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5. Das moralische Ideal.

A. Zur Kritik der Ideale.

 

330.

Diese so beginnen, daß man das Wort »Ideal« abschafft: Kritik der Wünschbarkeiten.

 

331.

Die Wenigsten machen sich klar, was der Standpunkt der Wünschbarkeit, jedes »so sollte es sein, aber es ist nicht« oder gar »so hätte es sollen gewesen sein« in sich schließt: eine Verurtheilung des gesammten Gangs der Dinge. Denn in ihm giebt es nichts Isolirtes: das Kleinste trägt das Ganze, auf deinem kleinen Unrechte steht der ganze Bau der Zukunft, das Ganze wird bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, mit verurtheilt. Gesetzt nun gar, daß die moralische Norm, wie es selbst Kant vermeinte, niemals vollkommen erfüllt worden ist und als eine Art Jenseits über der Wirklichkeit hängen bliebe, ohne jemals in sie hineinzufallen: so schlösse die Moral ein Urtheil über das Ganze in sich, welches aber doch erlaubte zu fragen: woher nimmt sie das Recht dazu? Wie kommt der Theil dazu, dem Ganzen gegenüber hier den Richter zu machen? – Und wäre es in der That ein unausrottbarer Instinkt, dieses Moral-Urtheilen und Ungenügen am Wirklichen, wie man behauptet hat, gehörte dann dieser Instinkt nicht vielleicht mit zu den unausrottbaren Dummheiten, auch Unbescheidenheiten unsrer Species? – Aber indem wir dies sagen, thun wir Das, was wir tadeln; der Standpunkt der Wünschbarkeit, des unbefugten Richterspielens gehört mit in den Charakter des Gangs der Dinge, jede Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit ebenso, – es ist eben unser Begriff von »Vollkommenheit«, welcher seine Rechnung nicht findet. Jeder Trieb, der befriedigt werden will, drückt seine Unzufriedenheit mit der jetzigen Lage der Dinge aus: wie? ist vielleicht das Ganze aus lauter unzufriedenen Theilen zusammengesetzt, die allesammt Wünschbarkeiten im Kopf haben? ist der »Gang der Dinge« vielleicht eben das »Weg von hier? Weg von der Wirklichkeit!«, die ewige Unbefriedigung selbst? ist die Wünschbarkeit vielleicht die treibende Kraft selbst? ist sie – deus? Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und »Gott« zu taufen. Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; Das, was wir dem Unbekannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsere.

Was Kant z. B. sagt »Zwei Dinge bleiben ewig verehrenswerth« (Schluß der prakt. Vernunft) – heute würden wir eher sagen »die Verdauung ist ehrwürdiger«. Das All brächte immer die alten Probleme mit sich, – »wie Übel möglich sei?« u. s. w. Also: es giebt kein All, es fehlt das große Sensorium oder Inventarium oder Kraft-Magazin.

 

332.

Ein Mensch, wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt wie: »ein Baum, wie er sein soll«.

 

333.

Ethik: oder »Philosophie der Wünschbarkeit«. – »Es sollte anders sein«, »es soll anders werden«: die Unzufriedenheit wäre also der Keim der Ethik.

Man könnte sich retten, erstens indem man auswählt, wo man nicht das Gefühl hat; zweitens indem man die Anmaaßung und Albernheit begreift: denn verlangen, daß Etwas anders ist, als es ist, heißt: verlangen, daß Alles anders ist, – es enthält eine verwerfende Kritik des Ganzen. Aber Leben ist selbst ein solches Verlangen!

Feststellen, was ist, wie es ist, scheint etwas unsäglich Höheres, Ernsteres als jedes »So sollte es sein«, weil Letzteres, als menschliche Kritik und Anmaaßung von vornherein zur Lächerlichkeit verurtheilt erscheint. Es drückt sich darin ein Bedürfniß aus, welches verlangt, daß unserem menschlichen Wohlbefinden die Einrichtung der Welt entspricht; auch der Wille, so viel als möglich auf diese Aufgabe hin zu thun.

Andrerseits hat nur dieses Verlangen »so sollte es sein« jenes andre Verlangen, was ist, hervorgerufen. Das Wissen nämlich darum, was ist, ist bereits eine Consequenz jenes Fragens »wie? ist es möglich? warum gerade so?« Die Verwunderung über die Nicht-Übereinstimmung unsrer Wünsche und des Weltlaufs hat dahin geführt, den Weltlauf kennen zu lernen. Vielleicht steht es noch anders: vielleicht ist jenes »so sollte es sein« unser Weltüberwältigungs-Wunsch– –

 

334.

Heute, wo uns jedes »so und so soll der Mensch sein« eine kleine Ironie in den Mund legt, wo wir durchaus daran festhalten, daß man, trotz Allem, nur Das wird, was man ist (trotz Allem: will sagen Erziehung, Unterricht, Milieu, Zufälle und Unfälle), haben wir in Dingen der Moral auf eine curiose Weise das Verhältniß von Ursache und Folge umdrehen gelernt, – Nichts unterscheidet uns vielleicht gründlicher von den alten Moralgläubigen. Wir sagen z. B. nicht mehr »das Laster ist die Ursache davon, daß ein Mensch auch physiologisch zu Grunde geht«; wir sagen ebenso wenig »durch die Tugend gedeiht ein Mensch, sie bringt langes Leben und Glück«. Unsre Meinung ist vielmehr, daß Laster und Tugend keine Ursachen, sondern nur Folgen sind. Man wird ein anständiger Mensch, weil man ein anständiger Mensch ist: d. h. weil man als Kapitalist guter Instinkte und gedeihlicher Verhältnisse geboren ist ... Kommt man arm zur Welt, von Eltern her, welche in Allem nur verschwendet und Nichts gesammelt haben, so ist man »unverbesserlich«, will sagen reif für Zuchthaus und Irrenhaus ... Wir wissen heute die moralische Degenerescenz nicht mehr abgetrennt von der physiologischen zu denken: sie ist ein bloßer Symptomen-Complex der letzteren; man ist nothwendig schlecht, wie man nothwendig krank ist ... Schlecht: das Wort drückt hier gewisse Unvermögen aus, die physiologisch mit dem Typus der Degenerescenz verbunden sind: z. B. die Schwäche des Willens, die Unsicherheit und selbst Mehrheit der »Person«, die Ohnmacht auf irgend einen Reiz hin die Reaktion auszusetzen und sich zu »beherrschen«, die Unfreiheit vor jeder Art Suggestion eines fremden Willens. Laster ist keine Ursache; Laster ist eine Folge... Laster ist eine ziemlich willkürliche Begriffsabgrenzung, um gewisse Folgen der physiologischen Entartung zusammenzufassen. Ein allgemeiner Satz, wie ihn das Christenthum lehrte, »der Mensch ist schlecht«, würde berechtigt sein, wenn es berechtigt wäre, den Typus des Degenerirten als Normal-Typus des Menschen zu nehmen. Aber das ist vielleicht eine Übertreibung. Gewiß hat der Satz überall dort ein Recht, wo gerade das Christenthum gedeiht und obenauf ist: denn damit ist ein morbider Boden bewiesen, ein Gebiet für Degenerescenz.

 

335.

Man kann nicht genug Achtung vor dem Menschen haben, sobald man ihn daraufhin ansieht, wie er sich durchzuschlagen, auszuhalten, die Umstände sich zu Nutze zu machen, Widersacher niederzuwerfen versteht; sieht man dagegen auf den Menschen, sofern er wünscht, ist er die absurdeste Bestie ... Es ist gleichsam, als ob er einen Tummelplatz der Feigheit, Faulheit, Schwächlichkeit, Süßlichkeit, Untertänigkeit zur Erholung für seine starken und männlichen Tugenden brauchte: siehe die menschlichen Wünschbarkeiten, seine »Ideale«. Der wünschende Mensch erholt sich von dem Ewig-Werthvollen an ihm, von seinem Thun: im Nichtigen, Absurden, Werthlosen, Kindischen. Die geistige Armuth und Erfindungslosigkeit ist bei diesem so erfinderischen und auskunftsreichen Thier erschrecklich. Das »Ideal« ist gleichsam die Buße, die der Mensch zahlt, für den ungeheuren Aufwand, den er in allen wirklichen und dringlichen Aufgaben zu bestreiten hat. Hört die Realität auf, so kommt der Traum, die Ermüdung, die Schwäche: »das Ideal« ist geradezu eine Form von Traum, Ermüdung, Schwäche ... Die stärksten und die ohnmächtigsten Naturen werden sich gleich, wenn dieser Zustand über sie kommt: sie vergöttlichen das Aufhören der Arbeit, des Kampfes, der Leidenschaften, der Spannung, der Gegensätze, der »Realität« in summa ... des Ringens um Erkenntniß, der Mühe der Erkenntniß.

»Unschuld«: so heißen sie den Idealzustand der Verdummung; »Seligkeit«: den Idealzustand der Faulheit; »Liebe«: den Idealzustand des Heerdenthiers, das keinen Feind mehr haben will. Damit hat man Alles, was den Menschen erniedrigt und herunterbringt, in's Ideal erhoben.

 

336.

Die Begierde vergrößert Das, was man haben will: sie wächst selbst durch Nichterfüllung, – die größten Ideen sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen immer mehr Werth bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst: wenn die »moralischen Werthe« die höchsten Werthe geworden sind, so verräth dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist (– insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt ...

 

337.

Die Naivetät in Hinsicht auf die letzten »Wünschbarkeiten«, – während man das »Warum« des Menschen nicht kennt.

 

338.

Was ist die Falschmünzerei an der Moral? – Sie giebt vor, Etwas zu wissen, nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe

 

339.

Daß die Menschheit eine Gesammtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgend einem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird ... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprocessen, – sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander – und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall giebt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensproceß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls-Gebilde.

*

Unter der Gewalt des christlichen Vorurtheils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe; – über Das, was dem Einzelnen noth thue, gab es keinen Zweifel ... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden Einzelnen, wie in irgend welcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Werth, Sinn, Umkreis der Werthe war fest, unbedingt, ewig. Eins mit Gott ... Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurtheilt ...

Das Schwergewicht des Werthes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammniß! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung ... Für jede Seele gab es nur Eine Vervollkommnung; nur Ein Ideal; nur Einen Weg zur Erlösung ... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis in's Unsinnige... Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht...

*

Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigthuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Werth des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei...

Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt, erstens, zu wissen, daß die Annäherung an Einen Typus wünschbar ist; zweitens, zu wissen, welcher Art dieser Typus ist; drittens, daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist... Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsre Socialisten, selbst die Herren Utilitarier nicht gebracht. – Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des » Reiches Gottes« in die Zukunft verlegt, auf die Erde, in's Menschliche, – aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten...

 

340.

Verstecktere Formen des Cultus des christlichen Moral-Ideals. – Der weichliche und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern aufgebracht ist (– abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Cynische auch der »schönsten« Aspekte), eine Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur herauszulesen, – der Rousseau'sche Naturbegriff, wie als ob »Natur« Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei, – immer Cultus der christlichen Moral im Grunde. – Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge u.s.w. – Was Goethe an ihr haben wollte, – warum er Spinoza verehrte –. Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses Cultus...

Der weichliche und feige Begriff »Mensch« à la Comte und Stuart Mill, womöglich gar Cultus-Gegenstand... Es ist immer wieder der Cultus der christlichen Moral unter einem neuen Namen... Die Freidenker, z.B. Guyau.

Der weichliche und feige Begriff »Kunst« als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechtweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierry's): es ist immer wieder der Cultus des christlichen Moral-Ideals.

Und nun gar das ganze socialistische Ideal: Nichts als ein tölpelhaftes Mißverständniß jenes christlichen Moral-Ideals.

 

341.

Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.

A. Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt voller, runder, vollkommener gesehen wird –: das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung vorherrschend ( man giebt ab –). Der höchste Typus: das classische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgerathenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen.

B. Von Zuständen ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die »Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt, wo am meisten das Brutale, Thierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (– man rechnet ab, man wählt –): der »Weise«, »der Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik solcher Idealisten –: das anämische Ideal. Unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).

C. Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuthen oder wünschen (– man negirt, man vernichtet –): die Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Thatsächliche, Wider-Logische; der Zustand Dessen, der so urtheilt (– die »Verarmung« der Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man giebt nicht mehr –): das widernatürliche Ideal.

(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)

Die drei Ideale: A. Entweder eine Verstärkung des Lebens (– heidnisch), oder B. eine Verdünnung des Lebens (– anämisch), oder C. eine Verleugnung des Lebens (– widernatürlich). Die »Vergöttlichung« gefühlt: in der höchsten Fülle, – in der zartesten Auswahl, – in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.

 

342.

A. Der consequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und That; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hülf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt..., daß man eine fortwährende Praxis nöthig hat. Was ist hier erreicht? – Der buddhistische Typus oder die vollkommene Kuh.

Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d.h. wenn das Böse nicht um seiner selber willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgiebt zu Zuständen, welche uns wehe thun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).

Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff »Sünde«.

*

B. Der inconsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse, – man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Consequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse verabscheut). Thatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgend eine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als Gegner wenigstens imaginär wieder ein (der Teufel, die bösen Geister u.s.w.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spioniren gegen Alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: sodaß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden ... Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.

*

C. Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens – die tiefe Ruhe, der Vertheidigungszustand, die Burg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze: die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus. Der vollkommene Hornochs.

 

343.

Ein Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen a) durch eine untergeschobene Herkunft, b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen, c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutirbare Macht rede, d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale, e) durch eine lügnerische Lehre des Vortheils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihülfe eines mächtigen Gottes u.s.w. – Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.

Hat man alle Defensiv- und Schutz-Maaßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst, – sie sind allesammt »unmoralisch«.

Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und Wachsthum giebt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien.

 

344.

Sich selbst nicht zu erkennen: Klugheit des Idealisten. Der Idealist: ein Wesen, welches Gründe hat, über sich dunkel zu bleiben, und das klug genug ist, sich auch über diese Gründe noch dunkel zu bleiben.

 

345.

Tendenz der Moral-Entwicklung. – Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunter zu, ziehen: Hauptmittel das moralische Urtheil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen.

Der Kampf der Vielen gegen die Wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken –: eine seiner feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen präsentiren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen –

 

346.

1) Der angeblich reine Erkenntnißtrieb aller Philosophen ist commandirt durch ihre Moral-»Wahrheiten«, – ist nur scheinbar unabhängig ...

2) Die »Moralwahrheiten« » so soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.

 

347.

Moral als Verführungsmittel. – »Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die ›Verderbniß der Menschen‹ zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen, – man muß sie vernichten« –: die Logik Rousseau's (vergl. die Logik Pascal's, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht).

Man vergleiche die verwandte Logik Luther's. In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfniß als moralisch-religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu heiligen... (die »Sündhaftigkeit Israels«: Grundlage für die Machtstellung der Priester).

Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus. Immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit u.s.w. Bei Christus scheint der Jubel des Volkes als Ursache seiner Hinrichtung; eine antipriesterliche Bewegung von vornherein. Selbst bei den Antisemiten ist es immer das gleiche Kunststück: den Gegner mit moralischen Verwerfungsurtheilen heimzusuchen und sich die Rolle der strafenden Gerechtigkeit vorzubehalten.

 

348.

Consequenz des Kampfes: der Kämpfende sucht seinen Gegner zu seinem Gegensatz umzubilden, – in der Vorstellung natürlich. Er sucht an sich bis zu dem Grade zu glauben, daß er den Muth der »guten Sache« haben kann (als ob er die gute Sache sei); wie als ob die Vernunft, der Geschmack, die Tugend von seinem Gegner bekämpft werde... Der Glaube, den er nöthig hat, als stärkstes Defensiv- und Aggressiv-Mittel, ist ein Glaube an sich, der sich aber als Glaube an Gott zu mißverstehen weiß: – sich nie die Vortheile und Nützlichkeiten des Sieges vorstellen, sondern immer nur den Sieg um des Sieges willen, als »Sieg Gottes« –. Jede kleine im Kampf befindliche Gemeinschaft (selbst Einzelne) sucht sich zu überreden: » wir haben den guten Geschmack, das gute Urtheil und die Tugend für uns« ... Der Kampf zwingt zu einer solchen Übertreibung der Selbstschätzung ...

 

349.

Welcher Art von bizarrem Ideal man auch folgt (z. B. als »Christ« oder als »freier Geist« oder als »Immoralist« oder als Reichsdeutscher –), man soll nicht fordern, daß es das Ideal sei: denn damit nähme man ihm den Charakter des Privilegiums, des Vorrechts. Man soll es haben, um sich auszuzeichnen, nicht um sich gleichzusetzen.

Wie kommt es trotzdem, daß die meisten Idealisten sofort für ihr Ideal Propaganda machen, wie als ob sie kein Recht haben könnten auf das Ideal, falls nicht Alle es anerkennten? – Das thun z. B. alle jene muthigen Weiblein, die sich die Erlaubniß nehmen, Latein und Mathematik zu lernen. Was zwingt sie dazu? Ich fürchte, der Instinkt der Heerde, die Furchtsamkeit vor der Heerde: sie kämpfen für die »Emancipation des Weibes«, weil sie unter der Form einer generösen Thätigkeit, unter der Flagge des »Für Andere« ihren kleinen Privat-Separatismus am klügsten durchsetzen.

Klugheit der Idealisten, nur Missionäre und »Vertreter« eines Ideals zu sein: sie »verklären« sich damit in den Augen Derer, welche an Uneigennützigkeit und Heroismus glauben. Indeß: der wirkliche Heroismus besteht darin, daß man nicht unter der Fahne der Aufopferung, Hingebung, Uneigennützigkeit kämpft, sondern gar nicht kämpft ... »So bin ich; so will ich's: – hol' euch der Teufel!« –

 

350.

Jedes Ideal setzt Liebe und Haß, Verehrung und Verachtung voraus. Entweder ist das positive Gefühl das primum mobile oder das negative Gefühl. Haß und Verachtung sind z. B. bei allen Ressentiments-Idealen das primum mobile.

B. Kritik des »guten Menschen«, des Heiligen etc.

 

351.

Der »gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-thun und Nein-thun zu einander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt, – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann ... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Conception eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summirend. – Eine solche Werthungsweise glaubt sich damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Conception »des Guten« angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annullirt ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, Letzteres soll verschwinden und Ersteres soll übrig bleiben, das Eine hat ein Recht zu sein, das Andere sollte gar nicht da sein ... Was wünscht da eigentlich?

Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten« zu reduciren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele« zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses thue, daß er unter keinen Umstanden schade, schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden der Seele« als chronisches Übel.

Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind ( nicht als complementäre Werthbegriffe, was die Wahrheit wäre),sie räth die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt, – sie verneint thatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denk es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen entgegengesetzten Werth-Antrieben ein Ende gemacht wird. – Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis, als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel.

Und selbst hier noch behält das Leben Recht, – das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß – : was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Nein thun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint, mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, Nein zu sagen, Nein zu thun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«! – und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerthen, vom Ewig-zu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« steht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Tichten und Trachten noch das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Werth das Leben verurtheilt ... Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht. Und so concipirt er ein anderes Leben! ...

 

352.

In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nützen und die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern; so bei den Hebräern. So bei allen stark gerathenen Rassen.

Es ist ein verhängnißvoller Schritt, wenn man dualistisch die Kraft zum Einen von der zum Andern trennt ... Damit wird die Moral zur Giftmischerin des Lebens ...

 

353.

Zur Kritik des guten Menschen. – Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, – sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich werthindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Werth bekommen? Liegt der Werth dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vortheil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)?

Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurtheilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften Werth haben sollen: oder ob sie an sich selbst Werth haben ... Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurtheilen, bekämpfen, verneinen heißt (– Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit –)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Consequenz solcher Eigenschaften verurtheilt? – Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen dieser zweiten Eigenschaften nicht existiren? – Das wird jedenfalls geglaubt ... Aber hier steckt der Irrthum, die Kurzsichtigkeit, die Bornirtheit des Winkel-Egoismus.

Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vortheil auf Seiten der Rechtschaffenen ist, – sodaß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmuthigt würden und langsam ausstürben?

Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«, d. h. langweiligste Species Mensch übrig bliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«?

Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nöthig, – und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat.

Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines »nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird – als das »ideale Heerdenthier«, bestenfalls Heerden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften verlangt.

 

354.

Der »gute Mensch« als Tyrann. – Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen Maaßstab des Lebens gemacht hat; daß sie – statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst, im Problem des Wachsthums und der Erschöpfung, das Maaß zu finden – die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D. h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als Mittel: sodaß sie jetzt als Ziele ihm in's Bewußtsein treten, als Maaßstäbe von Zielen ... d. h. eine bestimmte Species Mensch behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisirt ... Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen einsieht. Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen –

 

355.

»Die guten Leute sind alle schwach: sie sind gut, weil sie nicht stark genug sind, böse zu sein« sagte du Latuka-Häuptling Comorro zu Baker. »Für schwache Herzen giebt es kein Unglück« sagt man im Russischen.

 

356.

Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.

 

357.

Die Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung unter religiöse Mäntel; ihre Verklärung durch die Moral.

 

358.

Der ideale Sklave (der »gute Mensch«). – Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der giebt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn Alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.

*

Atavismus: wonnevolles Gefühl, einmal unbedingt gehorchen zu können.

*

Fleiß, Bescheidenheit, Wohlwollen, Mäßigkeit sind ebenso viele Verhinderungen der souveränen Gesinnung, der großen Erfindsamkeit, der heroischen Zielesetzung, des vornehmen Für-sich-seins.

*

Es handelt sich nicht um ein Vorangehn (– damit ist man bestenfalls Hirt, d. h. oberster Nothbedarf der Heerde), sondern um ein Für-sich-gehen-lönnen, um ein Anders-sein-können.

 

359.

Man muß zusammenrechnen, was Alles sich gehäuft hatte, als Folge der höchsten moralischen Idealität: wie sich fast alle sonstigen Werthe um das Ideal krystallisirt hatten. Das beweist, daß es am längsten, am stärksten begehrt worden ist, – daß es nicht erreicht worden ist: sonst würde es enttäuscht haben (resp. eine mäßigere Werthung nach sich gezogen haben).

Der Heilige als die mächtigste Species Mensch –: diese Idee hat den Werth der moralischen Vollkommenheit so hoch gehoben. Man muß die gesammte Erkenntniß sich bemüht denken, zu beweisen, daß der moralischste Mensch der mächtigste, göttlichste ist. – Die Überwältigung der Sinne, der Begierden – Alles erregte Furcht, – das Widernatürliche erschien als das Übernatürliche, Jenseitige ...

 

360.

Franz von Assisi: verliebt, populär, Poet, kämpft gegen die Rangordnung der Seelen zu Gunsten der Niedersten. Leugnung der Seelenhierarchie – »vor Gott Alle gleich«.

Die volksthümlichen Ideale: der gute Mensch, der Selbstlose, der Heilige, der Weise, der Gerechte. Oh Marc Aurel!

 

361.

Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (sammt Dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale ... Die Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswerthesten Dingen, die es giebt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen, – sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, – er will nur Herr über sie werden.

C. Von der Verleumdung der sogenannten bösen Eigenschaften.

 

362.

Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher ihn überall herauszog und damit den Werth der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts Anderes geben könne als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor Allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist u.s.w. Die falsche Werthschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse 1) Derer, denen genützt, geholfen wird, der Heerde; 2) enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens; 3) möchte sie die prachtvollsten und wohlgerathensten Menschen verneinen; Furcht; 4) will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger; 5) bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den werthvollsten Menschen.

 

363.

Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger, als seinen Vortheil.

 

364.

Egoismus! Aber noch Niemand hat gefragt: was für ein ego? Sondern Jeder setzt unwillkürlich das ego jedem ego gleich. Das sind die Consequenzen der Sklaven-Theorie vom suffrage universel und der »Gleichheit«.

 

365.

Die Handlung eines höheren Menschen ist unbeschreiblich vielfach in ihrer Motivirung: mit irgend einem solchen Wort wie »Mitleid« ist gar nichts gesagt. Das Wesentlichste ist das Gefühl »wer bin ich? wer ist der Andere im Verhältniß zu mir?« – Werthurtheile fortwährend thätig.

 

366.

Daß sich die Geschichte sämmtlicher Phänomene der Moralität dermaaßen vereinfachen lasse, wie es Schopenhauer glaubte – nämlich so, daß als Wurzel jeder bisherigen moralischen Regung das Mitleiden wieder zu finden sei – zu diesem Grade von Widersinn und Naivetät konnte nur ein Denker kommen, der von allem historischen Instinkte entblößt war und in der wunderlichsten Weise selbst jener starken Schulung zur Historie, wie sie die Deutschen von Herder bis Hegel durchgemacht haben, entschlüpft war.

 

367.

Mein »Mitleid«. – Dies ist ein Gefühl, für das mir kein Name genügt: ich empfinde es, wo ich eine Verschwendung kostbarer Fähigkeiten sehe, z. B. beim Anblicke Luthers: welche Kraft und was für abgeschmackte Hinterwäldler-Probleme! (zu einer Zeit, wo in Frankreich schon die tapfere und frohmüthige Skepsis eines Montaigne möglich war!) Oder wo ich, durch die Einwirkung eines Blödsinns von Zufälligkeit, Jemanden hinter Dem zurückbleiben sehe, was aus ihm hätte werden können. Oder gar bei einem Gedanken an das Loos der Menschheit, wie wenn ich, mit Angst und Verachtung, der europäischen Politik von heute einmal zuschaue, welche, unter allen Umständen, auch an dem Gewebe aller Menschen-Zukunft arbeitet. Ja, was könnte aus »dem Menschen« werden, wenn – –! Dies ist meine Art »Mitleid«; ob es schon keinen Leidenden giebt, mit dem ich da litte.

 

368.

Das Mitleid eine Verschwendung der Gefühle, ein der moralischen Gesundheit schädlicher Parasit, »es kann unmöglich Pflicht sein, die Uebel in der Welt zu vermehren«. Wenn man bloß aus Mitleid wohlthut, so thut man eigentlich sich selbst wohl und nicht dem Andern. Mitleid beruht nicht auf Maximen, sondern auf Affekten; es ist pathologisch. Das fremde Leiden steckt uns an, Mitleid ist eine Ansteckung.

 

369.

Es giebt gar keinen Egoismus, der bei sich stehen bliebe und nicht übergriffe, – es giebt folglich jenen »erlaubten«, »moralisch indifferenten« Egoismus gar nicht, von dem ihr redet.

»Man fördert sein Ich stets auf Kosten des Andern«; »Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens« – wer das nicht begreift, hat bei sich auch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit gethan.

 

370.

Das »Subjekt« ist nur eine Fiktion: es giebt das ego gar nicht, von dem geredet wird, wenn man den Egoismus tadelt.

 

371.

Das »Ich« – welches mit der einheitlichen Verwaltung unsres Wesens nicht eins ist! – ist ja nur eine begriffliche Synthesis – also giebt es gar kein Handeln aus »Egoismus«.

 

372.

Da jeder Trieb unintelligent ist, so ist »Nützlichkeit« gar kein Gesichtspunkt für ihn. Jeder Trieb, indem er thätig ist, opfert Kraft und andere Triebe: er wird endlich gehemmt; sonst würde er Alles zu Grunde richten, durch Verschwendung. Also: das »Unegoistische«, Aufopfernde, Unkluge ist nichts Besonderes – es ist allen Trieben gemeinsam –, sie denken nicht an den Nutzen des ganzen ego ( weil sie nicht denken!), sie handeln wider unseren Nutzen, gegen das ego: und oft für das ego – unschuldig in Beidem!

 

373.

Ursprung der Moral-Werthe. – Der Egoismus ist so viel werth, als Der physiologisch werth ist, der ihn hat.

Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, Etwas, das mit der Geburt beginnt). Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Werth in der That außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachsthums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgerathnen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus giebt.) Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung, so kommt ihm wenig Werth zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig wie möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathnen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus (– der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert –) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende, verkümmernde Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in That und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werthe sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Ressentiments, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen, sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demuth und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergiebt sich, warum die herrschenden Classen (oder Rassen) und Einzelnen jederzeit den Cultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.

Das Übergewicht einer altruistischen Werthungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißrathen-sein. Das Werthurtheil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich bin nicht viel werth«: ein bloß physiologisches Werthurtheil; noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungscentren). Dies Werthurtheil übersetzt sich, je nach der Cultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urtheil (– die Vorherrschaft religiöser oder moralischer Urtheile ist immer ein Zeichen niedriger Cultur –): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Werth« überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Socialist, der Anarchist, der Nihilist, – indem sie ihr Dasein als Etwas empfinden, an dem Jemand schuld sein soll, sind sie damit immer noch die Nächstverwandten des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißrathen besser zu ertragen glaubt, wenn er Jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiments erscheint hier in beiden Fällen als Mittel, es auszuhallen, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eignen (wie beim Christen), sei es gegen den fremden (wie beim Socialisten), ergiebt sich dergestalt als ein Werthurtheil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle ... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiments im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eignen oder eines fremden)noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Cultus des Altruismus ist eine specifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.

Wenn der Socialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«, »Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Cultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; – befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: die »Welt« wird von ihm verurtheilt, verleumdet, verflucht, – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohlthut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.

 

374.

Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre Gegner bis zur Caricatur – zum Mindesten in ihrer Vorstellung – herunterzubringen und gleichsam auszuhungern. Eine solche Caricatur ist z. B. unser » Verbrecher«. Inmitten der römisch-aristokratischen Ordnung der Werthe war der Jude zur Caricatur reducirt. Unter Künstlern wird der »Biedermann und bourgeois« zur Caricatur; unter Frommen der Gottlose; unter Aristokraten der Volksmann. Unter Immoralisten wird es der Moralist: Plato zum Beispiel wird bei mir zur Caricatur.

 

375.

Alle die Triebe und Mächte, welche von der Moral gelobt werden, ergeben sich mir als essentiell gleich mit den von ihr verleumdeten und abgelehnten: z. B. Gerechtigkeit als Wille zur Macht, Wille zur Wahrheit als Mittel des Willens zur Macht.

 

376.

Die Verinnerlichung des Menschen. Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach Nutzen versagt wird, sich nach Innen zu schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination. Das Bedürfniß nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennen-wollen ist Habsucht und Erobern; im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen es Kampf giebt u. s. w.

 

377.

Die Falschheit. – Jeder souveräne Instinkt hat die anderen zu seinen Wertzeugen, Hofstaat, Schmeichlern: er läßt sich nie bei seinem häßlichen Namen nennen: und er duldet keine anderen Lobsprüche, bei denen er nicht indirekt mit gelobt wird. Um jeden souveränen Instinkt herum krystallisirt sich alles Loben und Tadeln überhaupt zu einer festen Ordnung und Etiquette. – Dies die Eine Ursache der Falschheit.

Jeder nach Herrschaft strebende, aber unter einem Joch befindliche Instinkt braucht für sich, zur Unterstützung seines Selbstgefühls, zur Stärkung, alle schönen Namen und anerkannten Werthe: sodaß er sich hervorwagt zumeist unter dem Namen des von ihm bekämpften »Herren«, von dem er frei werden will (z. B. unter der Herrschaft christlicher Werthe die fleischliche Begierde oder die Machtbegierde). – Dies die andere Ursache der Falschheit.

In beiden Fällen herrscht vollkommene Naivetät: die Falschheit tritt nicht in's Bewußtsein. Es ist ein Zeichen von gebrochenem Instinkt, wenn der Mensch das Treibende und dessen »Ausdruck« (»die Maske«) getrennt sieht – ein Zeichen von Selbstwiderspruch, und viel weniger siegreich. Die absolute Unschuld in der Gebärde, im Wort, im Affekt, das »gute Gewissen« in der Falschheit, die Sicherheit, mit der man nach den größten und prachtvollsten Worten und Stellungen faßt – Alles nothwendig zum Siege.

Im andern Falle: bei extremer Hellsichtigkeit bedarf es Genie des Schauspielers und ungeheure Zucht in der Selbstbeherrschung, um zu siegen. Deshalb sind Priester die geschicktesten bewußten Heuchler; sodann Fürsten, denen ihr Rang und ihre Abkunft eine Art von Schauspielerei großzüchtet. Drittens Gesellschafts-Menschen, Diplomaten. Viertens Frauen. Grundgedanke: Die Falschheit erscheint so tief, so allseitig, der Wille ist dergestalt gegen das direkte Sich-selbst-Erkennen und Bei-Namen-Nennen gerichtet, daß die Vermuthung sehr große Wahrscheinlichkeit hat: Wahrheit, Wille zur Wahrheit sei eigentlich etwas ganz Andres und auch nur eine Verkleidung. (Das Bedürfniß nach Glauben ist der größte Hemmschuh der Wahrhaftigkeit.)

 

378.

»Du sollst nicht lügen«: man fordert Wahrhaftigkeit. Aber die Anerkennung des Thatsächlichen (das Sich-nicht-belügen-lassen) ist gerade bei den Lügnern am größten gewesen: sie erkannten eben auch das Unthatsächliche dieser populären »Wahrhaftigkeit«. Es wird beständig zu viel oder zu wenig gesagt: die Forderung sich zu entblößen mit jedem Worte, das man spricht, ist eine Naivetät.

Man sagt, was man denkt, man ist »wahrhaft« nur unter Voraussetzungen: nämlich unter der, verstanden zu werden ( inter pares), und zwar wohlwollend verstanden zu werden ( noch einmal inter pares). Gegen das Fremde verbirgt man sich: und wer Etwas erreichen will, sagt was er über sich gedacht haben will, nicht aber was er denkt. (»Der Mächtige lügt immer.«)

 

379.

Die große nihilistische Falschmünzerei unter klugem Mißbrauch moralischer Werthe:

a) Liebe als Entpersönlichung; insgleichen Mitleid

b) Nur der entpersönlichte Intellekt (»der Philosoph«) erkennt die Wahrheit, »das wahre Sein und Wesen der Dinge«.

c) Das Genie, die großen Menschen sind groß, weil sie nicht sich selbst und ihre Sache suchen: der Werth des Menschen wächst im Verhältniß dazu, als er sich selbst verleugnet.

d) Die Kunst als Werk des » reinen willensfreien Subjekts«; Mißverständniß der »Objektivität«.

e) Glück als Zweck des Lebens; Tugend als Mittel zum Zweck.

Die pessimistische Verurtheilung des Lebens bei Schopenhauer ist eine moralische. Übertragung der Heerden-Maaßstäbe in's Metaphysische.

Das »Individuum« sinnlos, folglich ihm einen Ursprung im »An-sich« gebend (und eine Bedeutung seines Daseins als »Verirrung«); Eltern nur als »Gelegenheitsursache«. – Es rächt sich, daß von der Wissenschaft das Individuum nicht begriffen war: es ist das ganze bisherige Leben in Einer Linie, und nicht dessen Resultat.

 

380.

1. Die principielle Fälschung der Geschichte; damit sie den Beweis für die moralische Werthung abgibt:

a) Niedergang eines Volkes und die Corruption;
b) Aufschwung eines Volkes und die Tugend;
c) Höhepunkt eines Volkes (»seine Cultur«) als Folge der moralischen Höhe.

2. Die principielle Fälschung der großen Menschen, der großen Schaffenden, der großen Zeiten: man will, daß der Glaube das Auszeichnende der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die »Unmoralität«, die Erlaubniß, sich eines Glaubens entschlagen zu können, gehört zur Größe (Cäsar, Friedrich der Große, Napoleon; aber auch Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe). Man unterschlägt immer die Hauptsache, ihre »Freiheit des Willens« –

 

381.

Große Lüge in der Historie: als ob die Verderbniß der Kirche die Ursache der Reformation gewesen sei! Nur der Vorwand, die Selbstvorlügnerei seitens ihrer Agitatoren – es waren starke Bedürfnisse da, deren Brutalität eine geistliche Bemäntelung sehr nöthig hatten.

 

382.

Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurtheilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genie's, nicht sehen wollen; er hat künstlich Das, was er allein ehrte, den moralischen Werth der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten Thätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens ...

Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Werthung: solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere Species als der unmoralische, eine schwächere; ja – er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Copie, eine gute Copie bestenfalls, – das Maaß seines Werthes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung ... Ich schätze die Macht eines Willens darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird, als bisher...

Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginirte, war, zur Erkenntniß zu kommen, daß Alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon thut ... Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne, – er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Werth (als Kunst z. B.) wäre es, die moralische Umkehr anzurathen, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerthe. –

Neben Schopenhauer will ich Kant charakterisiren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethe's Stelle über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit...

Ich brauche eine Kritik des Heiligen ...

Hegel's Werth. »Leidenschaft«. Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen.

Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß Alles, was werthvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-werthvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Werth: z. B. Rousseau's Frage in Betreff der Civilisation »wird durch sie der Mensch besser?« – eine komische Frage, da das Gegentheil auf der Hand liegt und eben Das ist, was zu Gunsten der Civilisation redet.

 

383.

Die religiöse Moral. – Der Affekt, die große Begierde, die Leidenschaften der Macht, der Liebe, der Rache, des Besitzes –: die Moralisten wollen sie auslöschen, herausreißen, die Seele von ihnen »reinigen«.

Die Logik ist: die Begierden richten oft großes Unheil an, – folglich sind sie böse, verwerflich. Der Mensch muß los von ihnen kommen: eher kann er nicht ein guter Mensch sein ...

Das ist dieselbe Logik wie: »ärgert dich ein Glied, so reiße es aus«. In dem besonderen Fall, wie es jene gefährliche »Unschuld vom Lande«, der Stifter des Christentums, seinen Jüngern zur Praxis empfahl, im Fall der geschlechtlichen Irritabilität, folgt leider dies nicht nur, daß ein Glied fehlt, sondern daß der Charakter des Menschen entmannt ist ... Und das Gleiche gilt von dem Moralisten-Wahnsinn, welcher, statt der Bändigung, die Exstirpation der Leidenschaften verlangt.

Ihr Schluß ist immer: erst der entmannte Mensch ist der gute Mensch.

Die großen Kraftquellen, jene oft so gefährlich und überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele, statt ihre Macht in Dienst zu nehmen und zu ökonomisiren, will diese kurzsichtigste und verderblichste Denkweise, die Moral-Denkweise, versiegen machen.

 

384.

Überwindung der Affekte? – Nein, wenn es Schwäche und Vernichtung derselben bedeuten soll. Sondern in Dienst nehmen: wozu gehören mag, sie lange zu tyrannisiren (nicht erst als Einzelne, sondern als Gemeinde, Rasse u. s. w.). Endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will.

 

385.

Die Intoleranz der Moral ist ein Ausdruck von der Schwäche des Menschen: er fürchtet sich vor seiner »Unmoralität«, er muß seine stärksten Triebe verneinen, weil er sie noch nicht zu benutzen weiß. So liegen die fruchtbarsten Striche der Erde am längsten unbebaut: – die Kraft fehlt, die hier Herr werden könnte ...

 

386.

Es giebt ganz naive Völker und Menschen, welche glauben, ein beständig gutes Wetter sei etwas Wünschbares: sie glauben noch heute in rebus moralibus, der »gute Mensch« allein und Nichts als der »gute Mensch« sei etwas Wünschbares – und eben dahin gehe der Gang der menschlichen Entwicklung, daß nur er übrig bleibe (und allein dahin müsse man alle Absicht richten –). Das ist im höchsten Grade unökonomisch gedacht und, wie gesagt, der Gipfel des Naiven, Nichts als Ausdruck der Annehmlichkeit, die der »gute Mensch« macht (– er erweckt keine Furcht, er erlaubt die Ausspannung, er giebt, was man nehmen kann).

Mit einem überlegnen Auge wünscht man gerade umgekehrt die immer größere Herrschaft des Bösen, die wachsende Freiwerdung des Menschen von der engen und ängstlichen Moral-Einschnürung, das Wachsthum der Kraft, um die größten Naturgewalten – die Affekte

 

387.

Die ganze Auffassung vom Range der Leidenschaften: wie als ob das Rechte und Normale sei, von der Vernunft geleitet zu werden, – während die Leidenschaften das Unnormale, Gefährliche, Halbthierische seien, überdies, ihrem Ziele nach, nichts Anderes als Lust-Begierden...

Die Leidenschaft ist entwürdigt 1) wie als ob sie nur ungeziemender Weise, und nicht nothwendig und immer, das mobile sei, 2) insofern sie Etwas in Aussicht nimmt, was keinen hohen Werth hat, ein Vergnügen ...

Die Verkennung von Leidenschaft und Vernunft, wie als ob letztere ein Wesen für sich sei und nicht vielmehr ein Verhältnißzustand verschiedener Leidenschaften und Begehrungen; und als ob nicht jede Leidenschaft ihr Quantum Vernunft in sich hätte ...

 

388.

Wie unter dem Druck der asketischen Entselbstungs-Moral gerade die Affekte der Liebe, der Güte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, der Großmuth, des Heroismus mißverstanden werden mußten:

Es ist der Reichthum an Person, die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und göttliche Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie auch das Herr-werden-wollen, Übergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf Alles zu haben. Die nach gemeiner Auffassung entgegengesetzten Gesinnungen sind vielmehr Eine Gesinnung; und wenn man nicht fest und wacker in seiner Haut sitzt, so hat man Nichts abzugeben und Hand auszustrecken und Schutz und Stab zu sein ...

Wie hat man diese Instinkte so umdeuten können, daß der Mensch als werthvoll empfindet, was seinem Selbst entgegengeht? wenn er sein Selbst einem andern Selbst preisgiebt! Oh über die psychologische Erbärmlichkeit und Lügnerei, welche bisher in Kirche und kirchlich angekränkelter Philosophie das große Wort geführt hat!

Wenn der Mensch sündhaft ist, durch und durch, so darf er sich nur hassen. Im Grunde dürfte er auch seine Mitmenschen mit seiner andern Empfindung behandeln wie sich selbst; Menschenliebe bedarf einer Rechtfertigung, – sie liegt darin, daß Gott sie befohlen hat. – Hieraus folgt, daß alle die natürlichen Instinkte des Menschen (zur Liebe u.s.w.) ihm an sich unerlaubt scheinen und erst, nach ihrer Verleugnung, auf Grund eines Gehorsams gegen Gott wieder zu Recht kommen... Pascal, der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums, gieng so weit! man erwäge sein Verhältniß zu seiner Schwester. »Sich nicht lieben machen« schien ihm christlich.

 

389.

Erwägen wir, wie theuer sich ein solcher moralischer Kanon (»ein Ideal«) bezahlt macht. (Seine Feinde sind – nun? Die »Egoisten«.)

Der melancholische Scharfsinn der Selbstverkleinerung in Europa (Pascal, Larochefoucauld), – die innere Schwächung, Entmuthigung, Selbstannagung der Nicht-Heerdenthiere, –

die beständige Unterstreichung der Mittelmäßigkeits-Eigenschaften als der werthvollsten (Bescheidenheit, in Reih und Glied, die Werkzeug-Natur), –

das schlechte Gewissen eingemischt in alles Selbstherrliche, Originale:

– die Unlust also: – also Verdüsterung der Welt der Stärker-Gerathenen!

– das Heerdenbewußtsein in die Philosophie und Religion übertragen: auch seine Ängstlichkeit.

– Lassen wir die psychologische Unmöglichkeit einer rein selbstlosen Handlung außer Spiel!

 

390.

Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Werth darstellt als der »wünschbare« Mensch irgend eines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen absurde und gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit« solchen Ursprungs bis jetzt den Werth des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgewißheit herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht; daß die Fähigkeit des Menschen, Werthe anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem thatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren« Werthe des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die eigentlich welt- und menschverleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität, die große Verführung zum Nichts war...

D). Kritik der Worte Besserung. Vervollkommnung, Erhöhung.

 

391.

Maaßstab, wonach der Werth der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist.

Die übersehene Grundthatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch.

Homo natura. Der »Wille zur Macht«.

 

392.

Die Moralwerthe als Scheinwerthe, verglichen mit den physiologischen.

 

393.

Das Nachdenken über das Allgemeinste ist immer rückständig: die letzten »Wünschbarkeiten« über den Menschen z.B. sind von den Philosophen eigentlich niemals als Problem genommen worden. Die » Verbesserung« des Menschen wird von ihnen allen naiv angesetzt, wie als ob wir durch irgend eine Intuition über das Fragezeichen hinausgehoben wären, warum gerade »verbessern«? Inwiefern ist es wünschbar, daß der Mensch tugendhafter wird? oder klüger? oder glücklicher? Gesetzt, daß man nicht schon das »Warum?« des Menschen überhaupt kennt, so hat jede solche Absicht keinen Sinn; und wenn man das Eine will, wer weiß? vielleicht darf man dann das Andere nicht wollen? Ist die Vermehrung der Tugendhaftigkeit zugleich verträglich mit einer Vermehrung der Klugheit und Einsicht? Dubito; ich werde nur zu viel Gelegenheit haben, das Gegentheil zu beweisen. Ist die Tugendhaftigkeit als Ziel im rigorosen Sinne nicht tatsächlich bisher im Widerspruch mit dem Glücklich-werden gewesen? braucht sie andererseits nicht das Unglück, die Entbehrung und Selbstmißhandlung als notwendiges Mittel? Und wenn die höchste Einsicht das Ziel wäre, müßte man nicht eben damit die Steigerung des Glücks ablehnen? und die Gefahr, das Abenteuer, das Mißtrauen, die Verführung als Weg zur Einsicht wählen?... Und will man Glück, nun, so muß man vielleicht zu den »Armen des Geistes« sich gesellen.

 

394.

Die allgemeine Täuschung und Täuscherei im Gebiete der sogenannten moralischen Besserung. Wir glauben nicht daran, daß ein Mensch ein Anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d. h. wenn er nicht, wie es oft genug vorkommt, eine Vielheit von Personen, mindestens von Ansätzen zu Personen, ist. In diesem Falle erreicht man, daß eine andre Rolle in den Vordergrund tritt, daß »der alte Mensch« zurückgeschoben wird... Der Anblick ist verändert, nicht das Wesen... Daß Jemand aufhört, gewisse Handlungen zu thun, ist ein bloßes fatum brutum, das die verschiedenste Deutung zuläßt. Selbst Das ist nicht immer damit erreicht, daß es die Gewöhnung an ein gewisses Thun aufhebt, den letzten Grund dazu nimmt. Wer aus Fatum und Fähigkeit Verbrecher ist, verlernt Nichts, sondern lernt immer hinzu: und eine lange Entbehrung wirkt sogar als Tonicum auf sein Talent... Für die Gesellschaft freilich hat gerade Das allein ein Interesse, daß Jemand gewisse Handlungen nicht mehr thut: sie nimmt ihn zu diesem Zwecke aus den Bedingungen heraus, wo er gewisse Handlungen thun kann: das ist jedenfalls weiser, als das Unmögliche versuchen, nämlich die Fatalität seines So-und-So-seins zu brechen. Die Kirche – und sie hat Nichts gethan, als die antike Philosophie hierin abzulösen und zu beerben –, von einem andern Werthmaaße ausgehend und eine »Seele«, das »Heil« einer Seele retten wollend, glaubt einmal an die sühnende Kraft der Strafe und sodann an die auslöschende Kraft der Vergebung: Beides sind Täuschungen des religiösen Vorurtheils, – die Strafe sühnt nicht, die Vergebung löscht nicht aus, Gethanes wird nicht ungethan gemacht. Damit, daß Jemand Etwas vergißt, ist bei Weitem nicht erwiesen, daß Etwas nicht mehr ist... Eine That zieht ihre Consequenzen, im Menschen und außer dem Menschen, gleichgültig ob sie als bestraft, »gesühnt«, »vergeben« und »ausgelöscht« gilt, gleichgültig ob die Kirche inzwischen ihren Thäter selbst zu einem Heiligen avancirt hat. Die Kirche glaubt an Dinge, die es nicht giebt, an »Seelen«; sie glaubt an Wirkungen, die es nicht giebt, an göttliche Wirkungen; sie glaubt an Zustände, die es nicht giebt, an Sünde, an Erlösung, an das Heil der Seele: sie bleibt überall bei der Oberfläche stehn, bei Zeichen, Gebärden, Worten, denen sie eine arbiträre Auslegung giebt. Sie hat eine zu Ende gedachte Methodik der psychologischen Falschmünzerei.

 

395.

– »Die Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«, im Großen betrachtet, z. B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität – unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge, – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? ... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ›unmoralischer‹ wird er auch.« Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade Das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende »Civilisirung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »Jeder Jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber auch so wenig »Wohlgefallen an einander«! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Thaten« mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten? ...

 

396.

Die Priester – und mit ihnen die Halbpriester, die Philosophen – haben zu allen Zeiten eine Lehre Wahrheit genannt, deren erzieherische Wirkung wohlthätig war oder wohlthätig schien, – die »besserte«. Sie gleichen damit einem naiven Heilkünstler und Wundermann aus dem Volke, der, weil er ein Gift als Heilmittel erprobt hat, leugnet, daß dasselbe ein Gift ist ... »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen – nämlich unsre ›Wahrheiten‹«: das ist das Priester-Raisonnement bis heute noch. Sie haben selbst verhängnißvoll genug ihren Scharfsinn dahin verschwendet, dem »Beweis der Kraft« (oder »aus den Früchten«) den Vorrang, ja die Entscheidung über alle Formen des Beweises zu geben. »Was gut macht, muß gut sein; was gut ist, kann nicht lügen« – so schließen sie unerbittlich –: »was gute Früchte trägt, das muß folglich wahr sein: es giebt kein anderes Criterium der Wahrheit« ...

Sofern aber das »Besser-machen« als Argument gilt, muß das Schlechter-machen als Widerlegung gelten. Man beweist den Irrthum damit als Irrthum, daß man das Leben Derer prüft, die ihn vertreten: ein Fehltritt, ein Laster widerlegt... Diese unanständigste Art der Gegnerschaft, die von Hinten und Unten, die Hunde-Art, ist insgleichen niemals ausgestorben: die Priester, sofern sie Psychologen sind, haben nie etwas interessanter gefunden, als an den Heimlichkeiten ihrer Gegner zu schnüffeln, – sie beweisen ihr Christenthum damit, daß sie bei der »Welt« nach Schmutz suchen. Voran bei den Ersten der Welt, bei den »Genies«: man erinnere sich, wie jederzeit in Deutschland gegen Goethe angekämpft worden ist (Klopstock und Herder giengen hierin mit »gutem Beispiel« voran, – Art läßt nicht von Art).

 

397.

Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die That Moral zu machen... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Muth nicht zur Unmoralität der That hat, taugt zu allem Übrigen, er taugt nicht zum Moralisten.

Die Moral ist eine Menagerie; ihre Voraussetzung, daß eiserne Stäbe nützlicher sein können als Freiheit, selbst für den Eingefangenen; ihre andere Voraussetzung, daß es Thierbändiger giebt, die sich vor furchtbaren Mitteln nicht fürchten, – die glühendes Eisen zu handhaben wissen. Diese schreckliche Species, die den Kampf mit dem wilden Thier aufnimmt, heißt sich »Priester«.

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Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrthümern, eine Caricatur des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen Alles, was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?

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Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie » bessern« wollen ... Aber wir Andern lachen, wenn ein Thierbändiger von seinen »gebesserten« Thieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich ...

 

398.

Was ich mit aller Kraft deutlich zumachen wünsche:

a) daß es keine schlimmere Verwechslung giebt, als wenn man Züchtung mit Zähmung verwechselt: was man gethan hat ... Die Züchtung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, sodaß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können – nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen herauswachsend, in's Stärkere ...

b) daß es eine außerordentliche Gefahr giebt, wenn man glaubt, daß die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde, wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden ... Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle immer nur der stärkere Mensch sein (– der ungezüchtete ist schwach, vergeuderisch, unbeständig –).


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