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Sechstes Kapitel

In einer kleinen grünen Mulde, die köstlich bespült wird von der blauen Flut des rauschenden Meeres, liegt, seitwärts von der Landstraße, die nach La Condamine führt, die »Lorbeervilla«. In dem Garten, der sich abfallend bis ans Meer zieht, verschlingen blühende Mimosen, Rosen und Tamarinden ihre Zweige zu einem duftenden Schutzdach gegen die Sonnenstrahlen. In einem kleinen Rundell mit sandbestreutem Boden, das mit Korbstühlen und Tisch behaglich ausgestattet war, pflegte Annina arbeitend oder lesend ihre Tage zu verbringen, dort suchte und fand sie der Vicomte, als er nach seiner Unterredung mit Saint-Yrieix von Monte Carlo zurückkam. Annina brauchte nur in sein Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß ihm das Glück wiederum nicht günstig gewesen war. Er gab sich jetzt nicht mehr die Mühe, ihr gegenüber seine Stimmungen zu verbergen, und war nach Verlusten so finster und gedrückt, als er fröhlich und übermütig heimkam, wenn er gewonnen hatte.

Mit reizender Sanftmut pflegte Annina ihn aufzuheitern, wenn er heruntergestimmt, sich mit ihm zu freuen, wenn er übermütig war, obwohl sie den tiefsten Abscheu vor dem Spiel hegte und alles aufbot, um André davon abzuhalten. Sie liebte ihn so leidenschaftlich, daß sie ihn unaufhörlich vor sich selbst entschuldigte und all seine Torheiten mit Geduld ertrug. Ohne sie zu küssen, warf er sich neben ihr in einen tiefen Lehnstuhl und fragte gleichgültig, wie sie den Tag zugebracht habe. Sie gab ihm lächelnd zur Antwort, daß sie gelesen und gestickt, aufs Meer hinausgeschaut habe und daß zu ihrer großen Freude Frau von Préjean, die sich vorübergehend in Monaco aufhalte, bei ihr gewesen sei.

»Tristan mochte sie nicht begleiten,« setzte sie mit einem leisen Seufzer hinzu, »aus Zartgefühl nicht, wie er behauptet. Das hat mir weh getan, denn ich habe ihn sehr gern und würde mich sehr gefreut haben, ihn wiederzusehen.«

»Da bin ich besser dran,« sagte Preigne. »Ich traf ihn im Kasino.«

»Und hast ihn gesprochen?«

»Gründlich!«

»Ach?«

Annina warf einen besorgten Blick auf André. Sie hatte jetzt vor so vielen Dingen Angst, daß sie sich eigentlich immer in Gefahr fühlte. Für ihr Leben gern würde sie gefragt haben, wovon zwischen ihnen die Rede gewesen sei, wagte es aber nicht aus Furcht, ihn zu ärgern. Er beantwortete jedoch auch die ungesprochene Frage.

»Ich weiß nicht, was Frau von Préjean ihm erzählt haben kann,« sagte er, »aber er scheint sich große Sorgen um deine materielle Lage zu machen.... Hast du Äußerungen getan, woraus sie auf Geldmangel schließen konnte?«

Eine heiße Röte stieg in Anninas Wangen.

»Das traust du mir doch wohl nicht zu?« entgegnete sie mit einer Gebärde der Abwehr.

»Nein, Liebste, gewiß nicht, ich kenne ja deine Gleichgültigkeit Geldfragen gegenüber, ja, ich finde sogar, daß du darin etwas weit gehst...«

»Was willst du damit sagen?«

»Reden wir nicht davon! Das ist ein Thema, das zwischen uns überhaupt nicht berührt werden sollte, und es war unrecht von mir, darauf anzuspielen. Tristan ist schuldig daran ... er sprach sozusagen von nichts anderm als deinen Vermögensverhältnissen. ... Nun denn, dein Mann hat ja dein Vermögen in der Hand, und das ist gut so! Es freut mich, daß er wenigstens auf einem Gebiet dein Schuldner ist.«

Annina zog die Brauen zusammen. Nichts war ihr so peinlich, als wenn die Rede auf Trélaurier kam, und soweit es in ihrer Macht lag, verscheuchte sie jede Erinnerung an ihn. Sie konnte ja nicht an ihn denken, ohne daß sich ihr Herz schmerzlich zusammengezogen hätte, Entfernung und Trennung schienen sein Bild verklärt zu haben. Sie sah ihn nicht mehr vor sich wie ehemals, er war in ihren Augen gewachsen, hatte sich verfeinert, veredelt. Das Spießbürgerliche in seinem Wesen war in der stolzen, verzweifelten Haltung während des Auftritts, der zum Bruch geführt hatte, untergegangen, es hatte sich ihr ein Trélaurier gezeigt, den sie nie geahnt hatte, den sie vielleicht hätte lieben können, wenn sie ihn gekannt hätte. Jedenfalls achtete sie den Mann und war darauf bedacht, ihn gegen jede ungerechte Beschuldigung in Schutz zu nehmen. Nie hatte sie von Seiten des Vicomte abfällige Bemerkungen ertragen, und André hatte mit seinem Takt alsbald begriffen, daß er besser tat, über den Gatten zu schweigen, der durch sein Unglück in Vorteil gekommen war. Heute aber hatte sich die vom Spielverlust erregte schlechte Laune durch dringendes Geldbedürfnis gesteigert. Er hatte auf dem Rückweg vom Kasino Tristans Äußerungen über Anninas Vermögen hin und her überlegt, und die Vorstellung, daß der reiche Bankier ihm das Geld seiner Frau vorenthalte, versetzte ihn in Wut. Die Sache erschien ihm als eine Unterschlagung zu seinem Nachteil. Aber sollte er es wagen, der jungen Frau zuzureden, daß sie eine Abrechnung von Trélaurier verlange? Und wenn er sie nicht dazu bewegen konnte, in welch bedenkliche Lage würden sie schließlich beide kommen?

Als ob sie seine Gedanken lesen könnte, gab sich auch Annina denselben düstern Betrachtungen hin wie der Geliebte, nur daß die ihrigen noch mehr Bitterkeit enthielten.

Es war ihr fester Vorsatz, niemals mit André von Geldangelegenheiten zu sprechen, sie hielt diese Zurückhaltung für nötig, um die Harmonie ihrer Beziehungen nicht zu stören, ihre Würde zu wahren, und nun drängten die Umstände unwiderstehlich, das zu tun, wovor sie sich immer sorgfältig gehütet hatte.

»Lieber Freund,« begann sie, »ich weiß nicht recht, wieviel mir noch geblieben ist von meinem Vermögen. Genau wußte ich den Betrag nie, aber ich habe seit einem Jahr sehr bedeutende Summen aus Paris bezogen, und zwar häufig. ... Ich muß zusammenrechnen, wie hoch sie sich belaufen, und dann zu erfahren trachten, wie es mit meinem Guthaben steht. Die einfache Rechtlichkeit, um von Zartgefühl gar nicht zu sprechen, fordert ja, daß ich mich von Trélaurier nicht unterstützen lasse, um fern von ihm zu leben ...«

»Unstreitig richtig,« stimmte André lächelnd bei. »Und an wen willst du dich wenden, um diese Aufschlüsse zu erhalten?«

»Ja ... ich könnte ja meinen Notar damit beauftragen, einen Herrn Hütin. Aber das würde Förmlichkeiten, Schreibereien und allerhand Weiterungen mit sich bringen. Etwas glatt und einfach zu behandeln ist nicht die Art dieser Herren, und so glaube ich, daß es wirksamer, klüger und namentlich einfacher wäre, mich an Vernaut, den Prokuristen des Bankhauses zu wenden.«

»Eine vortreffliche Idee. Dabei wird die Öffentlichkeit vermieden, und du wirst in kurzer Zeit einen genauen Einblick in deine Lage erhalten. Wenn du aber nun augenblicklich Geld nötig hättest, wie würdest du dir's verschaffen?«

»Ich habe ja ein Scheckbuch des Hauses Barante.«

»Was? Die Florentiner Bankiers marschieren immer noch mit?«

»Sie galoppieren sogar, wie mir scheint,« versetzte Annina mit einem matten Lächeln. »Sie haben jedenfalls vorzüglichen Kredit, denn wo wir auch hinkommen, ist ihr Name Gold. Ich habe gar nicht den Mut, die Zahlen auf den Schecktalons zusammenzurechnen, mir graut vor der Summe!«

Andrés Gesicht drückte Erstaunen aus.

»Ja, warst du denn eine so tolle Verschwenderin? Ich hatte dreihunderttausend Franken bei mir, als ich Paris verließ ... allerdings sind sie in Florenz schnell flöten gegangen ... aber du, Annina, ich begreife gar nicht, wie du so viel verbraucht haben kannst.«

»Ich habe es dir gegeben, Liebster,« erwiderte sie gelassen, »wie du mir das Deinige gegeben hattest.«

Er schloß sie in die Arme und küßte sie zärtlich zum Dank für diese hochherzige Erklärung, die sein Gewissen entlastete.

»Ach, seit sechs Monaten verfolgt mich der Unstern!« flüsterte er, Annina an sich gedrückt haltend. »Ich muß für unsre Liebe büßen: das Glück im Spiel ist von mir gewichen.«

»Spiele nicht mehr, André, dann wärst du vollkommen! Diese Leidenschaft ist dein einziger Fehler, aber ein furchtbarer!«

»Ich werde ihn wohl oder übel ablegen müssen,« gab er mürbe geworden zu. »Es ist ja zu dumm, immer und immer zu verlieren! Ach, wenn mir doch einmal wieder das Glück lächeln wollte! Vor unsrer Abreise war es mir so hold ...«

»Also habe ich dir Unglück gebracht?« fragte Annina wehmütig.

»Als ob ich das je dächte,» warf er mit zerstreuter Miene hin, während er sich im stillen sagte: »Und doch ist's wahr, daß ich seit der Zeit, daß sie mich liebt, unerhörtes Pech habe! Nicht ein einziger glücklicher Wurf, der die Reihe der Verluste unterbräche! Sollte das Sprichwort doch recht haben mit dem Glück in der Liebe und dem Unglück im Spiel? Zur Zeit der Marquise Courgiron war's ganz ebenso, ich mußte sie sitzen lassen, um wieder eine glückliche Hand zu haben, was dann ein ganzes Jahr lang der Fall war. Mit Annina fing's von neuem an, die beste Berechnung trügt, nicht ein einziges Mal kommt meine Farbe heraus! Man hätte wirklich denken können, der verdammte Bankhalter hatte falsche Karten vor sich, denn regelmäßig raffte er mein Geld zusammen. Es ist ja zum Teufelholen! Und nichts zu machen gegen diese Ausbeutung!«

Er steckte eine Zigarette an und blies mit bekümmertem Gemüt Rauchringe in die Luft. Ein Wort seines Kammerdieners Artur wollte ihm seit heute früh nicht aus dem Sinn. Der Schlingel hatte sich diesen Morgen beim Ankleiden eine ganze Weile herumgedrückt, die Kleidungsstücke bald so, bald anders gelegt, um schließlich anzuheben: »Ich muß mir ein Herz fassen und dem Herrn Vicomte anvertrauen, was mich seit gestern abend umtreibt ... ich weiß ja, daß der Herr Vicomte mich nicht verraten werden. Es handelt sich nämlich um folgendes: ein Italiener, der bei fürstlichen Herrschaften als Kurier in Diensten steht, kam in ein kleines Café, wo Dienerschaft von Stand sich zu treffen pflegt, und als ich mich über das furchtbare Pech beklagte, das mich seit längerer Zeit verfolgt ...«

»Sie auch, Meister Artur?'' konnte sich der Vicomte nicht enthalten einzuwerfen.

»Jawohl, gnädiger Herr,« sagte Artur demütig. »Das Glück macht keinen Unterschied zwischen Herrn und Diener. Entschuldigen der Herr Vicomte, daß ich mich so ausdrücke ...«

»Schafskopf! Ich würde es namentlich entschuldigen, wenn Sie mir ein Mittel angeben wollten, wie dem verdammten Pech abzuhelfen wäre!«

Artur zwinkerte mit den Augen und machte sein unterwürfigstes Gesicht.

»Dieses Mittel, das hat mir der Italiener gerade gegeben. Man kann in den nächsten Tagen Hunderte und Tausende gewinnen ... man müßte nur die Zeit benützen, bis das Geheimnis entdeckt wird.«

»Etwas deutlicher, wenn ich bitten darf.«

»Jawohl, Herr Vicomte. Es scheint – wenigstens behauptet's der Italiener – daß einer von den Roulettetischen ein wenig geschwunden ist ... er ist nicht mehr vollständig im Gleichgewicht, so daß die Kugel unter sechs Fallen fünfmal auf die gleiche Seite läuft. Dadurch kommen gewisse Nummern ungewöhnlich häufig heraus, und man muß, wenn man diese kennt, mit mathematischer Sicherheit gewinnen. Das wird vielleicht kaum acht Tage so bleiben, aber diese acht Tage können einträglich werden. Läßt man dabei die Bank von Zeit zu Zeit wieder ausschnaufen, das heißt, hütet man sich, sie zu sprengen, so kann man ganz sachte herbeiführen, daß sie dauernd und reichlich auspacken muß. Das Schlimme ist nur, daß man dem Italiener tausend Franken zahlen muß, wenn man wissen will, welcher Tisch es ist und nach welcher Seite er sich neigt ... und diese tausend Franken, die habe ich eben nicht! Wenn den Herrn Vicomte sein gutes Herz triebe, sie mir vorzustrecken ... ach, morgen abend schon würde ich sie dem Herrn Vicomte heimzahlen ...«

»Schurke! Das ist ja Diebstahl! Sie wagen sich damit an mich zu wenden ...«

Blaß vor Wut, hatte er dem bestürzten Artur die Türe gewiesen, seit heute früh aber waren ihm die Mitteilungen des Burschen unaufhörlich wieder in den Sinn gekommen. Dieser geschwundene Roulettetisch war ja im Grund genommen doch nur eine Wirkung des Zufalls. Er kannte ihn nicht und niemand hatte ihm den Tisch bezeichnet, was hinderte ihn denn, ihn zu suchen, ihn auf eigene Faust zu suchen? Und wenn er ihn ausfindig machte. ... Er schämte sich vor sich selbst und ein verächtliches Lächeln zuckte um seine Lippen. Er, André von Preigne, der vornehme Spieler, berühmt durch die Haltung, die er in Glück und Unglück bewahrte, der seine Karten offen hinlegte und ohne mit der Wimper zu zucken in einer Nacht Summen von dreihunderttausend Franken verlor oder gewann, er sollte sich mit kleinen Schwindeleien abgeben? War es schon dahin gekommen mit ihm? Seufzend erinnerte er sich eines Ausspruchs des alten Barons von Croix-Mort über die Nachsicht, womit der Spieler den Mogler beurteile, »als ob jeder Spieler in einem geheimen Winkel seiner Seele fühlte, daß auch für ihn der Augenblick kommen kann, wo er sich zum Mogeln hinreißen läßt«.

»Nein, nein! Ich werde es nicht meinem Bedienten gleichtun,« dachte der Vicomte, sich stramm aufrichtend.

Er warf die Zigarette weg, und da er sah, daß ihn Annina, etwas beunruhigt über sein langes Schweigen, beobachtete, gab er ihr den Arm und führte sie zärtlich und verliebt langsam den gewundenen Fußpfad entlang, der sich zwischen blühenden Mimosen und Lorbeersträuchern bis ans Meer schlängelte. Abends gegen neun Uhr ließ er sie wieder allein, um zu Wagen nach dem Kasino zurückzukehren. Langsam wanderte er durch die Roulettesäle, alle Tische aufmerksam prüfend. Die Behauptung des Italieners beschäftigte ihn und wider Willen regte sich die Neugier, sie auf ihre Richtigkeit zu prüfen. An den ersten fünf Tischen entdeckte er nichts Ungewöhnliches, die Treffer verteilten sich auf die ganze Reihe der sechsunddreißig Nummern, am sechsten aber wurde er plötzlich stutzig. Die Tafel ergab ein bedeutendes Übergewicht der Nummern von zwölf bis vierundzwanzig, er blieb stehen – sollte das der Tisch sein, den der Italiener im Sinn hatte?

Eine gewisse Erregung ergriff ihn angesichts dieses Tisches, der den Spielern eine so geheimnisvolle Aussicht auf Gewinn bot. Er war keineswegs umdrängt und das Spiel lief flau, keiner von den Pointierern schien zu ahnen, welch seltene Gelegenheit sich bot, das Glück zu zwingen. André verfolgte das Rollen der Kugeln. Siebzehn kam heraus, dann zwölf, dann fünfzehn, alles Nummern derselben Serie. Einer von den Croupiers, der ihn als Stammgast des hohen Trente-et-Quarante kannte, wagte mit verbindlichem Lächeln zu sagen: »Wird der Herr Vicomte uns nicht auch einmal die Ehre schenken? Freilich für den Herrn Vicomte nur ein Kinderspiel ...«

Diese Aufforderung trieb André zum Entschluß; es stieg ihm heiß vom Kopf zum Herzen.

Die Brieftasche herausziehend, sagte er, wie um seine Bedenken abzuwehren: »Schließlich warum denn nicht?«

Er legte zwei Tausendfrankenscheine auf die zweite Kolonne. Achtzehn kam. Er steckte den Gewinn ein und ließ den Einsatz liegen.

»Noch einmal gewonnen, Herr Vicomte!« sagte der Croupier, der sich etwas darauf zu gut tat, einen guten Rat erteilt zu haben.

André nahm die Scheine und knüllte sie zusammen. Es wurde ihm schwarz vor den Augen und er hörte eine innere Stimme »Dieb!« rufen. Das war ein unleidliches Gefühl, und rasch warf er das Bündel gewonnener Scheine auf Rot. Schwarz gewann. Mit unsäglicher Erleichterung sah der Vicomte das unrecht erworbene Gut verschwinden. Er machte eine rasche Bewegung, die sich der Croupier als Zeichen der Unzufriedenheit auslegte.

»Ach, Herr Vicomte,« raunte er ihm zu, »Sie hätten auf Schwarz bleiben sollen ...«

Er hörte nicht hin, sondern wandte sich dem Saal des Trente-et-Quarante zu, wo er in einer Stunde krampfhafter Versuche, das Glück zu erzwingen, alles auf den Tisch legen mußte, was er an Geld bei sich hatte. Als er in der lauen, sternfunkelnden Nacht heimwärts ging, den Rauch der Zigarette in die linde, duftige Abendluft blasend, faßte er seine Erfahrungen und Eindrücke in den Gedanken zusammen: »Du bist ein Schwächling, mein Junge. Du weißt dir die Umstände nicht zu Nutze zu machen, schlägst dich mit deinem Gewissen herum, statt das reißende Tier zu bekämpfen, den Drachen, Bank genannt. Rein zum Auslachen bist du, und dabei bildest du dir ein, zum Kampf ums Dasein gewappnet zu sein! Wenn dir einer heimlich eine diplomatische Neuigkeit anvertraute, wodurch von heute auf morgen der Kurs der Rente um zehn Prozent fallen müßte, würdest du auch Bedenken tragen, deine Wissenschaft zu brauchen, um dir im Handumdrehen ein Vermögen zu machen? Und doch würde das Geld, das dir dabei zufiele, aus den Taschen weniger gut unterrichteter Leute stammen, und du hättest ihre Unkenntnis zu deinem Vorteil mißbraucht. Was ist denn für ein Unterschied zwischen einer solchen vertraulichen Mitteilung und der Entdeckung, daß der Roulettetisch nach einer Seite hängt? Nicht der geringste! Und du hast deinen Gewinn weggeworfen! Weshalb? Weil es im Spiel nicht für anständig gilt, Geheimnisse auszunützen, während beim Börsenspiel die Spekulation mit Geheimnissen gang und gäbe ist. An der Börse darf man also andre Spieler bestehlen, am grünen Tisch nicht? Was für Feinheiten! Ist es nicht hier wie dort das nämliche? Vicomte, du bist ein Schwachkopf und vermagst dich nicht über Vorurteile hinwegzusetzen!«

Er stampfte zornig mit dem Fuß auf.

»Nennen wir doch das Kind beim rechten Namen,« fuhr er in seiner Betrachtung fort, »ich wollte ganz einfach nicht tun, was mein Bedienter tut. Nicht aus Zartgefühl bin ich davor zurückgeschreckt, sondern aus Hochmut!«

Unter diesen philosophischen Erwägungen war er bei der Lorbeervilla angelangt. Er schloß die Gartenpforte auf und trat ein, wobei er bemerkte, daß aus Anninas Zimmer ein breiter Lichtstrahl in die Dunkelheit fiel. Die junge Frau saß wie jeden Abend wartend auf, bis er heimkam, und er schämte sich, sie immer allein zu lassen, um draußen sinnlos sein Geld zu verlieren. Waren seine Taschen leer, so regte sich sein Gewissen, er machte sich Vorwürfe und nahm sich vor, Annina für alles Leid zu entschädigen, das er ihr schon zugefügt hatte. Er zeigte sich zärtlich, liebenswürdig, verliebt, und am andern Tag trug er Anninas Brief an Vernaut selbst zur Post.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Drei Tage darauf, als Annina nachmittags an ihrem schattigen Plätzchen im Garten saß, ohne sonderliche Spannung einen neuen Roman lesend und immer wieder auf die herrliche Bucht gegen Villafranca hinausblickend, kam Zoë eilig herbeigeflogen.

»Gnädige Frau ... Herr Vernaut fragt an, ob er Sie sprechen kann ...«

Eine heiße Blutwelle stieg der jungen Frau ins Gesicht: unwillkürlich stand sie auf und machte ein paar Schritte, als ob sie dem Besucher entgegeneilen wolle, dann blieb sie plötzlich stehen.

»Herr Vernaut ist allein?«

»Ja, gnädige Frau. Er wartet vor dem Haus. Er wollte nicht nähertreten, ehe er wisse, ob die gnädige Frau ihn empfangen werde.«

»Führen Sie ihn hierher.«

Zoë trippelte davon und Annina hörte sie in der Entfernung zwitschern: »Wenn Herr Vernaut sich in den Garten bemühen wollen ...«

Ein fester Schritt knirschte auf dem Kies des Gartenwegs und Trélauriers Freund erschien. Er verbeugte sich respektvoll, innerlich bewegt vor der jungen Frau, und die Jungfer zog sich zurück. Annina blickte zitternd, von Angst erfaßt zu Vernaut auf, sie wollte sprechen, fand aber die Worte nicht, und eine körperliche Schwäche wandelte sie an, so daß sie am Umsinken war. Sie setzte sich, wies dem Besucher einen Stuhl neben dem ihrigen an und sagte, endlich die Beklommenheit überwindend: »Ich bin zu glücklich, Sie zu sehen, Herr Vernaut, will aber hoffen, daß Sie nicht meinetwegen diese Reise gemacht haben?«

»Doch, gnädige Frau, nur um Ihretwillen bin ich hier. Ich hätte Ihre Anfragen ja schriftlich beantworten können, aber in einem Bankhaus muß jede Antwort auf einen Geschäftsbrief, und der Ihrige war ein solcher, kopiert werden. Wir wollten indes nicht, daß die Verhandlungen zwischen Ihnen und uns irgendwelche Spuren hinterließen ...«

Bei diesem »wir« hatte Annina aufgeblickt; gleich in den ersten Worten tat sich ihr die Persönlichkeit des Gatten kund; er mußte also auch das Abkommen mit dem Florentiner Bankhaus veranlaßt haben, daran war gar nicht zu zweifeln. Und wenn Vernaut hier neben ihr saß, so geschah es auf Trélauriers Wunsch, und jedes Wort, das ihr der Bevollmächtigte zu sagen haben würde, kam eigentlich aus seinem Mund. Sie wollte aber nicht den Eindruck erwecken, als ob sie vor der Peinlichkeit dieses Punktes zurückschrecke.

»Herr Trélaurier hat sich persönlich mit dieser Angelegenheit beschäftigt?« sagte sie.

»Gewiß, gnädige Frau, wie mit den Angelegenheiten all unsrer Klienten ...«

Vernaut bemerkte ein leichtes Zucken der jungen Frau beim Wort Klienten, das ihr jetziges Verhältnis zu Trélaurier so scharf hervorhob, und er setzte rasch hinzu: »Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß Ihre Interessen allen andern vorgehen, namentlich seinen eigenen.«

Ihre Augen füllten sich sofort mit schimmernden Tränen, und sie sagte sanft und traurig: »Ich kenne ja seine großmütige Güte.«

Nach kurzem Schweigen fragte sie zaghaft: »Wie befindet er sich denn? Es wäre mir tröstlich, ihn gesund zu wissen ...«

Eine Handbewegung Vernauts billigte ihr Verlangen.

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau, er ist jetzt ganz wohl. Vor einigen Monaten war er allerdings sehr krank, so krank, daß wir für sein Leben fürchten mußten, aber er ist ja kräftig und elastisch, so hat er die Krankheit überwunden und wir konnten ihn, Gott sei's gedankt, wieder aufs trockene bringen.«

»Auch Ihnen gebührt mein Dank, wie ich sehe,« versetzte Annina. »Wie gut von Ihnen, daß Sie ihn gepflegt haben.«

»Er hatte ja niemand mehr als mich,« erwiderte Vernaut gesenkten Blicks mit gedämpfter Stimme, »der ihm diesen Dienst hätte leisten können. So habe ich denn mein möglichstes getan.«

Annina schwieg, innerlich unschlüssig. Nach einer Weile aber fragte sie: »Spricht er dann und wann von mir?«

»Es vergeht kein Tag, ohne daß zwischen uns von Ihnen die Rede wäre.«

»Und er nennt mich nicht mit allzuviel Bitterkeit?« »Er spricht von Ihnen mit tiefem Schmerz, der nie enden wird.« »Er flucht mir also nicht?«

»Trélaurier hat Sie zu sehr geliebt und ist eine zu großmütige Seele, um anders als mit trostlosem Mitleid Ihrer zu gedenken. In seinem Gefühl für Sie hat sich nichts geändert, seine Zärtlichkeit ist sich gleich geblieben, und sein Vermissen auch. Er spricht von Ihnen stets wie von einer geliebten Frau, die er verloren hätte und bis zu seiner letzten Stunde beweinen würde. In Ihren Zimmern ist alles geblieben, wie es am Tag Ihrer Abreise war, bei Tisch wird Ihr Gedeck aufgelegt, als ob Sie jeden Tag heimkommen und sich an Ihren Platz setzen könnten. Die Dienerschaft hat Befehl, Besuchen, die nach Ihnen fragen, den Bescheid zu geben, daß Sie verreist seien, aber bald zurückerwartet würden. Der Welt gegenüber hat er dem Gerücht, daß Sie bei Ihrer Tante in Schloß Fondettes seien, Glauben zu schaffen gewußt. Man nimmt an, daß Sie nervenleidend seien, und denen, die sich von dieser Lüge nicht täuschen lassen, legt Trélaurier durch seine sichere Haltung Schweigen auf. Soweit es an ihm liegt, ist demnach Ihr Ruf unangetastet geblieben, er hat kein Gerede über Sie aufkommen lassen. Nachdem er Sie nicht mehr sehen, nicht mehr mit Liebe umgeben durfte, wollte er Sie wenigstens aus der Ferne beschützen und verteidigen. Das war ja alles, was er noch für Sie tun konnte, und er hat, wie es bei ihm Brauch ist, all seine Güte und all seine Kraft an diese Aufgabe gesetzt.«

Annina, die bei diesen ihr so ganz unerwarteten Aufschlüssen leichenbleich geworden war, fragte bebend: »Hofft er denn, daß ich zu ihm zurückkehren werde?«

»Nein, gnädige Frau,« versetzte Vernaut ernst. »Er schätzt Sie noch zu hoch, um anzunehmen, daß Sie einen mit so grausamem Eigenwillen gefaßten Entschluß nicht durchführen könnten. Er glaubt nicht, daß Sie um einer vorübergehenden Laune willen sein Leben zerstört hätten. Er kennt Ihren Stolz, der es Ihnen unmöglich machen wird, je freiwillig umzukehren auf dem Weg, den Sie betreten haben. Sie verließen die Pflicht, um der Liebe willen – er hofft, daß die Liebe Ihnen Ersatz bieten wird für alles, was Sie ihr geopfert haben.«

Annina senkte das Haupt. Es war ihr, als ob Vernaut mit diesen wenigen Worten ihr Urteil gesprochen hätte. Ja, er sprach wahr: sie war verurteilt, nie wieder den Schritt rückwärts zu lenken, wollte sie nicht den kläglichsten und demütigendsten Widerruf auf sich nehmen. Sie war der Ehe – Vernaut sagte der Pflicht – entwichen, um die Liebe zu suchen, nun forderten ihre Würde, ihre Ehre, daß sie fortfuhr, der Liebe zu leben – oder daran zu sterben. Es gab für sie nur zwei Möglichkeiten, leben oder sterben durch die Liebe, und Trélaurier selbst dachte so und ließ es ihr kund tun. – Er selbst gab die Möglichkeit nicht zu, daß eine Niederlage des Herzens sie zu ihm zurückführen könnte, denn er kannte sie als zu stolz, um sich vor dem Manne zu demütigen, den sie so schwer gekränkt hatte. Er beweinte sie zärtlich, trostlos, sehnsüchtig, er wollte, daß man ihr die Achtung bewahre. Aber diese Tränen und diese Fürsorge für ihren Ruf waren ein Zoll, den er seiner Schwachheit als Mann und Gatte bezahlte. Er hatte die Kraft nicht, sie zu hassen, er ertrug es nicht, sie mißachtet zu wissen, aber er wußte, daß sie ihm vollständig und auf ewig verloren war. Was er ihr noch an Rücksicht, an Huldigung erwies, das waren Blumen, die man auf ein Grab legt.

Annina strich sich langsam mit der Hand über die Stirn, als ob sie das Bild verscheuchen wolle, das vor ihr aufgetaucht war, das Bild des schönen friedlichen Hauses voll Sicherheit, voll Behagen, das sie an einem Tag wahnsinniger Verblendung verlassen hatte. Sie blickte um sich her auf den Garten voll Blüten, das blaue Meer unter ihr und das kleine alltägliche Haus in ihrem Rücken, das vor ihr schon so viele bewohnt hatten, das, wenn sie eines Abends abreiste, am nächsten Tag von andern bewohnt sein würde. Es erschien ihr wie ein Sinnbild ihres gegenwärtigen Lebens, eines Lebens, das, wie Vernaut ihr zu verstehen gab, für immer in gleicher Unstetheit und Unklarheit dahinfließen mußte. Sie erstickte einen Seufzer. Der Gegensatz von einst und jetzt war furchtbar, aber hatte sie es nicht so haben wollen? Hatte sie nicht, was sie begehrt, Freiheit in der Liebe? Sie raffte sich auf, um ihrer Gedanken Herr zu werden, denn sie scheute davor zurück, Vernaut etwas merken zu lassen von ihrem inneren Kampf. Ihren Blick zur Stetigkeit zwingend, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Sie sind also hierher gekommen, um Geschäftliches mit mir zu verhandeln, Herr Vernaut?«

»Ja, es lag mir daran, Ihnen all die Aufklärungen zu geben, die Sie in dem Brief, womit Sie mich beehrt haben, verlangen. Ist es Ihnen gefällig, mir Gehör zu schenken?«

»Ganz gewiß, falls die Sache nicht zu verwickelt ist für mein Verständnis!«

»Sie ist außerordentlich einfach.«

Damit zog er eine Anzahl Schriftstücke aus der Brusttasche und ordnete sie auf dem ländlichen Gartentisch, worauf auch Anninas Buch lag.

»Ihr Beibringen in die Ehe, gnädige Frau, bestand in zwölfmalhunderttausend Franken in Wertpapieren und einer Aussteuer im Wert von sechzigtausend Franken. Die zwölfhunderttausend Franken, die Ihr Eigentum sind, da Sie nicht auf Gütergemeinschaft geheiratet haben, wurden von Ihrem Gatten in der Bank niedergelegt und befinden sich noch dort ...«

»Aber,« fiel ihm Annina in die Rede, »von diesen zwölfhunderttausend Franken habe ich also nur die Zinsen?«

»Ganz richtig, gnädige Frau, siebenundvierzigtausend Franken Jahreszinsen. ... Wenn Herr Trélaurier in der Lage gewesen wäre, die Summe in der Bank arbeiten zu lassen, würde sie sich gewiß verdoppelt haben, er hielt sich aber streng an die Bestimmungen des Ehevertrags. Folglich haben Sie jährlich in runder Summe fünfzigtausend Franken zu Ihrer Verfügung, die Ihr Eigentum sind, die Sie aber nicht ohne Unterschrift Ihres Ehemanns erheben können.«

»Ja, woher kommt aber dann das Geld, das ich seit einem Jahr durch das Bankhaus Barante beziehe?«

»Vom Haus Trélaurier,« versetzte Vernaut kühl.

»Von meinem Mann? Mit dem Geld meines Mannes habe ich ...«

Sie vollendete den Satz nicht. Ein Zittern durchlief ihren ganzen Körper, und sie schwankte, so unerträglich dünkte sie die grauenvolle Wahrheit. Vernaut tat, als ob er ihre Leichenblässe nicht bemerke, und fuhr in seinen Erklärungen fort.

»Sie haben am Tag vor Ihrer Abreise die Summe von einhundertundfünfzigtausend Franken bei der Bank erhoben und die Ihnen von Silvestri & Barante in Florenz ausbezahlten Summen belaufen sich auf achthundertunddreißigtausend Franken. Sie haben demnach neunhundertundachtzigtausend Franken von uns bezogen, worüber ich Ihnen die vom Hause Trélaurier eingelösten Schecks vorlegen kann.«

»Aber es war nie meine Absicht, die Schuldnerin meines Mannes zu werden,« rief Annina schaudernd. »Es liegt mir alles daran, das heimzuzahlen: ich will ihm nichts schuldig werden! Der Gedanke, ihn auch nur um einen Franken zu schädigen, wäre mir rein unerträglich.«

»Machen Sie doch nicht so viel Wesens, gnädige Frau, wegen ein paarmal hunderttausend Franken,« versetzte Vernaut wehmütig lächelnd. »Sie haben Trélaurier ganz anders geschädigt. Wenn es in seiner Macht gestanden hätte, Ihr Herz mit Gold zurückzukaufen, so wäre er heute ein armer Mann, aber ein glücklicher.«

»Ach, Sie müssen mich recht verstehen, Herr Vernaut. Daß Geld in dem Verhältnis zwischen meinem Manne und mir eine Rolle spielen soll, bringt mich in eine schiefe Lage, gegen die mein Herz sich empört. Ich konnte meinen Gatten verraten, ausbeuten will ich ihn nicht! Sie müssen mir das nachfühlen! Es ist ein unerträglicher Gedanke, daß mein Mann mir gegenüber eine derartige Freigebigkeit bewiesen haben soll, während ich ...«

Sie schlug die Hände zusammen und rief empört: »Diese Großmut ist schimpflich für mich! Sie erniedrigt mich zur Dirne!«

»Gnädige Frau,« entgegnete Vernaut ungerührt, aber achtungsvoll, »Sie verkennen meinen Freund gänzlich. Sie schieben ihm Gedanken unter, die er nie gehabt, Absichten, die er nie gehegt hat. Als Sie Geld nötig hatten, stellten Sie Schecks auf sein Haus aus, und er hat sie bezahlt. Was würden Sie gesagt haben, wenn er die Zahlung verweigert hätte, die Gefühle vorausgesetzt, die Sie in diesem Augenblick kundgeben? Würden Sie ihn nicht der Unredlichkeit geziehen haben? Hätten Sie nicht gedacht, er mißbrauche Ihre Abwesenheit, um Ihnen Ihr Vermögen vorzuenthalten? Oder daß er aus Rache für das Leid, das Sie ihm angetan haben, den Versuch mache, Ihnen die Mittel zum Leben abzuschneiden? Er hat gehandelt, wie sein Herz, seine Vernunft und, ich muß dabei beharren, sein Zartgefühl es ihm vorschrieben. Ich füge hinzu, daß er das nie bereuen und an seiner Auffassung festhalten wird, mögen Sie ihn beurteilen wie Sie wollen.«

Annina saß mit gesenkter Stirn da, die Augen starr zu Boden geheftet. Vernauts letzte Worte hatten ihr vollends zum Bewußtsein gebracht, wie unbedacht und leichtfertig ihre Handlungsweise in diesem Jahr gewesen war. Sie zeigte ihr auch mit unerbittlicher Klarheit den Unterschied zwischen dem Verfahren ihres Gatten und ihrem eigenen. Wie er sie sittlich und materiell überragte, der großmütige, edle Trélaurier! Turmhoch stand er über ihr! Alle Möglichkeiten der Rache, die ihm in die Hand gegeben waren, hatte er verschmäht, aus Rücksicht auf Annina. Verlassen, entehrt, tödlich verwundet widmete er seine Fürsorge nur der ungetreuen, ehrlosen, vergötterten Mörderin seines Glücks, und nur eine zufällige geschäftliche Unterredung setzte sie davon in Kenntnis. ...

Nein, wenn sie im Lauf dieses Jahres auch nur ein einziges Mal ernstlich nachgedacht hätte, müßten ihr seine Großmut und seine Schonung von selbst klar geworden sein. Sie mußte wirklich in einem Zustand geistiger Umnachtung, sinnlicher Verwirrung dahingelebt haben, um nicht ein einziges Mal an das Rätsel ihrer vom Gatten so reichlich gesicherten äußeren Existenz gedacht zu haben. Und nun, da sie wußte, was er für sie getan, war es zu spät. Vernaut selbst erklärte ihr, daß sie nicht in der Lage sei, die eingegangene Schuld abzutragen, sich reinzuwaschen von der Schmach, mit dem Geliebten auf Kosten des Gatten gelebt zu haben. Ruhiger geworden, wollte sie jetzt der Sache auf den Grund gehen und von Vernaut genau erfahren, womit sie von nun an zu rechnen hätte.

»Ihre Erklärungen sind vollkommen deutlich, Herr Vernaut, und ich begreife jetzt, daß ich meinem Mann bedeutende Summen schuldig geworden bin. Helfen Sie mir, bitte, überlegen, wie diese Schuld abgetragen werden kann. Ich will Ihnen Vollmacht geben, meine Papiere zu verkaufen, dann mag er von dem Erlös sein Guthaben abziehen und das übrige mir zuzustellen die Güte haben.«

»Was Sie da vorschlagen, ist unausführbar, gnädige Frau,« versetzte Vernaut ohne Zögern. »Selbst wenn Herr Trélaurier über Ihre Mitgift verfügen wollte, wäre er nach dem Gesetz zum Ersatz verpflichtet, und es wäre, als ob er das Geld aus einer Westentasche in die andre steckte. Er ist ein zu guter Geschäftsmann und ein viel zu gewissenhafter Mensch, um Ihnen und Ihrer Familie gegenüber das Unrecht auf sich zu laden, daß er Sie Ihr Vermögen hätte vergeuden lassen. Das wäre mit seinem Charakter unvereinbar und würde niemand glaubhaft erscheinen, auf diesen Gedanken müssen Sie somit verzichten.«

»Ich soll mich also darein ergeben,« rief Annina leidenschaftlich, »wider meinen Willen Schuldnerin des Hauses Trélaurier zu bleiben?«

»Wenn es Ihnen beliebt, diese Schuld heimzuzahlen, so steht dem nichts im Wege, nur die vorhin angegebene Art und Weise ist nicht annehmbar.«

»Sie wissen sehr wohl, daß es eine andre Möglichkeit nicht gibt,« sagte Annina in steigender Erregung.

»Warum nicht? Sie sind ja in Monte Carlo! Der grüne Tisch kann Ihnen zurückgeben, was er verschlungen hat!«

Das war die erste Anspielung auf des Vicomtes Anteil an Anninas Verschwendung, und diese ertrug sie nicht. Seit einer Stunde war Vernaut im Vorteil über sie gewesen, jetzt richtete sie sich hoch auf in schmerzlicher Bewegung.

»Bezahlen werde ich, gleichviel, wie ich es möglich mache.«

Vernaut verbeugte sich schweigend: er begriff, daß die Unterredung damit beendigt und Annina keinem weiteren Wort zugänglich war. Er faltete seine Papiere zusammen, steckte sie in die Tasche und sagte, Abschied nehmend: »Um noch einmal alles zusammenzufassen, gnädige Frau, möchte ich bemerken, daß Sie jedenfalls über die fünfzigtausend Franken Jahreszins aus Ihrem Vermögen verfügen können, falls Sie wirklich den Ihnen jeder Zeit offenen Kredit beim Hause Trélaurier nicht länger in Anspruch nehmen wollen. Ich werde Auftrag geben, daß sie Ihnen regelmäßig vierteljährlich ausbezahlt werden.«

Damit verbeugte er sich und wollte gehen. Sie aber neigte traurig den Kopf, und da sie sich inzwischen gesammelt und beruhigt hatte, gab sie ihm das Geleite bis zur Gartentür. Als sie das Pförtchen erreicht hatten, blieb sie stehen; ihre Lippen bewegten sich, als ob sie sprechen wolle, und Vernaut wartete, selbst tief bewegt. Aber der Stolz gewann die Oberhand in Annina, mit einer verabschiedenden Handbewegung brachte sie nichts heraus als die Worte: »Ich danke Ihnen!«

Vernaut sah die junge Frau vorwurfsvoll an, schüttelte betrübt den Kopf und stieg in den Wagen, der ihn hergebracht hatte.

Annina kehrte allein unter das grüne Laubdach zurück, wo so schwerwiegende Worte ausgetauscht worden waren. Sie selbst kam sich verwandelt vor seit der Ankunft von Trélauriers Freund, eine schwere Last bedrückte ihr Gewissen, das Gefühl der Freiheit, der Kraft, der Selbstgewißheit war von ihr gewichen. Zum ersten Male war sie genötigt gewesen, mit den nüchternsten Lebensbedingungen zu rechnen, und sie ging etwas verwundet aus dieser Prüfung hervor. Wenn sie sich statt mit Trélaurier mit einem andern auseinanderzusetzen gehabt hätte, so würde ihre Handlungsweise, das konnte sie sich nicht verhehlen, eine unheilvolle Liquidation zur Folge gehabt haben. Oder aber ihre Geldforderungen würden vom ersten Tag an abgewiesen worden sein, und die beschränkte Lage, die ihr von nun an bevorstand, wäre von Anfang an ihr Teil gewesen.

Auf demselben Platz sitzend, wo sie Vernaut empfangen hatte, ging sie in Gedanken alles noch einmal durch, was er ihr gesagt hatte, suchte all die ernsten, klugen, ehrenhaften Worte in ihrem Geist zu ordnen. Das erste, was sich klar und deutlich aus dem Wirrsal in ihrer Seele abhob, war die Tatsache, daß sie in Jahresfrist nahezu eine Million verbraucht hatte. Wie und wozu, das fragte sich Annina mit Bestürzung. Sie hatte allerdings ein kostspieliges Leben geführt und die ganze Zeit ihrem Geschmack an Behagen und Luxus Opfer gebracht; Wohnung, Wagen, Pferde, kurz der ganze Haushalt war stets vom feinsten Zuschnitt gewesen. Aber eine Million! Ein Schatten glitt in ihre Augen und das schöne Gesicht verdüsterte sich. Das, was sie André hatte nehmen lassen, mußte den furchtbaren Unterschied zwischen ihrer Lebensführung und dem ungeheuren Aufwand ausmachen, dessen Vernaut sie anklagte.

Nicht einen flüchtigen Augenblick empfand sie Reue darüber, diese Ausbeutung geduldet zu haben, das einzige, was ihr das Herz schwer machte, war der Gedanke, daß es ihr von jetzt an nicht mehr möglich war, ihre offene Schublade jeder Laune des Geliebten zu überlassen, und daß sie ihm die Notwendigkeit von Einschränkungen begreiflich machen mußte. Sie urteilte nicht über André, dazu hatte sie ihn viel zu lieb. Sie würde ja ihr Herzblut für ihn gegeben haben: was lag dann daran, daß er ihr Geld verschwendete? Das war in den Augen der verliebten Frau eine Kleinigkeit, und wenn seine Liebe im selben Maß mit ihren Opfern wachsen sollte, so wäre sie fähig gewesen, Ströme von Gold in seine Hände zu lenken. Aber sie war ja mit einem Schlag arm geworden, denn für sie, die nicht zu rechnen verstand, bedeutete ein Jahreseinkommen von fünfzigtausend Franken das Elend. Und von neuem nach dem Scheckbuch greifen, das ihr die Reichtümer des Hauses Trélaurier zur Verfügung stellte, das wollte sie nicht, nein, sie war fest entschlossen, sich dessen zu enthalten. »Nur Mut,« sagte sie sich. »Wir müssen eben sparen lernen! André wird mir dieses Opfer bringen, es ist ja das erste, das ich von ihm verlange. Wie sollte er nicht glücklich sein, seine Liebe beweisen zu können? Er wird sich alle Mühe geben, vernünftig zu werden, wird nicht mehr spielen oder doch mit mehr Maß. Die Zeit, die er an den Baccarat- oder Trente-et-Quarante-Tischen zubrachte, wird er nunmehr mir widmen. Wird das nicht an sich schon eine Wohltat sein, eine Erfrischung und Läuterung unsrer Liebe?«

Sie entwarf, von ihrer Phantasie hingerissen, Pläne für ein bescheidenes, trauliches Leben, das ganz der Liebe geweiht sein sollte. Sie malte sich ungetrübte Glückseligkeit darin aus und gab bei dem unbedingten Glauben, den sie an den Geliebten hatte, dem Gedanken nicht Raum, daß der Umschwung in ihrer finanziellen Lage irgendwie ihr Glück und ihre Sicherheit gefährden könnte.

Als André zu Tisch nach Hause kam, fand er Annina in dieser zuversichtlichen Stimmung. Er selbst schien weniger rosig gelaunt zu sein, denn er küßte ihr flüchtig die Hand und setzte sich schweigend an seinen Platz. Die Nacht senkte sich über den Garten, in all den Landhäusern von La Condamine wurden Lichter angezündet, die den Hügel mit kleinen leuchtenden Punkten bestreuten.

»Rate einmal, wer mich heute besucht hat,« fragte Annina nach einer Weile.

»Tristan?«

»Nein, es war ein viel wichtigerer Besuch – Herr Vernaut!«

»Ach! Der kam eigens von Paris, um dich zu sprechen? Bist du befriedigt über das, was er dir zu sagen hatte?«

»Nicht gerade! Es scheint, daß ich etwas unbesonnen umgegangen bin mit dem Geld, und daß wir von nun an etwas genauer rechnen müssen. ... Das wird uns doch wohl möglich sein, nicht?«

»Möglich ist alles,« warf André übellaunig hin, »fragt sich nur, ob's angenehm ist! Darauf kommt's eben an.«

»Was mich betrifft, bin ich mit allem zufrieden, wenn ich nur bei dir bin und du mir ganz gehörst ...«

»Liebe Annina, das ist selbstverständlich bei mir ebenso.«

»Dann ist ja alles gut! Dann gibt's für mich keine Sorge, keinen Kummer, und das Haus Trélaurier mag sein Geld behalten.«

Der Vicomte schien jetzt aufmerksam zu werden. Er hob den Kopf und fragte mit einem Anflug von Neugierde: »Hat das Haus Trélaurier denn im Sinn, seinen Kassenschrank abzusperren?«

»Durchaus nicht, aber ich will nichts mehr haben aus diesem Kassenschrank!«

»Und warum nicht, Liebste?«

»Weil ich damit Trélauriers Schuldnerin werde, was ich für demütigend halte ...«

»Hat dich Vernaut so etwas fühlen lassen?«

»Wahrhaftig nicht! Er hat mir im Gegenteil unbeschränkten Kredit angeboten, aber du wirst ja mit mir der Meinung sein, daß es unziemlich wäre, davon Gebrauch zu machen?«

»Versteht sich,« sagte Andre, gleichgültig.

»Ich werde also jetzt von meinen Jahreszinsen leben wie eine gute Bürgersfrau ...«

»Was wirklich Tugend zu nennen ist,« sagte der Vicomte lachend, »denn gut bürgerlich sind deine Lebensgewohnheiten gerade nicht ...«

»Ich werde sie mir aneignen.«

»Auf wie lange?«

»Auf immer!«

»Ein achttägiges Immer! Dann wird das berühmte Scheckbuch wieder hervorgeholt werden.«

»Bitte, André, scherze nicht mit derlei Sachen. Du tust mir weh ...«

»Worüber ich sehr unglücklich wäre!« sagte er, sich zu ihr beugend und ihre Hand streichelnd. »Komm, laß das Köpfchen nicht hängen, das Glück wird uns schon wieder lächeln und wir werden's gar nicht mehr nötig haben, den Signore Barante in Anspruch zu nehmen. Du wirst nichts entbehren müssen von dem Luxus, der dir Bedürfnis ist. Von morgen an beginne ich mit einem neuen System, von dem ich mir Wunder verspreche. ... Ich hatte es aufgespart bis zum Schluß für den Fall, daß mir das Glück untreu wäre. Verlaß dich nur auf mich, du wirst die Erfolge sehen!«

»Ach, André! Ich bitte dich,« rief Annina in Herzensangst, »wenn du mir etwas zuliebe tun willst, so gehe, statt ein neues System zu erproben, gar nicht mehr ins Kasino! Bleibe bei mir! Laß uns zusammen diese herrliche Umgebung durchstreifen, das wird dir besser bekommen, als deine Tage und Abende in fieberhafter Aufregung in den dumpfigen Sälen zu verbringen. Genieße den Sonnenschein, die Luft, die Blumen, statt deine Augen mit den trügerischen Berechnungen am grünen Tisch zu ermüden. André, willst du mir nichts versprechen? Ich werde dich noch viel mehr lieben!«

»Das wäre also möglich?« fragte er lächelnd mit einem zärtlichen Kuß. »Du hast doch geschworen, mich über alles zu lieben?«

»Heuchler! Du willst mir nur ausweichen!«

»Soll ich lügen, um dich zufriedenzustellen?«

»Nein, nicht lügen, aber vernünftig sein!«

»Die Vernunft gebietet jetzt eben das Spiel. Gestern, als wir noch im Gold wühlen konnten, da war es eine Dummheit, heute ist es unentbehrlich. Mache dir keine Sorgen, Annina, habe Vertrauen zu mir. Ich werde aus unsern eigenen Mitteln alles bestreiten, und binnen kurzem sollst du in der Lage sein, auch deine kostspieligsten Launen auszuführen!«

Sie hatte ihm gegenüber keinen Mut, und obwohl sie sich bewußt war, wie nötig es gewesen wäre, ihn dieser Leidenschaft zu entreißen, drang sie doch in der Stunde, wo sie ihn hätte zu dem Schwur bewegen sollen, keine Karte mehr anzurühren, nicht weiter in ihn.

Am nächsten Tag trat der Vicomte schon um ein Uhr in den Roulettesaal. Sein Plan war einfach. Er hatte sich entschlossen, von der Bank selbst die Munition zu beziehen, womit er sie bekriegen wollte, und da das Schamgefühl, womit er gestern den ungerechten Gewinn fortgeworfen hatte, jetzt überwunden war, wollte er an dem abhängenden Roulettetisch etliche zehntausend Franken, nicht mehr einheimsen, um dann zum Trente-et-Quarante überzugehen. Seine Betrachtungen hatten Früchte getragen, es kam ihm jetzt unglaublich kindisch und töricht vor, daß er gestern den glücklichen Zufall nicht ausgenützt hatte, um seiner Kasse aufzuhelfen. War etwa diese Neigung der Tischfläche, die den Ball immer nach einer Seite gleiten ließ, ein zu großer Vorteil, um den Nullen das Gegengewicht zu halten? War es nicht ehrlicher Krieg, und verdiente die Bank, die immer gewann, nicht, daß man sie mit allen Mitteln angriff? Mit solchen Sophistereien bestärkte er sich in seinem Vorsatz, und der Croupier, der gestern mit ihm geliebäugelt hatte, begrüßte seine Wiederkehr mit Stolz.

»Ach, der Herr Vicomte findet Geschmack an unserm Spielchen, obwohl er gestern nicht glücklich gewesen? Unterhaltend ist's ja immerhin, auch bei uns ... der Herr Vicomte hat gewonnen ...«

Schon wurden die ersten Tausendfrankenscheine André mit der Schippe zugeschoben. Er setzte fünfmal nacheinander, gewann fortgesetzt und zog mit fünfzehntausend Franken ab. Und er stellte sich selbst das Lob außerordentlicher Ehrenhaftigkeit aus, weil er nicht länger geblieben war, das Glück nicht gründlicher ausgebeutet hatte. Schließlich hätte er ja der Bank ebensogut hunderttausend Franken abnehmen können! Aber nein, die Vorsicht verbot es, durch einen bedeutenden Gewinn die Aufmerksamkeit der Angestellten auf diesen Roulettetisch zu lenken, dessen Kugel nicht mehr der Willkür des Zufalls unterworfen war.

Mit Siegesbewußtsein betrat André den Saal des Trente-et-Quarante und begann, entschlossen einer vorbedachten fein ausgeklügelten Berechnung folgend, die auf die »Intermittenzen« begründet war, eine Reihe von Einsätzen zu machen, die ihm in Zeit von einer Stunde sechzigtausend Franken einbrachten. Er war sehr kühl, sehr umsichtig, fest entschlossen, sich nicht hinreißen zu lassen und beim ersten Anzeichen einer Abkehr des Glücks aufzustehen und fortzugehen. Er hatte das Gefühl, heute dem Zufall zu gebieten, zweifelte gar nicht daran, daß er die Bank sprengen und in ein paar Stunden alle Verluste der letzten Zeit hereinbringen werde. Als er eben das Maximum gewonnen hatte und mit triumphierendem Blick die Reihen der Beifall murmelnden Zuschauer überflog, mußte er eine höchst unangenehme Überraschung erleben. An der andern Seite des Tischs stand nämlich in der zweiten Reihe hinter dem Bankhalter ein kleines Herrchen mit gelbem Gesicht, dessen haßerfüllter Blick fest auf ihm ruhte, und in dem er zu seinem großen Verdruß Linguet erkannte. Es war fast ein Jahr her, daß er ihn nicht mehr gesehen hatte, und er hatte schon geglaubt, seinen Belästigungen entronnen zu sein. Das plötzliche Auftauchen des alten Mannes, dessen Leben er zerstört hatte, und der ihn mit tödlichem Haß verfolgte, rief eine unglückselige Verwirrung in Andrés Gedankengang hervor.

»Faites vos jeux, messieurs,« sagte der Bankhalter. » Le jeu est fait.«

Der Vicomte, der nicht mehr klar zu denken vermochte und die Partie doch nicht versäumen wollte, warf aufs Geratewohl sechstausend Franken auf den Tisch, was er am heutigen Abend noch nicht ein einziges Mal getan hatte. Er verlor. Ein leises Raunen der Verwunderung erhob sich, und der Vicomte sah mit Bestürzung, wie sein Gewinn weggerafft wurde. Dieser Fehlgriff warf sein ganzes System über den Haufen, er versuchte aber, sich zu sammeln, nachzudenken, eine neue Berechnung aufzustellen, allein das gelbe Gesicht war ihm gerade gegenüber, der Mund lachte schweigend und bitter, als ob er den ersten Mißerfolg begrüße und die vollständige Niederlage verkündige. André wollte diesen fremden Einfluß, der ihn wütend machte, von sich abschütteln: gepreßten Herzens, mit verzerrten Lippen spielte er verbissen auf Rot, und zwar jetzt auf Serien, während ihm bisher doch die Intermittenzen so viel Glück gebracht hatten. Mit sechs Einsätzen verlor er sechsunddreißigtausend Franken, wodurch sein Gewinn auf die Hälfte zusammengeschmolzen war. Außer sich geratend, spielte er jetzt Schwarz, was die größte Torheit war, denn jetzt kam Rot und die Bank strich fünf Sätze ein. Wutschnaubend legte der Vicomte mit zitternden Fingern die an der Roulette unredlich gewonnenen fünfzehntausend Franken auf den Tisch, teilte sie in drei Bündel und spielte wieder mit Umsicht. Das Glück kehrte einigermaßen zurück und er gewann wieder zwanzigtausend Franken.

Jetzt sollte er etwas Merkwürdiges erleben. Linguet zog bedächtig eine alte schwarze Lederbörse heraus und riskierte als Gegenpart seines Feindes zwanzig Franken. Es war, als ob dieses Goldstück das Zünglein der Wage endgültig zu Andrés Ungunsten herabzöge, denn seit Linguet mitspielte, siegte immer dessen auf die entgegengesetzte Seite gelegtes Gold über die Scheine. Als die Harke des Vicomtes letzte blaue Scheine einzog, raffte Linguet seine vierzig Franken auf, steckte sie in den abgegriffenen Beutel und stieß ein unheimliches, halb unterdrücktes Gekicher aus. Unwillkürlich sah André den Alten an, und dieser verbeugte sich höhnisch, als ob er sich über seine Niederlage lustig machen wolle. Der schöne Preigne stieß seinen Stuhl zurück und ging auf die Türe zu, wobei er an dem kleinen ihm auflauernden Herrn vorüber mußte. Er wollte ihm einen niederschmetternden Blick zuwerfen, aber sein herausfordernder Trotz stumpfte sich an der kalten, drohenden Ruhe des Mannes ab. Da wallte der Zorn in André auf, und er war nahe daran, sich über diesen armseligen und gebrechlichen Feind, den Vater seines Opfers herzuwerfen, um ihn mit Füßen zu treten, allein der Greis war so ruhig, so entschlossen, daß dieser junge Haudegen vor ihm zurückbebte. Er stieß einen dumpfen Zorneslaut aus und verließ, von Linguets Kichern verfolgt, den Saal.

Ohne daß Annina irgendwie auf diesen plötzlichen Einfall vorbereitet gewesen wäre, machte ihr André am Abend den Vorschlag La Condamine zu verlassen.

»Die Nachbarschaft von Monte Carlo ist entschieden verhängnisvoll für mich, Liebste,« sagte er. »Siehst du, ich nehme mir vor, nicht mehr zu spielen, und gehe trotzdem wieder ins Kasino, denn was soll man hier zu Lande anders anfangen, als spielen oder krank sein, was zum Glück nicht mein Fall ist. Taubenschießen oder das Spiel, das ist alles, was der Ort bietet, und das sind doch recht mäßige Genüsse. Gehen wir nach Nizza. Dort finden wir etwas mannigfaltigere Gelegenheit, uns die Zeit zu vertreiben, und sind auch schon etwas näher bei Paris. ...«

»Hast du denn im Sinn, nach Paris zurückzukehren?«

»Hätten wir etwa nicht das Recht dazu?«

»Wir haben freilich das Recht, es fragt sich nur, was für uns passend ist. Gehen wir jedenfalls nach Nizza, wenn du Lust dazu hast. Wir werden dort einen kleinen Vorgeschmack von Paris bekommen und werden ja sehen, ob das Leben dort Schwierigkeiten für uns hat oder nicht. ... Wir beide haben so viele Bekannte. ...«

»Man sieht nur, wen man sehen will.«

»Jawohl, aber man begegnet auch den andern. Da du aber Lust dazu hast, gehen wir. Ich werde morgen packen, und du fährst inzwischen nach Nizza, um eine kleine Villa auszusuchen.«

»Du bist ein Engel wie immer,« sagte er, ihr die Hände küssend.

Angeregt von dem Gedanken, der Stadt des Spiels, die ihm so viel Unglück gebracht hatte, den Rücken zu kehren, und innerlich belustigt über des kleinen Linguet Enttäuschung, wenn er morgen nicht ins Kasino kommen würde, brachte André den Abend bei Annina zu und war so heiter und zärtlich wie in den ersten Zeiten ihres Liebeslebens.


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