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5.
Der Blutspritzer

Während der geschäftigen Tagesstunden ist die Roden Street, die Verbindungsstraße zweier großer Hauptarterien des Londoner Verkehrs, voll von Fußgängern und Fahrzeugen aller Art. Um drei Uhr an jenem stürmischen Märzmorgen lag sie leer und ausgestorben da. Benskin lief schon mehrere Minuten mit ungestilltem Nikotinhunger und unangebrannter Zigarette diese enge Gasse entlang, im stillen hoffend, daß ihm doch noch ein verspäteter Fußgänger begegnen würde, der ihm das fehlende Streichholz geben könnte. Endlich sah er die Erfüllung seines Wunsches in Gestalt eines Mannes nahen, der ihm mit langen Schritten rauchend entgegenkam. Unter einer Bogenlampe trafen die beiden zusammen.

»Dürfte ich Sie um Feuer bitten?« fragte Benskin höflich.

Der andere steckte eine mit kostbaren Ringen geschmückte Hand in die Tasche seines Mantels und zog ein Feuerzeug hervor. Nach einigen vergeblichen Versuchen brannte es, und Benskin bediente sich. Im stillen wunderte er sich über den andern. Im allermodernsten Abendanzug – Benskin konnte dessen Schnitt unter dem offenen Abendmantel bewundern – von sicherlich einem der besten Londoner Schneider, verriet der nächtliche Spaziergänger an jedem Zoll seiner hochgewachsenen, aristokratischen Gestalt, daß er von einem ausgezeichneten Kammerdiener betreut wurde. Doch beim Schein der Feuerzeugflamme sah der Inspektor etwas, was ihn noch mehr in Erstaunen versetzte: auf der schneeweißen Hemdbrust des Unbekannten zeigte sich klar und deutlich – ein Blutspritzer.

Benskin reichte das Feuerzeug mit höflichem Dank zurück, und der Eigentümer setzte seinen Weg fort. Einen Augenblick lang tauschten die beiden Männer einen kurzen Blick. In den grauen Augen des Fremden lag nur ein Ausdruck der Neugierde, während Benskin sich eines anderen Gefühls, bewußt wurde, das mit dem verdächtigen Blutfleck zusammenhing. Konnte denn dieser elegant gekleidete Mensch den Abend in einer Gesellschaft verbracht haben, ohne daß man ihn auf das beschmutzte Frackhemd aufmerksam gemacht hätte? Nichts in seinem Benehmen hatte verraten, daß er eben irgendein Abenteuer überstanden hätte. Aber – darüber war sich der Inspektor keinen Augenblick im unklaren – irgendeine Bewandtnis mußte es mit dem Blutfleck haben. Er blickte dem andern nach, bis er ihn im ersten Schimmer der Morgendämmerung am Ende der Straße um die Ecke biegen sah.

*

Brooks, der Gehilfe Benskins, blickte lächelnd von seiner Arbeit am Schreibtisch auf, als Inspektor Benskin am folgenden Morgen mit freundlichem Gruß sein Arbeitszimmer im Yard betrat.

»Endlich haben wir Eddie Huggins«, berichtete er Benskin. »Das heißt, wir werden ihn bald haben. Diesmal wird es ihm wohl nicht wieder gelingen, aus unserem Netz zu entkommen.«

»Wegen des Mordes in der Holme Street?« Benskin wußte sofort, um was es sich handelte. »Ich habe in der U-Bahn davon gelesen und erinnerte mich daran, daß Huggins ja mit der Ermordeten zusammengelebt und schon verschiedene Zusammenstöße mit uns gehabt hat.«

»Ja, das stimmt. Seit zwei Jahren lebte er mit ihr zusammen. Einmal hat er wegen Körperverletzung – er verprügelte sie, bis sie krankenhausreif war – drei Monate, und dann, für einen zweiten Fall, weitere sechs Wochen bekommen. Sie hat ihn aber immer wieder bei sich aufgenommen. Heute morgen hat man sie tot aufgefunden, Eddies Messer im Herzen. Ich will jetzt auf die Polizeiwache, wo man ihn jeden Augenblick einliefern wird.«

»Ich komme mit; heute morgen liegt ja sowieso nichts anderes vor.«

Benskin hatte für die Sache nur wenig Interesse. Es schien einer von den Fällen zu sein, wo ein Verbrecher endlich das erhielt, was ihm schon lange bevorstand.

»Ist er eigentlich am Tatort verhaftet worden?« fragte er seinen Mitarbeiter, als sich beide im Dienstauto auf dem Weg zur Clerkenwell-Wache befanden.

»Nein, das nicht. Man hat ihn aber heute morgen zeitig das Haus verlassen sehen, wo der Mord verübt wurde. Wir riefen gleich in der Spelunke an, in der er zu wohnen pflegte. Er war gegen vier Uhr dort eingetroffen und hatte sich, schwer betrunken, gleich auf sein Zimmer begeben. Dort werden ihn wohl die Beamten, die ich hinschickte, gefunden haben. Er wird in ein paar Minuten eingeliefert werden.«

Auf der Polizeiwache befanden sich nur Polizisten und der Wachthabende. Die Neuankömmlinge tauschten eben mit ihm Grüße aus, als vor der Tür der Wache Stimmengewirr und laute Proteste eines fluchenden Mannes hörbar wurden. Jetzt tat sich auch schon die Tür auf, und zwei Beamte in Zivilkleidung führten einen großen und kräftigen Menschen herein, der beinahe geschleppt werden mußte. Als sich die Tür endlich schloß, stand der Verhaftete vor Benskin und blickte sich mit blutunterlaufenen Augen im Zimmer um. Er war unrasiert, und das lange Haar hing ihm ungepflegt in die Stirn.

»Ihr wollt mich schieben, ihr ...!« brüllte er, als der Wachthabende seinen Leuten Auftrag gab, den Verhafteten an sein Pult heranzuführen. »Ihr hattet es mir geschworen, ihr Lumpen.« Vergeblich versuchte er, Brooks in seine Finger zu bekommen, der ihn lächelnd musterte. »Ihr werdet schon sehen, was ihr für diese Gemeinheit bekommt! Ich lasse mich nicht für nichts und wieder nichts hinrichten ...«

»Halten Sie Ihren ungewaschenen Mund«, befahl ihm der Wachthabende. »Wir werden Ihnen die Anschuldigungen, die gegen Sie vorliegen, bekanntgeben.« Er las deutlich vor und unterschrieb die Anzeige. »Zelle sieben!«

Mit verzweifelten Blicken suchte der Verhaftete einen Ausweg. Sein Trotz war verschwunden, und eine entsetzliche Furcht war in seinen Augen aufgetaucht.

»Seht mal her, ihr dort«, wandte er sich an die Beamten. »Ihr habt mich doch schon öfter hier hereingeschleppt, ohne daß ich mich besonders darüber aufgeregt hätte. Ja, ich weiß, ich habe ihr eine gehörige Tracht Prügel verabfolgt und streite das auch gar nicht ab, aber – getötet habe ich sie nicht. Nein, mein Gott, so dumm bin ich denn doch nicht.«

»Halten Sie Ihren Mund«, warnte ihn der Wachthabende. »Sie werden noch genügend Gelegenheit bekommen zu reden. Lassen Sie ruhig Ihren Anwalt holen. Wen wollen Sie denn? Pussy Grimes?«

»Ja«, gab der andere mürrisch zurück. »Laßt Grimes holen und beeilt euch ein bißchen damit. Ihr wollt mich nur schieben, ihr Bande«, brach er wieder los und versuchte, die Handschellen abzustreifen. »Wartet nur, ihr verfluchte Lumpen!«

Man führte ihn ab, und sein Fluchen drang noch an die Ohren der Zurückbleibenden, bis die Zellentür endlich hinter ihm zugeschlagen wurde.

»Diesmal wird sogar Pussy Grimes alle Hände voll zu tun haben«, meinte einer der Polizisten, »wenn er ihn freilotsen will. Bisher war Eddie ja schlau genug, sich zu beherrschen, aber das letzte Glas Schnaps scheint ihn endlich soweit gebracht zu haben.«

Benskin und Brooks begaben sich im Dienstwagen an den Tatort, ein vernachlässigtes Gebäude in der Marylebone Road. Eine Anzahl Neugieriger stand vor der Haustür und wurde von einem uniformierten Polizeibeamten zurückgehalten.

»Ist der Inspektor noch oben?« erkundigte sich Brooks bei ihm.

Der Mann grüßte.

»Jawohl, Sir; auch der Arzt ist noch da.«

Das Mordzimmer war eines der üblichen Untermietzimmer, jedoch besser als sonst üblich möbliert. Sofas und Tischchen trugen zur Gemütlichkeit bei, die Wände waren mit guten Kopien berühmter Meister geschmückt, während auf dem Serviertisch eine Anzahl Flaschen darauf hinwies, daß man gewohnt war, hier gut zu leben.

Auf dem Bett lag eine mit einem Leintuch bedeckte Gestalt. Der Arzt war eben im Begriff, sich zu entfernen. Der uniformierte Inspektor und Brooks unterhielten sich angeregt, während Benskin sich neugierig mit allem, nur nicht mit der leblosen Gestalt auf dem Bett, beschäftigte. Er blätterte einige illustrierte Zeitungen durch, die nachlässig hingeworfen auf einem Tischchen lagen, und steckte eines dieser Blätter in seine Tasche. Brooks trat zu ihm.

»Nichts mehr zu tun hier«, meinte er. »Wollen Sie die Tote sehen?«

»Nein, ich sehne mich nicht gerade danach«, gab Benskin zurück. »Die Aussagen des Arztes genügen mir.«

Brooks nickte.

»Es besteht nicht mehr der geringste Zweifel, daß es Eddies Messer ist. Dort auf dem Tisch liegt übrigens auch seine Pfeife. Die beiden müssen eine Flasche Whisky aufgemacht und beinahe ganz ausgetrunken haben. Die Wirtin hat Eddie gestern nachmittag hier hereinkommen sehen und gehört, daß sich die beiden die ganze Zeit über in den Haaren lagen. Nein, diesmal wird Edward Huggins dem Galgen nicht mehr entgehen.«

Benskin nickte interesselos. Er kannte, wie alle anderen Beamten des Yard, das Vorleben des Beschuldigten und wußte auch, daß keiner weniger als Huggins irgendwelche Sympathie verdiente. Eine Kleinigkeit aber setzte den Inspektor bei aller Klarheit der Beweise in Verwunderung, und diese Kleinigkeit beschäftigte ihn den ganzen Tag. Endlich entschloß er sich, einen etwas außergewöhnlichen Kurs einzuschlagen. Er verließ Scotland Yard zeitiger als sonst und besuchte den Anwalt des Verhafteten, den berühmten und berüchtigten Pussy Grimes. Der Verteidiger hatte sein Büro in der Nähe der Bow Street-Wache und begrüßte seinen seltenen Besucher herzlich, aber mit deutlichem Erstaunen. Er machte einen Stuhl frei und lud Benskin zum Sitzen ein.

»Wenn einer von euch Herren mich aufsucht«, meinte der Anwalt, »dann ist das natürlich ein Ereignis, das mich einigermaßen in Verwunderung setzt, Mr. Benskin. Womit kann ich Ihnen also dienen?«

»Es ist so wenig«, erwiderte der Besucher, »daß ich mich eigentlich der Belästigung wegen bei Ihnen entschuldigen müßte. Ich kam nur wegen einer plötzlich in mir aufgetauchten Idee. Für Ihren Mandanten Eddie Huggins sieht es ja windig aus.«

»Soweit ich seine Lage überblicken kann«, meinte Grimes, »hat er sich diesmal ganz gehörig in die Nesseln gesetzt. Aber was wollen Sie von mir? Wollen Sie mich aushorchen? Na, diesmal haben Sie das doch sicherlich nicht nötig!«

»Keineswegs«, versicherte ihm Benskin. »Außerdem geht mich der ganze Fall, der von einem anderen Kollegen bearbeitet wird, gar nichts an. Wenn ich Sie hier besuche, dann tue ich das eigentlich, um Huggins zu helfen, nicht, um Material gegen ihn zusammenzutragen. Gewiß, Ihr Mandant hätte sein Schicksal reichlich verdient, aber es ist so, Mr. Grimes, auch wenn Sie es nicht glauben wollen: Wir Kriminalbeamten haben doch noch ein kleines bißchen Mitleid mit derartigen Leuten.«

»Was soll das heißen?«

»Daß ich zwar Huggins die Tat zutrauen würde, weil er sie – dessen bin ich gewiß – im Geist schon häufig verübt haben wird, aber trotzdem den Gedanken nicht loswerden kann, daß, wäre er in diesem Fall unschuldig, der wirkliche Mörder straffrei ausgehen würde.«

»Richtig«, gab der Anwalt zu. »Da Sie selbst davon angefangen haben, muß ich Ihnen zugeben, daß mir eines bei dieser Mordtat merkwürdig vorkommt. Sie kennen mich und meinen Ruf, nicht wahr?« Er lachte. »Ja. Nun, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß meine Mandanten ebenso wie Sie wissen, daß man offen mit mir reden kann. Sie beichten mir alles, denn sie ahnen, daß ich nur dann etwas für sie tun kann, wenn ich über das Ausmaß ihrer wirklichen Schuld unterrichtet bin. Eddie leugnet diesen Mord jedoch auch mir gegenüber ganz energisch ab. Er schwört, daß er das Mädchen am Tage vorher, wie so oft schon, bedroht habe, daß er auch reichlich betrunken gewesen sei, denn sie hatten beinahe drei Flaschen Whisky zusammen ausgepichelt, aber – er sei wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als er an jenem Morgen das Zimmer der Ermordeten betreten und sie dort liegen gesehen habe. Er weiß sich zu erinnern, daß er seine Tabakspfeife auf den Tisch legte; er weiß, daß man ihn das Haus hat verlassen sehen und daß er nach Hause getorkelt ist, um sich schlafen zu legen. Er sieht sogar ein, idiotisch gehandelt zu haben, daß er die Polizei nicht von seiner Entdeckung benachrichtigte, aber nicht einmal mir gegenüber gibt er zu, das Mädchen auch nur berührt zu haben.«

»Was sagt er denn über das Messer, das im Herzen der Ermordeten steckte?«

»Es sei das seine; er schwört, er hätte es am Abend vorher gezogen, um seiner Geliebten eins zu versetzen. Dann habe er es sich aber wieder anders überlegt und sich lieber einen neuen Whisky eingeschenkt. Das Messer habe er vergessen.«

»Hat er Ihnen irgendeinen Wink gegeben«, fragte Benskin, »wer sonst für die Tat in Frage kommen könnte?« Er blickte den Anwalt prüfend an. »Seine Geliebte verkehrte doch auch mit anderen Männern, nicht wahr?«

»Ja. Aber Sie wissen ja, wie schwer es ist, dies festzustellen. Es sind wohl meist Zufallsbekanntschaften gewesen. Eddie sagt allerdings, sie hätte einen Freund gehabt, der sie ständig mit Geld versorgte, er weiß aber nicht, wer das gewesen sein könnte, denn er habe den Betreffenden niemals kennengelernt oder auch nur gesehen.«

»Sie versorgte Huggins wohl ihrerseits mit Geld?«

»Jawohl, ganz regelmäßig ... Eine dumme Sache das. Ich machte ihn erst heute morgen darauf aufmerksam, daß ich wirklich keine einzige Lücke in den Indizien zu finden vermag. Er sagte aber, das ginge ihn nichts an. Er sei nicht der Täter, und das Mädchen sei schon tot gewesen, als er das Zimmer betrat.«

»Glauben Sie, daß er über die Freunde des Mädchens etwas weiß, was er uns nicht verraten will?« wollte Benskin wissen.

»Nein, bestimmt nicht. Eddie Huggins würde für ein Goldstück seine eigene Mutter verkaufen. Ja, die Ermordete war wirklich verschwiegen, sonst wüßte er etwas von ihrem sonstigen Verkehr.«

»Werden Sie sich danach erkundigen?«

»Soweit ich es vermag«, war die zweifelhafte Antwort. »Ich glaube, sie war weiter nichts als eine gewöhnliche Prostituierte. Vielleicht erfährt man etwas, aber wie das Huggins helfen soll, vermag ich mir nicht zu denken. Er hat nicht viel Geld, und nicht einmal ein philanthropisch denkender Anwalt kann sich derartige Nachforschungen aus seiner eigenen Tasche leisten. Nein, diesmal habt ihr ihn wirklich fest.«

Benskin erhob sich und verabschiedete sich.

»Na, die Welt wird seinetwegen keine Tränen vergießen«, meinte er.

Die Prophezeiungen Grimes' schienen gerechtfertigt zu sein; diesmal hatten sich die Maschen des Gesetzes wirklich so fest um Eddie Huggins gelegt, daß auch nicht die geringste Möglichkeit eines Entkommens gegeben war. Bei der Leichenschau wurde das erwartete Verdikt gefällt: »Ermordet von der Hand des in Polizeigewahrsam befindlichen Edward Huggins.« Damit war dessen Schicksal so gut wie besiegelt. Die Verhandlung wurde anberaumt, und Eddie bezog, trotz seines Fluchens und der Beteuerungen seiner Unschuld, die sogenannte Mörderzelle in Wandsworth.

 

Der Kammerdiener Andrews, seit dreißig Jahren im Haushalt tätig, öffnete leise die Tür zum Arbeitszimmer des Hauses Haddington Palace am Regent Park, wo sein Herr schreibend am Pult saß.

»Ein Mann namens Benskin wünscht Sie zu sprechen, Sir Frederick«, meldete er verhalten. »Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß Sie ohne besondere Vereinbarung keine Besuche empfingen, aber er bat mich, auszurichten, daß es sich um etwas ganz Wichtiges handle.«

Gelangweilt blickte der Schreibende auf. Er war ein stattlicher, aber etwas streng aussehender Vierziger.

»Ich vermag die Notwendigkeit, mich durch jeden x-beliebigen Besucher stören zu lassen, wirklich nicht einzusehen«, beklagte er sich. »Sagen Sie ihm, er möchte sich mit meinem Sekretär in Verbindung setzen, damit der Zeitpunkt seiner Unterredung mit mir festgesetzt werden kann.«

»Jawohl, Sir«, erwiderte der Diener respektvoll. »Ich richtete seine Bitte auch nur aus, weil er mir sagte, er käme von Scotland Yard. Vielleicht hat er etwas mit den Untersuchungen zu tun, die Sie, Sir Frederick, für das Innenministerium anstellen.«

»Vom Yard?« Nachdenklich starrte Sir Frederick vor sich hin. »Merkwürdig. Vielleicht ist es unter diesen Umständen doch besser, wenn Sie den Herrn hereinführen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Und vergessen Sie nicht, den Küchenchef zu benachrichtigen, daß der Major und Lady Alice heute abend mit mir speisen werden. Ein kleines Verlobungsessen, Andrews. Emil soll das nicht vergessen, wenn er die Speisekarte zusammenstellt.«

Andrews, der alte Diener, gestattete sich einige beglückwünschende Worte.

»Wir freuen uns alle sehr, Sir Frederick«, sagte er, »daß der Major wieder in der Heimat weilt. Wir alle hofften, Sir, daß Lady Alice und er ein Paar würden.«

»Nun, Sie sehen ja Ihre Wünsche erfüllt«, versicherte ihm lächelnd sein Herr. »Sie werden schon in vierzehn Tagen heiraten.«

Wenige Minuten später trat Benskin ein. Sir Frederick setzte sich in seinem Stuhl zurecht und winkte dem Besucher, gleichfalls Platz zu nehmen.

»Sie wünschten mich zu sprechen, Mr. Benskin? Womit kann ich Ihnen dienen?«

Der andere setzte sich, beantwortete aber die Frage Sir Fredericks erst nach einer Weile. Die Zwischenzeit füllte er mit einer, eingehenden Musterung des Hausherrn aus, und erst als dieser Zeichen der Ungeduld verriet, bequemte er sich zu antworten.

»Könnten Sie mir mitteilen, Sir Frederick, wie Sie am Dienstag, dem 17. März, den Abend und die anschließende Nacht verbracht haben?«

Wenn die Frage den andern in Erstaunen versetzt hatte, so ließ er sich davon jedenfalls nichts anmerken. Nur einen Augenblick lang huschte ein bleicher Schein über sein Gesicht, als erinnerte er sich flüchtig eines unangenehmen Erlebnisses. Dann antwortete er nachlässig, als mäße er der Frage keine Wichtigkeit bei:

»Erst hielt ich eine Rede auf einer Veranstaltung der Britischen Medizinischen Gesellschaft ...«

»Diese Veranstaltung endete um elf Uhr«, fiel ihm Benskin ins Wort. »Ich möchte gern erfahren, was Sie zwischen elf und drei getan haben.«

»Ist das ein dienstlicher Besuch?« erkundigte sich der Hausherr kühl.

»Nur teilweise. Wäre er es, dann hätte ich diese Unterredung auf andere Weise durchsetzen müssen, Sir Frederick. Ich habe Wochen gebraucht, um gewisse Tatsachen aneinanderzureihen, die mich jetzt zu meinem Besuch bei Ihnen veranlassen. Meine Theorien sind ziemlich gut fundiert, es ist möglich, daß Sie sie mir durch ein unantastbares Alibi über den Haufen werfen können. Ich hielt es deshalb für besser, Sie zunächst privat zu befragen.«

»Darf ich vielleicht erst einmal erfahren, was Sie hierher führt?«

»Gewiß. Ich bin hinter Elisabeth Chalders' Mörder her.«

Nachdenklich furchte der andere die Stirn.

»Und was bringt Sie auf die Vermutung, ich stünde mit dieser Mordtat in Verbindung?« fragte er dann in aller Ruhe.

»Was mich zuerst auf diese Spur brachte, war ein kleiner Blutspritzer, Sir Frederick, den ich an Ihrem Frackhemd bemerkte, als ich Sie an jenem Morgen in der Roden Street – kaum hundert Meter von der Holme Street, wo der Mord verübt wurde – um Feuer bat. Ich konnte doch kaum annehmen, daß Sie Ihren Vortrag mit einem derartigen Flecken am Hemd gehalten und nachträglich eine gesellschaftliche Veranstaltung besucht hätten. Ich schloß daher, daß dieser Blutspritzer erst später auf Ihre Hemdbrust gelangt sein mußte, und begann, mich nach Ihrem Tun und Lassen in der fraglichen Zeit zu erkundigen. Ich hatte natürlich keine Ahnung – das kann ich Ihnen versichern –, daß meine Nachforschungen von Erfolg gekrönt sein würden.«

»Bitte, fahren Sie fort«, bat Sir Frederick. »Ich weiß noch nicht, ob ich Ihnen Ihre Fragen beantworten werde, aber es ist Ihnen zum mindesten gelungen, meine Neugierde zu erregen.«

»Bisher ist es mir nicht gelungen, das zu Ihnen führende Verbindungsglied mit dem Verbrechen zu finden«, gab Benskin zu. »Der Mann, den man beim Betreten und Verlassen der Mordstätte gesehen hat, befindet sich in Haft. Bisher hat man auch keinerlei Ahnung, daß noch andere Besucher in jener Nacht das Haus betraten, was wohl darauf zurückzuführen sein wird, daß die Wirtin der Ermordeten während der fraglichen Stunden selbst abwesend war. Erst kurz vor dem morgendlichen Besuch Huggins' kam sie zurück. Nun, die Erklärung, die Huggins gibt, mag wahr oder nicht wahr sein; aber eine Wahrscheinlichkeit, daß das erstere der Fall ist, besteht. Jemand kann vor ihm das Haus betreten und das Mädchen ermordet haben.«

»Gewiß«, pflichtete Sir Frederick ihm bei, »aber ganz abgesehen von diesem Blutspritzer, der Ihren Verdacht erregt hat, muß der Fall doch auch von einem logischen Standpunkt aus betrachtet werden. Welche Gründe sollte ich – ein Mann, der gesellschaftlich bestimmt unantastbar ist – gehabt haben, eine gewöhnliche Prostituierte zu ermorden? Wie mir der Fall in seinem gegenwärtigen Stadium erscheint, dürften Sie, ehe Sie mir die Tat in die Schuhe schieben können, recht starke Beweise beibringen müssen, Mr. Benskin. Haben Sie sie, abgesehen von jenem Blutspritzer auf meinem Frackhemd?«

»Mit vieler Mühe«, unterrichtete ihn der Inspektor, »ist es mir gelungen, das Vorleben der Ermordeten zu rekonstruieren. Ich kam auf die Spur, weil ich im Mordzimmer ein aus einer illustrierten Zeitung herausgerissenes Blatt mit einem Bild Ihres Sohnes fand. Später, bei einer eingehenden Untersuchung ihrer Habseligkeiten, stieß ich dann auch noch auf eine Fotografie von ihm.«

Sir Frederick hielt den Schlag aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur seine Augen blickten starr geradeaus, als sähen sie den Galgen winken.

»Mit vieler Mühe machte ich eine Schwester der Ermordeten ausfindig«, fuhr Benskin fort. »Sie wohnt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Cambridge. Nach einigem Zögern bequemte sie sich dazu, mir einiges aus dem Vorleben der Ermordeten zu berichten. Das Drama begann, als Ihr Sohn in Cambridge studierte. Er verkehrte mit dem Mädchen und glaubte, seine Pflicht erfüllt zu haben, als er sie heiratete. Sie lebten von Anfang an getrennt, doch hat sie seit Jahren Geld von ihm bezogen.«

»Ob das wahr oder unwahr ist, Mr. Benskin«, hielt ihm Sir Frederick vor, »möchte ich jetzt nicht erörtern. Aber glauben Sie wirklich, daß diese Geschichte einen Beweis darstellt für das, was Sie behaupten? Bedenken Sie nur den Lebenswandel, den die Frau führte. Mein Sohn hätte sich doch schließlich auch von ihr scheiden lassen können.«

Benskin schüttelte den Kopf.

»Die Frau war katholisch, und auch Ihre Familie, Sir Frederick, bekennt sich zu diesem Glauben, der die Ehescheidung bekanntlich verwirft. Das, was Sie eben sagten, kam also für beide Teile nicht in Frage. Das Leben Ihres Sohnes war ruiniert; er wanderte in die Kolonien aus, wo er sich, wie ich erfahren habe, untadelig und lobenswert geführt hat. Vor sechs Wochen – merkwürdig genug, am Tag nach der Ermordung jener Frau – sandten Sie ihm ein Kabel mit der Bitte, nach Hause zurückzukehren, und heute morgen zeigt er seine Verlobung mit einer Dame, die er seit langem verehrt, in den Zeitungen an.«

»Sie sind ein sehr guter Logiker, Mr. Benskin«, beschränkte sich Sir Frederick zu antworten.

»Ich muß dieses Lob zurückweisen, Sir Frederick«, erwiderte der Inspektor. »Wie so oft bei derartigen Verbrechen, war auch bei diesem Fall am Anfang nichts von seiner späteren Entwicklung zu ahnen. Hätte ich Sie nicht in jener Nacht um Feuer gebeten und den Blutfleck auf Ihrem Frackhemd bemerkt, ich glaube, meine Nachforschungen wären erfolglos im Sande verlaufen.«

Sir Frederick erhob sich. Langsam schritt er im Zimmer auf und ab. Die ganze Zeit über folgten ihm die Blicke des Besuchers. Endlich, nahm der Hausherr mit einem müden Seufzer seinen Platz wieder ein.

»Ihr Besuch kommt mir einigermaßen ungelegen, Mr. Benskin«, sagte er leise. »Heute abend dinieren mein Sohn und die Dame, die er nun endlich heiraten kann, mit mir in diesem Hause. Ich beeilte mich, die Heirat so zeitig wie möglich anzuberaumen. Sobald sie stattgefunden hatte, wollte ich den Fall Huggins selbst in die Hand nehmen. Der Mann war doch, wie man zu sagen pflegt, eine üble Nummer, nicht wahr?«

»Eine der übelsten«, gab Benskin offen zu.

»Auch schon mehrfach vorbestraft?«

»Dutzende von Malen. Außerdem steht er im Verdacht, schon vor sechs Jahren einen Mord begangen zu haben. Leider konnten wir ihm die Absicht nicht nachweisen, und er wurde nur wegen Totschlags angeklagt; eine Lücke im Gesetz ließ ihn straflos.«

Sir Frederick reichte Benskin ein Buch, nachdem er vorher eine bestimmte Seite aufgeschlagen hatte.

»Ich bin kein eitler Mensch«, sagte er, »aber vielleicht würde es Sie interessieren, einmal einen Blick auf mein Vorleben zu werfen. Ich habe meinem Land, wie von vielen Leuten behauptet wird, große Dienste geleistet, und zahlreiche hochgestellte Persönlichkeiten stimmen dieser Ansicht zu; erst vergangene Woche wurde mir mitgeteilt, daß ich in den erblichen Adelsstand erhoben werden würde.«

Benskin las die Angaben im »Who's Who?«, dem Lexikon der Prominenten, nach. Dann reichte er das Buch zurück.

»Ich gebe ohne weiteres zu, Sir Frederick«, sagte er, »daß die Welt sich ohne Huggins viel wohler befinden würde. Gleichfalls leugne ich nicht, daß die Nation Ihnen für die Dienste, die Sie ihr geleistet haben, dankbar sein muß. Aber – eine Frage bleibt noch zu lösen: Was hat dies alles mit Gerechtigkeit zu tun?«

Sir Frederick zuckte die Achseln.

»Gerechtigkeit, von einem ethischen Standpunkt aus,« sieht anders aus als das, was die Spürhunde der Polizei dafür halten. Lassen Sie uns die Sachlage einmal in aller Ruhe betrachten. Ich habe einen Sohn – den einzigen, Mr. Benskin –, den ich mehr als mich selbst liebe, denn er ist mir das Vermächtnis meiner verstorbenen Frau. Sein Leben wird systematisch von einem Geschöpf ruiniert, das auch nicht eine Eigenschaft besitzt, die uns versöhnlich stimmen könnte. Ich besuchte sie in jener Nacht mit der Absicht, sie ein für alle Male abzufinden. Sie sollte nach Neuseeland, nach Australien, irgendwohin gehen und nie wieder zurückkehren. Sie weigerte sich. Ihr Leben sei aufs innigste mit dem Eddie Huggins' verknüpft, von dem sie sich nicht trennen wolle. Jetzt erst erkannte ich, mit wem ich es zu tun hatte: mit einem Auswurf der menschlichen Gesellschaft, einem Krebsgewächs, das kein Chirurg sich besinnen dürfte durch einen kühnen Schnitt aus dem Körper der Allgemeinheit herauszulösen. Plötzlich kam mir der Gedanke, sie zu töten. Aus einem offenstehenden Fach des Schrankes nahm ich ein darin liegendes Messer und stieß zu. Wenn dieser Idiot Huggins nicht ein paar Minuten später gekommen wäre, würde wahrscheinlich nie jemand der Tat beschuldigt worden sein.

Wer ist nun jener Huggins? Ein wertloser, durch und durch dekadenter Parasit, der den Galgen in seinem verfehlten Leben wahrscheinlich schon viele Male verdient hat. Warum nennt man es Mord, wenn man ihn aus der Menschheit herausreißt?«

Traurig schüttelte Benskin den Kopf.

»Das sind ethische Probleme, Sir Frederick«, gab er zu bedenken, »deren Lösung wir den Theologen und Philosophen überlassen müssen. Ich bin nur ein kleines Rädchen der Maschine, die mit dem Namen Polizei bezeichnet wird. Meine Pflicht ist es, dafür zu sorgen, daß kein Unschuldiger die Strafe des Schuldigen erleidet.«

Nachdenklich brannte sich Sir Frederick eine Zigarette an. Von der Straße herauf drang durch die geschlossenen Fenster und Vorhänge das dumpfe Geräusch des hauptstädtischen Verkehrs. Sonst störte nichts die Stille, die im Zimmer herrschte.

Da klopfte es, und der Diener trat ein.

»Entschuldigen Sie bitte, Sir Frederick«, begann er. »Am Telefon ist ein Beamter von Scotland Yard, der Inspektor Benskin zu sprechen wünscht. Er sagte, es sei sehr dringend.«

»Haben Sie etwa eine Aktion vor, Benskin?« fragte der Hausherr argwöhnisch.

»Aber ich bitte Sie«, erwiderte der Detektiv. »Das kann nur mein Gehilfe Brooks sein. Brooks ist der einzige, der immer weiß, wo ich mich aufhalte. Aber warum ich hier bin, ist auch ihm unbekannt.«

Er erhob sich und folgte dem Diener in die Halle.

Als er zurückkam, war sein Gesicht noch ernster als zuvor. Er mußte sich einen Augenblick sammeln, ehe er wieder zu sprechen vermochte.

»Es handelt sich um Huggins«, sagte er schließlich. »Huggins ist heute nachmittag im Untersuchungsgefängnis gestorben. Alkoholvergiftung, hat der Arzt festgestellt ...«

Wie von einem Schlag getroffen, sah Sir Frederick ihn an. Krampfhaft umklammerte er die Sessellehne.

»Allmächtiger Gott!« entfuhr es ihm. »Wollen die gewaltsam verwirrten Fäden sich auf diese Weise lösen? Damit wäre ja ein völlig neuer Ausblick in unsere Unterhaltung getragen worden, Mr. Benskin.«

Dieser öffnete den Mund, um zu antworten, schwieg aber, als vom Korridor plötzlich lautes Lachen hereinklang. Die Tür wurde aufgerissen, und ein hochgewachsener junger Mann, den Arm um die Taille eines Mädchens gelegt, trat ein. Erstaunt bemerkte er den Besucher.

»Entschuldige, Vater. Ich hatte keine Ahnung, daß du Besuch hast. Wir ...«

»... sind eine Stunde früher gekommen«, vollendete seine Begleiterin den Satz. »Unser Haus ist für ein Brautpaar zu klein, und Fred hat mir versprochen, mir einige seiner Jagdtrophäen zu zeigen.«

Sir Frederick lächelte.

»Ich möchte euch meinen Freund Mr. Benskin vorstellen«, sagte er. »Mein Sohn, Major Pinsent, seine Braut, Lady Alice Cranston.«

Der sonnengebräunte junge Mann drückte dem Besucher die Hand. Auch das Mädchen nickte ihm freundlich zu.

»Hoffentlich haben wir nicht zu sehr gestört, Vater«, meinte der Sohn.

Sir Frederick verabschiedete die beiden mit einer Geste.

»Vergeßt nicht, daß wir um acht essen«, rief er ihnen nach.

Allein geblieben, blickten die beiden Männer einander an. Erst als das letzte Echo der Fußtritte der beiden jungen Leute verklungen war, beantwortete Benskin die stumme Frage des andern.

»Sie haben mir ein ethisches Rätsel aufgegeben, Sir Frederick«, erklärte er, »das zu lösen ich mich nun nicht mehr zu bemühen brauche. Nur das möchte ich Ihnen noch sagen: Ich kenne Eddie Huggins seit mehreren Jahren und hätte nie geglaubt, daß er den guten Geschmack besitzen würde, auf diese Art aus der Welt zu gehen.«

»Mit anderen Worten ...?« fragte Sir Frederick.

Benskin warf sein Notizbuch ins lustig flackernde Kaminfeuer.

»Ich habe noch nie das Resultat der Arbeit zweier Wochen so freudig vernichtet wie diesmal«, sagte er. »Vielleicht mache ich mich, rein dienstlich gesehen, einer Verfehlung schuldig. Aber wirklich beweisen würde ich Ihnen doch nichts können, und kein Gericht würde Sie nur auf meine Aussage hin verurteilen. Warum also einen Skandal heraufbeschwören, mit dem weder der Gerechtigkeit noch irgendeinem Unschuldigen gedient ist?«


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