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8

Mit heißem, stampfendem Motor keuchte der kleine Fordwagen den Waldweg hinauf, der in Windungen am Abhang der steilen Tantonhöhe hinführte, um sich auf der anderen Seite ins Tal zu senken. Goade sah sich beim Abstieg plötzlich aus der beinahe unheimlichen Waldesstille auf den Schauplatz eines Dramas versetzt. Vor ihm lag ein Pächterhaus, das von behaglichem Wohlstand zeugte. Es war ein graues Steingebäude mit rotem, vom Alter verblichenem Ziegeldach und niedrigen, efeuumrankten Fenstern. In seiner Umgebung waren mindestens ein Dutzend mächtige Heuschober, ein großer Obstgarten, dessen Bäume voller Früchte hingen, ein sauber gehaltener Pachthof und in einiger Entfernung eine Reihe von Arbeiterhäusern zu sehen. Auf dem Fahrweg, gerade vor dem Eingangstor, stand ein großer Mann in dem groben Wollanzug eines Pächters. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, und das rote Gesicht hatte vielleicht sonst einen gutmütigen Ausdruck, aber in diesem Augenblick schien es von wilder Wut verzerrt. In der rechten Hand hielt er eine Reitpeitsche. Tödlicher Haß lag in den blauen Augen, die auf einen Mann gerichtet waren, der einige Schritte von ihm entfernt stand. Dieser war offenbar aus einem kleinen gelben Wohnwagen gestiegen, der die Durchfahrt auf dem Wege verhinderte. Das schwarze Haar dieses Mannes, seine olivenbraune Gesichtsfarbe, die nachlässig-selbstbewußte Haltung ließen einen Zigeuner in ihm vermuten. Er stand mit dem Rücken dem zerbrochenen Fenster seines Wagens zugekehrt und schien es nicht der Mühe wert zu halten, eine abwehrende Haltung einzunehmen, aber seine Augen folgten heimlich jeder Bewegung des Pächters. Goade, dessen Wagenbremse durch den Abstieg erhitzt war, fuhr noch einige Meter weiter und mußte dann notgedrungen vor dem Wohnwagen halten, von dem ein Rad in den Seitengraben geraten war. Jetzt bemerkte er, daß die beiden Männer, die zuerst seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatten, nicht die einzigen Personen des kleinen Schauspiels waren. Einige Landarbeiter, mit dem Ausdruck blöder Verlegenheit auf dem Gesicht, umstanden den Wagen, und etwas abseits lehnte eine große, starke Frau am Tor und betrachtete die Szene mit sichtlichem Vergnügen. Sie hatte glattes schwarzes Haar und blitzende braune Augen und trug ein rosa Kleid, das gegen die grünen und goldgelben Farben der Landschaft seltsam abstach. Ihre Lippen, um die ein lässiges Lächeln spielte, waren unwahrscheinlich rot. Es sah aus, als freute sie sich an dem Schauspiel, und sie empfand Goades Ankunft sichtlich als Störung.

Dieser stieg mit einem leisen Seufzer aus dem Auto. Er war ein tapferer Mann und ging nie einem Kampf aus dem Wege, wenn er geboten schien, aber er liebte durchaus keine Störungen. Auf den ersten Blick war die Befürchtung in ihm aufgestiegen, daß sich hier eine alltägliche, schmutzige kleine Tragödie vor seinen Augen abspielte. Der Pächter hatte wahrscheinlich eine Zigeunerin geheiratet, und das war einer ihrer früheren Gefährten, der gekommen war, um zu betteln, zu borgen, einen Erpressungsversuch zu machen oder sein altes Liebchen zu besuchen. Flip lief mit wichtiger Miene um ihren Herrn herum. Sie fühlte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, blickte bald hierhin, bald dorthin, wie um den Grund zu erfahren und ließ ein kurzes fragendes Gebell hören. Goade faßte ihre Neugier in Worte.

»Was gibt es hier?« fragte er. »Ich habe keinen Platz zum Durchfahren.«

»Wenn meine Leute da nur so viel Herz wie Kaninchen hätten,« erklärte der Pächter in zornigem Ton, »so würden sie den verdammten Wagen in den Graben schmeißen und Platz machen.«

Der angebliche Zigeuner drehte sich mit einem seltsamen Lächeln Goade zu.

»Sie sehen,« bemerkte er, »ich bin – ich weiß nicht, warum – für diesen ehrenwerten Pächter ein Gegenstand der Abscheu geworden. Ich seh' ihn zum erstenmal in meinem Leben und weiß absolut nicht, wodurch ich ihn gekränkt haben könnte. Aber als ich in diesem Hause Hilfe suchte – Sie sehen, auf diesem abscheulichen Weg ist eines meiner Räder unglücklicherweise in den Graben geraten –, hab' ich in ein wahres Hornissennest gestochen. Sie scheinen ein vernünftiger Mann zu sein, Sir. Fragen Sie ihn selbst, auf welche Weise ich ihn beleidigt habe. Fragen Sie Madame dort am Tore, die mich auslacht, ob sie mich je im Leben gesehen hat. Fragen Sie die blöden Kerls, warum sie mir nicht helfen wollen, meinen Wohnwagen – wenn er diesen Namen verdient – wieder auf die Räder zu bringen.«

Goade blickte einen Moment auf den Sprechenden, ohne zu antworten. Seine Kleidung war einfach genug, aber der Wollanzug war von gutem Schnitt und die schäbige Krawatte ließ noch Farben ahnen, die einmal sehr modern gewesen sein mochten. Sein Hemd war aus grobem Flanell, aber sauber, und die abgetragenen Kniehosen und Schuhe hätten sehr gut einem Landedelmann gehören können. Und noch deutlicher zeigte die Stimme des Mannes mit ihrem leicht schleppenden Tonfall, daß er ein gebildeter Mensch war.

»Was ist los?« fragte Goade den Pächter. »Warum lassen Sie Ihre Leute nicht zugreifen, um den Wagen aufzurichten?«

Die Frau öffnete plötzlich die Gartentür und trat hinaus. Ihr Gang hatte etwas wundervoll Freies, und das leise Wiegen in den Hüften schien auf eine fremde Herkunft hinzudeuten. Goade betrachtete sie unwillkürlich mit bewunderndem Blick.

»Ich will es Ihnen erzählen«, sagte sie. »Mein Mann findet Tag und Nacht keine Ruhe, aus Furcht vor Zigeunern. Warum, weiß ich nicht; denn ich selbst bin eine Zigeunerin und es sind die harmlosesten Leute auf der Welt. Aber ich weiß es doch. Soll ich es den Herren sagen, John?«

»Zum Teufel, sag' ihnen, was du willst«, erwiderte der Pächter mürrisch.

»Mein Mann hat keine Manieren,« seufzte sie, »und er ist schlechter Laune. Ich will Ihnen sagen, warum er wütend ist, wenn ein Zigeuner am Haus vorbeikommt.«

Sie schwieg einen Augenblick. Sie hatte bis dahin zu Goade gesprochen. Jetzt wandte sie sich von ihm ab und ihre Augen suchten den Blick des anderen Mannes.

»Vor einem Jahr«, erzählte sie, »kam eine alte Wahrsagerin des Weges – ein armes, altes Weib, aber sie besaß die Gabe, die kein Mensch verstehen kann. Es war Erntezeit und mein Herr Gemahl war guter Dinge. Er wollte durchaus seine und meine Zukunft wissen und bekam etwas zu hören, was ihm seitdem wohl oft das Leben zur Qual gemacht hat. Die Frau sagte ihm, daß einst der Tag kommen würde, an dem ich sein Haus verlasse, und der Mann, der mich fortführen sollte, würde einer meines Stammes sein.«

Wieder schwieg sie still, und ihre Augen leuchteten seltsam, während sie dem Fremdling mit dem Wohnwagen zulachte. Etwas Spöttisches, Herausforderndes lag darin und zugleich ein Hauch von Sehnsucht. Sie zuckte die Achseln.

»Ihre Wahrsagerin hat unbesonnen gehandelt«, bemerkte der Fremde lächelnd.

»Verdammte alte Hexe!« brummte der Pächter.

»Leider«, fuhr sie fort, »war das Unglück geschehen, sobald sie den Mund geöffnet hatte. Mein Gatte schenkte ihr Glauben. Seit dieser Zeit lebt er in ewiger Angst vor dem Tag, an dem die Weissagung sich erfüllen sollte. Das ist der Grund, Sir«, schloß sie, »aus dem er sich so wenig gastlich zeigt, obwohl ich nicht weiß, was ihn dazu veranlaßt, Sie für einen Zigeuner zu halten, es müßte denn Ihr schwarzes Haar, Ihre dunkle Haut und der Hausiererwagen sein, den Sie haben. Sind Sie ein Zigeuner, Herr Hausierer?« fragte sie und warf den Kopf ein wenig frech zurück.

Wieder trafen sich ihre Blicke über die Straße weg, und der Pächter packte seine Reitpeitsche fester.

»Madame,« erwiderte der Mann in höflichem Ton, »wenn ich ein Hausierer bin, so sehen Sie sich meine Waren an.«

Er öffnete die gelbe Wagentür und ließ das Innere sehen. Aber es war nichts darin zu finden, was man einen Handelsartikel hätte nennen können – nur ein sauber aufgerolltes kleines Reisebett, einige Aquarelle und Drucke an den Wänden, übervolle Bücherregale, ein kleiner Ofen und ein mit irdenem Geschirr gefülltes Schränkchen. Der Pächter trat einen Schritt näher und warf einen finsteren Blick hinein. Die Frau steckte mutig Kopf und Schultern durch die Öffnung.

»Ein sehr nettes Heim«, flüsterte sie. »Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe, Sir. Ich glaube, Sie sind kein Hausierer.«

Die Spannung schien sich gelöst zu haben. Der Pächter machte ein einfältiges Gesicht. Der Besitzer des Wohnwagens klopfte eine Zigarette gegen eines der Räder und zündete sie an. Goade, der solche Dinge schnell zu bemerken pflegte, roch sofort, daß es ausgesucht guter Tabak war.

»Die Wahrheit ist,« gab der Fremde zu verstehen, »daß ich nicht weiß, wie man es anfängt, um hausieren zu gehen, sonst täte ich es vielleicht. Ich bin arm und daher gezwungen, mir mein Brot zu verdienen. Aber alle meine Anstrengungen in dieser Hinsicht beschränken sich – nun, ich will der Sache einen recht würdigen Namen geben – auf etwas Schriftstellerei. Ich war in dieser Gegend gerade bemüht, einen kleinen Artikel abzuschließen und vergaß dabei, auf den Weg zu achten, da scheute mein geduldiger, aber wenig unternehmungslustiger Gaul vor einem jungen Huhn und versetzte mich in diese unangenehme Lage.«

»Ich glaube, das Beste, was wir tun können,« riet Goade dem Pächter, »ist, ihm zu helfen, freizukommen. Das Rad sinkt immer tiefer ein.«

»Wenn er gleich gesagt hätte, daß er kein Zigeuner ist,« brummte der Pächter, »so wäre alles gut gewesen. Ich will keinen Zigeuner auf meinem Grund und Boden oder in der Nähe sehen, das wissen alle, und wer meine Frau eine Zigeunerin nennt, ist ein Lügner. Sie hat nichts mit ihnen zu tun und zu schaffen. Sie ist meine richtig angetraute Frau, wie jedermann in dieser Gegend weiß, und wenn sie auch früher einmal eine geborene Zigeunerin gewesen wäre, so ist sie doch jetzt eine richtige Devonshirefrau und nichts anderes. Bill und John, kommt her! Stemmt eure Schultern gegen den Wagen.«

Mit vereinten Kräften gelang es der kleinen Schar und dem Gaul, den Wagen wieder in die Mitte des Fahrwegs zu bringen. Der Pächter warf Goade einen Blick zu.

»Es ist am besten, Sie fahren auf einen Augenblick zum Tor hinein«, riet er. »Der Weg ist hier sogar für einen einzigen Zweispänner recht eng. Sie können an der Vorderseite des Hauses herum und durch das Tor am Ende der Wiese hinausfahren; so werden Sie den Wagen hinter sich haben. Sonst können Sie drei Meilen weit nicht an ihm vorbeikommen.«

»Das ist ein guter Rat«, stimmte der Besitzer des Wohnwagens zu. »Ich fahre gerne langsam. Man ruht sich dabei aus.«

Der Zwischenfall schien erledigt zu sein; die Knechte gingen ihres Weges. Der Pächter trat zurück und öffnete Goade das Tor.

»Was halten Sie von ihm?« fragte er in vertraulichem Ton. »Er spricht wie ein Herr, aber er sieht doch aus wie ein Zigeuner.«

»Es ist klar,« erwiderte Goade, »daß er ein gebildeter Mann ist. An Ihrer Stelle würde ich mich nicht weiter um ihn kümmern.«

Goade fuhr durch den Pachthof und um das stattliche Haus herum. Die Frau stand an dem andern Tor. Sie öffnete es und lachte ihm ins Gesicht, als er herangefahren kam.

»Schenken Sie mir Ihren kleinen weißen Hund«, bat sie. »Ich brauche hier Gesellschaft.«

Goade schüttelte den Kopf.

»Ich kann mich nicht von ihm trennen,« sagte er, »ich würde mich zu einsam fühlen.«

»Einsam!« wiederholte sie langsam. »Kein Mann weiß, was Einsamkeit ist.«

Er fuhr durch das Tor, lüftete den Hut und winkte dem Fremden zu, der schon, zur Abfahrt bereit, in seinem Wagen saß. Am Ende der langen Steigung, die bald folgte, bemerkte Goade, daß das Wasser im Kühler kochte, er hielt auf einen Moment an und blickte sich um. Die Frau war allein zurückgeblieben und lehnte beinahe in der gleichen Stellung am Tor, in der er sie zuerst gesehen hatte, nur daß sie den Kopf nach seiner Richtung wandte. Irgendwo zwischen ihm und ihr stieg der Wohnwagen langsam die Höhe hinauf ...

Etwa eine Stunde später verzehrte Goade in dem kleinen Gastzimmer des »Königshofs« zu Dunstowe Eier mit Speck und trank ein Glas Bier dazu, als er auf den Widerhall schwerer Huftritte aufmerksam wurde, die durch den Torbogen in den Hof des Gasthauses drangen. Er blickte auf. Es war der Wohnwagen mit dem Besitzer auf dem Bock. Nach wenigen Minuten kam er hereingeschlendert und begrüßte Goade freundlich.

»Ich bin wie eine Schildkröte hergekrochen«, sagte er und klingelte nach der Bedienung.

»Wollen Sie die Nacht hier verbringen?« fragte Goade.

Der Ankömmling bestellte bei der Kellnerin, die sogleich erschien, ein Glas Sherry und etwas zu essen. Dann wandte er sich wieder zu Goade.

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Vielleicht miete ich ein anderes Pferd und fahre die Nacht durch. Nein!« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »ich weiß, das tue ich doch nicht.«

Ganz erschöpft warf er sich in einen Lehnstuhl. Die tiefen Schatten unter seinen Augen verstärkten den Eindruck, daß er am Ende seiner Kräfte war.

»Sie sehen aus, als wären Sie die Höhe zu Fuß hinaufgewandert«, sagte Goade in mitfühlendem Ton.

»Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe«, gestand der andere. »Ich weiß nur, daß ich hier bin und daß der Weg mir endlos schien.«

»Wie weit fahren Sie?«

Der Besitzer des Wohnwagens schüttelte den Kopf.

»Das kann ich nie sagen«, antwortete er. »Wenn ich aufbreche, fahr' ich zu. Vielleicht packt mich die Laune, bis nach Land's End zu fahren, und übermorgen kann ich wieder nach Piccadilly reisen wollen. Heute abend hab' ich das Gefühl, daß unentdecktes Land vor mir hegt.«

»An Ihrer Stelle würde ich hier übernachten und mich ein wenig ausruhen«, riet Goade. »Sie werden alles sehr komfortabel finden. Übrigens – mein Name ist Goade – Nicholas Goade. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Ich bin Herr X«, erklärte der Fremde. »Ich unterzeichne meine Artikel – von denen Sie manche vielleicht gelesen haben – bloß mit ›X‹. Auch in den Hotelbüchern trage ich mich – es reizt die Neugier – als ›Mr. X‹ ein. Der Berechtigungsschein für meinen Wohnwagen erfordert leider mehr Mitteilsamkeit von meiner Seite. Auf meinen Visitenkarten, muß ich gestehen, werden Sie den Namen Lauriston – Spencer Lauriston – vermerkt finden. Ich denke, das ist ein ganz harmloser Name, jedenfalls nicht der eines Zigeuners.«

Goade lächelte.

»Sie denken immer noch an unseren seltsamen Freund, den Pächter«, bemerkte er.

»War er seltsam?« fragte der Mann in nachdenklichem Ton. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er recht. Meine Großmutter war Spanierin, und man erzählt sich mancherlei von ihr – was kann man wissen? Gewisse Anlagen können jahrelang in uns schlummern und plötzlich geweckt werden. Vielleicht, Mr. Goade, hatte der Pächter im Grunde doch recht. Vielleicht bin ich ein Zigeuner.«

»Ihre Erziehung –« begann Goade.

»Allerdings,« unterbrach ihn der andere, »ich habe in Winchester und Oxford studiert. Aber vergessen Sie nicht meine spanische Großmutter.«

Die Kellnerin brachte den Sherry. Gierig trank er und sah zu, wie das Mädchen das Gedeck für seine Abendmahlzeit auflegte.

»Eine seltsame kleine Komödie, auf die wir beide da gestoßen sind«, fuhr er fort und lehnte sich mit hinter dem Kopf gefalteten Händen zurück. »Beinahe ein Bild für einen Maler: die Frau, so unerhört ungewöhnlich, mit ihren flammenden Farben, ihrer verächtlichen Miene, der Pächter – dieser alte Narr! – der sich behexen ließ und die seltsame Frau heiratete. Was das wohl noch geben wird?«

»Vielleicht eine Tragödie«, meinte Goade, »oder eine Komödie – sie sind immer nahe beieinander. Für beides ist der Stoff gegeben. Es fragt sich nur, ob die Charakteranlage der Frau oder ihre idyllisch-ländliche Umgebung die Oberhand behält. Im ersten Falle gibt es ein Unglück. Im zweiten schickt sie sich in ihre Verhältnisse. Was geschieht, hängt nur vom Zufall ab, denk' ich.«

»Sind Sie verheiratet, Mr. Goade?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Vielleicht ist das klug von uns. Eine glückliche Ehe setzt eine gewaltige Anpassung voraus, die der Tod der Liebe ist. Hier sitze ich«, fügte er hinzu und stand auf, »und rede Unsinn, statt meinen Speck mit Eiern zu essen. Wie schade, daß ich nicht eine halbe Stunde früher angekommen bin«, fuhr er fort, als er sich an den Tisch gesetzt hatte. »Wir hätten zusammen speisen können. Aber, bitte, lassen Sie mich nicht allein. Ich habe heute abend kein Bedürfnis nach Einsamkeit.«

Goade zündete seine Pfeife an und streckte sich in einem Lehnstuhl aus.

»Ich bleibe mit Vergnügen hier, wenn meine Pfeife Sie nicht stört«, stimmte er zu. »Sie nehmen sich wohl selten die Mühe, ein Gasthaus aufzusuchen? Das Innere Ihres Wagens sah sehr einladend aus.«

»Zwischen dem Schauplatz unseres kleinen Abenteuers und hier hab' ich kein Gemeindeland gefunden,« erzählte Spencer Lauriston, »und meine Art zu reisen wie meine Gesichtsfarbe sind allen Pächtern unsympathisch. Sie sind nicht davon abzubringen, daß ich ein Zigeuner bin und ein Auge auf ihr Geflügel, ihre Eier, Kaninchen oder gar ihre Frauen werfe. Jedenfalls hatte ich Lust, heute Nacht in einem Bett zu schlafen. Mein Reiselager ist ganz bequem, aber etwas eng. Wenn ich schlaflos bin, kann ich nicht die richtige Lage finden ... Was ist das? Ein durchgehendes Pferd?«

Man hörte auf der Straße ein Pferd galoppieren. Beide bückten zum Fenster hinaus. Ein junger Mann stürzte sich beinahe von einem großen, braunen Gaul hinunter, der mit Schweiß und Schaum bedeckt war. Dann schellte er an einem sauberen, weißgetünchten Hause auf der anderen Seite der Straße, ein Metallschild war an der Haustür zu sehen.

»Ein Sherlock Holmes«, bemerkte der Fremde, »Würde erraten, daß hier der Landarzt wohnt und daß irgendein Unglück passiert ist.«

Die Tür des Hauses wurde von einem netten jungen Mädchen mit weißer Haube und Schürze geöffnet. Der junge Mann verschwand im Innern und ließ das Pferd unbewacht stehen. Dieses schritt nach einer kurzen Weile über die Straße hinüber und trat mit klappernden Hufen in den Torweg des Gasthauses.

»Eine weitere Anstrengung unseres Scharfsinns«, fuhr der Besitzer des Wohnwagens fort, »könnte uns zu der Vermutung führen, daß der Reiter dieses Pferdes hier eine Erfrischung zu nehmen pflegt ... Wir haben offenbar recht gehabt – ein Arzt.«

Ein grünes Tor neben dem gegenüberliegenden Hause hatte sich geöffnet, und ein kleines Auto fuhr heraus. Ein Mann, dessen Erscheinung den Arzt vermuten ließ, eilte durch die Haustür auf den Wagen zu, zog seinen Mantel an, während er sich hineinsetzte, und fuhr sogleich davon. Der junge Mensch überschritt die Straße – er war groß und kräftig gebaut, hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und blondes Haar, aber seltsam verzerrte Züge und einen starren Blick. Als er das Trottoir auf der anderen Seite der Straße erreichte, hörte man schon den Klang eifrig fragender Stimmen. Mr. Spencer Lauriston öffnete die Tür des Gastzimmers. Die Wirtin, ein Hausknecht, die Kellnerin und der Ankömmling standen in einer kleinen Gruppe beisammen. Sie schienen alle zu gleicher Zeit zu sprechen; in ihren Stimmen lag Schrecken und Trauer.

»Ist ein Unglück geschehen?« fragte der Besitzer des Wohnwagens.

Sie drehten sich nach ihm um. Die Kellnerin eilte fort, um aus der Schenkstube Bier zu holen. Die Wirtin beantwortete die Frage.

»Der junge Herr hier,« sagte sie, »– Mr. Delbrig, der Getreidehändler – bringt eine furchtbare Nachricht, wenn es sich verhält, wie er erzählt. Er ist von der Valley-Farm – sieben Meilen von hier – hergeritten, um den Arzt zum Pächter Green zu rufen.«

»Und ein Arzt kann da auch nicht mehr helfen«, erklärte der Mann mit vor Entsetzen beinahe tonloser Stimme, während seine Augen auf den schäumenden Bierkrug starrten, den das Mädchen herbeibrachte. »Mir ist noch ganz wirr im Kopfe, bei dem Gedanken. Wenn ich je einen Toten gesehen habe, so ist der Mann tot.«

»Ein Schlaganfall?« fragte der Fremde.

Der junge Mann, der gierig trank, gab keine Antwort. Erst als er den Krug geleert hatte, blickte er mit stieren, verglasten Augen um sich.

»Pächter Green ist nie in seinem Leben krank gewesen«, erwiderte er.

»Ein Unfall?« versuchte der Fremde zu raten.

»Den hat es hier in der Gegend auch noch nie gegeben, soweit ich mich besinnen kann,« erklärte der Getreidehändler mit leise bebender Stimme – »es ist Mord.«

Die Wirtin stieß einen Schrei aus.

»Sie meinen, jemand hat Pächter Green ermordet! Doch nicht sein –«

Sie sprach nicht weiter. Irgendein unausgesprochener Gedanke schien allen vorzuschweben.

»Entweder er ist umgebracht worden, oder er hat sich selbst umgebracht«, sagte der junge Mann einfach. »Der Coroner wird schon bei der Untersuchung entscheiden, wer es getan hat.«

Der Besitzer des Wohnwagens drehte sich nach dem Gastzimmer um und sah, daß Goade über seine Schulter weg zuhörte. Er zündete eine Zigarette an und klingelte.

»Also«, bemerkte er, »was heute nachmittag in der Luft lag, war doch eine Tragödie und keine Komödie. Unser Freund mit dem heftigen Charakter muß der Pächter Green gewesen sein. Ich sah seinen Namen auf einem Lastwagen.«

»Der Mann,« fügte Goade hinzu, »der einen so tiefen Haß auf Sie geworfen hatte.«

Der Besitzer des Wohnwagens zuckte die Achseln.

»Er hielt mich fälschlich für einen Zigeuner«, bemerkte er.

Es folgte eine eigentümliche Stille. Goade nahm seinen Platz im Lehnstuhl wieder ein, zündete seine Pfeife an und begann, in Gedanken vertieft, zu rauchen. Eine gewisse Ruhelosigkeit hatte sich des anderen bemächtigt. Er schritt, mit den Händen in den Taschen, im Zimmer auf und ab; der Ausdruck seines Gesichts war wie abwesend, und seine Augen hatten einen eigentümlichen Glanz. Von Zeit zu Zeit murmelte er etwas vor sich hin. Endlich riß er das Fenster auf, lehnte sich hinaus und blickte auf ein Schild in einiger Entfernung.

»Die Wohltaten der Kultur«, bemerkte er, »sind sogar hier zu finden. Eine Garage, wie ich sehe, Autos zu vermieten. Ob vielleicht –«

Er drehte sich um und verließ ein wenig plötzlich das Zimmer. Nach wenigen Minuten stand Goade gleichfalls auf, ging über den gepflasterten Hof und gelangte in das Rauchzimmer auf der anderen Seite. Wie er vermutet hatte, fand er dort noch den jungen Mann vor, der zu Pferde angekommen war. Die meisten anderen Stammgäste waren nach Hause gestürzt, um die finstere Nachricht zu verbreiten. Der junge Mann saß mit verschränkten Armen in einer Ecke, und alles Bier, das er getrunken hatte, konnte das starre Entsetzen, das auf seinem Gesicht lag, nicht verwischen.

»Ist der Arzt schon zurückgekehrt?« fragte Goade.

»Vor wenigen Minuten«, erwiderte die Wirtin.

»Und der Pächter Green?«

Die Wirtin schüttelte traurig den Kopf.

»Mr. Delbrig hat uns die Wahrheit gesagt«, erklärte sie. »Er war mitten in die Brust getroffen. Der Doktor sagt, er muß sofort tot gewesen sein.«

»Wo ist es geschehen?«

»Oben im Pächterhaus,« warf der junge Mann ein, »gerade auf der Türschwelle seines Schlafzimmers.«

»Und wo befand sich Mrs. Green?«

»Man sagt, daß sie unten im Milchkeller war. Jedenfalls schrie sie auf, als sie den Schuß hörte, und schlug Lärm. Bei der Untersuchung wird alles ans Licht kommen.«

Goade setzte sich an die Seite des jungen Mannes und bestellte Getränke.

»Sie glauben nicht, daß er es selbst getan haben könnte – daß es vielleicht ein Unfall war?« fragte er.

»Es ist nicht so leicht, sich mit einem Doppellauf in die Brust zu schießen«, meinte der Kornhändler. »Wie dem auch sei, wenn niemand sagen kann, wer es getan hat, so wird man vielleicht entscheiden, daß es ein Selbstmord war. Pächter Green war ein Mann von oft heftigem Charakter, und wenn er in Wut geriet, war er zu allem fähig.«

»Ist die Polizei an Ort und Stelle?«

»Sechs Mann. Sie kamen von allen Seiten herbeigestürzt.«

»Noch niemand verhaftet?« fragte eine ruhige Stimme von der anderen Seite des jungen Mannes.

Goade blickte auf. Herr X hatte unbemerkt den Raum betreten.

»Noch nicht,« brummte Delbrig, »aber wenn überhaupt jemand verhaftet werden sollte, so wird es wohl bald geschehen. Ich hörte den Inspektor sagen – und das ist ein schlauer Mann, der Inspektor – für einen Kenner gebe es da nicht viel Kopfzerbrechen.«

Man hörte draußen die Kirchturmuhr schlagen. Die Wirtin drehte das Gas klein.

»Es tut mir leid, meine Herren,« sagte sie in energischem Ton, »Sie beide, die hier übernachten, können im Gastzimmer drüben so lange sitzen wie Sie wollen, und Mr. Delbrig ebenfalls, wenn er Lust hat. Kein Mensch wird ihm etwas sagen, nach dem Ritt, den er gemacht hat, und Ned sagt, daß der Gaul nicht vor einer Stunde wieder laufen kann.«

Der junge Mann schauderte.

»Ich hab' es nicht eilig, wieder zurückzureiten,« sagte er.

»Dann kommen Sie hinüber und trinken Sie noch einen Schluck mit uns«, lud Goade ein und ging voraus.

Im kleinen Gastzimmer angelangt, setzten sie sich um den Tisch herum, auf dem eine Whiskyflasche und drei Gläser standen. Goade schenkte jedem reichlich ein. Der junge Mann sprang plötzlich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Augen hatten immer noch einen ganz unnatürlichen Glanz.

»Gott, ist das hier im Zimmer eine Hitze!« murmelte er vor sich hin.

Er ging ans Fenster und riß es noch weiter auf. Dann kehrte er an seinen Platz zurück und stürzte ein halbes Glas Whisky und Selters herunter. Der Nachtwind wehte sanft ins Zimmer. Auf der Straße war es so still, daß man den Wasserfall von dem Hügel rauschen hörte.

»Mord«, bemerkte Mr. Spencer Lauriston und zündete sich eine Zigarette an, »ist ein Rest dramatischen Erlebens in einer Existenz, der es an Abwechselung zu mangeln beginnt. Nehmen Sie, zum Beispiel, einen Mord wie diesen – in einem abgelegenen Winkel der Welt, wo man so etwas kaum für möglich halten sollte. Ich kann nicht sagen, daß ich an meiner eigenen Lage viel Vergnügen finde. Unser Freund hier«, fuhr er fort und berührte Goades Arm, »ist unglücklicherweise Augenzeuge der Tatsache gewesen, daß zwischen dem Pächter und mir eine Art Auseinandersetzung stattfand, als ich vorüberfuhr. Gut. Nach einer Viertelstunde fahr' ich fort. Das muß, sagen wir, um fünf Uhr gewesen sein. Angenommen, ich fuhr ein Stück die Anhöhe hinauf, ließ dann meinen Wagen an der Seite der Straße stehen und stieg wieder abwärts, zum Pächterhaus zurück. Ich hätte vielleicht Zeit gehabt, hineinzugehen, mich eine Weile versteckt zu halten, den Pächter zu erschießen, mich die Hecke entlang wieder hinaufzustehlen und gerade zu der Zeit hier in meinem Wagen einzutreffen, wie ich tatsächlich angekommen bin. Es ist ein ungemütlicher Gedanke.«

»Worüber sind Sie mit dem Pächter in Streit geraten?« fragte der junge Mann.

»Ich habe keinen Streit mit ihm gehabt«, entgegnete der andere in festem Ton. »Er faßte einen heftigen Widerwillen gegen mich. Er schien mich für einen Zigeuner zu halten und zu glauben, daß ich seine Frau holen wollte. Der Mann war ein Narr. Mich als Zigeuner hinzustellen, bloß weil ich einen gelben Wohnwagen habe und mein Gesicht durch das viele Reisen gebräunt ist! Ich spreche doch nicht wie ein Zigeuner, nicht wahr, Mr. Goade?«

»Durchaus nicht«, gab Goade zu.

»Trotzdem –« begann der Mann mit dem Wohnwagen.

Er verstummte plötzlich. Durch das offene Fenster hörte man den Klang von Pferdehufen auf der stillen Straße, die zum Dorf führte. Das Geräusch kam immer näher. Ein Wagen rollte herbei. Lauriston blickte aus dem Fenster. Die beiden Laternen eines Fuhrwerks waren jetzt ganz nahe. Einen Augenblick später hielt es vor dem Gasthaus.

»Späte Gäste!« brummte er und eine eigentümliche Erregung brannte in seinen Augen.

Die Pferdehufe schlugen mit scharfem Klang aufs Steinpflaster, die Räder knarrten und ächzten. Eine kurze Stille folgte – dann hörte man eine Stimme, und die Tür des Gastzimmers ging auf. Die Frau des Pächters trat ein. Sie trug noch ihr rosa Kleid unter einem leichten Mantel, den sie beim Eintreten abwarf. Der ruhelose Glanz ihrer Augen, die Schönheit ihrer Erscheinung zeigten sich in ihrem vollen Reiz.

»Ich konnte doch nicht schlafen!« rief sie aus. »Ich mußte fort.«

Spencer Lauriston stand auf, seine Hand packte den Kaminsims. Sein Blick suchte ihre Augen und hielt sie fest. Beide sahen die anderen nicht mehr.

»Ein übereilter Schritt«, sagte er kopfschüttelnd. »Angenommen, einer von uns dreien – ich, zum Beispiel, oder Mr. Goade hier oder unser junger Freund, dessen Namen ich vergessen habe, der den Arzt holen kam – wäre der Mann, den die Polizei sucht, sehen Sie, wie klar Sie sein Verbrechen an den Tag bringen! In Frankreich würde ein Untersuchungsrichter die Situation großartig finden. Er würde Ihren Blicken folgen, um zu sehen, auf wen sie sich richten, wessen Lippen Ihr Kuß treffen wird – und der Schuldige wäre entdeckt.«

Sie lachte ihm zu, und ein herausfordernder Blitz schoß aus ihren leuchtenden Augen.

»Warum reden Sie so?« sagte sie spöttisch. »Sie haben keine Angst. Sie wissen nicht, was Angst ist.«

»Ich habe keine Angst«, bestätigte der Besitzer des Wohnwagens. »Kommen Sie!«

Sie kehrte sofort um und folgte ihm. Er öffnete die Tür und warf einen Blick zurück.

»Gute Nacht, meine Herren!« sagte er.

Der junge Kornhändler stürzte wankenden Schrittes durchs Zimmer.

»Was soll das?« schrie er in wilder Erregung. »Mona, wo gehen Sie hin?«

Die Tür hatte sich hinter den beiden geschlossen. Von draußen erklang ein schallendes Spottgelächter. Der junge Mann warf sich gegen die Tür, aber er fand sie verschlossen. Er sprang zum Fenster – es war zu klein, um ihm einen Ausweg zu bieten. Draußen auf der Straße blitzten Lichter auf. Schon setzte sich der Wagen in Bewegung, um die Anhöhe hinaufzusteigen. Große Schweißtropfen perlten auf der Stirn des jungen Mannes. Er riß sich am Fensterflügel die Finger blutig.

»Und dafür brachte ich ihn um!« stammelte er. »Ich habe Pächter Green ermordet, der mir nie etwas zu Leide tat. Sie hat immer geschworen, die meine zu sein, wenn sie frei wäre. Ich tötete ihn – und sie ist fort, die Verfluchte, das Teufelsweib!«

Eine rasende Wut hatte sich seiner bemächtigt. Er bebte am ganzen Körper. Goade hielt ihn mit einem Griff fest. Auf der einsamen, mondbeschienenen Straße hörte man schwere Huftritte. Der Polizeiinspektor und ein Gendarm kamen herangeritten.


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