Max Nordau
Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit
Max Nordau

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Die politische Lüge

I.

Nehmen wir einen inmitten der neuzeitlichen Kultur stehenden Menschen aus der Masse des Volkes, ohne Familienverbindungen oder sonstige Beziehungen, die ihm die Gunst der Mächtigen und durch sie allerlei Vorrechte verschaffen, und sehen wir, welcher Art sein Verhältniß zum Gemeinwesen ist. Ich schicke voraus, daß ich hier den Bürger eines schematischen Staates Europas im Auge habe. Einzelne Züge des Bildes, das ich malen will, mögen auf dieses oder jenes bestimmte Land nicht passen. Das Maß der dem Individuum zugestandenen Freiheit ist an verschiedenen Orten verschieden; ebenso die Form, in welcher deren Beschränkung geübt wird. Allein in den großen Umrissen gibt die Schilderung die Lage, welche die Zivilisation dem Staatsbürger in Europa bereitet hat, doch wohl getreu wieder.

Mein als Beispiel verwendeter typischer Kulturmensch ist in dem Alter, in welchem seine Eltern die Nothwendigkeit erkennen, seinen Geist bilden zu lassen. Er wird in die Volksschule geschickt. Ehe man ihn zuläßt, fragt man zunächst nach seinem Geburtszeugniß. Man sollte denken, daß man, um der Segnungen des öffentlichen Unterrichts mit Nutzen theilhaftig werden zu können, blos überhaupt zu sein und ein gewisses Maß körperlicher und geistiger Entwickelung erreicht zu haben brauche. Irrthum. Man muß auch ein Geburtszeugniß besitzen. Dieses respektable Aktenstück ist der unerläßliche Schlüssel zum Geheimniß des Lesens und Schreibens. Hat man es nicht, so muß man durch ein weitläufiges Amtsverfahren, dessen Umständlichkeit eingehend darzustellen mich zu weit führen würde, den nummerirten, gestempelten und von bestimmten Personen unterzeichneten Beweis herstellen, daß man geboren sei. Der Junge ist glücklich in der Schule untergebracht und verläßt sie einige Jahre später, um sein Erwerbsleben zu beginnen. Er fühlt in sich den Beruf, seinen Mitbürgern in Rechtshändeln mit Rath und Vermittelung beizustehen. Das ist ihm aber verboten, wenn er dazu nicht die Erlaubniß des Staates in der Form verschiedentlicher Diplome besitzt. Dagegen ist es ihm unbenommen, sich durch Anfertigung von Schuhen nützlich zu machen, obwol ein schlechtgemachter Schuh sicherer Leiden verursacht als ein einfältiger Rath in einem Rechtsstreite. Er ist nun zwanzig Jahre alt und möchte zu seiner Ausbildung eine Reise unternehmen. Das darf er nicht. Er muß seine Militär-Dienstpflicht erfüllen, sich auf einige Jahre seiner Individualität begeben, was noch ganz anders schmerzlich ist, als nach dem Beispiele Schlemihls seinen Schatten zu verlieren, und zu einem willenlosen Automaten werden. Ganz gut. Man schuldet dieses Opfer dem Staate, dessen Sicherheit ja eines Tages durch Feinde bedroht sein könnte. Während seiner Dienstzeit findet mein Hans – ich will ihn der Bequemlichkeit wegen Hans nennen – Zeit und Gelegenheit, sich in irgend eine Grete zu verlieben. Er ist eine korrekte Natur und verschmäht es, mit seinem Schatze nach der in Garnisonen herkömmlichen bequemen Methode in der Küche glücklich zu sein. Er will heiraten. Freilich wohl. Er will, aber er darf schon wieder nicht. So lange er Soldat ist, muß er ledig bleiben. Es würde zwar Niemandes Rechte beeinträchtigen, die Wehrfähigkeit des Staates nicht schmälern, überhaupt Niemand nah oder fern angehen, wenn er ein verheirateter Soldat wäre, es hilft Alles nichts, er muß warten, bis er den bunten Rock ausziehen darf. Das ist endlich geschehen. Jetzt wird er doch wohl seine Grete heimführen können? Allerdings, wenn er und sie alle nöthigen Papiere besitzen, deren eine stattliche Menge gefordert wird. Fehlt auch nur eins dieser Papiere, so ist es nichts mit der Hochzeiterei. Auch diese Klippe hat Hans mit Geschicklichkeit und Glück umsegelt, und er möchte nun eine Weinwirthschaft eröffnen. Das kann er nicht, wenn es ihm die Polizei nicht erlaubt, und die Polizei erlaubt es ihm nur, wenn es ihr beliebt. Dieselbe Erfahrung würde er mit einer ganzen Anzahl anderer Gewerbe machen, deren Betrieb weder in die Rechte Anderer eingreift, noch lärmend, unsittlich oder für Dritte gesundheitsschädlich ist. Hans wünscht sein Haus umzubauen. Nicht rühren, ehe die Polizeierlaubniß zur Hand ist! Das begreift sich. Die Straße gehört aller Welt, sein Haus steht an der Straße – da muß er sich allgemeinen Vorschriften unterwerfen. Er hat auch einen weitläufigen Garten und inmitten desselben, fern von allen öffentlichen Wegen, an einer Stelle, die nie ein fremdes Auge zu sehen und ein fremder Fuß zu betreten braucht, will er sich ein Gebäude errichten. Auch das ist ihm ohne den Polizeischein, diesen wahren Hans Dampf in allen Straßen, nicht erlaubt. Hans hat einen Laden, und kein Bedürfniß eines Ruhetages in der Woche. Er möchte Sonntags verkaufen wie alle Tage. Das darf er nicht, wenn er nicht von der Polizei am Kragen gefaßt und ins Kühle gesetzt sein will. Der Laden ist eine Speiseanstalt. Hans leidet an Schlaflosigkeit und es macht ihm nichts, die ganze Nacht seinen Laden offen zu halten. Die Polizei schreibt ihm eine Sperrstunde vor und schreckt ihn mit Drohungen für den Fall, daß er nicht gehorchen sollte. Seine Grete beschenkt ihn mit einem Kinde. Neue Plagen. Er muß es beim Standesbeamten einschreiben lassen, sonst wird es dem Kleinen eines Tages schlimm ergehen. Er muß es sogar impfen lassen, obwol er gesehen hat, daß Nichtgeimpfte bei Gelegenheit einer Pockenepidemie nicht gelitten, Geimpfte aber die Krankheit bekommen haben und gestorben sind.

Über hundert schmerzliche Erfahrungen, die Hans im Laufe der Jahre macht, eile ich hinweg. Er wollte einen Omnibus durch die Straßen seiner Vaterstadt verkehren lassen, er durfte es nicht ohne Polizeierlaubniß. Ihm gefiel eine hübsche Partie des öffentlichen, aus dem Stadtsäckel unterhaltenen Gartens, er durfte sie nicht betreten. Er wollte eines Tages eine längere Fußreise durch seine Provinz unternehmen; nach einer Wanderung von wenigen Stunden stieß ein Gendarm auf ihn, richtete an ihn allerlei diskrete Fragen über seinen Namen und Stand, seine Herkunft, sein Ziel und als er dem ihm gänzlich unbekannten Menschen, der sich seinerseits nicht einmal durch Nennung seines Namens und mit dem üblichen Gruße vorgestellt hatte, die Auskunft verweigert, bereitete ihm derselbe allerlei schwere Unannehmlichkeiten, die ihm den Ausflug verleideten. Ein Nachbar nahm ihm eines Tages ein Stück seines Gartens mit offener Gewalt weg und zäunte es mit seiner eigenen Besitzung ein; der Fall war äußerst einfach, der Beweis des Unrechts leicht und bündig; Hans erhob Klage; die Sache zog sich monatelang hin; er gewann den Prozeß, allein sein Gegner erwies sich zuletzt als zahlungsunfähig und so bekam er zwar seine Gartenecke wieder, hatte aber an Zeit und Geld ungefähr zwanzigmal so viel verloren, als sie werth war, vom Ärger nicht zu sprechen, den er nicht berechnete, weil er ihn von Kindesbeinen gewöhnt war. Er hatte im Museum ein schönes Bild aus der Renaissancezeit gesehen und die Kleidung der dargestellten Personen gefiel ihm so wohl, daß er sich ganz ähnliche machen ließ und in ihr eines Sonntags auf der Straße erschien; die Polizei zwang ihn sofort unter Androhung des Einsperrens von dem, was sie eine Maskerade nannte, abzulassen. Er fand einige gleichgesinnt Freunde und beschloß, mit ihnen einen Verein zu bilden und in häufigen Zusammenkünften seinen Ärger über die bestehenden Gesetze auszusprechen. Die Polizei forderte flugs von ihm eine Namensliste der Vereinsmitglieder und verbot sogar nach einiger Zeit den Verein wegen seines politischen Charakters. Zäh wie Hans nun einmal war, gründete er einen zweiten Verein, der blos wirthschaftliche Zwecke verfolgte; es war ein Spar- und Konsum-Verein. Die Polizei löste denselben auf, weil Hans es verabsäumt hatte, zuerst ihre Erlaubniß einzuholen. Unter mancherlei Wechselfällen wurde Hans grau und alt. War er in zufriedener Stimmung, so tröstete er sich damit, daß es die Russen in ihrem Lande doch noch schlimmer haben als er in dem seinigen; war er im Gegentheil gallig aufgelegt, so reizte er sich mit dem Gedanken, um wie viel die Engländer und Amerikaner unbehinderter seien als er; das glaubte er nämlich, weil er es so in Zeitungen gelesen hatte; er selbst besaß keinerlei Erfahrung darüber. Eines Tages starb ihm seine Grete. Er wollte sie auch im Tode nicht von sich lassen und begrub sie, kurz entschlossen, unter ihrem Lieblingsbaume in seinem Garten. Da hatte er wieder einmal etwas Schönes angerichtet! Ein wahres Polizeiungewitter entlud sich über seinem Haupte. Es war ihm ja nicht erlaubt worden, den Leichnam auf seinem Grunde zu beerdigen! Hans wurde in schwere Strafe verfällt und Grete ohne Umstände ausgescharrt und durch die Behörde auf den Kirchhof geschafft.

Hans stand nun allein in der Welt, er wurde trüb und muthlos, sein Geschäft ging zurück und bald war er vollständig verarmt. In seiner Verzweiflung kam er soweit, daß er sich eines Abends an eine Straßenecke stellte und bettelte. Alsbald war ein Polizeibeamter neben ihm und verhaftete ihn. Man führte ihn aufs Amt, wo er mit dem Polizeikommissar eine lehrreiche Unterhaltung hatte. »Sie wissen, daß das Betteln verboten ist,« herrschte ihn dieser an. »Ich weiß es, aber ich begreife es nicht,« erwiderte Hans sanft, »da ich doch niemand im Wege war, niemand belästigte, nur schweigend meine Hand ausgestreckt hielt.« »Das ist faules Geschwätz und ich kann damit meine Zeit nicht verlieren. Sie gehen auf acht Tage ins Gefängniß.« »Und was soll ich anfangen, wenn ich wieder freigelassen werde?« »Das geht mich nichts an. Das ist Ihre Sache.« »Ich bin alt und kann nicht mehr arbeiten. Ich habe nichts. Ich bin kränklich . . .« »Wenn Sie kränklich sind, so gehen Sie ins Spital;« rief der Beamte ungeduldig, fügte jedoch gleich hinzu: »Nein ins Spital können Sie nicht gehen, wenn Sie blos kränklich sind. Dazu müssen Sie eine ernste Krankheit haben.« »Ich verstehe,« sagte Hans, »eine solche, an der man bald stirbt, wenn man nicht rasch genesen kann.« »Ganz richtig,« bestätigte der Beamte und wandte sich einer andern Angelegenheit zu. Hans saß seine Strafzeit ab und war dann so glücklich, in ein Armenhaus angenommen zu werden. Da hatte er nun Obdach und Nahrung, aber diese war schlecht und jene dadurch unleidlich gemacht, daß man ihn wie einen Missethäter und Gefangenen behandelte. Er mußte eine Art Uniform tragen, die ihm auf der Straße Blicke der Verachtung zuzog. Einmal begegnete er einem Mann, den er in besseren Tagen gekannt hatte. Er grüßte ihn, jener erwiderte aber den Gruß nicht. Hans ging gerade auf ihn zu und fragte ihn: »Weshalb diese Geringschätzung?« »Weil Sie es nicht verstanden haben, das Beispiel der achtbaren Leute nachzuahmen, die reich geworden sind,« erwiderte der Mann und ging mit dem Ausdrucke des Ekels im Gesichte rasch seiner Wege.

Hans wurde trübsinnig. Allerlei schwarze Gedanken bemächtigten sich seines Geistes. Auf einem Spaziergange, den er eines sonnigen Morgens unternahm, überdachte er sein ganzes Leben und sprach anfangs leise, dann immer lauter und heftiger vor sich hin: »Da bin ich nun siebzig Jahre alt geworden und wie ist es mir alleweile ergangen? Ich bin nie ich selbst gewesen. Ich habe nie wollen gedurft. Sowie ich einen gefaßten Beschluß ausführen wollte, drängte sich die Obrigkeit hindernd heran. In meine persönlichsten Angelegenheiten haben immer fremde Leute ihre amtliche Nase gesteckt. Ich hatte auf alle Welt Rücksichten zu nehmen, die niemand einzeln forderte, und auf mich nahm niemand Rücksicht. Unter dem Vorwande, die Rechte der Übrigen zu schützen, raubte man mir die meinigen und, wenn ich's recht überlegte, eigentlich auch allen Übrigen die ihrigen. Ich durfte mein Lebelang höchstens mit meinem Hunde umspringen, wie es mir behagte und selbst mit dem nicht, denn wenn ich das Vieh prügelte, rückte mir der Thierschutzverein mit der Polizei auf die Bude. Daß ich mich als Soldat drangsaliren lassen mußte, das versteh' ich noch, obwol der Feind, wenn er mangels einer Vertheidigungs-Armee ins Land einfallen könnte, mir Einzelnem schwerlich größere Noth bereiten würde als meine eigene geliebte Obrigkeit; auch daß ich schwere Steuern zu zahlen hatte, begreif ich, denn die Polizei, die mich immer so väterlich im Auge behalten hat, muß doch besoldet werden, wenn es auch nicht gerade nöthig gewesen wäre, mich für einen Gewerbebetrieb, der mich nicht nährte, zu schätzen und meine Zahlungsunfähigkeit durch Pfändung zu bestrafen. Allein weshalb die übrige Bedrückung und Vedrängung? Welche Vortheile hat mir die Polizei für alle Opfer an Selbstständigkeit geboten, die sie von mir forderte? Sie hat mein Eigenthum geschützt – gewiß und das war leicht, denn ich habe keins und als man mir das bischen, das ich hatte, ein Stück meines Gartens, wegnahm, da hatte ich noch mich dafür zu ärgern und dafür zu zahlen. Wenn es keine Polizei gäbe, so würde jeder nach Willkür handeln – nun, was weiter? Dann hätte ich den Nachbar todtgeschlagen oder der Nachbar mich und damit hätte der Spaß ein Ende gehabt. Die Polizei sorgt dafür, daß man gute, gepflasterte Straßen hat – Donnerwetter, ich weiß nicht, ob ich nicht lieber in Schaftstiefeln durch den Koth gehe, als daß ich mir die ewigen Schurigeleien gefallen lasse. Und so hole denn der Teufel die ganze Geschichte –«

Und als er bei diesem Punkte seines Selbstgesprächs angelangt war, stürzte sich Hans in den Strom, an dessen Ufer er eine ganze Weile hinging. Die Polizei war aber auch jetzt zur Stelle, fischte ihn heraus und brachte ihn vor den Polizeirichter, der ihn wegen Selbstmordversuches zu längerer Haft verurtheilte. Ich weiß nicht soll ich sagen: zum Glück oder zum Unglück, hatte sich Hans bei seinem Sprung ins Wasser erkältet, er bekam Lungenentzündung und starb im Gefängniß. Sein Tod gab zu einem letzten Polizei-Protokoll Anlaß.

II.

Mein armer Hans hat wie ein erbitterter und wie ein ungebildeter Mensch gedacht. Er hat immer nur von der Polizei gesprochen, weil er vom Staate nur diese sah und sie ihm das Gemeinwesen und dessen Gesetze verkörperte, und er hat unleugbar die Mißstände der Zivilisation übertrieben und deren Segnungen unterschätzt. Aber im Grunde genommen hat er Recht: die Beschränkungen, welche der Staat dem Individuum auferlegt, stehen ganz außer Verhältniß zu den Lebenserleichterungen, die er ihm im Austausch dafür bietet. Der Bürger begibt sich seiner menschlichen Unabhängigkeit offenbar nur zu einem bestimmten Zweck und in der Erwartung gewisser Vortheile. Er setzt voraus, daß der Staat, in dessen Hand er einen großen Theil seines Selbstbestimmungsrechts legt, ihm dafür die Sicherheit des Lebens und Eigenthums verbürgt und die vereinigte Kraft Aller auf bestimmte Punkte lenkt, um Unternehmungen mit derselben auszuführen, die dem Einzelnen vortheilhaft sind und die er allein nicht hätte planen und verwirklichen können. Nun denn; man muß zugeben, daß der Staat diese theoretischen Voraussetzungen nur äußerst unvollkommen erfüllt, kaum besser als die primitiven barbarischen Gemeinwesen, die ihren Mitgliedern ein unvergleichlich größeres Maß individueller Freiheit lassen als der Kulturstaat. Dieser soll uns Leben und Eigenthum sichern. Er thut es nicht, denn er kann Kriege nicht verhindern, welche den gewaltsamen Tod einer entsetzlich großen Zahl von Bürgern herbeiführen. Die Kriege sind zwischen zivilisirten Völkern nicht viel seltener und nicht weniger blutig als zwischen wilden Stämmen und mit allen Gesetzen und Freiheitsbeschränkungen erkauft sich der Sohn der Zivilisation keine größere Sicherheit vor der Mordwaffe eines Feindes als der von den Segnungen der Polizei-Bevormundung noch nicht heimgesuchte Sohn der Barbarei. Um einen Unterschied zwischen beiden Verhältnissen zu finden, müßte man rein nur der Ansicht sein, daß der Tod, wenn man ihn in Uniform und von einem gleichfalls uniformirten und auf Kommando handelnden Mörder erleidet, weniger der Tod sei, als wenn etwa ein rothbemalter Krieger ihn mit einer Steinaxt und ohne Rücksicht auf militärische Reglements verursacht. Einzelne Geister träumen von der Abschaffung des Krieges und seinem Ersatz durch Schiedssprüche. Was sein wird, wird sein. Ich spreche auch nicht von einer Zukunft, die noch vorläufig ohne Verfallsfrist ist, sondern von der Gegenwart. Heute aber enthebt alle Verkümmerung seiner Freiheiten in der Friedenszeit das Individuum nicht der Notwendigkeit, sich in kritischen Augenblicken ganz so selbst seiner Haut zu wehren wie der Wilde, der durch die Urwälder schweift. Aber auch völlig abgesehen vom Kriege sichert der Reglementarismus und Protokollismus das Leben des Einzelnen nicht mehr, als es die Ungebundenheit der Barbarei thut. Innerhalb wilder Stämme ist Todtschlag zwischen Stammesangehörigen nicht häufiger als innerhalb gebildeter Gemeinwesen. Gewaltthaten werden fast immer in der Leidenschaft verübt und diese entzieht sich vollständig der Einwirkung unserer beschränkenden Gesetze. Die Leidenschaft ist ein Rückfall in den Urzustand des Menschen. Sie ist dieselbe beim wolerzogenen Salonmenschen wie beim Australneger. Man tödtet und verwundet in der Leidenschaft ohne jede Rücksicht auf Gesetz und Obrigkeit. Für den Gemordeten, dem etwa ein Mitbewerber um ein Weib einen Messerstich in die Brust versetzt hat, ist es ohne Werth, daß die Polizei seinen Mörder verhaften und vielleicht auch bestrafen wird – sicher ist das letztere nicht einmal, denn wie oft lassen gerührte Schwurgerichte die Verüber von Gewaltthaten der Leidenschaft ungestraft! Und schließlich hat diesen schwachen und namentlich praktisch völlig bedeutungslosen Trost, daß der Mord an dessen Urheber geahndet wird, der Wilde auch, ja noch viel sicherer als der Zivilisirte, denn der Blutrache oder Stammesacht der Barbarei entzieht sich der Verbrecher ungleich schwerer als der Nachstellung der Polizei trotz Steckbrief im Polizei-Anzeiger. Neben dem Verbrechen aus Leidenschaft kommt das kaltblütig und mit Vorbedacht begangene Verbrechen in Betracht. Dieses ist nun in der Zivilisation entschieden häufiger als in der Barbarei. Es ist hauptsächlich das Werk einer bestimmten Menschenklasse, die überhaupt nur der Zivilisation ihre Entstehung verdankt. Es ist wissenschaftlich festgestellt, daß die Gewohnheitsverbrecher degradirte Organisationen, Abkömmlinge von Säufern oder Wollüstlingen und selbst mit Epilepsie oder andern Entartungs-Krankheiten des Zentralnervensystems behaftet sind. Das Elend, welches namentlich die Großstädte den Armen auferlegen, bringt diese körperlich und geistig so weit herunter, daß bei ihnen der pathologische Zustand der Kriminalität zum Ausbruche kommt. Alle Gesetze vermögen die Verbrechen nicht zu verhüten, welche die Folge der durch die Zivilisation geschaffenen Verhältnisse sind, und die Raubmörder und Einbrecher sind mitten in unserer protokollirten Gesellschaft drohendere Erscheinungen, als sie die Smalah des Beduinen ohne Standesamt, Steuerbehörde und Grundbuch hervorbringt.

Mit der Sicherheit des Eigenthums verhält es sich nicht viel anders als mit der des Lebens. Trotz allen Gesetzen und Reglements wird gestohlen und geraubt, theils geradezu aus der Tasche in die Hand, theils indirekt durch kleine und große Beschwindelung einzelner und der Massen. Welchen Schutz hat man gegen den Gründer, der dem sparenden Volk Millionen wegnimmt, oder gegen den Baissespekulanten der Börse, der durch einen Gewaltstreich zahlreiche Vermögen zerstört oder doch vermindert? Und hat der Kulturmensch, der sein in Papier angelegtes Geld verliert, weniger sein Vermögen verloren als der Barbar, dem man seine Herde wegtreibt? Man kommt mir vielleicht mit einer naheliegenden Antwort: gegen den Gründer und Jobber kann man sich schützen; es zwingt einen ja niemand, dem erstern sein Geld hinzutragen und die vom letztern künstlich entwerteten Papiere zu besitzen. Darauf erwidere ich: Ei freilich, man kann sich schützen. Der Einsichtsvolle, der Verständige kann es. Die Menge kann es nicht. Und wenn es auf Selbstschutz ankommt, wozu dann das Gesetz? Wozu dann die Opfer an Freiheit und Steuergeld? Auch der Barbar, sofern er nur tüchtige Hunde, gute Waffen und ein ausreichendes Gesinde hat, sofern er nur stark und wachsam genug ist, hütet sein Vermögen mit ausreichendem Erfolge auch ohne Polizei. Und wer in der zivilisirten Gesellschaft nicht Klugheit, die auch eine Kraft ist, und Wachsamkeit besitzt, der verliert seinen Sparpfennig aus der Truhe und den Geldbeutel aus der Tasche trotz den zahllosen Federn, die in Amtsstuben den ganzen Tag gestempeltes Papier vollschmieren. Dabei ist noch Eins zu betrachten. Der Zivilisationsmensch, nicht nur, daß er sich in erster Linie doch auch selbst zu schützen hat wie der Barbar, muß überdies für den Schutz, den ihm der Staat angeblich gewährt und der nur in der Theorie ausreichend ist, fortwährend Vermögensopfer bringen, welche oft ansehnlicher sind als der Betrag, für den man allenfalls eines Schutzes bedürftig sein könnte. Der Reiche gibt natürlich an das Gemeinwesen weit weniger ab, als ihm übrig bleibt; allein die Millionäre sind überall eine Ausnahme. Die Regel ist, daß die große Mehrheit in jedem, auch dem reichsten Lande dürftig oder doch nur im Besitze des Nothwendigen ist. An Steuern aber zahlt jeder, auch der Arme, so viel, daß er am Ende seines Lebens wohlhabend wäre, wenn er die Früchte seiner Arbeit, die er dem Gemeinwesen abliefern mußte, hätte für sich behalten dürfen. Daß dem Barbaren sein Eigenthum genommen wird, ist nur möglich; daß es dem Kulturmenschen vom Staate in Form von direkten und indirekten Steuern genommen wird, ist sicher. Und wenn dem letztern nach Entrichtung aller Abgaben noch etwas übrig bleibt, so kann es ihm dennoch gestohlen oder abgeschwindelt werden, wenn er es nicht ganz so behütet wie der erstere, der dafür mindestens nicht zu zehnten hat. Die Lage des Kulturmenschen ist also die des Handwerksburschen in der Anekdote, der den Schiffer fragt, was er zu bezahlen habe, wenn man ihn von Straßburg nach Basel mitfahren lasse, und der die Antwort erhält: Vier Gulden im Schiffe, aber nur zwei Gulden, wenn er auf dem Taupfad ziehen helfe. Die Lage des Kulturmenschen ist sogar schlechter, denn ihm ist nicht einmal die Alternative gelassen; er muß, er mag wollen oder nicht, auf dem Taupfad ziehen und dafür noch die zwei Gulden bezahlen.

Bleibt der letzte Staatszweck: die Vereinigung der Kräfte Aller zur Erreichung von Nutzwirkungen, die dem Einzelnen zugute kommen und von ihm allein nicht erzielt werden könnten. Diese Aufgabe erfüllt der Staat, das ist nicht zu verkennen. Allein auch sie erfüllt er schlecht und unvollkommen. Der Kulturstaat ist in seiner gegenwärtigen Organisation eine Maschine, welche mit ungeheurer Kraftverschwendung arbeitet. Für die nützliche Produktion bleibt nur ein verschwindend kleiner Theil der Kraft übrig, welche mit den denkbar höchsten Kosten erzeugt wird; der Rest wird zur Überwindung der inneren Widerstände verbraucht, geht in Rauch und Geräusch der Dampfpfeife auf. Die Form, in der heute alle europäischen Staaten regiert werden, gestattet die Vergeudung der vom Bürger geforderten Leistungen an thörichte, leichtfertige und verbrecherische Unternehmungen. Die Laune einzelner Menschen, das selbstische Interesse verschwindend kleiner Minderheiten bestimmt nur zu häufig allein das Ziel, auf welches die Anstrengungen der Gesammtheit gerichtet werden. So arbeitet und blutet der einzelne Bürger, damit Kriege geführt werden, die sein Leben oder seinen Wohlstand zerstören, damit man Festungen, Paläste, Eisenbahnen, Häfen oder Kanäle baue, aus denen weder er noch neun Zehntel der Nation jemals den geringsten Nutzen ziehen werden, damit neue Ämter entstehen, welche die Staatsmaschine noch schwerfälliger, die Reibung ihrer Räder noch härter machen, in welchen er noch einen Theil seiner Zeit verlieren, noch ein Stück seiner Freiheit lassen wird, damit man Beamte hoch besolde, die keinen andern Zweck haben, als auf seine Kosten eine ornamentale Existenz zu führen und ihm das Dasein zu erschweren; er arbeitet und blutet mit einem Worte, um selbst sein Joch lastender und seine Ketten fester zu machen und um die Möglichkeit zu schaffen, von ihm noch mehr Arbeit und noch mehr Blut zu erhalten. Nur in sehr kleinen Staaten oder in solchen mit weitgehender Dezentralisation und Selbstverwaltung wird die Leistung des Bürgers nicht so unverantwortlich verpraßt; derartige Gemeinwesen nähern sich in ihrer Natur und ihren Existenzbedingungen den Kooperativ-Genossenschaften, in denen jedes einzelne Mitglied die Verwendung seiner Beträge leicht übersehen, unnöthige Ausgaben verhüten, aussichtslose Unternehmungen von vornherein bekämpfen oder rechtzeitig aufgeben kann; man fühlt da jeden Nutzen und jeden Verlust unmittelbar, sieht sich durch jenen für gebrachte Opfer entschädigt und wird von diesem vor dem Weiterschreiten auf falschen Wegen behütet. Es ist in solchen Gemeinwesen freilich schwer, für idealere oder ferner liegende Aufgaben, deren Lösung nicht sofort jedem Einzelnen abschätzbaren Vortheil oder Annehmlichkeiten verspricht, die Mittel aufzubringen, aber noch schwerer ist es da, individuelle Grillen mit Hilfe der Gesammtheit zu befriedigen oder von dieser das Geld zum Ankaufe des Stockes zu erhalten, mit dem sie geprügelt werden soll.

Ich fasse das Vorhergehende zusammen. Durch die moderne Vielregiererei, durch das endlose Schreiben, Protokolliren, Amten, Verbieten und Erlauben wird Leben und Eigenthum des Individuums nicht mehr geschützt als ohne diesen ganzen verwickelten Apparat. Für alle Opfer an Blut, Geld und Freiheit, die der Bürger dem Staate bringt, empfängt er von diesem kaum andere Lebenserleichterungen als die Gerechtigkeit, die überall unverhältnißmäßig theuer und langwierig, und den Unterricht, welcher nicht entfernt Allen in gleichem Maße zugänglich ist. Um dieselben Vortheile zu haben, bedürfte es kaum einer einzigen der zahllosen Beschränkungen, denen seine Selbstständigkeit unterworfen wird. Der Vorwand, daß die Freiheit des Einzelnen nur aus Rücksicht auf die Rechte der Anderen geschmälert wird, ist ein schlechter Scherz; diese angebliche Rücksicht verhindert nicht die Vergewaltigung Einzelner und beraubt Alle des größten Theils ihrer natürlichen Bewegungsfreiheit; das Gesetz übt also von vornherein und mit Sicherheit auf jedermann den Zwang, den ohne es nur einzelne gewaltthätige Naturen in Ausnahmsfällen vielleicht auf Einige üben würden. Es ist wahr, daß in unserer heutigen Zivilisation die durchschnittliche Lebensdauer des Individuums länger, seine Gesundheit besser geschützt, die Richtlinie der allgemeinen Sittlichkeit höher, das Zusammenleben friedlicher, die Gewaltthat, sofern sie nicht von Gewohnheits- und Erbverbrechern begangen wird, seltener ist, als im Zustande der Barbarei; allein das ist in keiner Weise das Verdienst der Ämter und Reglements, sondern die natürliche Folge höherer Bildung und besserer Einsicht der Menschen. Der Bürger ist in den Fesseln, die ihm die Staatseinrichtungen auferlegen, ganz so auf Selbstschutz angewiesen wie der freie Wilde, findet sich aber dazu ungeschickter als dieser, weil er es verlernt hat, für sich selbst zu sorgen, weil er nicht mehr den richtigen Sinn für die Wahrnehmung seiner nahen und fernen Interessen besitzt, weil er von Kindheit an gewöhnt ist, Druck und Zwang zu dulden, gegen den sich dieser im ersten Augenblicke, wenn es sein müßte mit Darbringung seines Lebens, empören würde, weil ihm der Staat die Vorstellung anerzogen hat, daß Ämter und Behörden für ihn in allen Lagen zu sorgen haben, weil das Gesetz die gegenstrebende Elastizität seines Charakters gebrochen, durch seine beständige Pressung jede Widerstandskraft zermalmt und ihn dahin gebracht hat, Vergewaltigung gar nicht mehr als Unrecht zu empfinden. Es ist nicht wahr, daß es all unserer Polizeivorschriften bedarf, um unser Leben und Eigenthum zu schützen; in den Goldsucherlagern des amerikanischen Westens und Australiens nahmen die Individuen ihren Schutz in die eigene Hand, indem sie die sogenannte »Vigilance Committees« bildeten, und ohne jeden Amtsapparat herrschte alsbald die musterhafteste Ordnung; es ist nicht wahr, daß wir uns allen gesetzlichen Quengeleien unterwerfen müssen, damit unter uns Gerechtigkeit herrsche; in denselben primitiven Gemeinwesen, die ich eben angeführt habe, entstand ohne Amtsstuben, Instanzen und Protokoll, ganz von selbst aus dem allgemeinen Billigkeitsgefühl heraus, welches die Kultur nun schon in den Menschen entwickelt hat, ein öffentliches und privates Recht, welches dem ersten Besitzergreifer seinen »claim« und alle Früchte seiner Arbeit sicherte. So gestalteten sich die Verhältnisse bei einem Zusammenlauf der rohesten, leidenschaftlichsten und rücksichtslosesten Individuen aller Nationen. Und die große Mehrheit der Sanften, Friedfertigen und Ruheliebenden sollte des unlösbaren Gängelbandes bedürfen? Wenn man heute neun Zehntel der bestehenden Gesetze und Reglements, der Ämter und Behörden, der Urkunden und Protokolle abschaffte, so würde die Sicherheit der Person und des Vermögens dieselbe sein wie gegenwärtig, jeder Einzelne würde fortfahren, alle seine Rechte ungeschmälert zu genießen, von den wirklichen Vortheilen der Zivilisation ginge niemand auch nur das Geringste verloren und dabei würde das Individuum eine Freiheit der Bewegung erlangen, sein Ich mit einer wonnigen Intensität empfinden und ausleben, von der es sich in seinem heutigen Erbzustand der allseitigen Gebundenheit gar keine Vorstellung machen kann. Vielleicht würde ihm solche Freiheit im ersten Augenblicke sogar Unruhe und Angst einflößen wie einem in der Gefangenschaft erzogenen Vogel, dem man das Bauer öffnet; es müßte erst lernen, vor der Ausbreitung seiner Flügel bis zu ihrer äußersten Klafterung keine Furcht zu haben und seine Raumscheu zu überwinden. Aber andererseits ist es sicher, daß ein an Selbstbestimmung und Selbstleitung gewöhnter Barbar sich nicht ohne scharfes und beständiges Leiden in ein Leben finden könnte, in welchem das Individuum fortwährend eine Hand auf seiner Schulter, ein Auge auf seinem Gesichte, einen Befehl in seinem Ohre empfindet, stets von fremden Impulsen getrieben ist, stets fremdem Willen gehorcht; ja die Verordnungen und das Stempelpapier würden ihn vielleicht in kurzer Zeit tödten.

Ist der Zustand, den ich als wünschenswerth hinstellte, die Anarchie? Nur ein oberflächlicher oder zerstreuter Leser kann das aus dem Vorangegangenen verstanden haben. Die Anarchie, die Abwesenheit einer Regierung, ist ein Hirngespinnst verworrener und beobachtungsunfähiger Geister. Sowie zwei Menschen in ein Verhältniß dauernden Zusammenlebens zu einander treten, bildet sich eine Regierung zwischen ihnen heraus, daß heißt es entstehen Formen des Verkehrs, Regeln des Verhaltens, feste Rücksichten und Unterordnungen. Der natürliche Zustand der Menschheit ist eben nicht der eines amorphen Agglomerats, sondern der eines Kristalls, also einer bestimmten gesetzmäßigen Anordnung der Moleküle, und in jeder Mischmasse eines gesellschaftlichen Chaos formt sich sofort von selbst eine staatliche Organisation, wie in der Mutterlauge solcher Stoffe, die von Natur aus kristallinisch sind, unverzüglich Kristalle aufschießen. Keine Anarchie also fordert die vernünftige Kritik, denn eine solche ist schlechterdings undenkbar, aber eine Aut- und Oligarchie, eine Selbst- und Wenigregierung, eine weitgehende Vereinfachung der Regierungsmaschine, die Unterdrückung aller unnöthigen Räder, die Befreiung des Individuums von zwecklosem Zwang, die Beschränkung der Ansprüche des Gemeinwesens an die Bürger auf das, was zur Erfüllung seiner Aufgaben offenbar unentbehrlich ist.

Auch in diesem idealen Zustande würde der Einzelne für das Gemeinwesen arbeiten, mit anderen Worten Steuer zahlen müssen, allein den öffentlichen Abgaben würde nicht mehr der Charakter einer Erpressung innewohnen, der sie heute hassenswerth macht. Jedermann kauft ohne Widerstreben Brot, zahlt das Eintrittsgeld im Theater, entrichtet seine Beiträge in Vereinen und Klubs und bedauert höchstens, daß er die erforderlichen Beiträge nicht leicht aufbringen kann. Warum? Weil er für seine Leistung augenblicklich die Gegenleistung erhält, weil in ihm die Empfindung nicht aufkommen kann, daß man ihn beraube. Wo eine Regierung so einfach ist, daß jeder Bürger ihre Zwecke erkennen, ihre Arbeit überblicken, die Richtung ihrer Thätigkeit mitbestimmen kann, da sieht er die Steuer als eine Auslage an, für die er den vollen Gegenwerth empfängt; er weiß gleichsam, was er sich für jeden Steuerpfennig kauft, und die handgreifliche Billigkeit eines solchen Handels macht das Entstehen einer Mißstimmung über denselben unmöglich. Im heutigen Staate dagegen muß die Steuer nothwendig odios sein; nicht nur, weil sie infolge der durch seine schlechte Konstruktion bedingten Kostspieligkeit des Regierungsapparats überall weit höher ist, als nothwendig wäre, nicht nur wegen der durch die geschichtliche Organisation der Gesellschaft und durch blitzdumme Gesetze bedingten Ungerechtigkeit ihrer Umlage, sondern hauptsächlich darum, weil sie durch den Fiskalismus und nicht durch den vernünftigen Staatszweck bestimmt wird. Der Fiskalismus ist die zum System erhobene Ausbeutung des Volks um ihrer selbst willen, um möglichst große Summen aufzutreiben, ohne Rücksicht auf den rationellen Staatszweck und auf ihre wirthschaftlichen Folgen für den Einzelnen. Der Fiskalismus fragt nicht: »Welche Opfer sind zur Erfüllung der wirklichen und berechtigten Aufgaben des Staates nöthig?« sondern: »Wie muß man es anstellen, um aus dem Volke die denkbar größte Steuerleistungen herauszuschlagen?« Er fragt nicht: »Wie kann man am besten die Interessen des Einzelnen schonen, ohne darum die der Gesammtheit leiden zu lassen?« sondern: »Auf welche Weise gelangen wir, die Steuereintreiber, am leichtesten, mit dem geringsten Aufwand an Geistesarbeit, Aufmerksamkeit und unbequemer Rücksicht, zum Gelde des Volkes? Die moderne Auffassung sieht im Staate eine Einrichtung zur Förderung des individuellen Wohls; die feudale dagegen im Individuum einen Zwangsarbeiter zur Förderung des Ansehens und der Gewalt des Staates, und der Fiskalismus beruht auf dieser mittelalterlichen Auffassung. Ihm ist der Staat das Vorbestehende und natürlich herrschende, der Bürger das Spätergekommene und natürlich beherrschte; die Steuer ist ihm nicht eine Ausgabe, die man sich selbst auferlegt, die man gleichsam sich selbst leistet und für die man sich Vortheile erkauft, sondern ein Tribut, den man einem Dritten zollt und für den dieser Dritte, der unheimliche Moloch Staat, nichts anderes schuldet als eine Quittung. Wir fühlen uns als Mitglieder einer freien Vereinigung zur Erreichung gemeinsamer Zwecke, der Fiskalismus sieht in uns rechtlose Gefangene des Staates. Wir nennen uns Bürger, der Fiskalismus nennt uns Unterthanen. Der ganze Gegensatz zwischen den beiden Weltanschauungen ist in diesen Worten ausgedrückt.

Die geschichtliche Entwickelung des Steuerwesens hat nothwendig zum Fiskalismus führen müssen. Im primitiven Gemeinwesen bestanden keine Abgaben. Der Stammesfürst bestritt seinen größeren Aufwand aus seinem größern persönlichen Vermögen, im Kriege sorgte jeder wehrhafte Mann für die eigene Nothdurft und nur dem Priester wird allenfalls gezehntet. Der Staat hatte keine Bedürfnisse, brauchte also von seinen Angehörigen auch nichts zu fordern. Dies änderte sich jedoch sofort überall, wo sich entweder aus der Fiktion eines göttlichen Ursprungs der Person und Gewalt des Königs orientalischer Despotismus herausbildete oder wo ein fremder Erobererstamm über ein unterjochtes Volk herrschte. In beiden Fällen war die Masse des Volkes eine Sklavenherde, das persönliche Eigenthum des Königs oder der Eindringlinge und sie hatte Abgaben zu leisten nicht für den Staatszweck, sondern für die Schatzkammer ihrer Herren, deren natürliches, sie zu keinerlei Gegenleistung verpflichtendes Einkommen die Steuern des Volkes ebenso bildeten wie der Ertrag ihres Landesbesitzes oder ihrer Viehherden. Freie Völker sahen denn auch Steuern als eine Schmach und als Beweis der Knechtschaft an und es hat vieler Jahrhunderte harten Herrscherdrucks bedurft, ehe man beispielsweise die germanischen Stämme dahin bringen konnte, die Abgaben zu liefern, die sie gewöhnt waren, den unterjochten Nationen mit der Spitze des Schwertes abzuzwingen. Die Fiktion, welche in der Bürgern Hörige sieht, die in erster Linie für ihren Eigenthümer, den König, zu arbeiten haben, ist seit dem ausgehenden Mittelalter die Grundlage des Staatsrechts und des Verhältnisses zwischen dem Unterthan und dem ganz allein den Staat verkörpernden Herrscher geworden und diese Fiktion ragt in Gestalt des Fiskalismus noch in unseren angeblich auf der Volkssouveränetät beruhenden modernen Staat mit seinen Konstitutionen und Parlamenten herein.

Auf ganz derselben Fiktion beruht auch die Organisation des Beamtenthums und die Stellung der Staatsbeamten zum Bürger. Die moderne Staatsauffassung würde erfordern, im Beamten einen Beauftragten des Volks zu sehen, der, wie sein Gehalt, so auch seine Vollmachten, sein Ansehen, seine Stellung zum Volke hat. Der Beamte müßte sich nach dieser Auffassung stets als Diener des Gemeindewesens und diesem verantwortlich fühlen, er müßte sich stets gegenwärtig halten, daß er eingesetzt sei, die Interessen der Einzelnen wahrzunehmen, welche diese nicht mit der gleichen Sicherheit und Bequemlichkeit selbst besorgen können, er dürfte nie vergessen, daß das Gemeinwesen theoretisch seiner ebenso wenig bedarf, wie etwa ein Haushalt eines Dieners, daß jedes Individuum, wie sich selbst die Stiefel wichsen und Wasser holen, so den auf es entfallenden Theil der Verwaltungsgeschäfte theoretisch selbst erledigen könnte und daß nur die Erkenntniß des Vortheils der Arbeitstheilung zur Anstellung der Beamten führt. In Wirklichkeit aber fühlt sich der Beamte nicht als Diener, sondern als Herrn des Volks. Er glaubt seine Autorität nicht dem Volke, sondern dem Herrscher, heiße dieser nun König oder Präsident der Republik, zu verdanken. Er sieht in sich den Träger eines Theils der transzendentalen Herrschergewalt. Er fordert also für sich von den Bürgern die Achtung und Unterwürfigkeit, welche sie dem Prinzip der Herrschaft schulden. Geschichtlich hat sich das Beamtenthum aus der Vogtschaft entwickelt. Der Schreiber, der in einer Amtsstube den zu ihm befohlenen Bürger anschnauzt, ist der historische Erbe des Befehlshabers oder Aufsehers, den ein Despot der finsteren Jahrhunderte über sein Volk von Sklaven setzte, um es mit der Peitsche und dem Spieße seiner Leibwache von Reisigen beim Gehorsam zu erhalten. Da der Beamte ein Partikel des Gottesgnadenthums ist, so nimmt er für sich die Unfehlbarkeit des letzteren in Anspruch. Er steht unter dem Staatsoberhaupt, jedoch über den Regierten. Da diese die Herde sind und das Staatsoberhaupt der Hirt, so ist er der Schäferhund. Er darf bellen und beißen und das Schaf muß es dulden. Und was das Allermerkwürdigste ist: das Schaf duldet es auch! Der gewöhnliche Bürger, ich meine den vom Schlage meines Hans, geht durchaus auf die Voraussetzungen des Beamten ein. Er gesteht ihm das Recht des Befehlens zu und nimmt die Pflicht des Gehorchens auf sich. Er kommt zur Behörde, nicht wie an einen Ort wo er ihm Gebührendes zu fordern, sondern wie an einen solchen, wo er Gnaden zu erflehen hat. Es wäre übrigens auch thöricht von ihm, wenn er sich gegen dieses paradoxale Verhältniß auflehnen wollte, denn im Streite mit dem Beamten würde voraussichtlich dieser Sieger bleiben und selbst im günstigsten Falle würden seine Interessen während der Dauer des Streits Verzögerungen und schwere Einbußen aller Art erleiden. Der Fiskalismus hat zum ergänzenden Seitenstück den Mandarinismus und beide sind logische Ableitungen der Konzeption eines Herrschers von Gottes Gnaden und einer Unterthanschaft von Gottes Fluch. Die Gesetzgebung steht heute wie vor Jahrhunderten vollkommen unter dem Einfluß des Fiskalismus und des Mandarinismus. Von hundert Gesetzen, die, sei es unter Mitwirkung des Volks, sei es ohne dieselbe, gegeben werden, haben sicherlich neunundneunzig den Zweck, nicht den Bürgern die Freiheit der Bewegung und die Annehmlichkeit des Daseins zu vergrößern, sondern den Vögten und Bütteln die Ausübung ihrer angemaßten Herrenrechte zu erleichtern. Man unterwirft uns hundert Unbequemlichkeiten, damit dem Beamten das Regieren und Schatzen bequemer gemacht sei. Man zeichnet uns wie das liebe Vieh mit Nummern und Buchstaben, damit man uns müheloser zusammenhalten und zehnten könne. Man straft uns Alle von vornherein mit mißtrauischen Beschränkungen, weil einer von uns einmal ausnahmsweise über die Schnur zu hauen fähig sein möchte. Soll ich dies mit Beispielen belegen? Alle Kaufleute sind gezwungen, ihre Geschäftsbücher in einer bestimmten, vom Gesetze genau vorgeschriebenen Weise zu führen. Warum? Weil einer von ihnen einmal betrügerisch bankbrüchig werden könnte und der Untersuchungsrichter nur dann den Stand der Dinge ohne Anstrengung überblicken kann, wenn alle Angelegenheiten an der dafür vorgeschriebenen Stelle fein ordentlich eingetragen sind. Gäbe es keine Bücher, so hätte der Untersuchungsrichter seine liebe Noth, in dem Wuste der geschäftlichen Aufzeichnungen klar zu sehen. Um ihm diese Noth zu ersparen, der er im Falle eines Bankerotts ausgesetzt wäre, nimmt das Gesetz hundert Kaufleuten, die nie daran denken, ihre Gläubiger zu verkürzen, die Freiheit der Bewegung. Jeder von uns hat sein Kommen und Gehen, namentlich in großen Städten, der Polizei gehorsamst anzumelden. Warum? Weil einer von uns einmal irgend eine Missethat begehen könnte, in welchem Falle ihn die Polizei suchen müßte; er wird dann leichter zu finden sein, wenn überhaupt jedermann ihr seinen Aufenthaltsort anzuzeigen gezwungen ist. Um sich vorkommendenfalls die Mühe des Suchens zu ersparen, für die sie doch gerade bezahlt wird, zwingt die Polizei uns, fortwährend die Mühe der Anmeldungen auf uns zu nehmen. Ich könnte diese Beispiele verhundertfachen, wenn ich nicht ihre Einförmigkeit fürchtete. Dabei verfehlen alle die Beschränkungen, welche der Staat seinen Bürgern auferlegt, völlig ihren Zweck. Die Gesetze drücken blos die, welche nicht daran denken, sich über sie hinwegzusetzen; dagegen haben sie noch niemals die gehindert, welche entschlossen sind, sich keinen Zwang gefallen zu lassen. Der Bigame begeht sein Verbrechen trotz den Förmlichkeiten, welche dem anständigen Menschen die Eheschließung umständlich, kostspielig und schwierig machen. Der Räuber führt Messer und Revolver bei sich trotz den Vorschriften, die den friedlichen Bürgern das unbefugte Waffentragen verbieten. Und so ist es in allen Dingen. Es ist immer, wenn auch weniger tragisch, das System des Herodes, der alle Knaben zu tödten befiehlt, weil einer von ihnen zum Thronprätendenten heranwachsen könnte, und der Metzelei natürlich gerade den einen entrinnen läßt, der ihm wirklich gefährlich werden wird.

Die philosophische Auffassung des Staates hat sich geändert, das Verhältniß des Bürgers zu demselben ist theoretisch das eines gleichberechtigten Theilhabers zu einer Genossenschaft geworden, alle seit 1789 entstandenen Verfassungen gehen von der Annahme der Volkssouveränetät aus, praktisch ist aber die Staatsmaschine dieselbe geblieben, sie arbeitet heute ganz so wie zur finstersten Epoche des Mittelalters, und wenn ihr Druck auf das Individuum geringer geworden ist, so ist dies nur als Abnützungs-Erscheinung aufzufassen. Die stillschweigende Voraussetzung aller Gesetze und Verordnungen ist nach wie vor die, daß der Bürger das persönliche Eigenthum des Staatsoberhauptes oder doch mindestens jenes unpersönlichen Phantoms, Staat genannt, ist, das alle Vorrechte der alten Despoten geerbt hat und dessen sichtbare Verkörperung die Behörden sind. Der Beamte ist nicht der Angestellte des Volks, sondern der Bevollmächtigte der über dem letztern stehenden Staatsgewalt, sein Feind, sein Aufseher und Gefangenwärter. Die Gesetze sollen dem Beamten die Möglichkeit bieten, die Interessen seines reellen oder ideellen Herrn, des Monarchen oder des Staats, gegen das Volk zu vertheidigen, dem von vornherein die beständige Neigung zugemuthet wird, sich seines Herrn zu entledigen. Nur aus dieser Voraussetzung erklärt es sich, daß das Mandarinat in unseren Tagen noch immer so großes Ansehen und eine so hervorragende Stellung im Gemeinwesen hat. Der Beamte kann der gemeinen Anschauung nicht durch reiche Bezüge, durch Glanz und Üppigkeit seiner Lebensweise imponiren; den edlen Geistern zwingt er nicht durch höhere Bildung, nicht durch größere Begabung Achtung ab; die Utilitarier können seine Arbeit unmöglich für nützlicher halten als die der direkt produzirenden Klassen, der Ackerbauer, Handwerker, Künstler, Forscher. Wenn aber Beamter zu sein weder große Einkünfte noch besondere Geistesbildung und Fähigkeiten bedeutet, weshalb knüpft sich dann an den Besitz eines Staatsamtes ein Ansehen, das man keinem andern Stande als solchem zugesteht? Weshalb? Weil der Beamte ein Theil der Herrschergewalt ist, die das Volk unbewußt, aus ererbter Gewohnheit, als etwas Geheimnißvolles, Übernatürliches, Ehrfurcht und Grauen Erregendes ansieht. Die Gnade Gottes, in welcher sich der König sonnt, bestrahlt auch den Beamten; von dem Salböl, mit dem der Monarch bei der Krönung geheiligt wird, fällt ein Tropfen auch auf die Stirne des Beamten. Diese Vorstellung wirkt sogar in jenen Ländern nach, die gar keinen König, keine Krönung und keine Gnade Gottes mehr haben. Sie ist eine Reflexaktion der Volksseele geworden.

III.

Wo bleibt nun aber der Parlamentarismus? Gibt er nicht dem Individuum die Freiheit der Bewegung wieder, welche ihm der Fiskalismus und der Mandarinismus und die in deren Interesse arbeitende Gesetzgebung genommen haben? Macht er nicht aus dem feudalen Unterthan den modernen Staatsbürger? Legt er nicht in die Hand jedes Einzelnen das Recht, sich selbst zu regieren und seine Geschicke im Staate selbst zu bestimmen? Ist der Wähler nicht am Tage, da er seinen Abgeordneten ernennt, ein wirklicher Souverän, der, wenn auch indirekt, die alten Königsrechte übt, Minister zu stürzen und zu erheben, Beamte abzusetzen und zu bestellen, Gesetze zu geben, Steuern auszuschreiben, der auswärtigen Politik die Richtung vorzuzeichnen? Ist nicht mit einem Worte der Stimmzettel die allmächtige Waffe, mit der unser armer Hans den Druck des schon von Shakespeare angeklagten Beamten-Übermuths von sich abwenden und alle ihn beengenden Einrichtungen bekämpfen und besiegen kann?

Gewiß. Der Parlamentarismus hat alle diese Wirkungen. Aber leider nur in der Theorie. Praktisch ist er ganz so eine ungeheuere Lüge wie alle übrigen Formen unseres heutigen Staats- und Gesellschaftslebens. Allerdings muß ich hier bemerken, daß die Lügen, welche uns von allen Seiten angrinsen, von zwei verschiedenen Arten sind. Die einen tragen die Maske der Vergangenheit, die anderen die der Zukunft. Die einen sind Formen, die nicht mehr, die anderen solche, die noch nicht einen Inhalt haben. Die Religion, das Königthum sind Lügen, weil wir ihre Äußerlichkeiten bestehen lassen, obwol wir von der Absurdität ihrer Voraussetzungen durchdrungen sind. Der Parlamentarismus dagegen, trotzdem er eine logische Folge unserer Weltanschauung, ist eine Lüge, weil er bisher blos als Äußerlichkeit besteht, die innere Organisation des Staates aber völlig unverändert gelassen hat. In jenem Falle ist neuer Wein in alte Schläuche gefüllt, in diesem alter Unrath in neue Gefäße übergeleert.

Der Parlamentarismus soll der Mechanismus sein, mittels dessen der Grundsatz der Volkssouveränetät zur Wirksamkeit gelangt. Nach der Theorie müßte eigentlich das ganze Volk in Vollversammlungen seine Gesetze machen und seine Beamten ernennen, seinen Willen also direkt ausdrücken und sogleich in Handlungen umwandeln, ohne ihn dem Kraftverlust und den Umgestaltungen auszusetzen, welche eine nothwendige Folge wiederholter Übertragungen sind. Da aber die geschichtliche Entwickelung die Richtung hat, die Individuen in immer größere Gemeinwesen zu gruppiren, ganze Sprachgemeinschaften, ja bald vielleicht ganze Racen zu einzigen Nationen zu verschmelzen und die Grenzen der Staaten ins Ungemessene hinauszurücken, so ist die direkte Ausübung der Selbstregierung durch die Versammlung des ganzen Volkes in weitaus den meisten Ländern schon jetzt eine materielle Unmöglichkeit geworden und wo sie es noch nicht ist, da wird sie es wohl in naher Zukunft werden. Das Volk muß also seine Souveränetat auf eine kleine Anzahl Auserwählter übertragen und es diesen anheimstellen, seine Selbstbestimmungsrechte auszuüben. Die Auserwählten können auch noch nicht selbst direkt regieren, sondern übertragen ihre eigenen Vollmachten ein zweites Mal auf eine noch viel kleinere Zahl von Vertrauensmännern, die Minister, welche endlich thatsächlich die Gesetze vorbereiten und anwenden, die Steuern ausschreiben und einheben, die Beamten ernennen und über Krieg und Frieden entscheiden. Damit bei diesen Veranstaltungen das Volk noch immer souverän bleibe, damit trotz der zweimaligen Übertragung noch immer sein Wille und kein anderer seine Geschicke bestimme, müßten verschiedene Voraussetzungen erfüllt werden. Die Vertrauensmänner des Volkes müßten sich ihrer Persönlichkeit entkleiden. Auf den Bänken des Parlaments müßten nicht Menschen sitzen, sondern Mandate, die sprechen und stimmen. Der Wille des Volks dürfte, indem er durch die Vertreter desselben hindurchgeht, in ihnen keinerlei Färbung oder Brechung, keinerlei individuelle Beeinflussung erleiden. Die Minister müßten ihrerseits ebenso unpersönliche, ebenso mechanische Aufnahms- und Durchleitungsgefäße der Meinungen und des Willens der Parlamentsmehrheit sein. Jede Nichtbeachtung des Auftrags, den die Minister von den Abgeordneten und diese vom Volk empfangen, müßte unverzüglich für jene den Sturz, für diese den Verlust des Mandats zur Folge haben. Vor Allem aber müßte dieser Auftrag klar und bestimmt ertheilt werden. Die Wähler hätten sich immer über die Gesetzgebungs- und Verwaltungsarbeiten zu einigen, die ihnen im Staatsinteresse nothwendig erscheinen, und die Durchführung dieser Arbeiten unter strengem Festhalten an den von ihnen zu diesem Zwecke aufgestellten Grundsätzen von ihren Vertretern zu fordern. Sie dürften zu ihren Vertretern nur solche Männer wählen, deren Charakter und geistige Begabung ihnen bekannt sind, von denen sie wissen, daß sie die Fähigkeit haben, das von den Wählern aufgestellte Programm zu erfassen und durchzuführen, daß sie von der ihnen gezogenen Linie nicht abweichen werden und daß sie genug selbstlos sind, dem Gemeinwohl ihre Zeit, ihre Arbeit und namentlich ihr eigenes Interesse, so oft es jenem zuwiderläuft, zu opfern. Das wäre der ideale Parlamentarismus; auf diese Weise würde die Gesetzgebung wirklich vom Volke, die Verwaltung vom Parlament ausgehen; der Schwerpunkt des Staatsbaues läge in den Wählerversammlungen und jeder Bürger hätte sichtbar und fühlbar seinen Antheil an der Besorgung der öffentlichen Geschäfte.

Wenden wir uns nun aber von der Theorie zur Praxis. Welche Enttäuschung müssen wir da erleben! Der Parlamentarismus, wie er selbst in seinen klassischsten Ländern, in England und Belgien, tatsächlich fungirt, erfüllt nicht eine einzige der aufgezählten Voraussetzungen. Die Wahl bringt in keiner Weise den Willen der Bürger zum Ausdruck. Die Abgeordneten handeln in allen Fällen nach ihrer individuellen Willkür und fühlen sich nur durch die Besorgniß vor Rivalen, nicht aber durch die Rücksicht auf die Anschauung ihrer Wähler gebunden. Die Minister beherrschen nicht blos das Land, sondern auch das Parlament; statt daß man ihnen die Richtung vorschreibt, zeichnen sie dieselbe dem Parlament und der Nation vor. Sie gelangen zur Regierung und verlassen dieselbe, nicht, weil es die Nation so will, sondern weil ein mächtiger individueller Wille sie dazu zwingt. Sie springen mit allen Kräften und Hilfsquellen der Nation nach ihrem Gutdünken um, theilen Gnaden und Geschenke aus, lassen zahlreiche Schmarotzer auf Kosten der Gesammtheit wolleben und haben nie ein Wort des Tadels zu besorgen, wenn sie nur die Mehrheit des Parlaments mit einigen Abfällen von der reichgedeckten Tafel bedenken, welche ihnen der Staat anrichtet. Praktisch sind die Minister ebenso unverantwortlich, wie die Abgeordneten; für hundert Mißbräuche, Ungerechtigkeiten und Willkürakte, die sie täglich begehen, bleiben sie völlig straflos und wenn sich einmal in hundert Jahren der Fall ereignet, daß ein Minister, sei es, weil er wirklich ganz ausnahmsweise schurkisch gehandelt oder weil er leidenschaftlichen Haß gegen sich erweckt hat, zur Verantwortung gezogen wird, so läuft es immer mit einer geräuschvollen und pomphaften Gerichtsverhandlung und einer lächerlich unwesenhaften Strafe ab. Das Parlament ist eine Anstalt zur Befriedigung der Eitelkeit und des Ehrgeizes und zur Förderung der persönlichen Interessen der Abgeordneten. Die Völker sind seit Jahrtausenden gewöhnt, von einem souveränen Willen gelenkt zu werden und eine bevorrechtigte Aristokratie über sich zu haben, der sie Ehren erweisen und alle Reichthümer des Staates zum persönlichen Gebrauch überlassen; große Geister, in welchen sich die Zukunft spiegelte, haben ihnen im Parlamentarismus eine Regierungsform gegeben, welche ihnen gestattet, an die Stelle des Herrscherwillens ihren eigenen zu setzen und der Aristokratie die Verfügung über das Staatsvermögen abzunehmen; und was haben die Völker gethan? Sie haben sich beeilt, den Parlamentarismus ihren alten Gewohnheiten anzupassen, so daß nach wie vor ein individueller Wille sie beherrscht und eine bevorrechtete Klasse sie ausbeutet; nur heißt dieser individuelle Wille nicht mehr König, sondern Parteiführer, und diese bevorrechtigte Klasse nicht mehr notwendig Geburtsaristokratie, sondern herrschende Kammermehrheit. Das alte Verhältniß des Durchschnittsbürgers zum Gemeinwesen ist durch den Parlamentarismus unbeeinflußt geblieben; mein Hans, auf den ich immer wieder zurückkomme, hat überall Steuern zu zahlen, die nicht er sich auferlegt und deren Verwendung nicht er bestimmt, Gesetzen zu gehorchen, die nicht er sich gibt und deren Nutzen er nicht einsieht, vor Beamten den Hut zu ziehen, die ein fremder Wille ihm ins Genick setzt, Hans mag nun in England Johnny heißen oder Iwan in Rußland.

Einen Vortheil gewährt der Parlamentarismus; er ermöglicht Ehrgeizigen, auf die Schultern ihrer Mitbürger zu steigen. Ich werde gleich nachweisen, daß dies wirklich ein Vortheil ist. Jedes Volk, besonders aber ein noch in aufsteigender Entwickelung begriffenes und von unerschöpfter Lebenskraft durchfluthetes, bringt in jedem Menschenalter Individuen hervor, in denen ein besonders mächtig gestaltetes Ich ungestüm zu freier Entfaltung drängt. Das sind Herrschernaturen, die kein Joch über sich und keinen Zwang um sich dulden. Sie wollen den Kopf und die Ellenbogen frei haben. Sie können sich nur der Disziplin ihres eigenen Willens und ihrer eigenen Einsicht unterwerfen, nie der eines fremden. Sie gehorchen, weil sie wollen oder sollen, nie weil sie müssen. Diese Individualitäten können nie eine Schranke fühlen, ohne sie umzustoßen oder sich an ihr matt zu rennen. Das Leben scheint ihnen nicht des Lebens werth, wenn es ihnen nicht die Befriedigung bringt, welche das ungehinderte Sichausleben aller Fähigkeiten und Neigungen gewährt. Ein Bewußtsein, das ein großes Stück des eigenen Horizonts durch ein seinem Einfluß wie seiner Betrachtung entzogenes fremdes Bewußtsein verdunkelt sieht, dünkt sie nur ein halbes Bewußtsein, ein Ich, das nicht immer und überall es selbst sein darf, nur ein schmerzlich verschrumpftes halbes Ich, ein Dasein, das von äußeren Anstößen bewegt und gelenkt ist, dünkt sie unleidlich. Solche Individuen brauchen Raum. In der Einsamkeit finden sie ihn ohne Kampf und Schwierigkeit. Wenn sie Anachoreten der cyrenaischen Wüste, wenn sie Säulenheilige oder Fakire, kanadische Fallensteller oder Pioniere der Hinterwäldler werden, so können sie ihr Leben ohne Konflikte verbringen. Allein wenn sie in der Gesellschaft bleiben sollen, so gibt es für sie nur einen Platz: den des Führers. Die Lage meines Hans nehmen sie keinen Augenblick lang an. Sie sind kein weiches Plasma, sondern diamantharte Kristalle. Sie können sich nicht in die Lücke hineinschmiegen, welche der Staatshalt für sie offengelassen hat und die ohne Rücksicht auf ihre Formen und Maße ausgespart ist. Sie müssen eine Zelle für sich haben, die ihren Kanten und Flächen angepaßt ist. Sie empören sich gegen das Gesetz, das sie fertig vorfinden und zu dem man nicht ihre Zustimmung verlangt hat, und sie halten die Faust unter die Nase des Beamten, der ihnen befehlen wollte, statt sich von ihnen Aufträge zu holen. Im absolutistischen Staatswesen ist für solche Naturen kein Platz. Diese Staatsform ist in der Regel stärker als ihre Ausdehnungskraft und sie unterliegen in der Anstrengung, dieselbe zu sprengen. Aber ehe sie unterliegen, erschüttern sie den Staat, daß der König auf seinem Throne zittert und der Bauer in seiner Hütte zu Boden fällt. Sie werden Königsmörder oder Aufrührer, mindestens aber Straßenräuber oder Flibustier. Im Mittelalter streifen sie als Robin Hood durch die Wälder oder sind als Condottieri an der Spitze einer Söldnerschaar der Schrecken der Fürsten und Völker; später erobern und verwüsten sie als Cortes, als Pizarro, die neue Welt, raufen als Landsknecht-Hauptleute bei Pavia, machen als Miethlinge aller Kriegführenden im dreißigjährigen Kriege Fortune oder lassen sich, minder glücklich, als Schinderhannes und Cartouche rädern. Heute heißen sie in Rußland Nihilisten, wie sie gestern im osmanischen Reiche Mehemet Ali hießen. Der Parlamentarismus nun gestattet diesen Menschen mit dem gewaltigen Ich, ihre Individualität zu wahren, ohne die Staatsform zu zerstören oder doch zu bedrohen. Abgeordneter zu werden kostet viel geringere Anstrengung, als zu Wallensteins Stellung zu gelangen, und selbst Ministerpräsident wird man in einem parlamentarischen Staate leichter, als man einen alten Thron stürzt. Als Abgeordneter aber kann man schon bei den meisten Gelegenheiten aufrecht stehen, wo Hans sich ducken muß, und als Ministerpräsident hat man wohl zu kämpfen, aber nicht mehr einem fremden Willen zu gehorchen. So ist der Parlamentarismus das Sicherheitsventil, das die spannkräftigen Individuen der Nation verhindert, verheerende Explosionen hervorzubringen.

Man studire die Psychologie der Berufspolitiker in allen parlamentarisch regierten Ländern: man wird finden, daß das, was sie ins öffentliche Leben hinaustreibt, das Bedürfniß ist, ihr Ich intensiv zu fühlen und allseitig zu bethätigen. Man nennt das Ehrgeiz oder Herrschsucht. Ich habe nichts gegen diese Bezeichnungen, wenn man sie nur definirt. Was ist Ehrgeiz? Ist es wirklich der Geiz, die Gier nach Ehre, das heißt nach äußerlichen Befriedigungen der Eitelkeit? Dieser Beweggrund mag einen im Kaffeehandel reich gewordenen Gewürzkrämer bestimmen, sich um eine Stelle in der Handelskammer oder im Stadtrath zu bemühen. In der Laufbahn eines Disraeli, Kossuth, Lassalle, Gambetta spielt er keine Rolle. Diesen Männern ist es nicht darum zu thun, auf der Straße von wichtigthuenden oder aufdringlichen Dummköpfen gegrüßt zu werden, eine bunte Uniform zu tragen, beständig Reporter, Biographen und Porträtzeichner für illustrirte Wochenblätter hinter sich her zu haben und von Zöglingen höherer Töchterschulen Bettelbriefe um Autographen zu empfangen. Um solcher Genugthuungen willen würden sie sich nicht den grausamen Beschwerden des öffentlichen Lebens aussetzen, in welchem man mitten in unserer friedlichen Zivilisation alle Bedingungen des urmenschlichen Daseins wiederholt findet: wo es keine Ruhe und keine Rast gibt, wo man beständig kämpfen, lauschen, lugen, lauern, Spuren suchen und die eigenen verwischen, mit den Waffen in der Hand und mit halbgeschlossenen Augen schlafen muß, wo jeder Begegnende ein Feind ist, wo man die Hand gegen Alle und die Hand Aller gegen sich hat, wo man unaufhörlich verunglimpft, gehetzt, verleumdet, verwundet wird und überhaupt so lebt, wie die Rothhaut auf dem Kriegspfade im Urwalde. Der sogenannte Ehrgeiz, welcher Berufspolitiker bestimmt, ein so mühseliges und gefahrvolles Dasein zu wählen, ist nichts anderes als das Bedürfniß, die eigene Persönlichkeit ganz und voll zu fühlen, ein unsagbar wonnesames Hochgefühl, das der verkümmerte Philister nicht kennt und das man nur erlangt, wenn man entweder nie ein Hinderniß des Willens angetroffen oder es wohl begegnet, aber bekämpft und besiegt hat. Mit der Herrschsucht verhält es sich ähnlich. Dem richtigen, geborenen Parteiführer ist es weit weniger darum zu thun, über andere zu herrschen, als darum, niemand über sich herrschen zu lassen. Wenn er den Willen anderer unter seinen eigenen beugt, so ist es, um sich die Stärke und den Umfang des eigenen Willens wonnig zum Bewußtsein zu bringen. Für denjenigen, der inmitten der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung steht und nicht etwa freiwillig als Einsiedler in der Wildniß lebt, gibt es keine andere Wahl als die, zu beherrschen oder beherrscht zu werden. Da starke Naturen das letztere nicht dulden können, so müssen sie sich zum erstern entschließen; nicht weil es ihnen eine besondere Freude macht, sondern weil es heute noch die einzige Form ist, in der das Individuum sich frei und unabhängig fühlen kann. Wenn die Herrschsucht wirklich das wäre, was der wurzelhafte Sinn des Wortes zu besagen scheint, so würde sie immer unter sich blicken und nicht über sich; sie würde die Häupter zählen, die tiefer stehen, nicht die, welche über sie hinausragen. Sie thut aber in der Regel das Gegentheil. Cäsar will lieber der erste sein in einem Dorfe als der zweite in Rom. In diesem Falle würde er einer Million befehlen und ihm nur einer, in jenem blos einigen hundert Menschen. Würde die Herrschsucht in Rom nicht tausendmal größere Befriedigung finden als im Dorfe? Ja, wenn Cäsar blos herrschen wollte. Er will aber nur sein Ich fühlen und dieses stößt sich an eine Schranke, wenn Cäsar in Rom der zweite ist, es entfaltet sich aber frei in dem Dorfe, wo kein stärkerer Wille den seinen drückt. In diesem einen Worte Cäsars liegt die ganze Theorie des Ehrgeizes, der Politiker ins öffentliche Leben stößt. Die kleinen Leute, die nur als Choristen und Statisten im Parlamentarismus mitwirken, mögen andere Beweggründe haben; ihnen ist es darum zu thun, Ämter für sich und die Ihrigen zu erhalten, das Staatsfaß versteckt anzubohren und einen Strohhalm ins Loch zu praktiziren, damit sie sich ohne Kosten volltrinken können; diese »politicans« und »carpet-baggers«, wie man sie in Nordamerika nennt, diese Stellenjäger, Ordensbettler und Budgetschmarotzer sind blos die bezahlten Handlanger der Führer; sie sind Füllsel, keine wesentlichen konstruktiven Bautheile des Parlamentarismus. Für die Führer aber sind die materiellen Vortheile ihrer Stellung das Nebensächliche. Die Hauptsache ist ihnen die ungehinderte Entfaltung eines Ichs, das schmerzliche Krämpfe bekommt, wenn es zusammengekrümmt bleiben muß.

Kein Wort ist in dieser Betrachtung so häufig vorgekommen, wie das Wort »Ich«. Ich und immer nur Ich. Das macht: Der Parlamentarismus ist der Triumph, die Apotheose des Egoismus. Theoretisch soll er die organisirte Solidarität sein, praktisch ist er die zum Systeme erhobene Selbstsucht. Nach der Fiktion gibt der Abgeordnete seine Individualität auf und verwandelt sich in ein selbstloses Kollektivwesen, durch welches die Wähler denken und sprechen, wollen und handeln; in Wirklichkeit entäußern sich die Wähler durch den Wahlakt aller ihrer Rechte zu Gunsten des Abgeordneten und dieser erlangt die ganze Gewalt, welche jene verlieren. In seinem Programm, in den Reden, mit welchen er um die Stimmen der Wähler wirbt, geht der Abgeordnete natürlich auf jene Fiktion ein; da ist immer nur vom öffentlichen Interesse die Rede, da ist er der Arbeiter und Sachwalter des allgemeinen Wohls, da will er über dem Gemeinwesen sich selbst vergessen. Das sind aber Formeln, die selbst der gutmüthigste Tropf schwerlich mehr buchstäblich nimmt. Was ist dem Abgeordneten das allgemeine Interesse und das öffentliche Wohl? Noch weniger als Hekuba dem Komödianten. Er will emporkommen und der Wähler soll die Leitersprosse sein. Für das Gemeinwesen arbeiten? Warum nicht gar! Das Gemeinwesen soll für ihn arbeiten. Man hat die Wähler Stimmvieh genannt. Das ist ein bildlicher Ausdruck von seltener Nichtigkeit. Der Parlamentarismus schafft Verhältnisse, welche denen der Patriarchenzeit ganz analog sind. Die Abgeordneten nehmen die Stelle der Patriarchen ein; ihre Macht beruht wie die der letzteren auf ihrem Reichthum, der im Besitze großer Heerden besteht. Nur setzen sich diese Heerden heute nicht mehr aus wirklichem, sondern aus jenem figürlichen Horn- und Kleinvieh zusammen, das am Wahltage seine Stimme in die Urne wirft. Rabagas sollte eine Karikatur und Satire sein. Mir scheint er vielmehr eine schematische Zeichnung. Warum sich darüber wundern und lachen, daß Rabagas, der große Revolutionär, wenn er mit Hilfe des Volks zur Macht gelangte, gegen das Volk ganz dieselben Regierungs- und Bedrückungsmittel anwendet, die er in seinen Brandreden seinen Vorgängern im Ministerium als Verbrechen angerechnet hat? Ich finde diese Wandlung natürlich und folgerichtig. Der Politiker hat kein anderes Ziel und keinen andern Beweggrund für sein Handeln als die Befriedigung seines Egoismus. Um diese zu erreichen, muß er die Unterstützung der Masse erlangen. Diese Unterstützung erhält man nur durch allerlei herkömmliche Versprechungen und Schlagworte, die man so mechanisch herunterleiert wie ein Kirchenbettler das Vaterunser. Der Politiker unterwirft sich unbedenklich diesem nicht zu umgehenden Gebrauch. Er hat nun die Unterstützung der Wähler und gelangt zur Macht. Damit ist sein Egoismus befriedigt und die Masse verschwindet vollkommen aus seinem Gesichtskreise, um erst wieder aufzutauchen, wenn sie ihn etwa damit bedroht, die Macht aus seiner Hand zu reißen. Dann wird er das Nöthige thun, um dieselbe festzuhalten, wie er das Nöthige that, um sie zu erlangen; er wird also, je nach den Erfordernissen der Lage, entweder wieder den Rosenkranz der Versprechungen und Schlagworte abhaspeln oder die Murrenden mit der Faust bedrohen. Diese Kette logischer Prämissen und Konsequenzen nennt man eben mit einem Worte Parlamentarismus.

IV.

Man muß nur das politische Getriebe in der Nähe und den Blick auf seine Einzelheiten geheftet betrachten, um zu erkennen, wie schamlos die Praxis des Parlamentarismus seiner Theorie lügt.

Wie wird man Abgeordneter? Daß die Wähler einen weisen und guten Mitbürger aufsuchen und ihn bitten, sie im Parlamente zu vertreten, das kommt kaum in Jahrzehnten einmal vor und auch dann nur unter dem Einflusse bestimmter Umstände, welche von diesem Vorgange die anscheinende Idealität vollkommen abstreifen. Eine Partei muß ein Interesse daran haben, das Mandat in den Händen dieses auserlesenen Mannes zu sehen, vielleicht, weil es ihr nützlich ist, sich mit seinem Namen zu schmücken, vielleicht auch, weil der betreffende Wahlkreis sonst einem gefährlichen Gegner anheimfällt. In diesem Falle wird allerdings, um mich einer modernen Redeweise zu bedienen, für einen Namen Reklame gemacht, ohne daß dessen Träger sich um dieselbe bemüht, die Wähler scheinen ihr Vertrauen aus eigenem Antriebe einem Verdienste entgegenzubringen, das um keine Anerkennung bettelt, und das Mandat fällt wirklich, wie die Theorie es fordert, dem Besten unter den Bürgern zu. Gewöhnlich aber vollziehen sich die Dinge ganz anders. Ein Ehrgeiziger tritt vor seine Mitbürger hin und sucht sie zu überzeugen, daß er mehr als alle anderen ihr Vertrauen verdiene. Aus welchem Grunde thut er diesen Schritt? Weil er den Drang hat, dem Gemeinwesen nützlich zu sein? Wer daran glauben könnte! Die Menschen, in denen das Gefühl der Solidarität mit dem Volke, mit der ganzen Menschheit so rege ist, daß es sie drängt, Selbstbefriedigung in der Arbeit und Aufopferung für die Gesammtheit zu suchen, sind zunächst in unserer Zeit noch überaus selten; außerdem liegt es in der Natur der Sache, daß solche Naturen idealistisch angelegt, mit zarten Sinnen ausgerüstet und gegen rauhe und gemeine Berührungen empfindlich sind. Und solche Idealmenschen sollten sich den geistigen und leiblichen Widerwärtigkeiten eines Wahlfeldzugs freiwillig aussetzen wollen? Niemals! Sie können für die Menschen leiden und sterben, aber keiner stumpfsinnigen Wählerhorde banale Komplimente machen. Sie können ohne Aussicht auf Lohn und Anerkennung das thun, was sie für ihre Pflicht halten, aber nicht einer Volksversammlung in schwunghaften Phrasen ihr Selbstlob singen. Sie ziehen sich in der Regel mit jener Scheu, welche der Unverstand oft Hochmuth nennt, die aber nur die Angst vor der Besudelung ihres heiligen Ideals ist, in ihre Arbeitsstube oder in einen engen Kreis gleichgesinnter Geister zurück und vermeiden das rohe Gewühl des Marktes. Die Reformatoren und Märtyrer suchen manchmal die Menge auf, aber nur um sie zu belehren, um ihre Fehler zu tadeln, um sie aus ihren Gewohnheiten herauszureißen, nicht aber um ihr zu schmeicheln, sie in ihren Irrthümern zu bestärken und ihr mit honigsüßen Lippen das zu sagen, was sie gern hört. Darum werden sie öfter gesteinigt als mit Blumen beworfen. Wycliff und Knox, Huß und Luther, Arnold von Brescia und Savonarola haben sicherlich auf große Menschenmassen tiefe Wirkung geübt und neben gewaltigem Haß auch leidenschaftliche Liebe erregt. Doch glaube ich nicht, daß sie, oder daß ein Rousseau, ein Goethe, ein Kant, ein Carlyle mit eigenen Mitteln, ohne die Unterstützung eines Wahlkomités je ein Abgeordnetenmandat in einem ländlichen oder selbst in einem großstädtischen Wahlkreise erlangt hätten. Diese Menschen erniedrigen sich nicht dazu, den Wählern um ihrer Stimme willen den Hof zu machen, namentlich aber einen Gegner zu bekämpfen, der auf den allbegangenen ausgetretenen Pfaden sein Ziel zu erreichen sucht. Die Art, wie man sich um ein Volksmandat bewerben muß, schreckt von vornherein die vornehmen Naturen zurück und bildet nur für die Egoisten kein Hinderniß, die entschlossen sind, zu Ansehen und Einfluß zu gelangen und Alles zu thun, was dazu erforderlich ist.

Da haben wir nun einen Mann, der die politische Laufbahn einschlagen will. Die Triebfeder seines Handelns ist Selbstsucht; da er jedoch einer gewissen Volksthümlichkeit bedarf, um zur angestrebten Stellung zu gelangen, Volksthümlichkeit aber gewöhnlich nur dem zutheil wird, der das Wohl der Gesammtheit fördert oder zu fördern scheint, so wird er sich mit den öffentlichen Interessen beschäftigen oder doch vorgeben, es zu thun. Er muß, um Erfolg zu haben, mit verschiedenen Eigenschaften ausgerüstet sein, die einen Menschen nicht sympathisch machen. Er darf nicht bescheiden sein, denn sonst würde er sich nicht vordrängen können, und das muß er doch, wenn er bemerkt werden will. Er muß heucheln und lügen können, denn er ist gezwungen, Menschen, die ihn anwidern oder ihm mindestens gleichgiltig sind, freundliche Mienen zu zeigen, da er sich sonst zahllose Feinde schaffen würde, und Versprechungen zu machen, von denen er vorausweiß, daß er sie nicht halten kann. Er muß es über sich bringen, die gemeineren Neigungen und Leidenschaften der Menge, ihre Vorurtheile, ihre herkömmlichen Vorstellungen anzurufen, weil diese eben die verbreiteteren sind und er die Mehrheit gewinnen muß. Diese Züge geben zusammen eine Physiognomie, die einen edleren Menschen abstößt. In einem Roman könnte eine solche Figur niemals die Neigung eines Lesers erwecken. Im Leben aber gibt derselbe Leser dieser Figur seine Stimme bei allen Wahlen.

Der Wahlfeldzug hat ganz so wie der wirkliche Krieg seine Fachwissenschaft, seine Strategik und Taktik. Der Kandidat findet sich nie unmittelbar dem Wähler gegenüber. Zwischen beiden steht ein Komité, das seine Vollmacht immer der eigenen Frechheit verdankt. Jemand empfindet das Bedürfniß, sich geltend zu machen. Er beruft also ganz einfach auf eigene Faust seine Mitbürger zu einer Versammlung ein. Fühlt er, daß er noch kein genügendes Ansehen besitzt, um dies mit Aussicht auf Erfolg allein thun zu können, so gesellt er sich einige Freunde zu oder er begibt sich zu einigen reichen und eitlen Dummköpfen, denen er sagt, sie hätten das Recht und die Pflicht, sich an die Spitze ihrer Mitbürger zu stellen, die öffentliche Meinung zu leiten u. s. w. Die Idioten fühlen sich durch diese Einladung sehr geschmeichelt und beeilen sich, unter einen Maueranschlag oder eine Zeitungs-Anzeige eine Unterschrift zu setzen, die in den Augen all jener Tröpfe einen Glanz hat, welche einen Mann nach seinen Geldsäcken, Titeln oder Ehrenstellen beurtheilen. So ist nun eine Wählerversammlung einberufen und ein Komité gegründet, welches sich ihrer Leitung bemächtigt. Jedes derartige Komité besteht aus zwei Elementen, aus energischen und rücksichtslosen Strebern, die einen persönlichen Vortheil moralischer oder materieller Natur verfolgen, und aus wichtigthuenden, ernst und geschäftig dreinschauenden, aber blödsinnigen Gäuchen, welche jene als dekorativen Ballast in ihre Barke einschiffen. Man kann in das Komité gelangen, auch wenn man weder einer seiner Gründer war, noch von diesen zur Mitwirkung eingeladen worden ist. Man braucht nur in der Versammlung laut und häufig zu sprechen und die Aufmerksamkeit der Menge durch Vordringlichkeit auf sich zu lenken. Ein Mensch, der eine kräftige Stimme besitzt und geläufig schwatzen kann, ganz gleichgiltig was, wird in einer Menge unfehlbar alsbald eine gewisse Autorität erlangen, die ihn für diejenigen, welche sich zu Führern dieser Menge aufgeworfen haben, als Bundesgenossen erwünscht, als Gegner hinderlich machen. Sie werden sich deshalb beeilen, ihn gleichfalls in ihr Komité aufzunehmen.

Die Komitébildung kann sich um den Mann vollziehen, der selbst Abgeordneter werden will, oder sie kann unbeeinflußt von diesem vor sich gehen. In jenem Fall lenkt der Kandidat selbst die ganze Bewegung; er organisirt sich seinen Generalstab, er beruft die Wähler ein, er bestellt die Redner, welche zu ihnen sprechen sollen, und kämpft selbst um seinen Sieg. Im zweiten Falle dagegen ist das Komité eine Landsknechtschaar, die von irgend einem unternehmenden Hauptmann geworben ist und an einen Kandidaten vermiethet wird, um seine Schlachten zu schlagen. Viele Politiker haben, ehe sie selbst Abgeordnete wurden, auf diese Weise für Andere gearbeitet; sie machten und stürzten Volksvertreter; sie vergaben oder vielmehr verkauften Mandate, sei es einfach um baares Geld für sich und ihre Reisigen, sei es um Ämter und Vortheile anderer Art, in den allerseltensten Fällen wohl auch nur um der Eitelkeit willen, als die einflußreichsten Männer eines Wahlkreises anerkannt zu sein. In den Wählerversammlungen herrscht notwendig die Phrase. Die Menge hört nur auf den, der laut spricht, verführerische Zusagen macht und sich in leicht verständlichen Alltäglichkeiten bewegt. Am Wahltage stimmen einige Wähler, die einflußreichsten, die man sich die Mühe nimmt, individuell zu gewinnen, nach den Eingebungen ihrer Eitelkeit oder ihres Interesses; die weitaus überwiegende Mehrzahl aber gibt ihre Stimme für einen der Kandidaten ab, für die eben die Komités gearbeitet haben. Man wirft den Namen in die Urne, den man einem wochenlang in die Ohren gebrüllt hat. Man kennt den Menschen nicht, weiß nichts von seinem Charakter, seinen Fähigkeiten, seinen Neigungen; man wählt ihn aber, weil einem sein Name geläufig ist. Wenn man dem Manne einen alten Theekessel auf vier Stunden leihen sollte, so würde man sich jedenfalls weit eingehender nach ihm erkundigen; die höchsten Interessen des Gemeinwesens, also auch die eigenen, vertraut man ihm jedoch an, ohne mehr von ihm zu wissen, als daß ein Komité von Leuten ihn empfiehlt, die dem einzelnen Wähler oft ebenso unbekannt sind wie der Kandidat selbst. Und es hilft nichts, sich gegen diese Vergewaltigung – denn eine solche ist es – aufzulehnen. Ein einzelner Bürger, der seine verfassungsmäßigen Rechte ernst nimmt und sich den Mann genau besehen will, dem er die wichtigsten Vollmachten in die Hand geben soll, hat gut, sich der Tyrannei eines Komités zu widersetzen, das ihm einen Vertreter von ungenügend bekanntem Charakter aufnöthigt, seine Gewissenhaftigkeit wird unfehlbar im Schlendrian der Menge ertränkt. Was kann er thun? Er kann am Wahltag daheim bleiben oder für den Kandidaten seiner eigenen Neigung stimmen. Weder jenes noch dieses Vorgehen wird ihm das Geringste nützen. Abgeordneter wird doch immer der werden, für den die große Masse der Gedankenlosen oder Gleichgiltigen oder Verschüchterten stimmt, und diese Masse proklamirt stets den Namen, für den am gewaltthätigsten, lautesten und ausdauerndsten gearbeitet worden ist. Es ist wahr: theoretisch steht es jedem Bürger frei, seinen eigenen Kandidaten zu empfehlen, für denselben zu agitiren und ihm unter seinen Mitbürgern eine Partei zu schaffen. Praktisch aber gewinnt derjenige, der blos mit Hinweisen auf die vortrefflichen Eigenschaften eines Kandidaten kommt, weit schwerer Bundesgenossen als der, welcher Vortheile aller Art verspricht, und darum muß der Bürger, der bei der Ausübung seiner politischen Rechte gewissenhaft das Wohl des Gemeinwesens ins Auge faßt, stets den Kürzeren ziehen gegen eine Gruppe berufsmäßiger Politiker, die das öffentliche Leben in regelrechten Ausbeutungs-Betrieb nehmen.

Das ist die Physiologie der Wahlen für alle Vertretungs-Körperschaften. Der Gewählte soll der Mann des Vertrauens der Mehrheit sein, er ist aber nur der Vertrauensmann einer oft winzigen Minderheit, die jedoch organisirt ist, während die Mehrheit der Wähler einen Wust zusammenhaltsloser Moleküle bildet, und die darum der letzteren ihren Willen aufnöthigen kann. Das Mandat soll dem zufallen, welcher der tüchtigste und weiseste unter den Bürgern ist; es fällt aber dem zu, der sich am kecksten vorwärts drängt. Für einen Kandidaten sind hohe Bildung, Erfahrung, Gewissenhaftigkeit, geistige Überlegenheit unwesentliche Eigenschaften. Sie schaden ihm nicht, aber sie helfen ihm nicht im Geringsten im politischen Kampfe. Was er in erster Linie braucht, das sind Selbstbewußtsein, Keckheit, Redegewandtheit und Vulgarität. Im besten Falle mag also der Kandidat ein ehrlicher und kluger Mann sein, eine vornehme, zartfühlende und bescheidene Natur wird er nicht sein können. Das erklärt es, weshalb in Vertretungskörperschaften Talente nicht selten sind, Charaktere aber äußerst spärlich.

Der Berufspolitiker hat durch lügnerische Versprechungen, durch Schweifwedelei vor der Menge, durch unverschämtes Selbstlob, durch deklamatorischen Vortrag von Gemeinplätzen und durch die Unterstützung von Spießgesellen, die mit ähnlichen Mitteln kämpfen, das Mandat erlangt. Unter welchen Bedingungen wird er es ausüben? Er ist entweder eine mächtige Individualität oder ein Dutzendmensch. In jenem Falle wird er eine Partei bilden, in diesem sich einer bestehenden anschließen.

Die Eigenschaft, die den Parteiführer macht, ist der Wille. Das ist eine Gabe, die nichts mit dem Verstande, der Phantasie, der Voraussicht, der Großherzigkeit gemein hat. Ein mächtiger Wille kann recht gut mit Beschränktheit des Geistes, Niedrigkeit der Gesinnung, Unehrlichkeit, Selbstsucht und Bosheit einhergehen; er ist eine organische Stärke und kann einem moralischen Monstrum eigen sein, wie sich der unbedeutendste oder verworfenste Mensch eines hohen Wuchses und großer Muskelkraft erfreuen kann. Welches immer seine sonstigen Eigenschaften sein mögen, der Mensch, der die gewaltigste Willensstärke hat, wird naturnothwendig in einer Versammlung von Menschen der erste, der leitende und befehlende sein. Er wird den schwächern Willen, der sich ihm widersetzt, zermalmen; sein Kampf gegen die anderen wird immer der des eisernen Topfes gegen den irdenen sein. Eine hohe Intelligenz kann auch einen starken Willen ihrer Herrschaft unterordnen. Aber wie? Nicht durch Unterwerfung im offenen Ringen, sondern dadurch, daß sie sich scheinbar unter seinen Befehl stellt und ihm in Wirklichkeit ihre Anschauungen so geschickt einflüstert, daß er sie für seine eigenen Eingebungen hält. Die wichtigste Bundesgenossin des Willens im Parlamente ist die Beredsamkeit. Auch diese ist eine natürliche Fähigkeit, die von hoher Geistes- und Charakter-Entwickelung durchaus verschieden ist. Man kann der größte Denker, Dichter, Feldherr oder Gesetzgeber sein und keine wirkungsvolle Rede halten können und umgekehrt kann man die besondere Gabe der Rede besitzen und dabei eine durchaus gewöhnliche Intelligenz sein. Die Geschichte der Parlamente nennt wenige oratorische Größen, die zugleich den geistigen Gesichtskreis der Menschheit erweitert hätten. Die berühmtesten Improvisationen, welche in weltgeschichtlichen Debatten folgenschwere Entscheidungen herbeigeführt und ihrem Urheber Ruhm und Macht gegeben haben, machen gelesen einen so kläglichen Eindruck, daß man sich fragt: »Was muß es doch sein, wodurch diese Rede eine so unbegreifliche Wirkung geübt hat?« Nicht das vernünftige Wort ist es, das in größeren Versammlungen Gehör findet, sondern das schwunghaft vorgetragene. Das einleuchtendste und faßlichste Argument, wenn es ohne lange Vorbereitung und zahlreiche Wiederholungen vor eine größere Zahl von Hörern tritt, hat äußerst wenig Aussicht, sie fortzureißen. Dagegen geschieht es sehr häufig, daß sie den Inspirationen einer thörichten Deklamation blind gehorchen und in jäher, fast unzurechnungsfähiger Übereilung Beschlüsse fassen, die sie sich später bei kühler Überlegung selbst nicht erklären können.

Wenn der Parteiführer mit einem starken Willen auch das Talent der Beredsamkeit vereinigt, so spielt er auf der offenen Szene aller Welt sichtbar die erste Rolle. Ist ihm dagegen die Gabe der Rede versagt, so hält er sich als Regisseur hinter den Coulissen auf und leitet, dem Publikum weniger sichtbar, doch den Darstellern die höchste Autorität, den ganzen Gang der parlamentarischen Komödie. Er hat dann Redner, die für ihn sprechen, wie er in vielen Fällen hohe, aber schüchterne und unentschlossene Intelligenzen hat, die für ihn denken.

Das Werkzeug, mit dessen Hilfe der Führer seine Macht übt, ist natürlich die Partei. Was ist eine parlamentarische Partei? Theoretisch sollte sie ein Bund von Menschen sein, die ihre Kräfte vereinigen, um gemeinsame Anschauungen in Gesetzen und in der Richtung des Staatslebens zum Ausdruck zu bringen. Praktisch gibt es keine einzige große, namentlich keine einzige herrschende oder durch ihre Zahl regierungsfähige Partei, die durch das Band eines Programms zusammengehalten wäre. Es kommt vor, daß kleine Gruppen, zehn, höchstens zwanzig Personen, durch die Gleichartigkeit ihrer Ansichten über die Dinge des öffentlichen Lebens zusammengeführt werden; große Parteien aber bilden sich immer nur unter dem Einflusse privaten Ehrgeizes, privater Selbstsucht und der Anziehungskraft einer überlegenen zentralen Persönlichkeit. Die Menschen zerfallen von Natur aus in zwei Klassen, von denen die eine so organisirt ist, daß sie keine Herrschaft über sich dulden kann, also, wie ich oben auseinandergesetzt habe, in der heutigen Weltordnung selbst herrschen muß, während die andere zum Gehorchen geboren ist, weil sie die Notwendigkeit, fortwährend Beschlüsse zu fassen und Willensakte zu üben, sowie die Verantwortlichkeit gegen sich selbst für alle Folgen der Beschlüsse, unerläßliche Ergänzungen der Freiheit und Selbstbestimmung, nicht ertragen kann. Die erste Klasse ist natürlich in verschwindender Minderheit gegenüber der andern. Sowie nun ein Mensch des bequemen Gehorchens einem der starken Menschen des Wollens und Gebietens gegenübertritt, beugt er sich ganz von selbst vor ihm und legt vergnügt, ja mit merklicher Erleichterung seines Herzens, die Leitung seines Handelns und die Verantwortlichkeit für dasselbe in seine Hände. Solche Gehorchende sind oft im Stande, die Aufgaben, welche ein fremder Wille ihnen auferlegt, mit großer Kraft, mit Klugheit und Ausdauer, ja mit Selbstaufopferung durchzuführen. Aber der Impuls muß ihnen durchaus vom fremden Willen kommen. Sie haben alle Gaben; es fehlt ihnen nur die der Initiative, ein Wort, welches nichts anderes ist als eine Umschreibung des Begriffs »Wille«. Diese Menschen nun treten sofort in die Dienste eines Führers, wenn sie ihm begegnen. Sie erkennen, daß er eine Macht sei, und sie stellen seinem Willen gern ihre Einzelkräfte zur Verfügung, weil sie spüren, daß er sie zum Siege und zur Beute führen werde. Alle wesentlichen Funktionen des Parlamentarismus werden ganz allein von den Parteihäuptern geübt. Sie beschließen, sie kämpfen, sie triumphiren. Die öffentlichen Sitzungen sind Schaustellungen ohne Bedeutung. Man hält Reden, um die Fiktion des Parlamentarismus nicht untergehen zu lassen. Nur äußerst selten aber hat eine Rede einen wichtigen Parlamentsbeschluß herbeigeführt. Reden dienen dazu, dem Redner Ansehen, Macht und Stellung zu geben; aber sie sind in der Regel ohne den geringsten Einfluß auf die Handlungen, das heißt Abstimmungen der Abgeordneten. Wie diese votiren werden, das wird außerhalb des Sitzungssaals geregelt; maßgebend sind da der Wille des Führers, die Interessen und Eitelkeiten der einzelnen Abgeordneten, seltener und nur in großen, einfachen, scharf umschriebenen Fragen der Druck der öffentlichen Meinung; was etwa im Laufe der Debatte gesagt werden mag, ist für den Ausgang derselben ganz gleichgiltig und so könnte man eigentlich die Verhandlungen völlig unterdrücken und nur die innerhalb der Parteien hauptsächlich nach dem Willen des Führers gefaßten Beschlüsse der entscheidenden Probe einer Abstimmung unterwerfen.

Das, was einen zur Regierung gelangten Parteiführer stürzt, das sind nicht die Fehler, die er in der Ausübung der Regierungsgewalt begehen mag, diese dienen immer nur zum Vorwande der Angriffe auf ihn: sondern es ist entweder ein mächtigerer gegnerischer Wille oder die Fahnenflucht von Söldlingen, deren Ansprüche auf Beute der Sieger nicht befriedigen gewollt oder gekonnt hat, oder ein Zusammenwirken dieser beiden Gründe. Das ist so wahr, daß ein Ministerwechsel, auch wenn durch ihn die Gewalt aus den Händen einer Partei in die einer ihr schroff und scheinbar wurzelhaft entgegengesetzten übergeht, an den tieferen Vorgängen des Staatslebens nicht das Geringste ändert. Im Verhältniß des Individuums zum Staate bleibt Alles beim Alten, der einzelne Bürger braucht, wenn er keine Zeitung liest, gar nicht zu merken, daß ein anderes Kabinet und eine andere Partei an die Spitze der Geschäfte gelangt sind und die Worte liberal oder konservativ sind bloße Masken für die eigentlichen Beweggründe aller parlamentarischen Kämpfe, Aufzüge und Wandlungen: Herrschsucht und Egoismus.

Das ist die dicke und vielfache Schichtung der politischen Lüge unserer Zeit. In vielen Ländern ist der Parlamentarismus überhaupt nur die spanische Wand, hinter welcher der Absolutismus des Königtums von Gottes Gnaden sein Ergötzen hat. Dort, wo derselbe eine Wirklichkeit ist, wo thatsächlich das Parlament herrscht und regiert, bedeutet er auch nichts anderes als die Diktatur einzelner Persönlichkeiten, die sich abwechselnd der Gewalt bemächtigen. Theoretisch soll der Parlamentarismus der Mehrheit maßgebenden Einfluß sichern, praktisch ruht dieser Einfluß in der Hand eines halben Dutzends Parteiführer, ihrer Berather und Schildknappen. Theoretisch sollen die Überzeugungen sich durch die Argumente bilden, welche die Parlamentsdebatten zu Tage fördern, praktisch bleiben sie von den Debatten unbeeinflußt und werden vom Willen der Führer und von Rücksichten auf Privatinteressen bestimmt. Theoretisch sollen die Abgeordneten blos das Wohl der Gesammtheit vor Augen haben, praktisch sorgen sie auf Kosten des Gemeinwesens in erster Linie für ihr eigenes Wohl und das ihrer näheren Freunde. Theoretisch sollen die Abgeordneten die besten und weisesten unter den Bürgern sein, praktisch sind sie die ehrgeizigsten, vordringlichsten, derbsten. Theoretisch bedeutet die Abgabe des Stimmzettels für einen Kandidaten, daß der Wähler diesen kennt und ihm vertraut; praktisch stimmt der Wähler für einen Menschen, von dem er meist nichts weiß, als daß eine Gruppe von Lärmmachern ihm dessen Namen wochenlang ins Ohr gebrüllt und vor den Augen herumgeschwungen hat. Die Kräfte, die theoretisch die parlamentarische Maschine bewegen sollen, sind Erfahrung, Voraussicht, Selbstlosigkeit; praktisch sind es Willensstärke, Egoismus und Beredsamkeit. Hohe Intelligenz und edle Gesinnung erliegen gewandter Phrasendrescherei und unerschütterlicher Keckheit und nicht die Weisheit leitet die Parlamente, sondern ein hartnäckiger individueller Entschluß und ein dröhnendes Wort. Von dem Selbstbestimmungsrechte der Völker, deren Sanktion der Parlamentarismus ist, gelangt auf den einzelnen Bürger nicht ein Titelchen, mein armer Hans hat zu zehnten und zu gehorchen und sich die Ellenbogen an tausend sinnlosen Einschränkungen blau zu stoßen wie je zuvor und der Parlamentarismus mit seinem ganzen Geräusch und Geberdenspiel kommt ihm nur zum Bewußtsein, wenn er am Wahltag seine Beine mit dem Gange zur Urne ermüdet und in seiner Zeitung das Überwuchern meist langweiliger Parlamentsberichte über den anderweitigen unterhaltlicheren Lesestoff konstatirt.

 


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