrlichkeit nicht verstanden; aber warum sagten Sie mir nichts davon?«

»Weil Sie mir gewiß alles verdorben hätten.«

»Und Sie fanden Ihre Vermutung bestätigt?«

»Ja. Mit jedem meiner Besuche festigte sich in mir die Überzeugung, daß Basaroff mit diesen dunkeln Vorgängen in irgendwelchen Beziehungen stehen müsse. Zunächst blieb alles noch unklar und verworren. Ich mußte behutsam vorgehen, um nicht den Argwohn des Mannes zu erregen. Daß er eines Tages reden würde, sah ich voraus. Ich war gewiß geworden, daß er etwas mit sich herumtrug, das ihn bedrückte, und daß er mit keinem Menschen darüber zu sprechen wagte. In solchen Lagen ist meist nur ein geschickter Anlaß zur rechten Zeit zu suchen, um die Lippen zu entsiegeln. Ich bemühte mich, Basaroffs Vertrauen zu gewinnen, und heute erhielt ich den Beweis, daß es mir gelang. Wir hatten ganz allgemein von Frauen und Frauenliebe gesprochen, da begann er über eigene Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht zu plaudern. Was er erzählte, war ein Loblied, das allerdings nicht Frau Hala Stablewska galt. Ein Mädchen, das er vor ihr kannte, scheint sich bis zur höchsten Selbstverleugnung für ihn geopfert zu haben. Sie teilte nicht nur seine Ideen, sondern sie zerschnitt um seinetwillen auch alle Bande, die sie mit dem Elternhause und mit der Gesellschaft verknüpften. Er wollte sie heiraten, aber sie lehnte es ab, weil er, wie sie meinte, einzig für seine große Idee leben und wirken sollte. Das war überspannt, aber diese Haltung gereicht ihr zur Ehre, denn Basaroff ist Millionär, und er war klug genug, das von seinem Vater ererbte Vermögen nicht in Rußland zu belassen, sondern rechtzeitig im Ausland anzulegen.«

»Das Mädchen, von dem Sie da reden, kann für uns doch nicht von Bedeutung sein.«

»Meinen Sie? Ich bin anderer Ansicht. Dieses Mädchen fiel unter dem Namen Hilde Wörner dem Dolch eines Meuchelmörders zum Opfer.«

»Auch das hat Doktor Gregor Basaroff Ihnen gesagt?«

»Er erzählte mir nur, daß er die selbstlose Freundin, deren Namen er nicht nannte, eines Tages, als dringende Gründe ihn zu dem Wagnis einer Rückkehr nach Rußland zwangen, in der Schweiz zurücklassen mußte. Sie durfte ihn nicht begleiten, weil sie längst geächtet war und beim Überschreiten der Grenze sofort verhaftet worden wäre. Nun traf dies Schicksal ihn allein. Er wurde trotz eines falschen Passes erkannt, festgenommen und nach Sibirien verschickt. Seinen Freunden gelang es, dem Mädchen davon Nachricht zu geben, und ihre opferwillige Liebe zeigte sich im glänzendsten Lichte. Sie beschloß, den Mann, an dem sie mit allen Fasern ihres Herzens hing, zu befreien, und wäre es auch um den Preis ihres eigenen Lebens. Sie mußte sich gefälschte oder fremde Papiere verschaffen, um über die Grenze zu kommen, und es gelang ihr, eine Freundin zur Hergabe der ihrigen zu bewegen. Ahnen Sie nun endlich die möglichen Zusammenhänge?«

»Ja. Diese törichte Freundin war Hilde.«

»Ja! Sie gab nicht nur ihre Papiere her, sondern die beiden Mädchen hielten es zur Erreichung ihres Zweckes für notwendig, ihre Namen für immer zu tauschen. Hilde Wörner suchte einen Ort auf, wo eine Entdeckung nicht so leicht zu befürchten war. Basaroff konnte nicht sagen, was aus ihr geworden ist. Er hörte nur, daß sie eine Stellung als Gesellschafterin auf einem österreichischen Landsitz angenommen habe. Selbstverständlich geschah das unter dem eingetauschten Namen, den wir ja nun glücklicherweise kennen.«

»Es ist der, den Sie vorhin nannten? Chrysander, wenn ich nicht irre?«

»Sylvander – Elwine Sylvander. Man nannte ihn mir in Zürich als den der Freundin, von der sie angeblich unzertrennlich gewesen war. Da ich unbedingt nach Gewißheit trachtete, sprach ich im Verlauf meiner Unterhaltung mit Basaroff den Namen aus. Der erste Eindruck machte ihn bestürzt; aber ich hatte mich auf eine glaubhafte Erklärung vorbereitet, und er war in seinen vertraulichen Mitteilungen schon zu weit gegangen, als daß es auf die Preisgabe dieses letzten Geheimnisses noch sonderlich angekommen wäre. Er bestätigte, daß Elwine Sylvander seine Freundin gewesen sei, die Tochter eines kurländischen Geistlichen, die ihrem Vater entflohen war, um ihm zu folgen. Unter dem falschen Namen Hilde Wörner kam sie unangefochten nach Rußland, und mit Hilfe reicher Geldmittel, über die er ihr freie Verfügung eingeräumt hatte, gelang ihr seine Befreiung.«

»Aber jene ermordete Hilde Wörner war doch erst vor einem Jahre aus Moskau nach Deutschland gekommen, und Basaroff lebt seit Jahren in Wien. Hatte ihn seine Retterin nicht begleitet?«

»Der Roman Basaroffs ist noch nicht zu Ende. Seine Befreierin mußte aus Gründen, über die er mich nicht aufklärte, zunächst in Rußland bleiben. Und als sie ihm hätte folgen können, weigerte sie sich, es zu tun, denn sie hatte erfahren, daß sich ihr Freund inzwischen in den Netzen eines anderen Weibes verstrickt hatte.«

»Der Frau Stablewska?«

»Ja. Er war ihrem Zauber erlegen, und sie ließ ihn nicht mehr los. Als die tödlich gekränkte Elwine Sylvander um dieses schnöden Undanks willen nichts mehr von ihm zu hören wünschte, mag er kaum ernstlich versucht haben, sie zu versöhnen. Die Stablewska ist eine von jenen Frauen, die sich nicht leicht wieder entreißen lassen, was sie zu halten entschlossen sind.«

»Und doch liebt sie ihn nicht,« entfuhr es Gerold unbedacht. »Sie empfindet die Fesseln, die sie an den kranken Mann binden, als lästig.«

»Die Millionen, mit denen sie rechnet, wird sie kaum als Last empfinden. Darum war es ihr wohl von Anfang an allein zu tun.«

»Vielleicht ist es ihr auch darum zu tun, ihren Ruf durch eine Heirat mit Basaroff wiederhergestellt zu sehen.«

»Mag sein. Zumal, wenn die Millionen nicht anders als auf dem Wege über eine Trauung zu erreichen waren.«

»Ich bemitleide sie trotzdem und halte sie für eine sehr unglückliche Frau.«

»Wie weit sie Ihr Mitleid verdient, wird die Zukunft lehren. Wenn ich Sie schon einmal vor ihr warnte, jetzt geschieht das nochmals und mit größter Entschiedenheit. Gehen Sie dieser Frau aus dem Wege, Gerold – soweit als Sie nur können. Es könnte verhängnisvoll werden für Ihre ganze Zukunft, wenn Ihr Name neben dem der Frau Hala Stablewska genannt würde.«

»Es wird nicht geschehen, trotzdem ich Ihre feierliche Warnung nicht verstehe. Sie hat doch bis jetzt nichts Sträfliches getan?«

»Das kann ich zur Stunde weder bejahen noch verneinen. Sie wissen jetzt, was ich Ihnen zu sagen hatte. Soll ich weiter nach Hilde Wörner suchen?«

»Wie können Sie mich so fragen? Sagte ich Ihnen nicht, daß ich sie finden muß?«

»Es ist mir lieb, zu hören, daß Sie Ihren Sinn nicht geändert haben. Und wenn Hilde Wörner gefunden sein wird, wollen Sie dann über das Sträfliche ihrer Handlungsweise hinwegsehen?«

»Sträflich? War es nicht ein Freundschaftsopfer, das sie damit brachte?«

»Gewiß war es das. Aber sie verging sich damit gegen die Gesetze. Ehe sie als Hilde Wörner Ihre Frau werden kann, wird sie vermutlich die gesetzlichen Folgen ihres Handelns tragen müssen. Prüfen Sie sich ernstlich, ob Sie den Mut haben werden, ein bestraftes Mädchen zum Altar zu führen.«

»Ich nehme an, daß es nicht Ihre Absicht ist, mich zu beleidigen, Herr Doktor Meussi!«

»Erscheint Ihnen, was ich sagen müßte, als Beleidigung – um so besser. Dann brauchen wir bei diesem heiklen Punkt nicht länger zu verweilen. Wir dürfen uns nun Gutenacht wünschen. Es ist spät geworden.«

»Es gibt noch so vieles, das ich Sie fragen möchte – auch über Frau Stablewska …«

Doktor Meussi hatte sich erhoben.

»Heute nicht mehr. Je weniger Sie sich von nun an mit dem Schicksal dieser Frau beschäftigen, um so vorteilhafter wird es für Sie sein.«

Gerold schloß sich dem Fortgehenden an. Als sie auf die Straße getreten waren, sagte er: »Mir ist ganz wirr. Ist es nicht der wunderbarste Zufall, daß ich gerade mit diesem Doktor Basaroff bekannt werden mußte?«

Meussi lächelte überlegen.

»Zufall? Man kann es kaum so nennen. Basaroff suchte Ihre Bekanntschaft; er verfolgte damit einen ganz bestimmten Zweck. Nicht gerade den, dem auch wir nachgingen, aber immerhin einen, der seinen und unseren Weg schließlich zusammenführen mußte. Wenn Sie von einem glücklichen Zufall reden wollen, so betrachten Sie meine Teilnahme an dem Fall Wörner als solchen. Alles weitere spielte sich nach meiner Ansicht folgerichtig ab.«

Es war die letzte dunkle Äußerung, die Gerold dem einstigen Schulkameraden an diesem Abend zu entlocken vermochte, und trotz aller Aufklärungen, die ihm heute zuteil geworden waren, war das Gehirn des Sängers noch voll ungelöster Fragen, als er die Einsamkeit seines Zimmers aufsuchte.

*

Als die Gräfin Hohenwart aus dem Theater kam, hörte sie von dem Mädchen, daß Fräulein Sylvander sich gleich nach ihrer Heimkunft in ihr Zimmer zurückgezogen und die Tür hinter sich verriegelt habe.

»Wenn sie zur Ruhe gegangen ist, will ich sie nicht mehr stören,« meinte die rücksichtsvolle alte Dame.

Aber als die Gesellschafterin am nächsten Morgen beim Frühstück erschien, sah sie so übernächtig und angegriffen aus, daß ihr die Gräfin entgegenrief: »Sie müssen krank sein, Kind! Warum sind Sie nicht länger liegen geblieben? Ich lasse sofort einen Arzt rufen.«

»Ich bitte, das nicht zu tun, Frau Gräfin! Wenn mir wirklich etwas fehlt, kann kein Arzt mich davon befreien, denn es ist kein körperliches Leiden.«

»Was für geheimnisvoll schwermütige Reden sind das, liebe Elwine! Sie wissen, ich höre dergleichen nicht gerne. Wenn es ein Herzenskummer sein sollte, der Sie so mitnimmt, was kann Sie abhalten, ihn mir anzuvertrauen? Ich bin Ihnen doch keine Fremde.«

»Nein. Frau Gräfin haben mich vom ersten Tage an mit Güte und Wohlwollen überhäuft. Aber was mich bedrückt, kann ich keinem Menschen sagen. Ich kann nur inständig bitten, mir nicht zu zürnen, weil …«

Sie stockte, und die alte Dame betrachtete sie ungeduldig.

»Weshalb sollte ich Ihnen zürnen?«

»Weil ich nicht länger hier in Wien bleiben kann. Es ist mir unmöglich.«

»Ich glaubte, Ihnen eine Freude zu machen, als ich Sie mit mir nahm. Von Tag zu Tag wartete ich darauf, daß Sie endlich die Scheu vor dem Großstadtleben ablegen und ein bißchen aus sich herausgehen würden. Aber es ist statt dessen immer ärger geworden. Wollen Sie mir nicht sagen, warum Sie hier nicht bleiben können?«

»Ich kann es nicht sagen. Aber Frau Gräfin dürfen mir glauben, daß ich mich todunglücklich fühle, daß ich vor Angst vergehe.«

»Krank sind Sie; daran ist kein Zweifel. Und ich schicke Ihnen den Doktor über den Hals, ob Sie es wollen oder nicht. Mit einer solchen Jammermiene kann ich Sie nicht herumlaufen lassen. Sie möchten also nach Schloß Warteck zurück?«

»Nein. – Ich – ich möchte meine Stellung verlassen.«

»Fort wollen Sie – ganz fort? Auch wenn ich Ihnen erlaube, morgen nach Mähren abzureisen?«

»Auch dann, Frau Gräfin! Ich kann – ich darf nicht länger in Ihren Diensten bleiben.«

»So? Sie dürfen nicht? Was ist es denn, das Ihnen mit einem Mal so sehr mißfällt? Heraus mit der Sprache! Ich kann alles ertragen, nur keine Unaufrichtigkeit und Heimlichtuerei.«

»Ich verdiene die Güte nicht, die Sie mir erweisen; ich habe sie nie verdient.«

Die alte Dame stutzte. Ihr sonst so gütiges Matronengesicht nahm einen strengeren Ausdruck an.

»Was haben Sie auf dem Gewissen?«

»Ich kann es nicht sagen, Frau Gräfin. Und wenn ich es wollte – es wäre unmöglich, daß Sie mir verzeihen.«

»Warum? Es gibt nur wenig unverzeihliche Sünden. Daß Sie mich etwa belogen und hintergangen haben könnten, nehme ich nicht an.«

»Es ist so. Von der ersten Stunde an habe ich es getan.«

»Dann habe ich allerdings keinen Grund, Sie mit weiteren Fragen zu belästigen. Leute, die sich selbst beschuldigen, mein Vertrauen mißbraucht zu haben, kann ich nicht um mich dulden. Wann wünschen Sie auszutreten?«

»Am liebsten gleich. Oder wenn mich Frau Gräfin bis morgen dulden wollten –. Ich muß einige Vorbereitungen treffen und weiß nicht, wo ich mir bis zum Augenblick der Abreise ein Unterkommen suchen soll.«

»Ich stelle Ihnen frei, in diesem Hause und in Ihrem Zimmer zu bleiben, solange Sie es für unbedingt notwendig halten.«

Die Gesellschafterin, die vergeblich gegen die unaufhaltsam hervorbrechenden Tränen zu kämpfen suchte, machte eine Bewegung, als ob sie der alten Dame die Hand küssen wolle; aber die Gräfin wehrte ungnädig ab.

»Lassen Sie das, Fräulein Sylvander! Sie haben mir eine schlimme Enttäuschung bereitet. Es tut mir leid um Sie. Aber mit einer Lügnerin mag ich nichts zu tun haben.«

Mit wankenden Schritten verließ Elwine das Zimmer.

Eine kleine Weile später erhielt die Gräfin den Besuch ihrer Enkelin, und sie war noch zu aufgeregt, um ihr das Vorgefallene verschweigen zu können. Mitleidig suchte die junge Frau ihren Zorn zu begütigen.

»Du bist doch vielleicht zu streng und zu schnell gewesen, Großmama! Soll ich nicht versuchen, sie zum Reden zu bringen? Möglicherweise stellt sich heraus, daß sie selbst ihre Verfehlung härter beurteilt, als es notwendig wäre.«

Doch die alte Dame blieb eigensinnig.

»Was es auch sein mag, ich könnte nie mehr Vertrauen zu ihr gewinnen. Gerade weil sie so rein und so unschuldig aussieht, empört mich der Gedanke, daß sie mich jahrelang belog. Ohne Grund würde sie sich nicht beschuldigt haben. Ihr Benehmen, seit wir hier sind, erscheint mir jetzt in ganz anderem Lichte. Die Ursache war die Frucht eines schlechten Gewissens. Es fällt mir nicht leicht, mich von ihr loszusagen, denn ich hatte mich an sie gewöhnt und habe sie lieb gehabt. Die Wahrhaftigkeit aber geht mir über alles, und ich will kein Gesicht sehen, das eine trügerische Larve ist.«

Damit mußte sich auch Frau v. Ronay bescheiden. Bald darauf plauderten die Frauen von harmlosen Dingen, während wenige Schritte von ihnen entfernt ein tief unglückliches junges Geschöpf mit zuckendem Herzen und unter brennenden Tränen seine Vorbereitungen für die Fahrt ins Ungewisse traf.

*

Es war die zweite Nacht nach Doktor Basaroffs schwerer Erkrankung. Der Arzt war noch in später Stunde dagewesen und hatte tröstend von einer leichten Besserung gesprochen; aber die ernste Miene und der lange Händedruck, mit dem er sich von Frau Hala verabschiedet, hatten eine andere Sprache geredet.

Mitternacht war vorüber, und der Kranke lag wachsbleich mit weitgeöffneten, wachen Augen in seinen Kissen. Mit der Versicherung, daß er weder Schmerzen noch Beklemmungen fühle, hatte er Frau Stablewska, die zum Umsinken müde schien, endlich dazu vermocht, sich in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen und die weitere Nachtwache dem Diener Philipp zu überlassen. Der saß im Lehnstuhl neben dem Bett und schien gewissenhaft auf die Atemzüge des Leidenden zu lauschen. Plötzlich kehrte Basaroff sich ihm zu.

»Nehmen Sie meine Schlüssel, Philipp, und öffnen Sie das linke Schubfach meines Schreibtisches. Obenauf werden Sie einen großen Briefumschlag finden. Den wollen Sie mir bringen.«

Der Diener kam mit dem unverschlossenen Umschlag zurück, und die bebenden Finger des Doktors entnahmen ihm ein Päckchen von Kassenscheinen.

»Dies sind fünfzehntausend Kronen, Philipp! Sie gehören Ihnen, wenn Sie sich als ein treuer Mensch erweisen.«

»Herr Doktor sind sehr gütig; ich bin Ihnen immer treu gewesen. Es ist nicht nötig, daß Sie mich besonders dafür belohnen.«

»Hören Sie mich an! Sie wissen, daß ich bald sterben werde –morgen – übermorgen – vielleicht noch in dieser Nacht?«

»Nein, Herr Doktor, davon weiß ich nichts, und ich hoffe …«

»Ich werde bestimmt sehr bald sterben. Halten Sie es für Sünde, einen Sterbenden zu belügen?«

»Ja, ich halte es für Sünde, Herr Doktor!«

»Es freut mich, das zu hören. Beweisen Sie nun auch, daß es Ihnen ernst damit ist. Zuvor nehmen Sie dies Geld !«

»Ich werde es nicht nehmen. Wenigstens nicht als Belohnung dafür, daß ich nicht lüge. Was wünschen der Herr Doktor mich zu fragen?«

»Sie erinnern sich an die Reise, auf der Sie vor etlichen Wochen Frau Stablewska begleitet haben?«

»Ja.«

»Sie wollte sich nach einem geeigneten Sommeraufenthalt für mich umsehen, und ich wünschte, daß sie nicht ohne männlichen Schutz sei. Darum ließ ich Sie mitfahren und behalf mich während Ihrer Abwesenheit mit einem gemieteten Pfleger.«

»Ich erinnere mich daran, Herr Doktor!«

»Sie blieben ungefähr eine Woche fort. Sie waren in Abbazia und an einigen anderen Kurorten der adriatischen Küste?«

Eine Minute lang hörte man nichts als das leise Ticken der kleinen Standuhr auf dem Tischchen neben dem Bett. Dann, ohne eine Miene zu verziehen, erwiderte der Diener: »Nein. – Wir waren in Berlin.«

»Ich danke Ihnen, Philipp! Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen wegen der früheren Unwahrheit einen Vorwurf mache. Sie verschwiegen es mir ja nur, weil Frau Stablewska es Ihnen so befohlen hatte.«

»Ja, Herr Doktor!«

»Und es war von Ihrer Seite nichts als eine gutgemeinte Notlüge. Aber ich hätte jetzt gerne Näheres darüber erfahren. Es ist der Wunsch eines Sterbenden, Philipp – vergessen Sie das nicht. Sie haben es mir versprochen …«

»Die Wahrheit zu sagen: das werde ich tun.«

»Waren Sie immer in der Gesellschaft der Frau Stablewska?«

»Soweit die gnädige Frau meiner Dienste bedurfte – ja. Ich wohnte im selben Hotel und erkundigte mich täglich mehrmals nach den Befehlen der gnädigen Frau.«

»Welcher Art waren die Aufträge, die sie Ihnen erteilte?«

»Ich hatte einige Besorgungen und Einkäufe zu machen und später die Fahrkarten und das Gepäck für die Rückreise zu besorgen.«

»Das war alles?«

»Alles – bis auf einen Brief, den ich im Aufträge der gnädigen Frau schreiben mußte.«

»Einen Brief? An wen?«

»Das weiß ich nicht. Die Anrede lautete: ›Meine liebe Hilde!‹«

»Ja so – ganz recht! Erinnern Sie sich an das, was in dem Briefe stand?«

»Nicht nach dem Wortlaut, nur den Sinn habe ich im Gedächtnis behalten. Es war ein Empfehlungsbrief für ein Fräulein Trepoff, dessen sich die Empfängerin freundlich annehmen sollte. Außerdem stand darin, das; der Unterzeichner, dessen Namen ich nicht kenne, weil er auf der Vorlage nicht angegeben war, wegen seiner zunehmenden Augenschwäche den Brief diktieren mußte.«

»Das Schreiben machte Ihnen den Eindruck, daß es dazu dienen sollte, Fräulein Trepoff bei irgend jemand einzuführen?«

»Ja, so war es.«

«Trug es auch ein Datum?«

»Ja. Doch ich besinne mich nicht darauf. Ich weiß nur, daß der Brief aus Moskau datiert war.«

»Um das, was Frau Stablewska in Berlin tat, haben Sie sich nicht gekümmert?«

»Nein. – Soviel ich weiß, ging die gnädige Frau während der fünf Tage unseres Aufenthalts selten aus. Nur einmal mußte ich mich nach der Lage eines Villenvorortes Süd und nach einer Straße erkundigen, die Rüsternweg heißen sollte. Die Leute, die ich befragte, wußten es mir nicht zu sagen, und auf dem Stadtplan war die Straße nicht verzeichnet. Es war gleich nach unserer Ankunft, und als ich am nächsten Tage weiter nachforschen wollte, sagte mir die gnädige Frau, es sei nicht mehr nötig und habe von vornherein keine besondere Bedeutung für sie gehabt.«

»Es ist gut, Philipp! Ich weiß, daß Sie mir in allen Stücken die Wahrheit gesagt haben. Nur eine nebensächliche Frage noch: Bemerkten Sie beim Einpacken nicht zufällig, daß sich unter den Sachen der Frau Stablewska auch ein Dolch befand – ein langes, schmales, sehr spitzes Messer mit scharfer Klinge?«

»Möglicherweise meinen der Herr Doktor das Stilett, das gnädige Frau bei mir gesehen hatte, und das ich ihr auf ihren Wunsch überlassen mußte?«

»Möchten Sie mir diese Waffe zeigen?«

»Die gnädige Frau hat mir den Dolch nicht zurückgegeben, und ich mochte sie nicht daran erinnern.«

»Sie traten die Rückreise nach Wien an einem Donnerstagmorgen an. Erinnern Sie sich zufällig noch an irgendwelche Vorgänge des voraufgegangenen Tages? Wissen Sie zum Beispiel, ob Frau Stablewska auch an diesem Tage nicht ausging?«

»Die gnädige Frau war bis zum späten Nachmittag im Hotel; dann fuhr sie in einer Droschke fort. Wann sie zurückkehrte, weiß ich nicht. Zwischen acht und neun Uhr abends wurde ich zu ihr befohlen und erhielt die Weisung, für den nächsten Tag Fahrkarten zu besorgen und das Gepäck zum Bahnhof schaffen zu lassen.«

»War Frau Stablewska erregt, als sie Ihnen diese Aufträge erteilte? Ich frage das, weil ich annehme, daß sie an jenem Tage einen großen Verdruß erlebte.«

»Das ist möglich. Die gnädige Frau sah bleich aus und klagte über Kopfschmerzen. Ich mußte auch ein Gläschen mit Veronaltabletten aus der Apotheke holen. Vielleicht hing das Unwohlsein damit zusammen, daß Frau Stablewska vorher von einem starken Nasenbluten befallen worden war.«

»Sagte sie Ihnen das?«

»Während die gnädige Frau in ihrem Zimmer mit mir sprach, bemerkte ich einige Blutflecken an ihrer Bluse und ihrem Rock. Es sah aus, als ob es angespritzt wäre. Ich erlaubte mir, Frau Stablewska darauf aufmerksam zu machen, denn sie hatte die Flecken offenbar nicht bemerkt. Sie bedankte sich und erzählte, daß sie unterwegs einen leichten Ohnmachtsanfall und gleich darauf heftiges Nasenbluten gehabt habe. Ich erbot mich, die Kleidungstücke später zu holen und auf meinem Zimmer zu reinigen; aber die gnädige Frau wollte es nicht gestatten.«

»Das wäre auch kaum eine passende Arbeit für Sie gewesen. Nun will ich Sie nicht mehr mit weiteren Fragen quälen. Was ich zu erfahren wünschte, habe ich gehört. – Ich will jetzt versuchen zu schlafen. Vorher aber können Sie mir noch einen Dienst erweisen. In demselben Schubfach, aus dem Sie mir das Geld holten, werden Sie eine kleine silberne Dose von viereckiger Form finden. Bringen Sie mir, bitte, auch die.«

Philipp stellte das winzige Behältnis auf Basaroffs Weisung neben die Medizinflaschen auf das Nachtkästchen. Er hatte sich eben wieder in seinen Lehnstuhl niedergelassen, als eine der beiden Türen geräuschlos geöffnet wurde. In ihrem weiten Morgengewande trat Frau Hala Stablewska über die Schwelle. Sie warf einen Blick nach dem Bette, und als sie die geöffneten Augen des Kranken sah, näherte sie sich dem Lager.

»Ich kann keine Ruhe finden,« sagte sie, »Gehen Sie schlafen, Philipp! Ich werde bis zum Morgen bei Herrn Doktor Basaroff bleiben.«

»Ja, gehen Sie schlafen,« stimmte der Doktor zu. »Und nehmen Sie diesen Umschlag an sich. Der Inhalt gehört Ihnen. Ich wünsche keinen Widerspruch zu hören.«

Der Diener verbeugte sich und ging ans dem Zimmer.

Als Hala mit dem Kranken allein war, setzte sie sich auf den Rand des Bettes.

»Hast du ihm Geld gegeben, Gregor?« fragte sie.

»Ja,« erwiderte Basaroff ruhig. »Zur Belohnung seiner Treue.«

»Er verdient es gewiß. Aber es mußte doch nicht heute sein. Warum hast du nicht damit gewartet, bis du wieder gesund bist?«

»Wer weiß, ob ich es morgen noch hätte tun können! Außerdem hatte er mir gerade in dieser Nacht einen sehr großen Dienst erwiesen.«

»Was konnte das sein?«

»Er verschaffte mir die letzte unumstößliche Gewißheit über etwas, das ich schon seit Wochen wußte. Setz dich auf jenen Stuhl dort, Hala! Ich kann es nicht ertragen, daß du mir so nahe bist.«

Sie folgte der Aufforderung nicht. Ihre weit offenen Augen hefteten sich auf sein Gesicht, und mit zischenden Lauten drang ihre Flüsterstimme an sein Ohr: »Gewißheit? – Worüber? Du hast ihn über mich ausgefragt! Leugne, wenn du den Mut hast!«

»Ja – über dich! Über Elwine Sylvanders Mörderin.«

Sie erhob die zu Fäusten geballten Hände, und für einen Augenblick schien es, als ob sie sich über ihn werfen wolle, um ihn zu erdrosseln. Unter dem Blick aber, mit dem Basaroff sie ansah, sanken ihre Arme langsam herab.

»Du redest irre, Gregor – der Arzt hat mich darauf vorbereitet. Ich werde dir von den Tropfen geben, die er heute verschrieben hat.«

»Wozu die Komödie, Hala? Zwischen dir und mir ist es für dergleichen arme Künste zu spät. Die Tragödie unserer Liebe ist ausgespielt. Lassen wir denn den Vorhang sinken.«

Sie saß unentschlossen wie in einem letzten schweren Kampf. Dann glitt sie langsam neben dem Lager in die Knie und drückte ihre Stirn in die Falten der seidenen Decke, die Basaroffs hinfällige Gestalt umhüllte.

»Vergib mir, Gregor!« flehte sie mit versagender Stimme.

»Bekenne die ganze Wahrheit! Es ist kaum noch der Mühe wert, mich zu belügen.«

Daß er so ruhig sprach, flößte ihr neuen Mut ein. Ohne sich aus ihrer demütigen Stellung aufzurichten, hob sie den Kopf.

»Schwörst du, daß du mich nicht angeben wirst? – Schwörst du es bei deinem Leben?«

»Ich schwöre es bei meinem Leben, Hala –und bei dem deinigen.«

»Sie fiel durch meine Hand. Als ich sie aufsuchte, ging ich nicht mit der Absicht, es zu tun.«

»Wenn es nicht dein Vorsatz war, weshalb gingst du zu ihr?«

»Weil ich sie kennen lernen und mich – wenn es möglich sein sollte – mit ihr auseinanderzusetzen suchen wollte. Daß sie beständig wie ein gespenstischer Schatten zwischen uns stand, konnte ich nicht länger ertragen.«

»Und um mit ihr zu sprechen, führtest du dich unter einem falschen Namen bei ihr ein?«

»Sie würde mich nicht empfangen haben, wenn ich als Hala Stablewska zu ihr gekommen wäre. Erst nachdem ich mir Gewißheit verschafft, wollte ich mich ihr zu erkennen geben.«

»Woher war dir ihr Aufenthalt bekannt geworden?«

»Aus einer Aufzeichnung, die ich in deinem Schreibtisch fand. Weil du nie müde würdest, ihre Spur zu suchen, entstand in mir der Entschluß zu diesem letzten Versuch. Lange sann ich vergebens nach, was ich tun sollte, zu ihr zu gelangen. Dann fiel mir Professor Pauli in Moskau ein, von dem ich wußte, daß er dir und Elwinen in väterlicher Freundschaft nahe gestanden. Ich nahm einen seiner an dich gerichteten Briefe an mich, um seine Namensunterschrift nachahmen zu können. Daß er wegen seines Augenleidens seine Briefe diktieren muß, kam mir zustatten. Ich konnte mich so für das benötigte Empfehlungsschreiben, das von ihm verfaßt scheinen sollte, jeder fremden Handschrift bedienen. So brachte ich sie als das vom Professor empfohlene Fräulein Trepoff, das in Deutschland sein Fortkommen suchen wolle, dahin, mich zu empfangen. Du hattest mir soviel von Professor Pauli erzählt, daß es mir bei meinem ersten Besuch leicht fiel, jedes Mißtrauen zu zerstreuen. Und ich schwöre dir, Gregor, daß mir bei diesem ersten Besuche nichts ferner lag als der Gedanke, sie zu töten.«

»Warum zögertest du, die Auseinandersetzung herbeizuführen?«

»Weil ich sie anders fand, als ich's nach deinen Schilderungen und ihren Bildern, die du noch immer wie Heiligtümer aufbewahrst, vermuten konnte. Sie kam mir alt und beinahe häßlich vor. Auch ihr Wesen machte durchaus den Eindruck von Engherzigkeit und Kleinlichkeit auf mich. Es schien mir lächerlich, mit ihr um den Besitz eines Mannes zu kämpfen. Erst hatte ich die Absicht, nicht zum zweitenmal zu ihr zu gehen, obwohl sie mich dringend darum gebeten. Nachher überlegte ich mir's doch anders.«

»Und du nahmst für deinen zweiten Besuch ein Dolchmesser mit, trotz deiner friedlichen Absichten!«

»Es war eine Eingebung des Augenblicks. Ich weiß nicht mehr, was ich mir dabei dachte.«

»Und dann? Wie ist es geschehen?«

»Ich kann nicht schildern, was mich dazu trieb. Elwine wollte sich zu einem Theaterbesuch umkleiden, und weil wir ins Plaudern gekommen waren, bat sie mich, ihr dabei Gesellschaft zu leisten. Wie sie da halb entkleidet vor mir stand, sah ich, daß sie doch immer noch sehr schön war, und die alte Eifersucht verwirrte mich. Wir sprachen von dir, denn sie glaubte, du seiest mir fremd, und ich verriet mich nicht. Darum legte sie sich keinen Zwang auf, und aus ihren Worten entnahm ich die Gewißheit, daß sie dich noch immer liebte. Die Gefahr, dich zu verlieren, schwebte beständig über meinem Haupte. Irgend ein Zufall, ein stürmisches Aufflackern der nie erloschenen Sehnsucht hüben oder drüben konnte sie in deine Arme zurückführen. Da wurde es mir plötzlich dunkel vor den Augen. Ich sah nichts mehr als die Weiße ihres mir zugekehrten Nackens – und als ich wieder zur Besinnung kam, war es geschehen.«

Eine lange Stille folgte ihren letzten, kaum noch verständlich hingehauchten Worten. Basaroff hatte die Augen geschlossen; er glich einem Toten. Die raschen, ungestümen Atemzüge des jungen Weibes waren minutenlang das einzige hörbare Zeichen menschlichen Lebens in dem matterhellten Zimmer. Dann hoben sich langsam die Lider des Kranken; mit schwerer Anstrengung richtete er sich zu sitzender Stellung auf.

»Ich wußte es längst, Hala! Begreifst du nun, wie schwer diese furchtbaren letzten Wochen für mich zu ertragen gewesen sind? Stunde um Stunde kämpfte ich mit dem Verlangen, dir ins Gesicht zu schreien, was ich wußte. Aber ich sah voraus, daß das das Ende sein würde. Und noch immer hing ich am Leben –und an dir.«

»Auch an mir, Gregor? Oh, wenn du mich noch immer liebst, dann mußt du mir verzeihen. Ich tat es doch nur aus Liebe zu dir.«

»Ob du es deshalb getan oder aus einem anderen Grunde – ich verzeihe dir; ich will nicht, daß du die Strafe einer Mörderin erleidest.«

»Du sollst das schreckliche Wort nicht aussprechen, Gregor! Aber ich danke dir inbrünstig. Du nimmst mir eine furchtbare Last vom Herzen. Durch deine Verzeihung bin ich entsühnt.«

»Noch nicht, Hala! Du sollst nie auf einer Anklagebank und nie im Zuchthause sitzen. Aber du sollst dich auch nicht in Angst und Qual durch eine lügnerisch erschlichene Freiheit stehlen. Du sollst dich selbst zur Richterin machen über deine Tat.«

In fassungslosem Entsetzen starrte sie ihn an.

»Was ist das? Was soll das heißen? Welches Ungeheuerliche mutest du mir zu?«

»Sei getrost. Es ist so schwer nicht, als du dir's vorstellst. Ich will es dir leicht machen – ganz leicht. Wir gehen zusammen.«

Hala sprang auf und wich bis in die Mitte des Zimmers zurück.

»Nein!« rief sie mit abwehrend ausgestreckten Armen. »Nein! – Kein Wort mehr davon! Ich tue es nimmermehr.«

»Doch – du wirst es tun,« beharrte er ruhig. »Es bleibt dir keine Wahl. Oder möchtest du lieber durch alle Folterqualen eines Gerichtsverfahrens gehen? Möchtest du auf dem Blutgerüst oder im Zuchthaus enden?«

»Mit solchen Drohungen darfst du mich nicht ängstigen. Du hast geschworen, mich nicht zu verraten.«

»Ich werde meinen Schwur nicht brechen. Aber es sind andere da, die dich verraten können, und die dich verraten werden.«

»Das ist nicht wahr. Niemand außer dir und mir weiß, was geschehen ist. Wenn man Verdacht gegen mich hegte, hätte man mich längst gesucht.«

»Man würde dich bald finden – verlaß dich darauf. Du gabst dich in die Hände eines Dieners. Und wenn du ihn mit Schätzen überhäuftest, er würde doch nicht schweigen.«

In beginnender Verzweiflung preßte sie die Hände gegen die Schläfen.

»Philipp? Was hat er dir gesagt?«

»Genug, um mir zu beweisen, daß er alles durchschaut. Und er ist nicht der einzige. Du hast einen noch schlimmeren Feind als ihn. Dieser Doktor Meussi ist nicht, was er scheint. Er ist entweder ein Geheimpolizist oder ein Detektiv. Als er mich gestern ausfragte, wurde es mir klar. Diese Erkenntnis war die Ursache des Anfalls, der mich niederwarf. Sei versichert, Hala: es wäre nur noch eine Galgenfrist, die dir vergönnt ist. Willst du in jämmerlicher Feigheit warten, bis sie dich holen?«

Mit dumpfem Aufstöhnen brach sie in einem Stuhl zusammen. –

Basaroff sprach mit seiner leisen, gelassenen Stimme weiter: »Es gibt keinen anderen Weg der Rettung als den, auf dem ich dich begleiten will. Ich verlasse dich nicht. Wir bleiben zusammen. Sieh, Hala: ich schütte ein wenig von diesem Pulver in das Glas hier – und den Rest in das zweite. Gleichzeitig werden wir den Trank der Erlösung und des Vergessens trinken. Du wirst nichts von Schmerzen spüren und nichts von Todesangst. In meinen Armen, an meiner Brust wirst du sanft und kampflos entschlafen.«

»Gregor, sei barmherzig! Ich bin ja so jung. Ich will, ich kann noch nicht sterben.«

»Warum erschwerst du dir, was unabänderlich ist? Komm her zu mir, Hala! Laß uns bis zum letzten Augenblick Meister unseres Schicksals bleiben.«

Sie richtete sich auf. Mit kleinen, langsamen Schritten, als müsse sie eine ungeheure Last nach sich ziehen, näherte sie sich seinem Lager.

»Und wenn du doch nur Gespenster gesehen hättest, Gregor? Wenn Meussi nicht wäre, wofür du ihn hältst? Soll ich mich verloren geben, solange es noch eine Hoffnung gibt, mich zu retten?«

»Es gibt keine. Wenn ich tot bin, findest du in der Welt keinen Menschen mehr, der dich schützt.«

Schluchzend warf sie sich über das Bett. Mit sanften Händen richtete Doktor Basaroff ihren Kopf empor.

»Laß dich noch einmal küssen, Hala! Und dann – nicht wahr? –dann machen wir uns getrosten Mutes auf die Reise.«

Sie ließ es geschehen, daß seine Lippen die ihren suchten. Ihre Widerstandskraft war gebrochen.

*

Doktor Meussi verlor keine Zeit. Schon am Morgen nach seiner wichtigen Entdeckung hatte er mit den Nachforschungen nach Elwine Sylvander begonnen, und die Schnelligkeit des Erfolges hatte selbst ihn, den an die wunderbarsten Fügungen Gewöhnten, in Erstaunen versetzt.

Auf dem polizeilichen Meldeamt Wiens, an das er sich zunächst gewendet, hatte man ihm gesagt, daß ein Fräulein Elwine Sylvander als Gesellschafterin der Gräfin Hohenwart zu vorübergehendem Aufenthalt angemeldet sei, und hatte ihm die Fremdenpension genannt, in der sie wohne. Aber er war mit dieser Neuigkeit nicht sofort zu Gerold geeilt, sondern hatte den ganzen Tag damit zugebracht, nähere Erkundigungen einzuziehen. Denn er wollte seiner Sache ganz sicher sein, ehe er s dem Sänger die Nachricht brachte, die sehnlichst Gesuchte sei endlich gefunden.

Am späten Abend glaubte er sich dazu berechtigt, und er mußte ausführlich über die ihm erteilten Auskünfte berichten, ehe Gerold sich entschließen konnte, ihm zu glauben. Dann wäre er am liebsten noch in der Nacht zu der Jugendgeliebten geeilt, die ihm durch die Ereignisse der letzten Wochen zu einem Gegenstand heißerer Sehnsucht geworden war denn je zuvor. Schlaflos erwartete er den jungen Tag, und es war kaum hell geworden, als er sich auf den Weg machte. Vor dem bezeichneten Hause stand eine Droschke, und der Hausdiener war eben im Begriff, dem Kutscher einen Reisekoffer hinaufzureichen. An ihn wandte sich Gerold mit seiner Frage.

»Fräulein Sylvander?« wiederholte der Bursche. »Jawohl. Im zweiten Stock Nummer 27. Das Fräulein will eben abreisen. Das hier ist ihr Gepäck.«

Rasch stürmte der Sänger die Stiege empor. Als er das zweite Stockwerk erreicht hatte, kam ihm die, die er suchte, entgegen. Sie erkannte ihn sofort; aber es gab keine Möglichkeit mehr, ihm zu entfliehen. Totenbleich und unfähig zu sprechen, lehnte sie sich gegen die Wand. Gerold ergriff ungestüm ihre schlaff herniederhängenden Hände.

»Hilde! – Meine Hilde!«

Sie machte einen Versuch, sich zu befreien.

»Laß mich – lassen Sie mich! – Ich – ich muß fort. Ich – ich – o mein Gott, warum mußte das geschehen!«

Hinter ihr stand eine Zimmertür offen, und trotz ihres Widerstrebens zog er sie in das Gemach, das sie soeben verlassen.

»Nein, du wirst nicht fortgehen – nicht ohne mich. Soll ich dich jahrelang gesucht haben, nur um dich im Augenblick des Wiederfindens abermals zu verlieren?«

Er hatte die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt, aber obwohl sie unbeobachtet waren, duldete Hilde Wörner nicht, daß er sie in seine Arme zog.

»Gehen Sie!« rief sie flehend. »Wenn Sie mir gut waren, so gehen Sie! Ich kann Ihnen nicht Rede stehen. Aber ich werde Ihnen schreiben – alles, alles werde ich Ihnen schreiben.«

»Nichts könntest du mir schreiben, was ich nicht schon weiß. Würde ich Fräulein Sylvander gesucht haben, wenn ich nicht alles wüßte?«

Sie fragte nicht, wie er ihr Geheimnis erfahren konnte; hatte sie doch seit der Begegnung im Theater davor gezittert, daß er sie finden würde. Gesenkten Hauptes, fassungslos, stand sie vor ihm.

»Dann hättest du nicht kommen dürfen, Winfried! Aus Barmherzigkeit hättest du es unterlassen müssen, mich als Betrügerin vor dir zu sehen.«

»Was du Betrug nennst, war ein hochherziges Opfer der Freundschaft, Hilde! Wenn es möglich wäre, liebte ich dich um deswillen nur noch inniger. Und nun hat ja auch das ein Ende. Künftig wirst du weder Elwine Sylvander noch Hilde Wörner heißen sondern Hilde Gerold.«

Etwas so unwiderstehlich Fortreißendes ging von seiner überströmenden, glücktrunkenen Fröhlichkeit aus, daß Hildes schwaches Widerstreben seinem Ungestüm nicht mehr lange standhielt. Mit geschlossenen Augen, unter deren Lidern unaufhaltsam Tränen hervorquollen, ließ sie den Kopf an seine Schulter sinken.

»Wenn es nur ein Traum wäre, Winfried,« flüsterte sie, »möchte ich vor dem Erwachen sterben.«

Sie sträubte sich nicht dagegen, daß er ihre blassen Wangen küßte.

*

Im Augenblick, da er erfuhr, daß man Doktor Gregor Basaroff und Frau Hala Stablewska entseelt im Schlafgemach des Russen gefunden habe, betrachtete Doktor Ralph Meussi seine Aufgabe als beendet. Denn nicht um der lüsternen Neugier der Menge Stoff zu bieten, hatte er sie zu lösen unternommen. Er hielt Hala Stablewska für eine Mörderin, und nach seinem Empfinden war die Tat am Rüsternweg gesühnt. Nichts lockte ihn, der Welt seinen Scharfsinn zu beweisen, indem er die Unselige noch nach ihrem Tode als Verbrecherin brandmarkte. Ob die Ermordung der falschen Hilde Wörner auch weiterhin ein unaufgeklärtes Geheimnis blieb, kümmerte ihn nicht.

 

*


 << zurück