Friedrich Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen
Friedrich Nietzsche

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Erstes Stück:

David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller.

1.

Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilirend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein grosser Sieg ist eine grosse Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, dass daraus keine schwerere Niederlage entsteht. Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrthum: der Irrthum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so ausserordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäss seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist – denn es giebt die heilsamsten und segensreichsten Irrthümer – sondern weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des "deutschen Reiches".

Einmal bliebe immer, selbst angenommen, dass zwei Kulturen mit einander gekämpft hätten, der Maassstab für den Werth der siegenden ein sehr relativer und würde unter Verhältnissen durchaus nicht zu einem Siegesjubel oder zu einer Selbstglorification berechtigen. Denn es käme darauf an, zu wissen, was jene unterjochte Kultur werth gewesen wäre: vielleicht sehr wenig: in welchem Falle auch der Sieg, selbst bei pomphaftestem Waffenerfolge, für die siegende Kultur keine Aufforderung zum Triumphe enthielte. Andererseits kann, in unserem Falle, von einem Siege der deutschen Kultur aus den einfachsten Gründen nicht die Rede sein; weil die französische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher. Nicht einmal an dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche Tapferkeit und Ausdauer, Ueberlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz Elemente, die nichts mit der Kultur zu thun haben, verhalfen uns zum Siege über Gegner, denen die wichtigsten dieser Elemente fehlten: nur darüber kann man sich wundern, dass das, was sich jetzt in Deutschland "Kultur" nennt, so wenig hemmend zwischen diese militärischen Erfordernisse zu einem grossen Erfolge getreten ist, vielleicht nur, weil dieses Kultur sich nennende Etwas es für sich vortheilhafter erachtete, sich diesmal dienstfertig zu erweisen. Lässt man es heranwachsen und fortwuchern, verwöhnt man es durch den schmeichelnden Wahn, dass es siegreich gewesen sei, so hat es die Kraft, den deutschen Geist, wie ich sagte, zu exstirpiren – und wer weiss, ob dann noch etwas mit dem übrig bleibenden deutschen Körper anzufangen ist!

Sollte es möglich sein, jene gleichmüthige und zähe Tapferkeit, welche der Deutsche dem pathetischen und plötzlichen Ungestüm des Franzosen entgegenstellte, gegen den inneren Feind, gegen jene höchst zweideutige und jedenfalls unnationale "Gebildetheit" wachzurufen, die jetzt in Deutschland, mit gefährlichem Missverstande, Kultur genannt wird: so ist nicht alle Hoffnung auf eine wirkliche ächte deutsche Bildung, den Gegensatz jener Gebildetheit, verloren: denn an den einsichtigsten und kühnsten Führern und Feldherrn hat es den Deutschen nie gemangelt – nur dass diesen oftmals die Deutschen fehlten. Aber ob es möglich ist, der deutschen Tapferkeit jene neue Richtung zu geben, wird mir immer zweifelhafter, und, nach dem Kriege, täglich unwahrscheinlicher; denn ich sehe, wie jedermann überzeugt ist, dass es eines Kampfes und einer solchen Tapferkeit gar nicht mehr bedürfe, dass vielmehr das Meiste so schön wie möglich geordnet und jedenfalls alles, was Noth thut, längst gefunden und gethan sei, kurz dass die beste Saat der Kultur überall theils ausgesäet sei, theils in frischem Grüne und hier und da sogar in üppiger Blüthe stehe. Auf diesem Gebiete giebt es nicht nur Zufriedenheit; hier giebt es Glück und Taumel. Ich empfinde diesen Taumel und dieses Glück in dem unvergleichlich zuversichtlichen Benehmen der deutschen Zeitungsschreiber und Roman- Tragödien- Lied- und Historienfabrikanten: denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Musse – und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heisst seiner "Kulturmomente" zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben. An dieser Gesellschaft ist jetzt, seit dem Kriege, Alles Glück, Würde und Selbstbewusstsein: sie fühlt sich, nach solchen "Erfolgen der deutschen Kultur", nicht nur bestätigt und sanctionirt, sondern beinahe sakrosankt, spricht deshalb feierlicher, liebt die Anrede an das deutsche Volk, giebt nach Klassiker-Art gesammelte Werke heraus und proclamirt auch wirklich in den ihr zu Diensten stehenden Weltblättern Einzelne aus ihrer Mitte als die neuen deutschen Klassiker und Musterschriftsteller. Man sollte vielleicht erwarten, dass die Gefahren eines derartigen Missbrauchs des Erfolges von dem besonneneren und belehrteren Theile der deutschen Gebildeten erkannt, oder dass mindestens das Peinliche des gegebenen Schauspieles gefühlt werden müsste: denn was kann peinlicher sein, als zu sehen, dass der Missgestaltete gespreizt wie ein Hahn vor dem Spiegel steht und mit seinem Bilde bewundernde Blicke austauscht. Aber die gelehrten Stände lassen gern geschehen, was geschieht, und haben selbst genug mit sich zu thun, als dass sie die Sorge für den deutschen Geist noch auf sich nehmen könnten. Dazu sind ihre Mitglieder mit dem höchsten Grade von Sicherheit überzeugt, dass ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller Zeiten sei und verstehen eine Sorge um die allgemeine deutsche Bildung deshalb gar nicht, weil sie bei sich selbst und den zahllosen Ihresgleichen über alle Sorgen dieser Art weit hinaus sind. Dem sorgsameren Betrachter, zumal wenn er Ausländer ist, kann es übrigens nicht entgehen, dass zwischen dem, was jetzt der deutsche Gelehrte seine Bildung nennt, und jener triumphirenden Bildung der neuen deutschen Klassiker ein Gegensatz nur in Hinsicht auf das Quantum des Wissens besteht: überall wo nicht das Wissen, sondern das Können, wo nicht die Kunde sondern die Kunst in Frage kommt, also überall, wo das Leben von der Art der Bildung Zeugniss ablegen soll, giebt es jetzt nur Eine deutsche Bildung – und diese sollte über Frankreich gesiegt haben?

Diese Behauptung erscheint so völlig unbegreiflich: gerade in dem umfassenderen Wissen der deutschen Offiziere, in der grösseren Belehrtheit der deutschen Mannschaften, in der wissenschaftlicheren Kriegführung ist von allen unbefangenen Richtern und schliesslich von den Franzosen selbst der entscheidende Vorzug erkannt worden. In welchem Sinne kann aber noch die deutsche Bildung gesiegt haben wollen, wenn man von ihr die deutsche Belehrtheit sondern wollte? In keinem: denn die moralischen Qualitäten der strengeren Zucht, des ruhigeren Gehorsams haben mit der Bildung nichts zu thun und zeichneten zum Beispiel die macedonischen Heere den unvergleichlich gebildeteren Griechenheeren gegenüber aus. Es kann nur eine Verwechselung sein, wenn man von dem Siege der deutschen Bildung und Kultur spricht, eine Verwechselung, die darauf beruht, dass in Deutschland der reine Begriff der Kultur verloren gegangen ist.

Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile.

In diesem chaotischen Durcheinander aller Stile lebt aber der Deutsche unserer Tage: und es bleibt ein ernstes Problem, wie es ihm doch möglich sein kann, dies bei aller seiner Belehrtheit nicht zu merken und sich noch dazu seiner gegenwärtigen "Bildung" recht von Herzen zu freuen. Alles sollte ihn doch belehren: ein jeder Blick auf seine Kleidung, seine Zimmer, sein Haus, ein jeder Gang durch die Strassen seiner Städte, eine jede Einkehr in den Magazinen der Kunstmodehändler; inmitten des geselligen Verkehrs sollte er sich des Ursprunges seiner Manieren und Bewegungen, inmitten unserer Kunstanstalten, Concert- , Theater- und Museenfreuden sich des grotesken Neben- und Uebereinander aller möglichen Stile bewusst werden. Die Formen, Farben, Producte und Curiositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft der Deutsche um sich auf und bringt dadurch jene moderne Jahrmarkts-Buntheit hervor, die seine Gelehrten nun wiederum als das "Moderne an sich" zu betrachten und zu formuliren haben; er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile sitzen. Mit dieser Art von "Kultur", die doch nur eine phlegmatische Gefühllosigkeit für die Kultur ist, kann man aber keine Feinde bezwungen, am wenigsten solche, die, wie die Franzosen, eine wirkliche, productive Kultur, gleichviel von welchem Werthe, haben, und denen wir bisher Alles, meistens noch dazu ohne Geschick, nachgemacht haben.

Hätten wir wirklich aufgehört, sie nachzuahmen, so würden wir damit noch nicht über sie gesiegt, sondern uns nur von ihnen befreit haben: erst dann, wenn wir ihnen eine originale deutsche Kultur aufgezwungen hätten, dürfte auch von einem Triumphe der deutschen Kultur die Rede sein. Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen: denn bis jetzt giebt es keine deutsche originale Kultur.

Dies sollten wir alle von uns selbst wissen: zu dem hat es Einer von den Wenigen, die ein Recht hatten, es im Tone des Vorwurfs den Deutschen zu sagen, auch öffentlich verrathen. "Wir Deutsche sind von gestern, sagte Goethe einmal zu Eckermann, wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultivirt, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, dass man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, dass sie Barbaren gewesen."

2.

Wenn aber unser öffentliches und privates Leben so ersichtlich nicht mit dem Gepräge einer productiven und stilvollen Kultur bezeichnet ist, wenn noch dazu unsere grossen Künstler diese ungeheure und für ein begabtes Volk tief beschämende Thatsache mit dem ernstesten Nachdruck und mit der Ehrlichkeit, die der Grösse zu eigen ist, eingestanden haben und eingestehen, wie ist es dann doch möglich, dass unter den deutschen Gebildeten trotzdem die grösste Zufriedenheit herrscht: eine Zufriedenheit, die, seit dem letzten Kriege, sogar fortwährend sich bereit zeigt, in übermüthiges Jauchzen auszubrechen und zum Triumphe zu werden. Man lebt jedenfalls in dem Glauben, eine ächte Kultur zu haben: der ungeheure Kontrast dieses zufriedenen, ja triumphirenden Glaubens und eines offenkundigen Defektes scheint nur noch den Wenigsten und Seltensten überhaupt bemerkbar zu sein. Denn alles, was mit der öffentlichen Meinung meint, hat sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft – jener Kontrast soll nun einmal nicht da sein. Wie ist dies möglich? Welche Kraft ist so mächtig, ein solches "Soll nicht" vorzuschreiben? Welche Gattung von Menschen muss in Deutschland zur Herrschaft gekommen sein, um so starke und einfache Gefühle verbieten oder doch ihren Ausdruck verhindern zu können? Diese Macht, diese Gattung von Menschen will ich bei Namen nennen – es sind die Bildungsphilister.

Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber – dessen Typus zu studiren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung "Philister" durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgehe, dass er gar nicht weiss, was der Philister und was sein Gegensatz ist: weshalb wir uns nicht wundern werden, wenn er meistens es feierlich verschwört, Philister zu sein. Er fühlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntniss, fest überzeugt, dass seine "Bildung" gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet, und alle öffentlichen Institutionen, Schul- Bildungs- und Kunstanstalten gemäss seiner Gebildetheit und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet sind, so trägt er auch überallhin das siegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein und macht dem entsprechend seine Forderungen und Ansprüche. Wenn nun die wahre Kultur jedenfalls Einheit des Stiles voraussetzt, und selbst eine schlechte und entartete Kultur nicht ohne die zur Harmonie Eines Stiles zusammenlaufende Mannigfaltigkeit gedacht werden darf, so mag wohl die Verwechselung in jenem Wahne des Bildungsphilisters daher rühren, dass er überall das gleichförmige Gepräge seiner selbst wiederfindet und nun aus diesem gleichförmigen Gepräge aller "Gebildeten" auf eine Stileinheit der deutschen Bildung, kurz auf eine Kultur schliesst.

Er nimmt um sich herum lauter gleiche Bedürfnisse und ähnliche Ansichten wahr; wohin er tritt, umfängt ihn auch sofort das Band einer stillschweigenden Convention über viele Dinge, besonders in Betreff der Religions- und der Kunstangelegenheiten: diese imponirende Gleichartigkeit, dieses nicht befohlene und doch sofort losbrechende tutti unisono verführt ihn zu dem Glauben, dass hier eine Kultur walten möge. Aber die systematische und zur Herrschaft gebrachte Philisterei ist deshalb, weil sie System hat, noch nicht Kultur und nicht einmal schlechte Kultur, sondern immer nur das Gegenstück derselben, nämlich dauerhaft begründete Barbarei. Denn alle jene Einheit des Gepräges, die uns bei jedem Gebildeten der deutschen Gegenwart so gleichmässig in die Augen fällt, wird Einheit nur durch das bewusste oder unbewusste Ausschliessen und Negiren aller künstlerisch produktiven Formen und Forderungen eines wahren Stils. Eine unglückliche Verdrehung muss im Gehirne des gebildeten Philisters vor sich gegangen sein: er hält gerade das, was die Kultur verneint, für die Kultur, und da er consequent verfährt, so bekommt er endlich eine zusammenhängende Gruppe von solchen Verneinungen, ein System der Nicht-Kultur, der man selbst eine gewisse "Einheit des Stils" zugestehen dürfte, falls es nämlich noch einen Sinn hat, von einer stilisirten Barbarei zu reden. Ist ihm die Entscheidung frei gegeben zwischen einer stilgemässen Handlung und einer entgegengesetzten, so greift er immer nach der letzteren, und weil er immer nach ihr greift, so ist allen seinen Handlungen ein negativ gleichartiges Gepräge aufgedrückt. An diesem gerade erkennt er den Charakter der von ihm patentirten "deutschen Kultur": an der Nichtübereinstimmung mit diesem Gepräge misst er das ihm Feindselige und Widerstrebende. Der Bildungsphilister wehrt in solchem Falle nur ab, verneint, sekretirt, verstopft sich die Ohren, sieht nicht hin, er ist ein negatives Wesen, auch in seinem Hasse und seiner Feindschaft. Er hasst aber keinen mehr als den, der ihn als Philister behandelt und ihm sagt, was er ist: das Hinderniss aller Kräftigen und Schaffenden, das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, der Morast aller Ermatteten, die Fussfessel aller nach hohen Zielen Laufenden, der giftige Nebel aller frischen Keime, die ausdorrende Sandwüste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes. Denn er sucht, dieser deutsche Geist! und ihr hasst ihn deshalb, weil er sucht, und weil er euch nicht glauben will, dass ihr schon gefunden habt, wonach er sucht. Wie ist es nur möglich, dass ein solcher Typus, wie der des Bildungsphilisters, entstehen und, falls er entstand, zu der Macht eines obersten Richters über alle deutschen Kulturprobleme heranwachsen konnte, wie ist dies möglich, nachdem an uns eine Reihe von grossen heroischen Gestalten vorübergegangen ist, die in allen ihren Bewegungen, ihrem ganzen Gesichtsausdrucke, ihrer fragenden Stimme, ihrem flammenden Auge nur Eins verriethen: dass sie Suchende waren, und dass sie eben das inbrünstig und mit ernster Beharrlichkeit suchten, was der Bildungsphilister zu besitzen wähnt: die ächte ursprüngliche deutsche Kultur. Giebt es einen Boden, schienen sie zu fragen, der so rein, so unberührt, von so jungfräulicher Heiligkeit ist, dass auf ihm und auf keinem anderen der deutsche Geist sein Haus baue? So fragend zogen sie durch die Wildniss und das Gestrüpp elender Zeiten und enger Zustände, und als Suchende entschwanden sie unseren Blicken: so dass Einer von ihnen, für Alle, im hohen Alter sagen konnte: "ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und gethan, so gut und so viel ich konnte."

Was urtheilt aber unsere Philisterbildung über diese Suchenden? Sie nimmt sie einfach als Findende und scheint zu vergessen, dass jene selbst sich nur als Suchende fühlten. Wir haben ja unsere Kultur, heisst es dann, denn wir haben ja unsere "Klassiker", das Fundament ist nicht nur da, nein auch der Bau steht schon auf ihm gegründet – wir selbst sind dieser Bau. Dabei greift der Philister an die eigene Stirn.

Um aber unsere Klassiker so falsch beurtheilen und so beschimpfend ehren zu können, muss man sie gar nicht mehr kennen: und dies ist die allgemeine Thatsache. Denn sonst müsste man wissen, dass es nur Eine Art giebt, sie zu ehren, nämlich dadurch, dass man fortfährt, in ihrem Geiste und mit ihrem Muthe zu suchen und dabei nicht müde wird. Dagegen ihnen das so nachdenkliche Wort "Klassiker" anzuhängen und sich von Zeit zu Zeit einmal an ihren Werken zu "erbauen", das heisst, sich jenen matten und egoistischen Regungen überlassen, die unsere Concertsäle und Theaterräume jedem Bezahlenden versprechen, auch wohl Bildsäulen stiften und mit ihrem Namen Feste und Vereine bezeichnen – das alles sind nur klingende Abzahlungen, durch die der Bildungsphilister sich mit ihnen auseinandersetzt, um im Uebrigen sie nicht mehr zu kennen, und um vor allem nicht nachfolgen und weiter suchen zu müssen. Denn: es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung.

Diese Losung hatte einst einen gewissen Sinn: damals als in dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in Deutschland ein so mannigfaches und verwirrendes Suchen, Experimentiren, Zerstören, Verheissen, Ahnen, Hoffen begann und durcheinander wogte, dass dem geistigen Mittelstande mit Recht bange um sich selbst werden musste. Mit Recht lehnte er damals das Gebräu phantastischer und sprachverrenkender Philosophien und schwärmerisch-zweckbewusster Geschichtsbetrachtung, den Carneval aller Götter und Mythen, den die Romantiker zusammenbrachten, und die im Rausch ersonnenen dichterischen Moden und Tollheiten achselzuckend ab, mit Recht, weil der Philister nicht einmal zu einer Ausschweifung das Recht hat. Er benutzte aber die Gelegenheit, mit jener Verschmitztheit geringerer Naturen, das Suchen überhaupt zu verdächtigen und zum bequemen Finden aufzufordern. Sein Auge erschloss sich für das Philisterglück: aus alle dem wilden Experimentiren rettete er sich in's Idyllische und setzte dem unruhig schaffenden Trieb des Künstlers ein gewisses Behagen entgegen, ein Behagen an der eigenen Enge, der eigenen Ungestörtheit, ja an der eigenen Beschränktheit. Sein langgestreckter Finger wies, ohne jede unnütze Verschämtheit, auf alle verborgenen und heimlichen Winkel seines Lebens, auf die vielen rührenden und naiven Freuden, welche in der kümmerlichsten Tiefe der unkultivirten Existenz und gleichsam auf dem Moorgrunde des Philisterdaseins als bescheidene Blumen aufwuchsen.

Es fanden sich eigene darstellende Talente, welche das Glück, die Heimlichkeit, die Alltäglichkeit, die bäuerische Gesundheit und alles Behagen, welches über Kinder- Gelehrten- und Bauernstuben ausgebreitet ist, mit zierlichem Pinsel nachmalten. Mit solchen Bilderbüchern der Wirklichkeit in den Händen suchten die Behaglichen nun auch ein für alle mal ein Abkommen mit den bedenklichen Klassikern und den von ihnen ausgehenden Aufforderungen zum Weitersuchen zu finden; sie erdachten den Begriff des Epigonen-Zeitalters, nur um Ruhe zu haben und bei allem unbequemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt "Epigonenwerk" bereit sein zu können. Eben diese Behaglichen bemächtigten sich zu demselben Zwecke, um ihre Ruhe zu garantiren, der Geschichte, und suchten alle Wissenschaften, von denen etwa noch Störungen der Behaglichkeit zu erwarten waren, in historische Disciplinen umzuwandeln, zumal die Philosophie und die klassische Philologie. Durch das historische Bewusstsein retteten sie sich vor dem Enthusiasmus – denn nicht mehr diesen sollte die Geschichte erzeugen, wie doch Goethe vermeinen durfte: sondern gerade die Abstumpfung ist jetzt das Ziel dieser unphilosophischen Bewunderer des nil admirari, wenn sie alles historisch zu begreifen suchen. Während man vorgab, den Fanatismus und die Intoleranz in jeder Form zu hassen, hasste man im Grunde den dominirenden Genius und die Tyrannis wirklicher Kulturforderungen; und deshalb wandte man alle Kräfte darauf hin, überall dort zu lähmen, abzustumpfen oder aufzulösen, wo etwa frische und mächtige Bewegungen zu erwarten standen. Eine Philosophie, die unter krausen Schnörkeln das Philisterbekenntniss ihres Urhebers koïsch verhüllte, erfand noch dazu eine Formel für die Vergötterung der Alltäglichkeit: sie sprach von der Vernünftigkeit alles Wirklichen und schmeichelte sich damit bei dem Bildungsphilister ein, der auch krause Schnörkeleien liebt, vor allem aber sich allein als wirklich begreift und seine Wirklichkeit, als das Maass der Vernunft in der Welt behandelt. Er erlaubte jetzt jedem und sich selbst, etwas nachzudenken, zu forschen, zu ästhetisiren, vor allem zu dichten und zu musiciren, auch Bilder zu machen, sowie ganze Philosophien: nur musste um Gotteswillen bei uns alles beim Alten bleiben, nur durfte um keinen Preis an dem "Vernünftigen" und an dem "Wirklichen", das heisst an dem Philister gerüttelt werden. Dieser hat es zwar ganz gern, von Zeit zu Zeit sich den anmuthigen und verwegenen Ausschreitungen der Kunst und einer skeptischen Historiographie zu überlassen und schätzt den Reiz solcher Zerstreuungs- und Unterhaltungsobjecte nicht gering: aber er trennt streng den "Ernst des Lebens", soll heissen den Beruf, das Geschäft, sammt Weib und Kind, ab von dem Spass; und zu letzterem gehört ungefähr alles, was die Kultur betrifft. Daher wehe einer Kunst, die selbst Ernst zu machen anfängt und Forderungen stellt, die seinen Erwerb, sein Geschäft und seine Gewohnheiten, das heisst also seinen Philisterernst antasten – von einer solchen Kunst wendet er die Augen ab, als ob er etwas Unzüchtiges sähe, und warnt mit der Miene eines Keuschheitswächters jede schutzbedürftige Tugend, nur ja nicht hinzusehen.

Zeigt er sich so beredt im Abrathen, so ist er dankbar gegen den Künstler, der auf ihn hört und sich abrathen lässt, ihm giebt er zu verstehen, dass man es mit ihm leichter und lässiger nehmen wolle und dass man von ihm, dem bewährten Gesinnungsfreunde, gar keine sublimen Meisterwerke fordere, sondern nur zweierlei: entweder Nachahmung der Wirklichkeit bis zum Aeffischen, in Idyllen oder sanftmüthigen humoristischen Satiren, oder freie Copien der anerkanntesten und berühmtesten Werke der Klassiker, doch mit verschämten Indulgenzen an den Zeitgeschmack. Wenn er nämlich nur die epigonenhafte Nachahmung oder die ikonische Portraittreue des Gegenwärtigen schätzt, so weiss er, dass die letztere ihn selbst verherrlicht und das Behagen am "Wirklichen" mehrt, die erstere ihm nicht schadet, sogar seinem Ruf als dem eines klassischen Geschmacksrichters förderlich ist, und im Uebrigen keine neue Mühe macht, weil er sich bereits mit den Klassikern selbst ein- für allemal abgefunden hat. Zuletzt erfindet er noch für seine Gewöhnungen, Betrachtungsarten, Ablehnungen und Begünstigungen die allgemein wirksame Formel "Gesundheit" und beseitigt mit der Verdächtigung, krank und überspannt zu sein, jeden unbequemen Störenfried. So redet David Strauss, ein rechter satisfait unsrer Bildungszustände und typischer Philister, einmal mit charakteristischer Redewendung von "Arthur Schopenhauers zwar durchweg geistvollem, doch vielfach ungesundem und unerspriesslichem Philosophiren." Es ist nämlich eine fatale Thatsache, dass sich "der Geist" mit besonderer Sympathie auf die "Ungesunden und Unerspriesslichen". niederzulassen pflegt, und dass selbst der Philister, wenn er einmal ehrlich gegen sich ist, bei den Philosophemen, die seines Gleichen zur Welt und zu Markte bringt, so etwas empfindet von vielfach geistlosem, doch durchweg gesundem und erspriesslichem Philosophiren.

Hier und da werden nämlich die Philister, vorausgesetzt, dass sie unter sich sind, des Weines pflegen und der grossen Kriegsthaten gedenken, ehrlich, redselig und naiv; dann kommt mancherlei an's Licht, was sonst ängstlich verborgen wird, und gelegentlich plaudert selbst Einer die Grundgeheimnisse der ganzen Brüderschaft aus. Einen solchen Moment hat ganz neuerdings einmal ein namhafter Aesthetiker aus der Hegel'schen Vernünftigkeits-Schule gehabt. Der Anlass war freilich ungewöhnlich genug: man feierte im lauten Philisterkreise das Andenken eines wahren und ächten Nicht-Philisters, noch dazu eines solchen, der im allerstrengsten Sinne des Wortes an den Philistern zu Grunde gegangen ist: das Andenken des herrlichen Hölderlin, und der bekannte Aesthetiker hatte deshalb ein Recht, bei dieser Gelegenheit von den tragischen Seelen zu reden, die an der "Wirklichkeit" zu Grunde gehen, das Wort Wirklichkeit nämlich in jenem erwähnten Sinne als Philister-Vernunft verstanden. Aber die "Wirklichkeit" ist eine andere geworden: die Frage mag gestellt werden, ob sich Hölderlin wohl in der gegenwärtigen grossen Zeit zurecht finden würde. "Ich weiss nicht", sagt Fr. Vischer, "ob seine weiche Seele so viel Rauhes, das an jedem Kriege ist, ob sie soviel des Verdorbenen ausgehalten hätte, das wir nach dem Kriege auf den verschiedensten Gebieten fortschreiten sehen. Vielleicht wäre er wieder in die Trostlosigkeit zurückgesunken. Er war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Willen und Grösse, Fülle und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, dass man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist." Dieses letzte Bekenntniss, nicht die süssliche Beileidsbezeigung des Tischredners geht uns etwas an. Ja, man giebt zu, Philister zu sein, aber Barbar! Um keinen Preis. Der arme Hölderlin hat leider nicht so fein unterscheiden können. Wenn man freilich bei dem Worte Barbarei an den Gegensatz der Civilisation und vielleicht gar an Seeräuberei und Menschenfresser denkt, so ist jene Unterscheidung mit Recht gemacht: aber ersichtlich will der Aesthetiker uns sagen: man kann Philister sein und doch Kulturmensch – darin liegt der Humor, der dem armen Hölderlin fehlte, an dessen Mangel er zu Grunde ging.

Bei dieser Gelegenheit entfiel dem Redner noch ein zweites Geständniss: "Es ist nicht immer Willenskraft, sondern Schwachheit, was uns über die von den tragischen Seelen so tief gefühlte Begierde zum Schönen hinüberbringt" – so ungefähr lautete das Bekenntniss, abgelegt im Namen der versammelten "Wir", das heisst der "Hinübergebrachten", der durch Schwachheit "Hinübergebrachten"! Begnügen wir uns mit diesen Geständnissen! Jetzt wissen wir ja Zweierlei durch den Mund eines Eingeweihten: einmal, dass diese "Wir" über die Sehnsucht zum Schönen wirklich hinweg- , ja sogar hinübergebracht sind, und zweitens: durch Schwachheit! Eben diese Schwachheit hatte sonst in weniger indiskreten Momenten einen schöneren Namen: es war die berühmte "Gesundheit" der Bildungsphilister. Nach dieser allerneuesten Belehrung möchte es sich aber empfehlen, nicht mehr von ihnen, als den "Gesunden" zu reden, sondern von den Schwächlichen oder mit Steigerung, von den Schwachen. Wenn diese Schwachen nur nicht die Macht hätten! Was kann es sie angehen, wie man sie nennt! Denn sie sind die Herrschenden, und das ist kein rechter Herrscher, der nicht einen Spottnamen vertragen kann. Ja wenn man nur die Macht hat, lernt man wohl gar über sich selbst zu spotten. Es kommt dann nicht viel darauf an, ob man sich eine Blösse giebt: denn was bedeckt nicht der Purpur! was nicht der Triumphmantel! Die Stärke des Bildungsphilisters kommt an's Licht, wenn er seine Schwachheit eingesteht: und je mehr und je cynischer er eingesteht, um so deutlicher verräth sich, wie wichtig er sich nimmt und wie überlegen er sich fühlt. Es ist die Periode der cynischen Philisterbekenntnisse. Wie Friedrich Vischer mit einem Worte, so hat David Strauss mit einem Buche Bekenntnisse gemacht: und cynisch ist jenes Wort und dieses Bekenntnissbuch.

3.

Auf doppelte Weise macht David Strauss über jene Philister-Bildung Bekenntnisse, durch das Wort und durch die That, nämlich durch das Wort des Bekenners und die That des Schriftstellers. Sein Buch mit dem Titel "der alte und der neue Glaube" ist einmal durch seinen Inhalt und sodann als Buch und schriftstellerisches Product eine ununterbrochene Confession; und schon darin, dass er sich erlaubt, öffentlich Confessionen über seinen Glauben zu machen, liegt eine Confession. – Das Recht, nach seinem vierzigsten Jahre seine Biographie zu schreiben, mag Jeder haben: denn auch der Geringste kann etwas erlebt und in grösserer Nähe gesehen haben, was dem Denker werthvoll und beachtenswerth ist. Aber ein Bekenntniss über seinen Glauben abzulegen, muss als unvergleichlich anspruchsvoller gelten: weil es voraussetzt, dass der Bekennende nicht nur auf das, was er während seines Daseins erlebt oder erforscht oder gesehen hat, Werth legt, sondern sogar auf das, was er geglaubt hat. Nun wird der eigentliche Denker zu allerletzt zu wissen wünschen, was Alles solche Straussennaturen als ihren Glauben vertragen, und was sie über Dinge in sich "halbträumerisch zusammengedacht haben" (p. 10), über die nur der zu reden ein Recht hat, der von ihnen aus erster Hand weiss. Wer hätte ein Bedürfniss nach dem Glaubensbekenntnisse eines Ranke oder Mommsen, die übrigens noch ganz andere Gelehrte und Historiker sind, als David Strauss es war: die aber doch, sobald sie uns von ihrem Glauben und nicht von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen unterhalten wollten, in ärgerlicher Weise ihre Schranken überschreiten würden. Dies aber thut Strauss, wenn er von seinem Glauben erzählt. Niemand hat ein Verlangen, darüber etwas zu wissen, als vielleicht einige bornirte Widersacher der Straussischen Erkenntnisse, die hinter denselben wahrhaft satanische Glaubenssätze wittern und es wünschen müssen, dass Strauss durch Kundgebung solcher satanischer Hintergedanken seine gelehrten Behauptungen compromittire. Vielleicht haben diese groben Burschen sogar bei dem neuen Buche ihre Rechnung gefunden; wir Anderen, die wir solche satanische Hintergedanken zu wittern keinen Anlass hatten, haben auch nichts der Art gefunden und würden sogar, wenn es ein wenig satanischer zuginge, keineswegs unzufrieden sein. Denn so wie Strauss von seinem neuen Glauben redet, redet gewiss kein böser Geist: aber überhaupt kein Geist, am wenigsten ein wirklicher Genius. Sondern so reden allein jene Menschen, welche Strauss als seine "Wir" uns vorstellt, und die uns, wenn sie uns ihren Glauben erzählen noch mehr langweilen, als wenn sie uns ihre Träume erzählen mögen sie nun "Gelehrte oder Künstler, Beamte oder Militärs, Gewerbtreibende oder Gutsbesitzer sein und zu Tausenden und nicht als die Schlechtesten im Lande leben." Wenn sie nicht die Stillen von der Stadt und vom Lande bleiben wollen, sondern mit Bekenntnissen laut werden, so vermöchte auch der Lärm ihres Unisono nicht über die Armuth und Gemeinheit der Melodie, die sie absingen, zu täuschen. Wie kann es uns günstiger stimmen, zu hören, dass ein Bekenntniss von Vielen getheilt wird, wenn es der Art ist, dass wir jeden Einzelnen dieser Vielen, der sich anschickte, uns dasselbe zu erzählen, nicht ausreden lassen, sondern gähnend unterbrechen würden. Hast du einen solchen Glauben, müssten wir ihn bescheiden, so verrathe um Gotteswillen nichts davon. Vielleicht haben früher einige Harmlose in David Strauss einen Denker gesucht: jetzt haben sie den Gläubigen gefunden und sind enttäuscht. Hätte er geschwiegen, so wäre er, für diese wenigstens, der Philosoph geblieben, während er es jetzt für Keinen ist. Aber es gelüstet ihn auch nicht mehr nach der Ehre des Denkers; er will nur ein neuer Gläubiger sein und ist stolz auf seinen "neuen Glauben." Ihn schriftlich bekennend vermeint er, den Katechismus "der modernen Ideen" zu schreiben und die breite "Weltstrasse der Zukunft" zu bauen. In der That, verzagt und verschämt sind unsere Philister nicht mehr, wohl aber zuversichtlich bis zum Cynismus. Es gab eine Zeit, und sie ist freilich fern, in welcher der Philister eben geduldet wurde als etwas, das nicht sprach, und über das man nicht sprach: es gab wieder eine Zeit, in der man ihm die Runzeln streichelte, ihn drollig fand und von ihm sprach. Dadurch wurde er allmählich zum Gecken und begann sich seiner Runzeln und seiner querköpfig-biederen Eigenthümlichkeiten recht von Herzen zu erfreuen: nun redete er selbst, etwa in Riehlscher Hausmusik-Manier. "Aber was muss ich sehen! Ist es Schatten! ist's Wirklichkeit? Wie wird mein Pudel lang und breit!" Denn jetzt wälzt er sich bereits wie ein Nilpferd auf der "Weltstrasse der Zukunft" hin, und aus dem Knurren und Bellen ist ein stolzer Religionsstifter-Ton geworden. Beliebt Ihnen vielleicht, Herr Magister, die Religion der Zukunft zu gründen? "Die Zeit scheint mir noch nicht gekommen (p. 8). Es fällt mir nicht einmal ein, irgend eine Kirche zerstören zu wollen." – Aber warum nicht, Herr Magister? Es kommt nur darauf an, dass man's kann. Uebrigens, ehrlich gesprochen, Sie glauben selbst daran, dass Sie es können: sehen Sie nur Ihre letzte Seite an. Dort wissen Sie ja, dass Ihre neue Strasse "einzig die Weltstrasse der Zukunft ist, die nur stellenweise vollends fertig gemacht und hauptsächlich allgemeiner befahren zu werden braucht, um auch bequem und angenehm zu werden." Leugnen Sie nun nicht länger: der Religionsstifter ist erkannt, die neue, bequeme und angenehme Fahrstrasse zum Straussischen Paradies gebaut. Nur mit dem Wagen, in dem Sie uns kutschiren wollen, Sie bescheidener Mann, sind Sie nicht recht zufrieden; Sie sagen uns schliesslich "dass der Wagen, dem sich meine werthen Leser mit mir haben anvertrauen müssen, allen Anforderungen entspräche, will ich nicht behaupten" (p. 367): "durchaus fühlt man sich übel zerstossen." Ach, Sie wollen etwas Verbindliches hören, Sie galanter Religionsstifter. Aber wir wollen Ihnen etwas Aufrichtiges sagen. Wenn Ihr Leser die 368 Seiten Ihres Religionskatechismus nur so sich verordnet, dass er jeden Tag des Jahres eine Seite liest, also in allerkleinsten Dosen, so glauben wir selbst, dass er sich zuletzt übel befindet: aus Aerger nämlich, dass die Wirkung ausbleibt. Vielmehr herzhaft geschluckt! möglichst viel auf einmal! wie das Recept bei allen zeitgemässen Büchern lautet. Dann kann der Trank nichts schaden, dann fühlt sich der Trinker hinterdrein keineswegs übel und ärgerlich, sondern lustig und gut gelaunt, als ob nichts geschehen, keine Religion zerstört, keine Weltstrasse gebaut, kein Bekenntniss gemacht wäre – das nenne ich doch eine Wirkung! Arzt und Arzenei und Krankheit, alles vergessen! Und das fröhliche Lachen! Der fortwährende Kitzel zum Lachen! Sie sind zu beneiden, mein Herr, denn Sie haben die angenehmste Religion gegründet, die nämlich, deren Stifter fortwährend dadurch geehrt wird, dass man ihn auslacht.

4.

Der Philister als der Stifter der Religion der Zukunft – das ist der neue Glaube in seiner eindrucksvollsten Gestalt; der zum Schwärmer gewordene Philister – das ist das unerhörte Phänomen, das unsere deutsche Gegenwart auszeichnet. Bewahren wir uns aber vorläufig auch in Hinsicht auf diese Schwärmerei einen Grad von Vorsicht: hat doch kein Anderer als David Strauss uns eine solche Vorsicht in folgenden weisen Sätzen angerathen, bei denen wir freilich zunächst nicht an Strauss, sondern an den Stifter des Christenthums denken sollen, (p. 80) "wir wissen: es hat edle, hat geistvolle Schwärmer gegeben, ein Schwärmer kann anregen, erheben, kann auch historisch sehr nachhaltig wirken; aber zum Lebensführer werden wir ihn nicht wählen wollen. Er wird uns auf Abwege führen, wenn wir seinen Einfluss nicht unter die Controle der Vernunft stellen." Wir wissen noch mehr, es kann auch geistlose Schwärmer geben, Schwärmer, die nicht anregen, nicht erheben und die sich doch Aussicht machen, als Lebensführer historisch sehr nachhaltig zu wirken und die Zukunft zu beherrschen: um wie viel mehr sind wir aufgefordert ihre Schwärmerei unter die Controle der Vernunft zu stellen. Lichtenberg meint sogar: "es giebt Schwärmer ohne Fähigkeit und dann sind sie wirklich gefährliche Leute." Einstweilen begehren wir, dieser Vernunft-Controle halber, nur eine ehrliche Antwort auf drei Fragen. Erstens: wie denkt sich der Neugläubige seinen Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens: wie schreibt er seine Bücher? Strauss, der Bekenner, soll uns die erste und zweite Frage, Strauss, der Schriftsteller, die dritte beantworten.

Der Himmel des Neugläubigen muss natürlich ein Himmel auf Erden sein: denn der christliche "Ausblick auf ein unsterbliches, himmlisches Leben ist, sammt den anderen Tröstungen für den, der "nur mit einem Fusse" auf dem Straussischen Standpunkt steht, "unrettbar dahingefallen" (p. 364). Es will etwas besagen, wenn sich eine Religion ihren Himmel so oder so ausmalt: und sollte es wahr sein, dass das Christenthum keine andere himmlische Beschäftigung kennt, als Musiciren und Singen, so mag dies freilich für den Straussischen Philister keine tröstliche Aussicht sein. Es giebt aber in dem Bekenntnissbuche eine paradiesische Seite, die Seite 294: dieses Pergamen lass' dir vor allem entrollen, beglücktester Philister! Da steigt der ganze Himmel zu dir nieder. "Wir wollen nur noch andeuten, wie wir es treiben", sagt Strauss, "schon lange Jahre her getrieben haben. Neben unserem Berufe – denn wir gehören den verschiedensten Berufsarten an, sind keineswegs bloss Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbtreibende und Gutsbesitzer, und noch einmal, wie schon gesagt, wir sind unserer nicht wenige, sondern viele Tausende und nicht die Schlechtesten in allen Landen – neben unserem Berufe, sage ich, suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit: wir haben während der letzten Jahre lebendigen Antheil genommen an dem grossen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staats, und wir finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unsrer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständniss dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volksthümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind, dabei suchen wir unsere Naturkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen Hülfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den Schriften unsrer grossen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unserer grossen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüth, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig lässt. So leben wir, so wandeln wir beglückt."

Das ist unser Mann, jauchzt der Philister, der dies liest: denn so leben wir wirklich, so leben wir alle Tage. Und wie schön er die Dinge zu umschreiben weiss! Was kann er zum Beispiel unter den geschichtlichen Studien, mit denen wir dem Verständnisse der politischen Lage nachhelfen, mehr verstehen, als die Zeitungslectüre, was unter dem lebendigen Antheil an der Aufrichtung des deutschen Staates, als unsere täglichen Besuche im Bierhaus? und sollte nicht ein Spaziergang im zoologischen Garten das gemeinte "gemeinverständliche Hülfsmittel" sein, durch das wir unsere Naturkenntniss erweitern? Und zum Schluss – Theater und Concert, von denen wir "Anregungen für Phantasie und Humor" mit nach Hause bringen, die "nichts zu wünschen übrig lassen" – wie würdig und witzig er das Bedenkliche sagt! Das ist unser Mann; denn sein Himmel ist unser Himmel!

So jauchzt der Philister: und wenn wir nicht so zufrieden sind, wie er, so liegt es daran, dass wir noch mehr zu wissen wünschten. Scaliger pflegte zu sagen: "was geht es uns an, ob Montaigne rothen oder weissen Wein getrunken hat!" Aber wie würden wir in diesem wichtigeren Falle eine solche ausdrückliche Erklärung schätzen! Wie, wenn wir auch noch erführen, wie viel Pfeifen der Philister täglich nach der Ordnung des neuen Glaubens raucht, und ob ihm die Spenersche oder Nationalzeitung sympathischer bei dem Kaffee ist. Ungestilltes Verlangen unserer Wissbegierde! Nur in einem Puncte werden wir näher unterrichtet, und glücklicher Weise betrifft dieser Unterricht den Himmel im Himmel, nämlich jene kleinen ästhetischen Privatzimmerchen, die den grossen Dichtern und Musikern geweiht sind, und in denen der Philister sich "erbaut", in denen sogar, nach seinem Geständniss, "alle seine Flecken hinweggetilgt und abgewaschen werden" (p. 363); so dass wir jene Privatzimmerchen als kleine Lustrations-Badeanstalten zu betrachten hätten. "Doch das ist nur für flüchtige Augenblicke, es geschieht und gilt nur im Reiche der Phantasie; sobald wir in die rauhe Wirklichkeit und das enge Leben zurückkehren, fällt auch die alte Noth von allen Seiten uns an" – so seufzt unser Magister. Benutzen wir aber die flüchtigen Augenblicke, die wir in jenen Zimmerchen weilen dürfen; die Zeit reicht gerade aus, das Idealbild des Philisters, das heisst den Philister, dem alle Flecken abgewaschen sind, und der jetzt ganz und gar reiner Philistertypus ist, von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. In allem Ernste, lehrreich ist das, was sich hier bietet: möge Keiner, der überhaupt dem Bekenntnissbuche zum Opfer gefallen ist, diese beiden Zugaben mit den Ueberschriften "von unseren grossen Dichtern" und "von unseren grossen Musikern", ungelesen aus den Händen fallen lassen. Hier spannt sich der Regenbogen des neuen Bundes aus, und wer an ihm nicht seine Freude hat, "dem ist überhaupt nicht zu helfen, der ist" wie Strauss bei einer anderen Gelegenheit sagt, aber auch hier sagen könnte, "für unseren Standpunkt noch nicht reif." Wir sind eben im Himmel des Himmels. Der begeisterte Perieget schickt sich an, uns herumzuführen und entschuldigt sich, wenn er aus allzugrossem Vergnügen an alle dem Herrlichen wohl etwas zu viel reden werde. "Sollte ich vielleicht, sagt er uns, redseliger werden, als bei dieser Gelegenheit passend gefunden wird, so möge der Leser es mir zu Gute halten; wessen das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Nur dessen sei er vorher noch versichert, dass, was er demnächst lesen wird, nicht etwa aus älteren Aufzeichnungen besteht, die ich hier einschalte, sondern dass es für den gegenwärtigen Zweck und für diese Stelle geschrieben ist" (p. 296). Dies Bekenntniss setzt uns einen Augenblick in Erstaunen. Was kann es uns angehen, ob die schönen Kapitelchen neu geschrieben sind! Ja, wenn es auf's Schreiben ankäme! Im Vertrauen, ich wollte, sie wären ein Viertel Jahrhundert früher geschrieben, dann wüsste ich doch, warum mir die Gedanken so verblichen vorkommen und warum sie den Geruch modernder Alterthümer an sich haben. Aber, dass etwas im Jahre 1872 geschrieben wird und im Jahre 1872 auch schon moderig riecht, bleibt mir bedenklich. Nehmen wir einmal an, dass jemand bei diesen Kapiteln und ihrem Geruche einschliefe – wovon würde er wohl träumen? Ein Freund hat mir's verrathen, denn er hat es erlebt. Er träumte von einem Wachsfigurenkabinet: die Klassiker standen da, aus Wachs und Perlen zierlich nachgemacht. Sie bewegten Arme und Augen, und eine Schraube im Innern knarrte dazu. Etwas Unheimliches sah er da, eine mit Bändchen und vergilbtem Papier behängte unförmliche Figur, der ein Zettel aus dem Munde hing, auf welchem "Lessing" stand; der Freund will näher hinzutreten und gewahrt das Schrecklichste, es ist die homerische Chimära, von vorn Strauss, von hinten Gervinus, in der Mitte Chimära – in summa Lessing. Diese Entdeckung erpresste ihm einen Angstschrei, er erwachte und las nicht weiter. Warum haben Sie doch, Herr Magister, so moderige Kapitelchen geschrieben!

Einiges Neue lernen wir zwar aus ihnen, zum Beispiel, dass man durch Gervinus wisse, wie und warum Goethe kein dramatisches Talent gewesen sei: dass Goethe im zweiten Theile des Faust nur ein allegorisch-schemenhaftes Produkt hervorgebracht habe, dass der Wallenstein ein Macbeth sei, der zugleich Hamlet ist, dass der Straussische Leser aus den Wanderjahren die Novellen herausklaubt, wie ungezogene Kinder die Rosinen und Mandeln aus einem zähen Kuchenteig, dass ohne das Drastische und Packende auf der Bühne keine volle Wirkung erreicht werde, und dass Schiller aus Kant wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei. Das ist freilich alles neu und auffallend, aber es gefällt uns nicht, ob es gleich auffällt; und so gewiss es neu ist, so gewiss wird es nie alt werden, weil es nie jung war, sondern als Grossonkel-Einfall aus dem Mutterleibe kam. Auf was für Gedanken kommen doch die Seligen neuen Stils in ihrem ästhetischen Himmelreich. Und warum haben sie nicht wenigstens einiges vergessen, wenn es nun einmal so unästhetisch, so irdisch vergänglich ist und noch dazu den Stempel des Albernen so sichtlich trägt, wie zum Beispiel einige Lehrmeinungen des Gervinus. Fast scheint es aber, als ob die bescheidene Grösse eines Strauss und die unbescheidene Minimität des Gervinus nur zu gut sich mit einander vertragen wollten: und Heil dann allen jenen Seligen, Heil auch uns Unseligen, wenn dieser unbezweifelte Kunstrichter seinen angelernten Enthusiasmus und seinen Miethpferde-Galopp, von dem mit geziemender Deutlichkeit der ehrliche Grillparzer geredet hat, nun auch wieder weiter lehrt und bald der ganze Himmel unter dem Hufschlag jenes galoppirenden Enthusiasmus wiederklingt! Dann wird es doch wenigstens etwas lebhafter und lauter zugehen als jetzt, wo uns die schleichende Filzsocken-Begeisterung unseres himmlischen Führers und die laulichte Beredsamkeit seines Mundes auf die Dauer müde und ekel machen. Ich möchte wissen, wie ein Hallelujah aus Straussens Munde klänge: ich glaube, man muss genau hinhören, sonst kann man glauben, eine höfliche Entschuldigung oder eine geflüsterte Galanterie zu hören. Ich weiss davon ein belehrendes und abschreckendes Beispiel zu erzählen. Strauss hat es einem seiner Widersacher schwer übel genommen, dass er von seinen Reverenzen vor Lessing redet – der Unglückliche hatte sich eben verhört! Strauss freilich behauptet, das müsse ein Stumpfsinniger sein, der seinen einfachen Worten über Lessing in No. 90 nicht anfühle, dass sie warm aus dem Herzen kommen. Ich zweifle nun an dieser Wärme durchaus nicht; im Gegentheil hat diese Wärme für Lessing bei Strauss mir immer etwas Verdächtiges gehabt; dieselbe verdächtige Wärme für Lessing finde ich, bis zur Erhitzung gesteigert, bei Gervinus; ja im Ganzen ist keiner der grossen deutschen Schriftsteller bei den kleinen deutschen Schriftstellern so populär, wie Lessing; und doch sollen sie keinen Dank dafür haben: denn was loben sie eigentlich an Lessing? Einmal seine Universalität: er ist Kritiker und Dichter, Archäolog und Philosoph, Dramaturg und Theolog. Sodann "diese Einheit des Schriftstellers und des Menschen, des Kopfes und des Herzens." Das Letztere zeichnet jeden grossen Schriftsteller, mitunter selbst einen kleinen aus, im Grunde verträgt sich sogar der enge Kopf zum Erschrecken gut mit einem engen Herzen. Und das Erstere, jene Universalität, ist an sich gar keine Auszeichnung, zumal sie in dem Falle Lessings nur eine Noth war. Vielmehr ist gerade dies das Wunderbare an jenen Lessing-Enthusiasten, dass sie eben für jene verzehrende Noth, die ihn durch das Leben und zu dieser "Universalität" trieb, keinen Blick haben, kein Gefühl, dass ein solcher Mensch wie eine Flamme zu geschwind abbrannte, keine Entrüstung dafür, dass die gemeinste Enge und Armseligkeit aller seiner Umgebungen und namentlich seiner gelehrten Zeitgenossen so ein zart erglühendes Wesen trübte, quälte, erstickte, so dass eben jene gelobte Universalität ein tiefes Mitleid erzeugen sollte. "Bedauert doch, ruft uns Goethe zu, den ausserordentlichen Menschen, dass er in einer so erbärmlichen Zeit leben, dass er immerfort polemisch wirken musste." Wie, Ihr, meine guten Philister, dürftet ohne Scham an diesen Lessing denken, der gerade an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Missstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zu Grunde ging, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmann's Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befreien, bei den Jesuiten um Hülfe betteln ging, und dessen schmählicher Uebertritt nicht ihn, sondern euch geschändet hat? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen, ohne zu erröthen? Seht sein Bild euch an! Das funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödtlich geröthete Wange, das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches, göttliches Spielzeug, das durch euch zerbrochen wurde. Und nehmt noch Goethes Freundschaft aus diesem verkümmerten, zu Tode gehetzten Leben heraus, an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller erlöschen zu machen! Bei keinem Lebenswerk eurer grossen Genien habt ihr mitgeholfen, und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, dass keinem mehr geholfen werde? Aber bei jedem wart ihr jener "Widerstand der stumpfen Welt," den Göthe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für jeden wart ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaften Selbstsüchtigen: trotz euch schufen sie ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe, und Dank euch sanken sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen gebrochen oder betäubt, dahin. Und euch sollte es jetzt, tamquam re bene gesta, erlaubt sein, solche Männer zu loben! und dazu mit Worten, aus denen ersichtlich ist, an wen ihr im Grunde bei diesem Lobe denkt, und die deshalb "so warm aus dem Herzen dringen", dass einer freilich stumpfsinnig sein muss, um nicht zu merken, wem die Reverenzen eigentlich erwiesen werden. Wahrhaftig, wir brauchen einen Lessing, rief schon Göthe, und wehe allen eiteln Magistern und dem ganzen ästhetischen Himmelreich, wenn erst der junge Tiger, dessen unruhige Kraft überall in schwellenden Muskeln und im Blick des Auges sichtbar wird, auf Raub ausgeht!

5.

Wie klug war mein Freund, dass er, durch jene chimärische Spuk-Gestalt über den Straussischen-Lessing und über Strauss aufgeklärt, nicht mehr weiter lesen mochte. Wir selbst aber haben weiter gelesen und auch bei dem neugläubigen Thürhüter des musikalischen Heiligthums Einlass begehrt. Der Magister öffnet, geht neben her, erklärt, nennt Namen – endlich bleiben wir misstrauisch stehen und sehen ihn an: sollte es uns nicht ergangen sein, wie es dem armen Freunde im Traume ergangen ist? Die Musiker, von denen Strauss spricht, scheinen uns, so lange er davon spricht, falsch benannt zu sein, und wir glauben, dass von Anderen, wenn nicht gar von neckischen Phantomen die Rede sei. Wenn er zum Beispiel mit jener Wärme, die uns bei seinem Lobe Lessings verdächtig war, den Namen Haydn in den Mund nimmt und sich als Epopt und Priester eines Haydnischen Mysterienkultus gebärdet, dabei aber Haydn mit einer "ehrlichen Suppe", Beethoven mit "Confect" (und zwar in Hinblick auf die Quartettmusik) vergleicht (p. 362), so stehe für uns nur eins fest: sein Confect-Beethoven ist nicht unser Beethoven, und sein Suppen-Haydn ist nicht unser Haydn. Uebrigens findet der Magister unsere Orchester zu gut für den Vortrag seines Haydn und hält dafür, dass nur die bescheidensten Dilettanten jener Musik gerecht werden könnten – wiederum ein Beweis, dass er von einem anderen Künstler und von anderen Kunstwerken, vielleicht von Riehl'scher Hausmusik, redet.

Wer mag aber nur jener Straussische Confect-Beethoven sein? Er soll neun Symphonien gemacht haben, von denen die Pastorale "die wenigst geistreiche" sei; jedesmal bei der dritten, wie wir erfahren, drängte es ihn, "über den Strang zu schlagen und ein Abenteuer zu suchen", woraus wir fast auf ein Doppelwesen halb Pferd, halb Ritter, rathen dürften. In Betreff einer gewissen "Eroica" wird jenem Centauren ernstlich zugesetzt, dass es ihm nicht gelungen sei auszudrücken, "ob es sich von Kämpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handele". In der Pastorale gebe es einen "trefflich wüthenden Sturm", für den es doch "gar zu unbedeutend" sei, dass er einen Bauerntanz unterbräche; und so sei durch das "willkürliche Festbinden an dem untergelegten trivialen Anlass", wie die ebenso gewandte als correcte Wendung lautet, diese Symphonie "die wenigst geistreiche" – es scheint dem klassischen Magister sogar ein derberes Wort vorgeschwebt zu haben, aber er zieht vor, sich hier "mit gebührender Bescheidenheit", wie er sagt, auszudrücken. Aber nein, damit hat er einmal Unrecht, unser Magister, er ist hier wirklich zu bescheiden. Wer soll uns denn noch über den Confect-Beethoven belehren, wenn nicht Strauss selbst, der Einzige, der ihn zu kennen scheint? Ueberdies kommt jetzt sofort ein kräftiges und mit der gebührenden Unbescheidenheit gesprochenes Urtheil und zwar gerade über die neunte Symphonie: diese nämlich soll nur bei denen beliebt sein, welchen "das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt" (p. 359). Freilich habe sie ein so strenger Kriticus wie Gervinus willkommen geheissen, nämlich als Bestätigung einer Gervinusschen Doctrin: er, Strauss, sei weit entfernt, in so "problematischen Produkten" seines Beethoven Verdienst zu suchen. "Es ist ein Elend, ruft unser Magister mit zärtlichen Seufzern aus, dass man sich bei Beethoven den Genuss und die gern gezollte Bewunderung durch solcherlei Einschränkungen verkümmern muss." Unser Magister ist nämlich ein Liebling der Grazien; und diese haben ihm erzählt, dass sie nur eine Strecke weit mit Beethoven gingen, und dass er sie dann wieder aus dem Gesicht verliere. "Dies ist ein Mangel, ruft er aus; aber sollte man glauben, dass es wohl auch als ein Vorzug erscheint?" "Wer die musikalische Idee mühsam und ausser Athem daherwälzt, wird die schwerere zu bewegen und der stärkere zu sein scheinen" (p. 355, 356). Dies ist ein Bekenntniss, und zwar nicht nur über Beethoven, sondern ein Bekenntniss des "klassischen Prosaschreibers" über sich selbst: ihn, den berühmten Autor, lassen die Grazien nicht von der Hand: von dem Spiele leichter Scherze – nämlich Straussischer Scherze – bis zu den Höhen des Ernstes – nämlich des Straussischen Ernstes – bleiben sie unbeirrt ihm zur Seite. Er, der klassische Schreibekünstler, schiebt seine Last leicht und spielend, während sie Beethoven ausser Athem einherwälzt. Er scheint mit seinem Gewichte nur zu tändeln: dies ist ein Vorzug; aber sollte man glauben, dass es wohl auch als Mangel erscheinen könnte? – Doch höchstens nur bei denen, welchen das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt – nicht wahr, Sie tändelnder Liebling der Grazien?

Wir beneiden Niemanden um die Erbauungen, die er sich in der Stille seines Kämmerleins oder in einem zurecht gemachten neuen Himmelreich verschafft; aber von allen möglichen ist doch die Straussische eine der wunderbarsten: denn er erbaut sich an einem kleinen Opferfeuer, in das er die erhabensten Werke der deutschen Nation gelassen hineinwirft, um mit ihrem Dampfe seine Götzen zu beräuchern. Dächten wir uns einen Augenblick, dass durch einen Zufall die Eroica, die Pastorale und die Neunte in den Besitz unseres Priesters der Grazien gerathen wären, und dass es von ihm nun abgehangen hätte, durch Beseitigung so "problematischer Produkte" das Bild des Meisters rein zu halten – wer zweifelt, dass er sie verbrannt hätte? Und so verfahren die Strausse unserer Tage thatsächlich: sie wollen von einem Künstler nur so weit wissen, als er sich für ihren Kammerdienst eignet und kennen nur den Gegensatz von Beräuchern und Verbrennen. Das sollte ihnen immerhin freistehen: das Wunderliche liegt nur darin, dass die ästhetische öffentliche Meinung so matt, unsicher und verführbar ist, dass sie sich ohne Einspruch ein solches Zur-Schau-Stellen der dürftigsten Philisterei gefallen lässt, ja, dass sie gar kein Gefühl für die Komik einer Scene besitzt, in der ein unästhetisches Magisterlein über Beethoven zu Gerichte sitzt. Und was Mozart betrifft, so sollte doch wahrhaftig hier gelten, was Aristoteles von Plato sagt: "ihn auch nur zu loben, ist den Schlechten nicht erlaubt." Hier ist aber jede Scham verloren gegangen, bei dem Publikum sowohl als bei dem Magister: man erlaubt ihm nicht nur, sich öffentlich vor den grössten und reinsten Erzeugnissen des germanischen Genius zu bekreuzigen, als ob er etwas Unzüchtiges und Gottloses gesehen hätte, man freut sich auch seiner unumwundenen Confessionen und Sündenbekenntnisse, besonders da er nicht Sünden bekennt, die er begangen, sondern die grosse Geister begangen haben sollen. Ach, wenn nur wirklich unser Magister immer Recht hat! denken seine verehrenden Leser doch mitunter in einer Anwandlung zweifelnder Empfindungen; er selbst aber steht da, lächelnd und überzeugt, perorirend, verdammend und segnend, vor sich selber den Hut schwenkend und wäre jeden Augenblick im Stande zu sagen, was die Herzogin Delaforte zu Madame de Stahle sagte: "ich muss es gestehen, meine liebe Freundin, ich finde Niemanden, der beständig Recht hätte, als mich."

6.

Ein Leichnam ist für den Wurm ein schöner Gedanke und der Wurm ein schrecklicher für jedes Lebendige. Würmer träumen sich ihr Himmelreich in einem fetten Körper, Philosophieprofessoren im Zerwühlen Schopenhauerischer Eingeweide, und so lange es Nagethiere giebt, gab es auch einen Nagethierhimmel. Damit ist unsere erste Frage: Wie denkt sich der neue Gläubige seinen Himmel? beantwortet. Der Straussische Philister haust in den Werken unserer grossen Dichter und Musiker wie ein Gewürm, welches lebt, indem es zerstört, bewundert, indem es frisst, anbetet, indem es verdaut.

Nun lautet aber unsere zweite Frage: Wie weit reicht der Muth, den die neue Religion ihren Gläubigen verleiht? Auch sie würde bereits beantwortet sein, wenn Muth und Unbescheidenheit eins wären: denn dann würde es Strauss in nichts an einem wahren und gerechten Mameluken-Muthe gebrechen, wenigstens ist die gebührende Bescheidenheit, von der Strauss in einer eben erwähnten Stelle in Bezug auf Beethoven spricht, nur eine stilistische, keine moralische Wendung. Strauss participirt hinreichend an der Keckheit, zu der jeder siegreiche Held sich berechtigt glaubt; alle Blumen sind nur für ihn, den Sieger, gewachsen, und er lobt die Sonne, dass sie zur rechten Zeit gerade seine Fenster bescheint. Selbst das alte und ehrwürdige Universum lässt er mit seinem Lobe nicht unangetastet, als ob es erst durch dieses Lob geweiht werden müsste und sich von jetzt ab allein um die Centralmonade Strauss schwingen dürfte. Das Universum, weiss er uns zu belehren, sei zwar eine Maschine mit eisernen, gezahnten Rädern, mit schweren Hämmern und Stampfen, aber "es bewegen sich in ihr nicht bloss unbarmherzige Räder, es ergiesst sich auch linderndes Oel" (p. 365). Das Universum wird dem bilderwüthigen Magister nicht gerade Dank wissen, dass er kein besseres Gleichniss zu seinem Lobe erfinden konnte, wenn es sich auch einmal gefallen lassen sollte, von Strauss gelobt zu werden. Wie nennt man doch das Oel, das an den Hämmern und Stampfen einer Maschine niederträufelt? Und was würde es den Arbeiter trösten, zu wissen, dass dieses Oel sich auf ihn ergiesst, während die Maschine seine Glieder fasst? Nehmen wir einmal an, das Bild sei verunglückt, so zieht eine andere Prozedur unsere Aufmerksamkeit auf sich, durch die Strauss zu ermitteln sucht, wie er eigentlich gegen das Universum gestimmt sei, und bei der ihm die Frage Gretchens auf den Lippen schwebt: "Er liebt mich – liebt mich nicht – liebt mich?" Wenn nun Strauss auch nicht Blumen zerpflückt oder Rockknöpfe abzählt, so ist doch das, was er thut, nicht weniger harmlos, obwohl vielleicht etwas mehr Muth dazu gehört. Strauss will in Erfahrung ziehen, ob sein Gefühl für das "All" gelähmt und abgestorben sei oder nicht, und sticht sich: denn er weiss, dass man ein Glied ohne Schmerz mit der Nadel stechen kann, falls es abgestorben oder gelähmt ist. Eigentlich freilich sticht er sich nicht, sondern wählt eine noch gewaltthätigere Prozedur, die er also beschreibt: "Wir schlagen Schopenhauer auf, der dieser unserer Idee bei jeder Gelegenheit in's Gesicht schlägt" (p. 143). Da nun eine Idee, selbst die schönste Straussen-Idee vom Universum, kein Gesicht hat, sondern nur der, welcher die Idee hat, so besteht die Prozedur aus folgenden einzelnen Actionen: Strauss schlägt Schopenhauer – allerdings sogar auf: worauf Schopenhauer bei dieser Gelegenheit Strauss in's Gesicht schlägt. Jetzt "reagirt" Strauss "religiös", das heisst, er schlägt wieder auf Schopenhauer los, schimpft, redet von Absurditäten, Blasphemien, Ruchlosigkeiten, urtheilt sogar, dass Schopenhauer nicht bei Troste gewesen sei. Resultat der Prügelei: "wir fordern für unser Universum dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott" – oder kürzer: "er liebt mich!" Er macht sich das Leben schwer, unser Liebling der Grazien, aber er ist muthig wie ein Mameluk und fürchtet weder den Teufel noch Schopenhauer. Wie viel "linderndes Oel" verbraucht er, wenn solche Prozeduren häufig sein sollten!

Andererseits verstehen wir, welchen Dank Strauss dem kitzelnden, stechenden und schlagenden Schopenhauer schuldet; deshalb sind wir auch durch folgende ausdrückliche Gunstbezeigung gegen ihn nicht weiter überrascht: "in Arthur Schopenhauers Schriften braucht man bloss zu blättern, obwohl man übrigens gut thut, nicht bloss darin zu blättern, sondern sie zu studiren, u. s. w." (p. 141 ). Wem sagt dies eigentlich der Philisterhäuptling? Er, dem man gerade nachweisen kann, dass er Schopenhauer nie studirt hat, er, von dem Schopenhauer umgekehrt sagen müsste: "das ist ein Autor, der nicht durchblättert, geschweige studirt zu werden verdient." Offenbar ist ihm Schopenhauer in die unrechte Kehle gekommen: indem er sich über ihn räuspert, sucht er ihn loszuwerden. Damit aber das Maass naiver Lobreden voll werde, erlaubt sich Strauss noch eine Anempfehlung des alten Kant: er nennt dessen Allgemeine Geschichte und Theorie des Himmels vom Jahre 1755 "eine Schrift, die mir immer nicht weniger bedeutend erschienen ist, als seine spätere Vernunftkritik. Ist hier die Tiefe des Einblicks, so ist dort die Weite des Umblicks zu bewundern: haben wir hier den Greis, dem es vor allem um die Sicherheit eines wenn auch beschränkten Erkenntnissbesitzes zu thun ist, so tritt uns dort der Mann mit dem vollen Muthe des geistigen Entdeckers und Eroberers entgegen." Dieses Urtheil Straussens über Kant ist mir immer nicht mehr bescheiden als jenes über Schopenhauer erschienen: haben wir hier den Häuptling, dem es vor allem um die Sicherheit im Aussprechen eines wenn auch noch so beschränkten Urtheils zu thun ist, so tritt uns dort der berühmte Prosaschreiber entgegen, der mit dem vollen Muthe der Ignoranz selbst über Kant seine Lob-Essenzen ausgiesst. Gerade die rein unglaubliche Thatsache, dass Strauss von der Kantischen Vernunftkritik für sein Testament der modernen Ideen gar nichts zu gewinnen wusste, und dass er überall nur dem gröblichsten Realismus zu Gefallen redet, gehört mit zu den auffallenden Charakterzügen dieses neuen Evangeliums, das sich übrigens auch nur als das mühsam errungene Resultat fortgesetzter Geschichts- und Natur-Forschung bezeichnet und somit selbst das philosophische Element abläugnet. Für den Philisterhäuptling und seine "Wir" giebt es keine Kantische Philosophie. Er ahnt nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem höchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft. Oder: gerade die Vernunft sollte ihm sagen, wie wenig durch die Vernunft über das Ansich der Dinge auszumachen ist. Es ist aber wahr, dass es Leuten in gewissen Lebensaltern unmöglich ist, Kant zu verstehen, besonders wenn man in der Jugend, wie Strauss, den "Riesengeist" Hegel verstanden hat oder verstanden zu haben wähnt, ja daneben sich mit Schleiermacher, "der des Scharfsinns fast allzuviel besass", wie Strauss sagt, befassen musste. Es wird Strauss seltsam klingen, wenn ich ihm sage, dass er auch jetzt noch zu Hegel und Schleiermacher in "schlechthiniger Abhängigkeit" steht, und dass seine Lehre vom Universum, die Betrachtungsart der Dinge sub specie biennii und seine Rückenkrümmungen vor den deutschen Zuständen, vor allem aber sein schamloser Philister-Optimismus aus gewissen früheren Jugendeindrücken, Gewohnheiten und Krankheits-Phänomenen zu erklären sei. Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte, wird nie wieder ganz curirt.

Es giebt eine Stelle in dem Bekenntnissbuche, in der sich jener incurable Optimismus mit einem wahrhaft feiertagsmässigen Behagen daherwälzt (p. 142, 143). "Wenn die Welt ein Ding ist, sagt Strauss, das besser nicht wäre, ei so ist ja auch das Denken des Philosophen, das ein Stück dieser Welt bildet, ein Denken, das besser nicht dächte. Der pessimistische Philosoph bemerkt nicht, wie er vor allem auch sein eigenes, die Welt für schlecht erklärendes Denken für schlecht erklärt; ist aber ein Denken, das die Welt für schlecht erklärt, ein schlechtes Denken, so ist ja die Welt vielmehr gut. Der Optimismus mag sich in der Regel sein Geschäft zu leicht machen, dagegen sind Schopenhauers Nachweisungen der gewaltigen Rolle, die Schmerz und Uebel in der Welt spielen, ganz am Platze; aber jede wahre Philosophie ist nothwendig optimistisch, weil sie sonst sich selbst das Recht der Existenz abspricht." Wenn diese Widerlegung Schopenhauer's nicht eben das ist, was Strauss einmal an einer anderen Stelle eine "Widerlegung unter dem lauten Jubel der höheren Räume" nennt, so verstehe ich diese theatralische Wendung, deren er sich einmal gegen einen Widersacher bedient, gar nicht. Der Optimismus hat sich hier einmal mit Absicht sein Geschäft leicht gemacht. Aber gerade das war das Kunststück, so zu thun, als ob es gar nichts wäre, Schopenhauer zu widerlegen und die Last so spielend fortzuschieben, dass die drei Grazien an dem tändelnden Optimisten jeden Augenblick ihre Freude haben. Eben dies soll durch die That gezeigt werden, dass es gar nicht nöthig ist, mit einem Pessimisten es ernst zu nehmen: die haltlosesten Sophismen sind gerade recht, um kund zu thun, dass man an eine so "ungesunde und unerspriessliche" Philosophie wie die Schopenhauerische keine Gründe, sondern höchstens nur Worte und Scherze verschwenden dürfe. An solchen Stellen begreift man Schopenhauers feierliche Erklärung, dass ihm der Optimismus, wo er nicht etwa das gedankenlose Reden solcher ist, unter deren platten Stirnen nichts als Worte herbergen, nicht blos als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit. Wenn der Philister es zum System bringt, wie Strauss, so bringt er es auch zur ruchlosen Denkungsart, das heisst, zu einer stumpfsinnigsten Behäbigkeitslehre des "Ich" oder der "Wir" und erregt Indignation.

Wer vermöchte zum Beispiel folgende psychologische Erklärung ohne Entrüstung zu lesen, weil sie recht ersichtlich nur am Stamme jener ruchlosen Behäbigkeitstheorie gewachsen sein kann: "niemals, äusserte Beethoven, wäre er im Stande gewesen, einen Text wie Figaro oder Don Juan zu componiren. So hatte ihm das Leben nicht gelächelt, dass er es so heiter hätte ansehen, es mit den Schwächen der Menschen so leicht nehmen können" (p.360). Um aber das stärkste Beispiel jener ruchlosen Vulgarität der Gesinnung anzuführen: so genüge hier die Andeutung, dass Strauss den ganzen furchtbar ernsten Trieb der Verneinung und die Richtung auf asketische Heiligung in den ersten Jahrhunderten des Christenthums sich nicht anders zu erklären weiss, als aus einer vorangegangenen Uebersättigung in geschlechtlichen Genüssen aller Art und dadurch erzeugtem Ekel und Uebel befinden:

"Perser nennen's bidamag buden,
Deutsche sagen Katzenjammer".

So citirt Strauss selbst und schämt sich nicht. Wir aber wenden uns einen Augenblick ab, um unseren Ekel zu überwinden.

7.

In der That, unser Philisterhäuptling ist tapfer, ja tollkühn in Worten, überall wo er durch eine solche Tapferkeit seine edlen "Wir" zu ergötzen glauben darf. Also die Askese und Selbstverleugnung der alten Einsiedler und Heiligen soll einmal als eine Form des Katzenjammers gelten, Jesus mag als Schwärmer beschrieben werden, der in unserer Zeit kaum dem Irrenhause entgehen würde, die Geschichte von der Auferstehung Jesu mag ein "welthistorischer Humbug" genannt werden – alles das wollen wir uns einmal gefallen lassen, um daran die eigenthümliche Art des Muthes zu studiren, dessen Strauss, unser "klassischer Philister", fähig ist.

Hören wir zunächst sein Bekenntniss: "Es ist freilich ein missliebiges und undankbares Amt, der Welt gerade das zu sagen, was sie am wenigsten hören mag. Sie wirthschaftet gern aus dem Vollen, wie grosse Herren, nimmt ein und giebt aus, so lange sie etwas auszugeben hat: aber wenn nun einer die Posten zusammenrechnet und ihr sogleich die Bilanz vorlegt, so betrachtet sie den als einen Störenfried. Und eben dazu hat mich von jeher meine Gemüths- und Geistesart getrieben." Eine solche Gemüths- und Geistesart mag man immerhin muthig nennen, doch bleibt es zweifelhaft, ob dieser Muth ein natürlicher und ursprünglicher oder nicht vielmehr ein angelernter und künstlicher ist; vielleicht hat sich Strauss nur bei Zeiten daran gewöhnt, der Störenfried von Beruf zu sein, bis er sich so allmählich einen Muth von Beruf anerzogen hat. Damit verträgt sich ganz vortrefflich natürliche Feigheit, wie sie dem Philister zu eigen ist: diese zeigt sich ganz besonders in der Consequenzlosigkeit jener Sätze, welche auszusprechen Muth kostet; es klingt wie Donner, und die Atmosphäre wird doch nicht gereinigt. Er bringt es nicht zu einer aggressiven That, sondern nur zu aggressiven Worten, wählt aber diese so beleidigend als möglich und verbraucht in derben und polternden Ausdrücken alles das, was an Energie und Kraft in ihm sich aufgesammelt hat; nachdem das Wort verklungen ist, ist er feiger als der, welcher nie gesprochen hat. Ja, selbst das Schattenbild der Thaten, die Ethik, zeigt, dass er ein Held der Worte ist, und dass er jede Gelegenheit vermeidet, bei der es nöthig ist, von den Worten zum grimmigen Ernste weiterzugehen. Er verkündet mit bewunderungswürdiger Offenheit, dass er kein Christ mehr ist, will aber keine Zufriedenheit irgend welcher Art stören; ihm scheint es widersprechend, einen Verein zu stiften, um einen Verein zu stürzen – was gar nicht so widersprechend ist. Mit einem gewissen rauhen Wohlbehagen hüllt er sich in das zottige Gewand unserer Affengenealogen und preist Darwin als einen der grössten Wohlthäter der Menschheit – aber mit Beschämung sehen wir, dass seine Ethik ganz losgelöst von der Frage: "wie begreifen wir die Welt?" sich aufbaut. Hier war eine Gelegenheit, natürlichen Muth zu zeigen: denn hier hätte er seinen "Wir" den Rücken kehren müssen und kühnlich aus dem bellum omnium contra omnes und dem Vorrechte des Stärkeren Moralvorschriften für das Leben ableiten können, die freilich nur in einem innerlich unerschrockenen Sinne, wie in dem des Hobbes, und in einer ganz anderen grossartigen Wahrheitsliebe ihren Ursprung haben müssten, als in einer solchen, die immer nur in kräftigen Ausfällen gegen die Pfaffen, das Wunder und den "welthistorischen Humbug" der Auferstehung explodirt. Denn mit einer ächten und ernst durchgeführten Darwinistischen Ethik hätte man den Philister gegen sich, den man bei allen solchen Ausfällen für sich hat.

"Alles sittliche Handeln", sagt Strauss, "ist ein Sichbestimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung." In's Deutliche und Greifbare übertragen heisst das nur: Lebe als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraftlos, weil unter dem Begriff Mensch das Mannichfaltigste zusammen im Joche geht, zum Beispiel der Patagonier und der Magister Strauss, und weil Niemand wagen wird, mit gleichem Rechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: lebe als Magister Strauss! Wollte aber gar Jemand sich die Forderung stellen: lebe als Genie, das heisst eben als idealer Ausdruck der Gattung Mensch, und wäre doch zufällig entweder Patagonier oder Magister Strauss, was würden wir dann erst von den Zudringlichkeiten geniesüchtiger Original-Narren zu leiden haben, über deren pilzartiges Aufwachsen in Deutschland schon Lichtenberg klagte, und die mit wildem Geschrei von uns fordern, dass wir die Bekenntnisse ihres allerneuesten Glaubens anhören. Strauss hat noch nicht einmal gelernt, dass nie ein Begriff die Menschen sittlicher und besser machen kann, und dass Moral predigen eben so leicht als Moral begründen schwer ist; seine Aufgabe wäre vielmehr gewesen, die Phänomene menschlicher Güte, Barmherzigkeit, Liebe und Selbstverneinung, die nun einmal thatsächlich vorhanden sind, aus seinen Darwinistischen Voraussetzungen ernsthaft zu erklären und abzuleiten: während er es vorzog, durch einen Sprung in's Imperativische sich vor der Aufgabe der Erklärung zu flüchten. Bei diesem Sprunge begegnet es ihm sogar, auch über den Fundamentalsatz Darwins leichten Sinnes hinwegzuhüpfen. "Vergiss" sagt Strauss, "in keinem Augenblicke, dass du Mensch und kein blosses Naturwesen bist, in keinem Augenblicke, dass alle anderen gleichfalls Menschen, das heisst, bei aller individuellen Verschiedenheit, dasselbe wie du, mit den gleichen Bedürfnissen und Ansprüchen wie du, sind – das ist der Inbegriff aller Moral." (p. 238). Aber woher erschallt dieser Imperativ? Wie kann ihn der Mensch in sich selbst haben, da er doch, nach Darwin, eben durchaus ein Naturwesen ist und nach ganz anderen Gesetzen sich bis zur Höhe des Menschen entwickelt hat, gerade dadurch, dass er in jedem Augenblick vergass, dass die anderen gleichartigen Wesen ebenso berechtigt seien, gerade dadurch, dass er sich dabei als den Kräftigeren fühlte und den Untergang der anderen schwächer gearteten Exemplare allmählich herbeiführte. Während Strauss doch annehmen muss, dass nie zwei Wesen völlig gleich waren, und dass an dem Gesetz der individuellen Verschiedenheit die ganze Entwickelung des Menschen von der Thierstufe bis hinauf zur Höhe des Kulturphilisters hängt, so kostet es ihm doch keine Mühe, auch einmal das Umgekehrte zu verkündigen: "benimm dich so, als ob es keine individuellen Verschiedenheiten gebe!" Wo ist da die Morallehre Strauss – Darwin, wo überhaupt der Muth geblieben!

Sofort bekommen wir einen neuen Beleg, an welchen Grenzen jener Muth in sein Gegentheil umschlägt. Denn Strauss fährt fort: "Vergiss in keinem Augenblick, dass du und Alles, was du in dir und um dich her wahrnimmst, kein zusammenhangloses Bruchstück, kein wildes Chaos von Atomen und Zufälligkeiten ist, sondern dass alles nach ewigen Gesetzen aus dem Einen Urquell alles Lebens, aller Vernunft und alles Guten hervorgeht – das ist der Inbegriff der Religion." Aus jenem "einen Urquell" fliesst aber zugleich aller Untergang, alle Unvernunft, alles Böse, und sein Name heisst bei Strauss das Universum. Wie sollte dies, bei einem solchen widersprechenden und sich selbst aufhebenden Charakter, einer religiösen Verehrung würdig sein und mit dem Namen "Gott" angeredet werden dürfen, wie es eben Strauss p. 365 thut: "unser Gott nimmt uns nicht von aussen in seinen Arm (man erwartet hier als Gegensatz ein allerdings sehr wunderliches Von innen in den Arm nehmen!), sondern er eröffnet uns Quellen des Trostes in unserem Innern. Er zeigt uns, dass zwar der Zufall ein unvernünftiger Weltherrscher wäre, dass aber die Nothwendigkeit, d. h. die Verkettung von Ursachen in der Welt, die Vernunft selber ist" (eine Erschleichung, die nur die "Wir" nicht merken, weil sie in dieser Hegelischen Anbetung des Wirklichen als des Vernünftigen, das heisst in der Vergötterung des Erfolges gross gezogen sind). "Er lehrt uns erkennen, dass eine Ausnahme von dem Vollzug eines einzigen Naturgesetzes verlangen, die Zertrümmerung des All verlangen hiesse." Im Gegentheil, Herr Magister: ein ehrlicher Naturforscher glaubt an die unbedingte Gesetzmässigkeit der Welt, ohne aber das Geringste über den ethischen oder intellectuellen Werth dieser Gesetze selbst auszusagen: in derartigen Aussagen würde er das höchst anthropomorphische Gebahren einer nicht in den Schranken des Erlaubten sich haltenden Vernunft erkennen. An eben dem Punkte aber, an welchem der ehrliche Naturforscher resignirt, "reagirt" Strauss, um uns mit seinen Federn zu schmücken, "religiös" und verfährt naturwissenschaftlich und wissentlich unehrlich; er nimmt ohne Weiteres an, dass alles Geschehene den höchsten intellectuellen Werth habe, also absolut vernünftig und zweckvoll geordnet sei, und sodann, dass es eine Offenbarung der ewigen Güte selbst enthalte. Er bedarf also einer vollständigen Kosmodicee und steht jetzt im Nachtheil gegen den, dem es nur um eine Theodicee zu thun ist, und der zum Beispiel das ganze Dasein des Menschen als einen Strafakt oder Läuterungs-Zustand auffassen darf. An diesem Punkte und in dieser Verlegenheit macht Strauss sogar einmal eine metaphysische Hypothese, die dürrste und gichtbrüchigste, die es giebt, und im Grunde nur die unfreiwillige Parodie eines Lessingischen Wortes. "Jenes andere Wort Lessing's (so heisst es p. 219): Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb darnach, obschon unter der Bedingung beständigen Irrens, ihm zur Wahl vorhielte, würde er demüthig Gott in seine Linke fallen und sich deren Inhalt für sich erbitten – dieses Lessing'sche Wort hat man von jeher zu den herrlichsten gerechnet, die er uns hinterlassen hat. Man hat darin den genialen Ausdruck seiner rastlosen Forschungs- und Thätigkeitslust gefunden. Auf mich hat das Wort immer deswegen einen so ganz besondern Eindruck gemacht, weil ich hinter seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite anklingen hörte. Denn liegt darin nicht die beste Antwort auf die grobe Schopenhauer'sche Rede von dem übelberathenen Gott, der nichts besseres zu thun gewusst, als in diese elende Welt einzugehen? Wenn nämlich der Schöpfer selbst auch der Meinung Lessing's gewesen wäre, das Ringen dem ruhigen Besitze vorzuziehen?" Also wahrhaftig ein Gott, der sich das beständige Irren , aber mit dem Streben nach Wahrheit, vorbehält und vielleicht sogar Strauss demüthig in die Linke fällt, um ihm zu sagen: nimm du die ganze Wahrheit. Wenn je ein Gott und ein Mensch übelberathen waren, so ist es doch dieser Straussische Gott, der die Liebhaberei zu irren und zu fehlen hat, und der Straussische Mensch, der diese Liebhaberei büssen muss – da hört man freilich "eine Bedeutung von unendlicher Tragweite anklingen", da fliesst das lindernde Universal-Öl Straussens, da ahnt man die Vernünftigkeit alles Werdens und aller Naturgesetze! Wirklich? Wäre dann nicht vielmehr unsere Welt, wie das Lichtenberg einmal ausgedrückt hat, das Werk eines untergeordneten Wesens, das die Sache noch nicht recht verstand, also ein Versuch? ein Probestück, an dem noch gearbeitet wird? Strauss selber müsste sich dann doch zugeben, dass unsere Welt eben nicht der Schauplatz der Vernunft, sondern des Irrens sei, und dass alle Gesetzmässigkeit nichts Tröstliches enthalte, weil alle Gesetze von einem irrenden und zwar aus Vergnügen irrenden Gott gegeben sind. Es ist wahrhaftig ein ergötzliches Schauspiel, Strauss als metaphysischen Baumeister einmal in die Wolken hineinbauen zu sehen. Aber für wen wird dies Schauspiel aufgeführt? Für die edlen und behäbigen "Wir", damit ihnen nur ja der Humor nicht verdorben werde: vielleicht sind sie inmitten des starren und erbarmungslosen Räderwerks der Weltmaschine in Angst gerathen und bitten zitternd ihren Führer um Hülfe. Deshalb lässt Strauss "linderndes Öl" fliessen, deshalb führt er einen aus Passion irrenden Gott am Seile herbei, deshalb spielt er einmal die gänzlich befremdende Rolle eines metaphysischen Architekten. Alles dieses thut er, weil jene sich fürchten und er selber sich fürchtet – und hier gerade ist die Grenze seines Muthes, selbst seinen "Wir" gegenüber. Er wagt es nämlich nicht, ihnen ehrlich zu sagen: von einem helfenden und sich erbarmenden Gott habe ich euch befreit, das "Universum" ist nur ein starres Räderwerk, seht zu, dass seine Räder euch nicht zermalmen! Er wagt es nicht: so muss denn doch die Hexe dran, nämlich die Metaphysik. Dem Philister aber ist selbst eine Straussische Metaphysik lieber als die christliche und die Vorstellung eines irrenden Gottes sympathischer als die eines wunderthätigen. Denn er. selbst, der Philister, irrt, aber hat noch nie ein Wunder gethan.

Aus eben diesem Grunde ist dem Philister das Genie verhasst: denn gerade dieses steht mit Recht im Rufe, Wunder zu thun; und höchst belehrend ist es deshalb zu erkennen, weshalb an einer einzigen Stelle Strauss einmal sich zum kecken Vertheidiger des Genies und überhaupt der aristokratischen Natur des Geistes aufwirft. Weshalb doch? Aus Furcht, und zwar vor den Socialdemokraten. Er verweist auf die Bismarck, Moltke, "deren Grösse um so weniger zu verläugnen steht, als sie auf dem Gebiete der handgreiflichen äusseren Thatsachen hervortritt. Da müssen nun doch auch die steifnackigsten und borstigsten unter jenen Gesellen sich bequemen, ein wenig aufwärts zu blicken, um die erhabenen Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen." Wollen Sie, Herr Magister, vielleicht den Social-Demokraten eine Anleitung geben, Fusstritte zu empfangen? Der gute Wille, solche zu ertheilen, ist ja überall vorhanden, und dass die Getretenen bei dieser Prozedur die erhabenen Gestalten "bis zum Knie" zu sehen bekommen, dürfen Sie schon verbürgen. "Auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft, fährt Strauss fort, wird es nie an bauenden Königen fehlen, die einer Masse von Kärrnern zu thun geben". Gut – aber wenn nun einmal die Kärmer bauen? Es kommt vor, Herr Metaphysicus, Sie wissen es – dann haben die Könige zu lachen.

In der That diese Vereinigung von Dreistigkeit und Schwäche, tollkühnen Worten und feigem Sich – Anbequemen, dieses feine Abwägen, wie und mit welchen Sätzen man einmal dem Philister imponiren, mit welchen man ihn streicheln kann, dieser Mangel an Charakter und Kraft bei dem Anschein von Kraft und Charakter, dieser Defekt an Weisheit bei aller Affectation der Ueberlegenheit und Reife der Erfahrung – das alles ist es, was ich an diesem Buche hasse. Wenn ich mir denke, dass junge Männer ein solches Buch ertragen, ja werthschätzen könnten, so würde ich mit Betrübniss meinen Hoffnungen für ihre Zukunft entsagen. Dieses Bekenntniss einer ärmlichen, hoffnungslosen und wahrhaft verächtlichen Philisterei sollte der Ausdruck jener vielen Tausende von "Wir" sein, von denen Strauss redet, und diese "Wir" wären wiederum die Väter der nachfolgenden Generation! Es sind grauenhafte Voraussetzungen für jeden, der dem kommenden Geschlechte zu dem verhelfen möchte, was die Gegenwart nicht hat – zu einer wahrhaft deutschen Kultur. Einem solchen scheint der Boden mit Asche überdeckt, alle Gestirne verdunkelt; jeder abgestorbene Baum, jedes verwüstete Feld ruft ihm zu: Unfruchtbar! Verloren! Hier giebt es keinen Frühling wieder! Ihm muss zu Muthe werden, wie dem jungen Goethe zu Muthe war, als er in die triste atheistische Halbnacht des Systeme de la nature hineinblickte: ihm kam das Buch so grau, so kimmerisch, so todtenhaft vor, dass er Mühe hatte, seine Gegenwart auszuhalten, dass er davor wie vor einem Gespenste schauderte.

8.

Wir sind über den Himmel und den Muth des neuen Gläubigen hinlänglich belehrt, um uns nun auch die letzte Frage stellen zu können: Wie schreibt er seine Bücher? und welcher Art sind seine Religions-Urkunden?

Wer sich diese Frage streng und ohne Vorurtheil beantworten kann, für den wird die Thatsache, dass das Straussische Hand-Orakel des deutschen Philisters in sechs Auflagen begehrt worden ist, zum nachdenklichsten Probleme, besonders wenn er gar noch hört, dass es auch in den gelehrten Kreisen und selbst an den deutschen Universitäten als ein solches Hand-Orakel willkommen geheissen worden ist. Studenten sollen es wie einen Canon für starke Geister begrüsst, und Professoren sollen nicht widersprochen haben: hier und da hat man darin wirklich ein Religionsbuch für den Gelehrten finden wollen. Strauss selbst giebt zu verstehen, dass das Bekenntnissbuch nicht nur eine Auskunft für den Gelehrten und Gebildeten abgeben möge; aber wir halten uns hier daran, dass es sich zunächst an diese und zwar vornehmlich an die Gelehrten wendet, um ihnen den Spiegel eines Lebens vorzuhalten, wie sie es selbst leben. Denn dies ist das Kunststück: der Magister stellt sich, als ob er das Ideal einer neuen Weltbetrachtung entwerfe, und nun kommt ihm sein Lob aus jedem Munde zurück, weil Jeder meinen kann, gerade er betrachte Welt und Leben so, und gerade an ihm habe Strauss schon erfüllt sehen können, was er erst von der Zukunft fordere. Daraus erklärt sich auch zum Theil der ausserordentliche Erfolg jenes Buches: so, wie im Buche steht, leben wir, so wandeln wir beglückt! ruft der Gelehrte ihm entgegen und freut sich, dass andere sich daran freuen. Ob er über einzelne Dinge, zum Beispiel über Darwin oder die Todesstrafe, zufällig anders denkt als der Magister, hält er selbst für ziemlich gleichgültig, weil er so sicher fühlt, im Ganzen seine eigene Luft zu athmen, und den Widerklang seiner Stimme und seiner Bedürfnisse zu hören.

So peinlich diese Einmüthigkeit jeden wahren Freund deutscher Kultur berühren mag, so unerbittlich streng muss er sich eine solche Thatsache erklären und selbst davor nicht zurückschrecken, seine Erklärung öffentlich abzugeben.

Wir kennen ja alle die unserem Zeitalter eigenthümliche Art, die Wissenschaften zu betreiben, wir kennen sie, weil wir sie leben: und eben deshalb stellt sich fast Niemand die Frage, was wohl bei einer solchen Beschäftigung mit den Wissenschaften für die Kultur herauskommen könne, selbst vorausgesetzt, dass überall die beste Befähigung und der ehrlichste Wille, für die Kultur zu wirken, vorhanden sei. Es liegt ja im Wesen des wissenschaftlichen Menschen (ganz abgesehen von seiner gegenwärtigen Gestalt) ein rechtes Paradoxon: er benimmt sich wie der stolzeste Müssiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantirter Besitz. Ihm scheint es erlaubt, ein Leben auf Fragen zu verschwenden, deren Beantwortung im Grunde nur dem, der einer Ewigkeit versichert wäre, wichtig sein könnte. Rings umstarren ihn, den Erben weniger Stunden, die schrecklichsten Abstürze, jeder Tritt sollte ihn erinnern: Wozu? Wohin? Woher? Aber seine Seele erglüht bei der Aufgabe, die Staubfäden einer Blume zu zählen oder die Gesteine am Wege zu zerklopfen, und er versenkt in diese Arbeit das ganze, volle Gewicht seiner Theilnahme, Lust, Kraft und Begierde. Dieses Paradoxon, der wissenschaftliche Mensch, ist nun neuerdings in Deutschland in eine Hast gerathen, als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei, und jede Minuten-Versäumniss eine Strafe nach sich ziehe. Jetzt arbeitet er, so hart wie der vierte Stand, der Sclavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäftigung, sondern eine Noth, er sieht weder rechts noch links und geht durch alle Geschäfte und ebenso durch alle Bedenklichkeiten, die das Leben im Schoosse trägt, mit jener halben Aufmerksamkeit oder mit jenem widrigen Erholungs-Bedürfnisse hindurch, welches dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist.

So steht er nun auch zur Kultur. Er benimmt sich, als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: und selbst im Traume wirft er sein Joch nicht ab, wie ein Sclave, der selbst in der Freiheit von seiner Noth, seiner Hast und seinen Prügeln träumt. Unsere Gelehrten unterscheiden sich kaum und jedenfalls nicht zu ihren Gunsten von den Ackerbauern, die einen kleinen ererbten Besitz mehren wollen und emsig vom Tag bis in die Nacht hinein bemüht sind, den Acker zu bestellen, den Pflug zu führen und den Ochsen zuzurufen. Nun meint Pascal überhaupt, dass die Menschen so angelegentlich ihre Geschäfte und ihre Wissenschaften betrieben, um nur damit den wichtigsten Fragen zu entfliehen, die jede Einsamkeit, jede wirkliche Musse ihnen aufdringen würde, eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin. Unseren Gelehrten fällt sogar, wunderlicher Weise, die allernächste Frage nicht ein: wozu ihre Arbeit, ihre Hast, ihr schmerzlicher Taumel nütze sei. Doch nicht etwa, um Brot zu verdienen oder Ehrenstellen zu erjagen? Nein, wahrhaftig nicht. Aber doch mühet ihr euch in der Art der Darbenden und Brotbedürftigen, ja ihr reisst die Speisen mit einer Gier und ohne alle Wahl vom Tische der Wissenschaft, als ob ihr am Verhungern wäret. Wenn ihr aber, als wissenschaftliche Menschen, mit der Wissenschaft verfahrt, wie die Arbeiter mit den Aufgaben, die ihnen ihre Bedürftigkeit und Lebensnoth stellt, was soll da aus einer Kultur werden, die verurtheilt ist, gerade Angesichts einer solchen aufgeregten, athemlosen, hin – und herrennenden, ja zappelnden Wissenschaftlichkeit auf die Stunde ihrer Geburt und Erlösung zu warten? Für sie hat ja Niemand Zeit – und doch, was soll überhaupt die Wissenschaft, wenn sie nicht für die Kultur Zeit hat? So antwortet uns doch wenigstens hier: woher, wohin, wozu alle Wissenschaft, wenn sie nicht zur Kultur führen soll? Nun dann vielleicht zur Barbarei! Und in dieser Richtung sehen wir den Gelehrtenstand schon erschreckend vorgeschritten, wenn wir uns denken dürften, dass so oberflächliche Bücher, wie das Straussische, seinem jetzigen Kulturgrade genug thäten. Denn gerade in ihm finden wir jenes widrige Erholungs-Bedürfniss und jenes beiläufige mit halber Aufmerksamkeit hinhörende Sich-Abfinden mit der Philosophie und Kultur und überhaupt mit allem Ernste des Daseins. Man wird an die Gesellschaft der gelehrten Stände erinnert, die auch, wenn das Fachgespräch schweigt, nur von Ermüdung, von Zerstreuungslust um jeden Preis, von einem zerpflückten Gedächtniss und unzusammenhängender Lebenserfahrung Zeugniss ablegt. Wenn man Strauss über die Lebensfragen reden hört, sei es nun über die Probleme der Ehe oder über den Krieg oder die Todesstrafe, so erschreckt er uns durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in die Menschen: alles Urtheilen ist so büchermässig uniform, ja im Grunde sogar nur zeitungsgemäss; litterarische Reminiscenzen vertreten die Stelle von wirklichen Einfällen und Einsichten, eine affectirte Mässigung und Altklugheit in der Ausdrucksweise soll uns für den Mangel an Weisheit und an Gereiftheit des Denkens schadlos halten. Wie genau entspricht dies Alles dem Geiste der umlärmten Hochsitze deutscher Wissenschaft in den grossen Städten. Wie sympathisch muss dieser Geist zu jenem Geiste reden: denn gerade an jenen Stätten ist die Kultur am meisten abhanden gekommen, gerade an ihnen ist selbst das Aufkeimen einer neuen unmöglich gemacht; so lärmend sind die Zurüstungen der hier betriebenen Wissenschaften, so heerdenartig werden dort die beliebtesten Disciplinen auf Unkosten der wichtigsten überfallen. Mit welcher Laterne würde man hier nach Menschen suchen müssen, die eines innigen Sich – Versenkens und einer reinen Hingabe an den Genius fähig wären, und die Muth und Kraft genug hätten, Dämonen zu citiren, die aus unserer Zeit geflohen sind! Aeusserlich betrachtet, findet man freilich an jenen Stätten den ganzen Pomp der Kultur, sie gleichen mit ihren imponirenden Apparaten den Zeughäusern mit ihren ungeheuren Geschützen und Kriegswerkzeugen: wir sehen Zurüstungen und eine emsige Betriebsamkeit, als ob der Himmel gestürmt und die Wahrheit aus dem tiefsten Brunnen herauf geholt werden sollte, und doch kann man im Kriege die grössten Maschinen am schlechtesten gebrauchen. Und ebenso lässt die wirkliche Kultur bei ihrem Kampfe jene Stätten bei Seite liegen und fühlt mit dem besten Instinkte heraus, dass dort für sie nichts zu hoffen und viel zu fürchten ist. Denn die einzige Form der Kultur, mit der sich das entzündete Auge und das abgestumpfte Denk-Organ des gelehrten Arbeiter-Standes abgeben mag, ist eben jene Philister Kultur , deren Evangelium Strauss verkündet hat.

Betrachten wir einen Augenblick die hauptsächlichen Gründe jener Sympathie, die den gelehrten Arbeiterstand und die Philister-Kultur verknüpfen, so finden wir auch den Weg, der uns zu dem als klassisch anerkannten Schriftsteller Strauss und damit zu unserem letzten Hauptthema führt.

Jene Kultur hat erstens den Ausdruck der Zufriedenheit im Gesichte und will nichts Wesentliches an dem gegenwärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert haben; vor allem ist sie ernstlich von der Singularität aller deutschen Erziehungs-Institutionen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt, hört nicht auf, diese dem Auslande anzuempfehlen, und zweifelt keinen Augenblick daran, dass man durch dieselben das gebildetste und urtheilsfähigste Volk der Welt geworden sei. Die Philister-Kultur glaubt an sich und darum auch an die ihr zu Gebote stehenden Methoden und Mittel. Zweitens aber legt sie das höchste Urtheil über alle Kultur- und Geschmacks-Fragen in die Hand des Gelehrten und betrachtet sich selbst als das immer anwachsende Compendium gelehrter Meinungen über Kunst, Litteratur und Philosophie; ihre Sorge ist, den Gelehrten zum Aussprechen seiner Meinungen zu nöthigen und diese dann vermischt, diluirt oder systematisirt dem deutschen Volke als Heiltrank einzugeben. Was ausserhalb dieser Kreise heranwächst, wird so lange mit zweifelnder Halbheit angehört oder nicht angehört, bemerkt oder nicht bemerkt, bis endlich einmal eine Stimme, gleichgültig von wem, wenn er nur recht streng den Gattungs-Charakter des Gelehrten an sich trägt, laut wird, heraus aus jenen Tempelräumen, in denen die traditionelle Geschmacks-Unfehlbarkeit herbergen soll: und von jetzt ab hat die öffentliche Meinung eine Meinung mehr und wiederholt mit hundertfachem Echo die Stimme jenes Einzelnen. In Wirklichkeit aber steht es um die ästhetische Unfehlbarkeit, die in diesen Räumen und bei jenen Einzelnen herbergen soll, sehr bedenklich und zwar so bedenklich, dass man so lange von dem Ungeschmack, der Gedankenlosigkeit und ästhetischen Rohheit eines Gelehrten überzeugt sein kann, als er nicht das Gegentheil erwiesen hat. Und nur Wenige werden das Gegentheil beweisen können. Denn wie Viele werden sich, nachdem sie sich an dem keuchenden und gehetzten Wettlauf der gegenwärtigen Wissenschaft betheiligt haben, überhaupt nur jenen muthigen und ruhenden Blick des kämpfenden Kultur-Menschen erhalten können, wenn sie ihn je besessen haben sollten, jenen Blick, der dieses Wettlaufen selbst als ein barbarisirendes Element verurtheilt? Deshalb müssen diese Wenigen fürderhin in einem Widerspruche leben: was vermöchten sie also gegen einen uniformen Glauben Unzähliger auszurichten, die allesammt die öffentliche Meinung zu ihrer Schutzpatronin gemacht haben und in diesem Glauben sich gegenseitig stützen und tragen? Was hilft es nun, wenn so ein Einzelner sich gegen Strauss erklärt, da doch die Vielen sich für ihn entschieden haben, und die von ihnen angeführte Masse sechs Mal hinter einander nach dem philiströsen Schlaftrunk des Magisters begehren gelernt hat.

Wenn wir hiermit ohne Weiteres angenommen haben, dass das Straussische Bekenntnissbuch bei der öffentlichen Meinung gesiegt habe und als Sieger willkommen geheissen sei, so würde sein Verfasser uns vielleicht aufmerksam machen, dass die mannichfachen Beurtheilungen seines Buches in öffentlichen Blättern einen durchaus nicht einmüthigen und am wenigsten einen unbedingt günstigen Charakter tragen, und dass er selbst gegen den bisweilen äusserst feindseligen Ton und die gar zu freche und herausfordernde Manier einiger dieser Zeitungskämpen in einem Nachwort sich habe verwahren müssen. Wie kann es, wird er uns zurufen, eine öffentliche Meinung über mein Buch geben, wenn trotzdem jeder Journalist mich als vogelfrei betrachten und nach Herzenslust schlecht behandeln darf! Dieser Widerspruch ist leicht zu heben, sobald man an dem Straussischen Buche zwei Seiten unterscheidet, eine theologische und eine schriftstellerische: nur mit der letzteren berührt jenes Buch die deutsche Kultur. Durch seine theologische Färbung steht es ausserhalb unserer deutschen Kultur und erweckt die Antipathien der verschiedenen theologischen Parteien, ja im Grunde jedes einzelnen Deutschen, insofern dieser ein theologischer Sektirer von Natur ist und seinen curiosen Privatglauben nur deshalb erfindet, um mit jedem anderen Glauben dissentiren zu können. Aber hört nur einmal alle diese theologischen Sektirer über Strauss reden, sobald von dem Schriftsteller Strauss gesprochen werden muss; sofort verklingt der theologische Dissonanzen-Lärm, und in reinem Einklang ertönt es wie aus dem Munde Einer Gemeinde: ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch! Jeder, auch der verbissenste Orthodoxe, sagt dem Schriftsteller das Günstigste in's Gesicht, und sei es auch nur ein Wort über seine fast Lessingische Dialektik oder über die Feinheit, Schönheit und Gültigkeit seiner ästhetischen Ansichten. Als Buch, so scheint es, entspricht das Straussische Produkt geradezu dem Ideal eines Buches. Die theologischen Widersacher sind, obwohl sie am lautesten geredet haben, in diesem Falle nur ein kleiner Bruchtheil des grossen Publikums: und selbst ihnen gegenüber wird Strauss Recht haben, wenn er sagt: "Gegen die Tausende meiner Leser sind die paar Dutzende meiner öffentlichen Tadler eine verschwindende Minderheit, und sie werden schwerlich beweisen können, dass sie durchaus die treuen Dollmetscher der ersteren sind. Wenn in einer Sache, wie diese, meistens die Nicht-Einverstandenen das Wort genommen, die Einverstandenen sich mit stiller Zustimmung begnügt haben, so liegt das in der Natur der Verhältnisse, die wir ja alle kennen." Also abgesehen von dem Aergerniss des theologischen Bekenntnisses, das Strauss hier und da erregt haben mag, über den Schriftsteller Strauss herrscht, selbst bei den fanatischen Widersachern, denen seine Stimme wie die Stimme des Thieres aus dem Abgrunde klingt, Einmüthigkeit. Und deshalb beweist die Behandlung, die Strauss durch die litterarischen Lohndiener der theologischen Parteien erfahren hat, nichts gegen unseren Satz, dass die Philister-Kultur in diesem Buche einen Triumph gefeiert hat.

Es ist zuzugeben, dass der gebildete Philister im Durchschnitt um einen Grad weniger freimüthig ist als Strauss, oder wenigstens bei öffentlichen Kundgebungen sich mehr zurückhält: um so erbaulicher ist ihm aber dieser Freimuth bei einem Anderen; zu Hause und unter seines Gleichen klatscht er sogar lärmend Beifall und nur gerade schriftlich mag er nicht bekennen, wie sehr ihm das alles von Strauss nach dem Herzen gesagt ist. Denn etwas feige ist nun einmal, wie wir bereits wissen, unser Bildungs-Philister, selbst bei den stärksten Sympathien: und gerade dass Strauss um einen Grad weniger feige ist, das macht ihn zum Führer, während es andererseits auch für seinen Muth eine sehr bestimmte Grenzlinie giebt. Wenn er diese überschritte, wie dies zum Beispiel Schopenhauer fast in jedem Satze thut, dann würde er nicht mehr wie ein Häuptling vor den Philistern herziehen, und man liefe ebenso hurtig davon, als man jetzt hinter ihm drein läuft. Wer dieses wenn nicht weise, so doch jedenfalls kluge Maasshalten und diese mediocritas des Muthes eine aristotelische Tugend nennen wollte, würde freilich im Irrthum sein: denn jener Muth ist nicht die Mitte zwischen zwei Fehlern, sondern zwischen einer Tugend und einem Fehler – und in dieser Mitte, zwischen Tugend und Fehler, liegen alle Eigenschaften des Philisters.

9.

"Aber ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch!" Nun wir werden sehen.

Es wäre jetzt vielleicht erlaubt, sofort von dem Stilisten und Sprachkünstler Strauss zu reden, aber zuvor lasst uns doch einmal in Erwägung ziehen, ob er im Stande ist, sein Haus als Schriftsteller zu bauen und ob er wirklich die Architektur des Buches versteht. Daraus wird sich bestimmen, ob er ein ordentlicher, besonnener und geübter Buchmacher ist; und sollten wir mit Nein antworten müssen, so bliebe ihm immer noch als letztes refugium seines Ruhmes der Anspruch, ein "klassischer Prosaschreiber" zu sein. Die letzte Fähigkeit ohne die erste würde freilich nicht ausreichen, ihn zum Rang der klassischen Schriftsteller zu erheben: sondern höchstens zu dem der klassischen Improvisatoren oder der Virtuosen des Stils, die aber bei allem Geschick des Ausdruckes im Ganzen und bei dem eigentlichen Hinstellen des Baus die unbeholfene Hand und das befangene Auge des Stümpers zeigen. Wir fragen also, ob Strauss die künstlerische Kraft hat, ein Ganzes hinzusetzen, totum ponere.

Gewöhnlich lässt sich schon nach dem ersten schriftlichen Entwurf erkennen, ob der Verfasser ein Ganzes geschaut und diesem Geschauten gemäss den allgemeinen Gang und die richtigen Maasse gefunden hat. Ist diese wichtigste Aufgabe gelöst und das Gebäude selbst in glücklichen Proportionen aufgerichtet, so bleibt doch noch genug zu thun übrig: wie viel kleinere Fehler sind zu berichtigen, wie viel Lücken auszufüllen, hier und da musste bisher ein vorläufiger Bretterverschlag oder ein Fehlboden genügen, überall liegt Staub und Schutt, und wohin du blickst, gewahrst du die Spuren der Noth und Arbeit; das Haus ist immer noch als Ganzes unwohnlich und unheimlich: alle Wände sind nackt und der Wind saust durch die offenen Fenster. Ob nun die jetzt noch nöthige, grosse und mühsame Arbeit von Strauss gethan ist, geht uns so lange nichts an, als wir fragen, ob er das Gebäude selbst in guten Proportionen und überall als Ganzes hingestellt hat. Das Gegentheil hiervon ist bekanntlich, ein Buch aus Stücken zusammenzusetzen, wie dies die Art der Gelehrten ist. Sie vertrauen darauf, dass diese Stücke einen Zusammenhang unter sich haben und verwechseln hierbei den logischen Zusammenhang und den künstlerischen. Logisch ist nun jedenfalls das Verhältniss der vier Hauptfragen, welche die Abschnitte des Straussischen Buches bezeichnen, nicht: "Sind wir noch Christen? Haben wir noch Religion? Wie begreifen wir die Welt? Wie ordnen wir unser Leben?" und zwar deshalb nicht, weil die dritte Frage nichts mit der zweiten, die vierte nichts mit der dritten und alle drei nichts mit der ersten zu thun haben. Der Naturforscher zum Beispiel, der die dritte Frage aufwirft, zeigt gerade darin seinen unbefleckten Wahrheitssinn, dass er an der zweiten stillschweigend vorübergeht; und dass die Themata des vierten Abschnittes: Ehe, Republik, Todesstrafe durch die Einmischung Darwinistischer Theorien aus dem dritten Abschnitte nur verwirrt und verdunkelt werden würden, scheint Strauss selbst zu begreifen, wenn er thatsächlich auf diese Theorien keine weitere Rücksicht nimmt. Die Frage aber: sind wir noch Christen? verdirbt sofort die Freiheit der philosophischen Betrachtung und färbt sie in unangenehmer Weise theologisch; überdies hat er dabei ganz vergessen, dass der grössere Theil der Menschheit auch heute noch buddhaistisch und nicht christlich ist. Wie darf man bei dem Worte "alter Glaube" ohne Weiteres allein an das Christenthum denken! Zeigt sich hierin, dass Strauss nie aufgehört hat, christlicher Theologe zu sein und deshalb nie gelernt hat, Philosoph zu werden, so überrascht er uns wieder dadurch, dass er nicht zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden vermag und fortwährend seinen sogenannten "neuen Glauben" und die neuere Wissenschaft in Einem Athem nennt. Oder sollte neuer Glaube nur eine ironische Accommodation an den Sprachgebrauch sein? So scheint es fast, wenn wir sehen, dass er hier und da neuen Glauben und neuere Wissenschaft harmlos sich einander vertreten lässt, zum Beispiel auf pag. II, wo er fragt, auf welcher Seite, ob auf der des alten Glaubens oder der neueren Wissenschaft "der in menschlichen Dingen nicht zu vermeidenden Dunkelheiten und Unzulänglichkeiten mehrere sind." Zudem will er nach dem Schema der Einleitung die Beweise angeben, auf welche die moderne Weltbetrachtung sich stützt: alle diese Beweise entlehnt er aber aus der Wissenschaft und gebärdet sich auch hier durchaus als ein Wissender, nicht als Gläubiger.

Im Grunde ist also die neue Religion nicht ein neuer Glaube, sondern fällt mit der modernen Wissenschaft zusammen, ist also als solche gar nicht Religion. Behauptet nun Strauss, dennoch Religion zu haben, so liegen die Gründe dafür abseits von der neueren Wissenschaft. Nur der kleinste Theil des Straussischen Buches, das heisst wenige zerstreute Seiten überhaupt, betreffen das, was Strauss mit Recht einen Glauben nennen dürfte: nämlich jene Empfindung für das All, für welches Strauss dieselbe Pietät fordert, die der Fromme alten Stils für seinen Gott hat. Auf diesen Seiten geht es wenigstens durchaus nicht wissenschaftlich zu; wenn es aber nur ein wenig kräftiger, natürlicher und derber und überhaupt gläubiger zugienge! Gerade das ist höchst auffallend, durch was für künstliche Prozeduren unser Autor erst zum Gefühl kommt, dass er überhaupt noch einen Glauben und eine Religion hat: durch Stechen und Schlagen, wie wir gesehen haben. Er zieht arm und schwächlich daher, dieser exstimulirte Glaube: uns fröstelt ihn anzusehen.

Wenn Strauss in dem Schema der Einleitung versprochen hat, eine Vergleichung anzustellen, ob dieser neue Glaube auch dieselben Dienste leiste, wie der Glaube alten Stils den Alt-Gläubigen, so fühlt er zuletzt selbst, dass er zuviel versprochen habe. Denn die letzte Frage, nach dem gleichen Dienste und dem Besser und Schlechter, wird von ihm schliesslich ganz nebenbei und mit scheuer Eile auf einem Paar Seiten (p. 366 ff.) abgethan, sogar einmal mit dem Verlegenheitstrumpfe: "wer hier sich nicht selbst zu helfen weiss, dem ist überhaupt nicht zu helfen, der ist für unseren Standpunkt noch nicht reif" (p. 366). Mit welcher Wucht der Ueberzeugung glaubte dagegen der antike Stoiker an das All und an die Vernünftigkeit des Alls! Und in welchem Lichte, so betrachtet, erscheint gar der Anspruch auf Originalität seines Glaubens, den Strauss macht? Aber, wie gesagt, ob neu oder alt, original oder nachgemacht, das möchte gleichgültig sein, wenn es nur kräftig, gesund und natürlich zugienge. Strauss selbst lässt diesen herausdestillirten Nothglauben, so oft es geht, im Stich, um uns und sich mit seinem Wissen schadlos zu halten, und um seine neu erlernten naturwissenschaftlichen Kenntnisse mit ruhigerem Gewissen seinen "Wir" zu präsentiren. So scheu er ist, wenn er vom Glauben redet, so rund und voll wird sein Mund, wenn der grösste Wohlthäter der allerneuesten Menschheit, Darwin, citirt wird: dann verlangt er nicht nur Glauben für den neuen Messias, sondern auch für sich, den neuen Apostel, zum Beispiel, wenn er einmal bei dem intricatesten Thema der Naturwissenschaft mit wahrhaft antikem Stolze verkündet: "man wird mir sagen, ich rede da von Dingen, die ich nicht verstehe. Gut; aber es werden Andere kommen, die sie verstehen und die auch mich verstanden haben." Hiernach scheint es fast, als ob die berühmten "Wir" nicht nur auf den Glauben an das All, sondern auch auf den Glauben an den Naturforscher Strauss verpflichtet werden sollen; in diesem Falle würden wir nur wünschen, dass, um diesen letzteren Glauben sich zum Gefühl zu bringen, nicht eben so peinliche und grausame Prozeduren nöthig sind, wie in Betreff des ersteren. Oder genügt es vielleicht gar, dass hier einmal der Gegenstand des Glaubens und nicht der Gläubige gezwickt und gestochen wird, um die Gläubigen zu jener "religiösen Reaction" zu bringen, die das Merkmal des "neuen Glaubens" ist? Welches Verdienst würden wir uns dann um die Religiosität jener "Wir" erwerben!

Es ist nämlich sonst fast zu fürchten, dass die modernen Menschen fortkommen werden, ohne sich sonderlich um die religiöse Glaubens-Zuthat des Apostels zu kümmern: wie sie thatsächlich ohne den Satz von der Vernünftigkeit des Alls bisher fortgekommen sind. Die ganze moderne Natur- und Geschichts-Forschung hat mit dem Straussischen Glauben an das All nichts zu thun, und dass der moderne Philister diesen Glauben nicht braucht, zeigt gerade die Schilderung seines Lebens, die Strauss in dem Abschnitte "wie ordnen wir unser Leben?" macht. Er ist also im Rechte zu zweifeln, ob der "Wagen", dem sich seine "werthen Leser anvertrauen mussten, allen Anforderungen entspräche." Er entspricht ihnen gewiss nicht: denn der moderne Mensch kommt schneller vorwärts, wenn er sich nicht in diesen Straussen-Wagen setzt – oder richtiger: er kam schneller vorwärts, längst bevor dieser Straussen-Wagen existirte. Wenn es nun wahr wäre, dass die berühmte, "nicht zu übersehende Minderheit", von der und in deren Namen Strauss spricht, "grosse Stücke auf Consequenz hält", so müsste sie doch mit dem Wagenbauer Strauss eben so wenig zufrieden sein, als wir mit dem Logiker.

Aber geben wir immerhin den Logiker preis: vielleicht hat das ganze Buch, künstlerisch betrachtet, eine gut erfundene Form und entspricht den Gesetzen der Schönheit, wenn es auch einem gut gearbeiteten Gedankenschema nicht entspricht. Und hier erst kommen wir zu der Frage, ob Strauss ein guter Schriftsteller sei, nachdem wir erkannt haben, dass er sich nicht als wissenschaftlicher, streng ordnender und systematisirender Gelehrter benommen hat.

Vielleicht hat er sich nur dies zur Aufgabe gestellt, nicht sowohl von dem "alten Glauben" fortzuscheuchen, als durch ein anmuthiges und farbenreiches Gemälde eines in der neuen Weltbetrachtung heimischen Lebens anzulocken. Gerade wenn er an Gelehrte und Gebildete, als an seine nächsten Leser dachte, so musste er wohl aus Erfahrung wissen, dass man diese durch das schwere Geschütz wissenschaftlicher Beweise zwar niederschiessen, nie aber zur Uebergabe nöthigen kann, dass aber eben dieselben um so schneller leichtgeschürzten Verführungs-Künsten erliegen. "Leicht geschürzt" und zwar "mit Absicht", nennt aber Strauss sein Buch selbst; als "leicht geschürzt" empfinden und schildern es seine öffentlichen Lobredner, von denen zum Beispiel einer, und zwar ein recht beliebiger, diese Empfindungen folgendermaassen umschreibt: "In anmuthigem Ebenmaasse schreitet die Rede fort, und gleichsam spielend handhabt sie die Kunst der Beweisführung, wo sie kritisch gegen das Alte sich wendet, wie nicht minder da, wo sie das Neue, das sie bringt, verführerisch zubereitet und anspruchslosem wie verwöhntem Geschmacke präsentirt. Fein erdacht ist die Anordnung eines so mannichfaltigen, ungleichartigen Stoffes, wo Alles zu berühren und doch nichts in die Breite zu führen war; zumal die Uebergänge, die von der einen Materie zur anderen überleiten, sind kunstreich gefügt, wenn man nicht etwa noch mehr die Geschicklichkeit bewundern will, mit der unbequeme Dinge bei Seite geschoben oder verschwiegen sind." Die Sinne solcher Lobredner sind, wie sich auch hier ergiebt, nicht gerade fein hinsichtlich dessen, was einer als Autor kann , aber um so feiner für das, was einer will. Was aber Strauss will, verräth uns am deutlichsten seine emphatische und nicht ganz harmlose Anempfehlung Voltaire'scher Grazien, in deren Dienst er gerade jene "leichtgeschürzten" Künste, von denen sein Lobredner spricht, lernen konnte – falls nämlich die Tugend lehrbar ist, und ein Magister je ein Tänzer werden kann.

Wer hat nicht hierüber seine Nebengedanken, wenn er zum Beispiel folgendes Wort Straussens über Voltaire liest (p.219 Volt.): "originell ist Voltaire als Philosoph allerdings nicht, sondern in der Hauptsache Verarbeiter englischer Forschungen: dabei erweist er sich aber durchaus als freier Meister des Stoffes, den er mit unvergleichlicher Gewandtheit von allen Seiten zu zeigen, in alle möglichen Beleuchtungen zu stellen versteht und dadurch, ohne streng methodisch zu sein, auch den Forderungen der Gründlichkeit zu genügen weiss." Alle negativen Züge treffen zu: Niemand wird behaupten, dass Strauss als Philosoph originell, oder dass er streng methodisch sei, aber die Frage wäre, ob wir ihn auch als "freien Meister des Stoffes" gelten lassen und ihm die "unvergleichliche Gewandtheit" zugeben. Das Bekenntniss, dass die Schrift "mit Absicht leicht geschürzt" sei, lässt errathen, dass es auf eine unvergleichliche Gewandtheit mindestens abgesehen war.

Nicht einen Tempel, nicht ein Wohnhaus, sondern ein Gartenhaus inmitten aller Gartenkünste hinzustellen, war der Traum unseres Architekten. Ja es scheint fast, dass selbst jene mysteriöse Empfindung für das All, hauptsächlich als ästhetisches Effectmittel berechnet war, gleichsam als ein Ausblick auf ein irrationales Element, etwa das Meer, mitten heraus aus dem zierlichsten und rationellsten Terrassenwerk. Der Gang durch die ersten Abschnitte, nämlich durch die theologischen Katakomben mit ihrem Dunkel und ihrer krausen und barocken Ornamentik, war wiederum nur ein ästhetisches Mittel, die Reinlichkeit, Helle und Vernünftigkeit des Abschnittes mit der Ueberschrift: "wie begreifen wir die Welt?" durch Kontrast zu heben: denn sofort nach jenem Gang im Düsteren und dem Blick in die irrationale Weite treten wir in eine Halle mit Oberlicht; nüchtern und hell empfängt sie uns, mit Himmelskarten und mathematischen Figuren an den Wänden, gefüllt mit wissenschaftlichen Geräthen, in den Schränken Skelette, ausgestopfte Affen und anatomische Präparate. Von hier aus aber wandeln wir, erst recht beglückt, mitten hinein in die volle Gemächlichkeit unserer Gartenhaus-Bewohner; wir finden sie bei ihren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprächen, wir hören sie eine Zeit lang reden über Ehe und allgemeines Stimmrecht, Todesstrafe und Arbeiterstrikes, und es scheint uns nicht möglich, den Rosenkranz öffentlicher Meinungen schneller abzubeten. Endlich sollen wir auch noch von dem klassischen Geschmacke der hier Hausenden überzeugt werden: ein kurzer Aufenthalt in der Bibliothek und im Musik-Zimmer giebt uns den erwarteten Aufschluss, dass die besten Bücher auf den Regalen und die berühmtesten Musikstücke auf den Notenpulten liegen; man spielt uns sogar etwas vor, und wenn es Haydn'sche Musik sein sollte, so war Haydn jedenfalls nicht Schuld daran, dass es wie Riehl'sche Hausmusik klang. Der Hausherr hat inzwischen Gelegenheit gehabt, sich mit Lessing ganz einverstanden zu erklären, mit Goethe auch, jedoch nur bis auf den zweiten Theil des Faust. Zuletzt preist sich unser Gartenhaus-Besitzer selbst und meint, wem es bei ihm nicht gefiele, dem sei nicht zu helfen, der sei für seinen Standpunkt nicht reif; worauf er uns noch seinen Wagen anbietet, doch mit der artigen Einschränkung, er wolle nicht behaupten, dass derselbe allen Anforderungen entspräche; auch seien die Steine auf seinen Wegen frisch aufgeschüttet und wir würden übel zerstossen werden. Darauf empfiehlt sich unser epikureischer Garten-Gott mit der unvergleichlichen Gewandtheit, die er an Voltaire zu rühmen wusste.

Wer könnte auch jetzt noch an dieser unvergleichlichen Gewandtheit zweifeln? Der freie Meister des Stoffs ist erkannt, der leicht geschürzte Gartenkünstler entpuppt; und immer hören wir die Stimme des Klassikers: als Schriftsteller will ich nun einmal kein Philister sein, will nicht! will nicht! Sondern durchaus Voltaire, der deutsche Voltaire! und höchstens noch der französische Lessing!

Wir verrathen ein Geheimniss: unser Magister weiss nicht immer, was er lieber sein will, Voltaire oder Lessing, aber um keinen Preis ein Philister, womöglich Beides, Lessing und Voltaire – auf dass erfüllet werde, was da geschrieben stehet: "er hatte gar keinen Charakter, sondern wenn er einen haben wollte, so musste er immer erst einen annehmen."

10.

Wenn wir Strauss, den Bekenner, recht verstanden haben, so ist er selbst ein wirklicher Philister mit eingeengter, trockener Seele und mit gelehrten und nüchternen Bedürfnissen; und trotzdem würde Niemand mehr erzürnt sein, ein Philister genannt zu werden, als David Strauss, der Schriftsteller. Es würde ihm recht sein, wenn man ihn muthwillig, verwegen, boshaft, tollkühn nennte; sein höchstes Glück wäre aber, mit Lessing oder Voltaire verglichen zu werden, weil diese gewiss keine Philister waren. In der Sucht nach diesem Glück schwankt er öfter, ob er es dem tapferen dialektischen Ungestüm Lessings gleichthun solle, oder ob es ihm besser anstehe, sich als faunischen, freigeisterischen Alten in der Art Voltaires zu gebärden. Beständig macht er, wenn er sich zum Schreiben niedersetzt, ein Gesicht, wie wenn er sich malen lassen wollte, und zwar bald ein Lessingisches, bald ein Voltaire'sches Gesicht. Wenn wir sein Lob der Voltaire'schen Darstellung lesen (p. 217 Volt.), so scheint er der Gegenwart nachdrücklich in's Gewissen zu reden, weshalb sie nicht längst wisse, was sie an dem modernen Voltaire habe: "auch sind die Vorzüge", sagt er, "überall dieselben: einfache Natürlichkeit, durchsichtige Klarheit, lebendige Beweglichkeit, gefällige Anmuth. Wärme und Nachdruck fehlen, wo sie hingehören, nicht; gegen Schwulst und Affectation kam der Widerwille aus Voltaires innerster Natur; wie andererseits, wenn zuweilen Muthwille oder Leidenschaften seinen Ausdruck in's Gemeine herabzogen, die Schuld nicht am Stilisten, sondern am Menschen in ihm lag." Strauss scheint demnach recht wohl zu wissen, was es mit der Simplicität des Stiles auf sich hat: sie ist immer das Merkmal des Genies gewesen, als welches allein das Vorrecht hat, sich einfach, natürlich und mit Naivetät auszusprechen. Es verräth sich also nicht der gemeinste Ehrgeiz, wenn ein Autor eine simple Manier wählt: denn obgleich mancher merkt, für was ein solcher Autor gehalten werden möchte, so ist doch mancher auch so gefällig, ihn eben dafür zu halten. Der geniale Autor verräth sich aber nicht nur in der Schlichtheit und Bestimmtheit des Ausdruckes: seine übergrosse Kraft spielt mit dem Stoffe, selbst wenn er gefährlich und schwierig ist. Niemand geht mit steifem Schritte auf unbekanntem und von tausend Abgründen unterbrochenem Wege: aber das Genie läuft behend und mit verwegenen oder zierlichen Sprüngen auf einem solchen Pfade und verhöhnt das sorgfältige und furchtsame Abmessen der Schritte.

Dass die Probleme, an denen Strauss vorüberläuft, ernst und schrecklich sind und als solche von den Weisen aller Jahrtausende behandelt wurden, weiss Strauss selbst, und trotzdem nennt er sein Buch leicht geschürzt. Von allen diesen Schrecken, von dem finsteren Ernste des Nachdenkens, in den man sonst bei den Fragen über den Werth des Daseins und die Pflichten des Menschen von selbst verfällt, ahnt man nichts mehr, wenn der genialische Magister an uns vorübergaukelt, "leicht geschürzt und mit Absicht", ja leichter geschürzt als sein Rousseau, von dem er uns zu erzählen weiss, dass er sich von unten entblösste und nach oben zu drapirte, während Goethe sich unten drapirt und oben entblösst haben soll. Ganz naive Genies, scheint es, drapiren sich gar nicht, und vielleicht ist das Wort "leicht geschürzt" überhaupt nur ein Euphemismus für nackt. Von der Göttin Wahrheit behaupten ja die Wenigen, die sie gesehen haben, dass sie nackt gewesen sei: und vielleicht ist im Auge solcher, die sie nicht gesehen haben, aber jenen Wenigen glauben, Nacktheit oder Leicht-Geschürztheit schon ein Beweis, mindestens ein Indicium der Wahrheit. Schon der Verdacht ist hier von Vortheil für den Ehrgeiz des Autors: Jemand sieht etwas Nacktes: wie, wenn es die Wahrheit wäre! sagt er sich und nimmt eine feierlichere Miene an, als ihm sonst gewöhnlich ist. Damit hat aber der Autor schon viel gewonnen, wenn er seine Leser zwingt, ihn feierlicher anzusehen, als einen beliebigen fester geschürzten Autor. Es ist der Weg dazu, einmal ein "Klassiker" zu werden: und Strauss erzählt uns selbst, "dass man ihm die ungesuchte Ehre erwiesen habe, ihn als eine Art von klassischem Prosaschreiber anzusehen", dass er also am Ziele seines Weges angekommen sei. Das Genie Strauss läuft in der Kleidung leicht geschürzter Göttinnen als "Klassiker" auf den Strassen herum, und der Philister Strauss soll durchaus, um uns einer Originalwendung dieses Genies zu bedienen, "in Abgang dekretirt" oder "auf Nimmerwiederkehr hinausgeworfen werden."

Ach, der Philister kehrt aber trotz aller Abgangs-Dekrete und alles Hinauswerfens doch wieder und oft wieder! Ach das Gesicht, in Voltaire'sche und Lessingische Falten gezwängt, schnellt doch von Zeit zu Zeit in seine alten ehrlichen, originalen Formen zurück! Ach die Genielarve fällt zu oft herab, und nie war der Blick des Magisters verdrossener, nie waren seine Bewegungen steifer, als wenn er eben den Sprung des Genies nachzuspringen und mit dem Feuerblick des Genies zu blicken versucht hatte. Gerade dadurch, dass er sich in unserer kalten Zone so leicht schürzt, setzt er sich der Gefahr aus, sich öfter und schwerer zu erkälten, als ein Anderer; dass dies Alles dann auch die Anderen merken, mag recht peinlich sein, aber es muss ihm, wenn er je Heilung finden will, auch öffentlich folgende Diagnose gestellt werden. Es gab einen Strauss, einen wackeren, strengen und straffgeschürzten Gelehrten, der uns eben so sympathisch war, wie jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht; der, welcher jetzt in der öffentlichen Meinung als David Strauss berühmt ist, ist ein Anderer geworden: die Theologen mögen es verschuldet haben, dass er dieser Andere geworden ist; genug, sein jetziges Spiel mit der Genie-Maske ist uns eben so verhasst oder lächerlich, als uns sein früherer Ernst zum Ernste und zur Sympathie zwang. Wenn er uns neuerdings erklärt: "es wäre auch Undank gegen meinen Genius, wollte ich mich nicht freuen, dass mir neben der Gabe der schonungslos zersetzenden Kritik zugleich die harmlose Freude am künstlerischen Gestalten verliehen ward", so mag es ihn überraschen, dass es trotz diesem Selbstzeugniss Menschen giebt, welche das Umgekehrte behaupten; einmal, dass er die Gabe künstlerischen Gestaltens nie gehabt habe, und sodann, dass die von ihm "harmlos" genannte Freude nichts weniger als harmlos sei, sofern sie eine im Grunde kräftig und tief angelegte Gelehrten- und Kritiker-Natur, das heisst den eigentlichen Straussischen Genius allmählich untergraben und zuletzt zerstört hat. In einer Anwandlung von unbegrenzter Ehrlichkeit fügt zwar Strauss selbst hinzu, er habe immer "den Merck in sich getragen, der ihm zurief: solchen Quark musst du nicht mehr machen, das können die Anderen auch"! Das war die Stimme des ächten Straussischen Genius: diese selbst sagt ihm auch, wie viel oder wie wenig sein neuestes, harmlos leicht geschürztes Testament des modernen Philisters werth sei. Das können die Anderen auch! Und viele könnten es besser! Und die es am besten könnten, begabtere und reichere Geister als Strauss, würden immer nur – Quark gemacht haben.

Ich glaube, dass man wohl verstanden hat, wie sehr ich den Schriftsteller Strauss schätze: nämlich wie einen Schauspieler, der das naive Genie und den Klassiker spielt. Wenn Lichtenberg einmal sagt: "Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt", so ist deshalb die simple Manier doch noch lange nicht ein Beweis für schriftstellerische Rechtschaffenheit. Ich wünschte, der Schriftsteller Strauss wäre ehrlicher, dann würde er besser schreiben und weniger berühmt sein. Oder – wenn er durchaus Schauspieler sein will – so wünschte ich, er wäre ein guter Schauspieler und machte es dem naiven Genie und dem Klassiker besser nach, wie man klassisch und genial schreibt. Es bleibt nämlich übrig zu sagen, dass Strauss ein schlechter Schauspieler und sogar ein ganz nichtswürdiger Stilist ist.

11.

Der Tadel, ein sehr schlechter Schriftsteller zu sein, schwächt sich freilich dadurch ab, dass es in Deutschland sehr schwer ist, ein mässiger und leidlicher, und ganz erstaunlich unwahrscheinlich, ein guter Schriftsteller zu werden. Es fehlt hier an einem natürlichen Boden, an der künstlerischen Werthschätzung, Behandlung und Ausbildung der mündlichen Rede. Da diese es in allen öffentlichen Aeusserungen, wie schon die Worte Salon-Unterhaltung, Predigt, Parlaments-Rede ausdrücken, noch nicht zu einem nationalen Stile, ja noch nicht einmal zum Bedürfniss eines Stils überhaupt gebracht hat, und alles, was spricht, in Deutschland aus dem naivsten Experimentiren mit der Sprache nicht herausgekommen ist, so hat der Schriftsteller keine einheitliche Norm und hat ein gewisses Recht, es auf eigene Faust einmal mit der Sprache aufzunehmen: was dann, in seinen Folgen, jene grenzenlose Dilapidation der deutschen Sprache der "Jetztzeit" hervorbringen muss, die am nachdrücklichsten Schopenhauer geschildert hat. "Wenn dies so fortgeht", sagt er einmal, "so wird man anno 1900 die deutschen Klassiker nicht mehr recht verstehen, indem man keine andere Sprache mehr kennen wird, als den Lumpen-Jargon der noblen "Jetztzeit" – deren Grundcharakter Impotenz ist." Wirklich lassen sich bereits jetzt deutsche Sprachrichter und Grammatiker in den allerneuesten Zeitschriften dahin vernehmen, dass für unseren Stil unsere Klassiker nicht mehr mustergültig sein könnten, weil sie eine grosse Menge von Worten, Wendungen und syntaktischen Fügungen haben, die uns abhanden gekommen sind: wesshalb es sich geziemen möchte, die sprachlichen Kunststücke im Wort- und Satzgebrauch bei den gegenwärtigen Schrift-Berühmtheiten zu sammeln und zur Nachahmung hinzustellen, wie dies zum Beispiel auch wirklich in dem kurz gefassten Hand- und Schand-Wörterbuch von Sanders geschehen ist. Hier erscheint das widrige Stil-Monstrum Gutzkow als Klassiker: und überhaupt müssen wir uns, wie es scheint, an eine ganz neue und überraschende Schaar von "Klassikern" gewöhnen, unter denen der erste oder mindestens einer der ersten, David Strauss ist, derselbe, welchen wir nicht anders bezeichnen können, als wir ihn bezeichnet haben: nämlich als einen nichtswürdigen Stilisten.

Es ist nun höchst bezeichnend für jene Pseudo-Kultur des Bildungs-Philisters, wie er sich gar noch den Begriff des Klassikers und Musterschriftstellers gewinnt – er, der nur im Abwehren eines eigentlich künstlerisch strengen Kulturstils seine Kraft zeigt und durch die Beharrlichkeit im Abwehren zu einer Gleichartigkeit der Aeusserungen kommt, die fast wieder wie eine Einheit des Stiles aussieht. Wie ist es nur möglich, dass bei dem unbeschränkten Experimentiren, das man mit der Sprache Jedermann gestattet, doch einzelne Autoren einen allgemein ansprechenden Ton finden? Was spricht hier eigentlich so allgemein an? Vor allem eine negative Eigenschaft: der Mangel alles Anstössigen, – anstössig aber ist alles wahrhaft Produktive. – Das Uebergewicht nämlich bei dem, was der Deutsche jetzt jeden Tag liest, liegt ohne Zweifel auf Seiten der Zeitungen nebst dazu gehörigen Zeitschriften: deren Deutsch prägt sich, in dem unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter, seinem Ohre ein, und da er meistens Stunden zu dieser Leserei benutzt, in denen sein ermüdeter Geist ohnehin zum Widerstehen nicht aufgelegt ist, so wird allmählich sein Sprachgehör in diesem Alltags-Deutsch heimisch und vermisst seine Abwesenheit nöthigenfalls mit Schmerz. Die Fabrikanten jener Zeitungen sind aber, ihrer ganzen Beschäftigung gemäss, am allerstärksten an den Schleim dieser Zeitungs-Sprache gewöhnt: sie haben im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren, und ihre Zunge empfindet höchstens das ganz und gar Corrupte und Willkürliche mit einer Art von Vergnügen. Daraus erklärt sich das tutti unisono, mit welchem, trotz jener allgemeinen Erschlaffung und Erkrankung, in jeden neu erfundenen Sprachschnitzer sofort eingestimmt wird: man rächt sich mit solchen frechen Corruptionen an der Sprache wegen der unglaublichen Langeweile, die sie allmählich ihren Lohnarbeitern verursacht. Ich erinnere mich, einen Aufruf von Berthold Auerbach "an das deutsche Volk" gelesen zu haben, in dem jede Wendung undeutsch verschroben und erlogen war, und der als Ganzes einem seelenlosen Wörtermosaik mit internationaler Syntax glich; um von dem schamlosen Sudeldeutsch zu schweigen, mit dem Eduard Devrient das Andenken Mendelssohn's feierte. Der Sprachfehler also – das ist das Merkwürdige – gilt unserem Philister nicht als anstössig, sondern als reizvolle Erquickung in der gras- und baumlosen Wüste des Alltags-Deutsches. Aber anstössig bleibt ihm das wahrhaft Produktive. Dem allermodernsten Muster-Schriftsteller wird seine gänzlich verdrehte, verstiegene oder zerfaserte Syntax, sein lächerlicher Neologismus nicht etwa nachgesehen, sondern als Verdienst, als Pikanterie angerechnet: aber wehe dem charaktervollen Stilisten, welcher der Alltags-Wendung eben so ernst und beharrlich aus dem Wege geht als den "in letzter Nacht ausgeheckten Monstra der Jetztzeit-Schreiberei", wie Schopenhauer sagt. Wenn das Platte, Ausgenutzte, Kraftlose, Gemeine als Regel, das Schlechte und Corrupte als reizvolle Ausnahme hingenommen wird, dann ist das Kräftige, Ungemeine und Schöne in Verruf: so dass sich in Deutschland fortwährend die Geschichte jenes wohlgebildeten Reisenden wiederholt, der in's Land der Bucklichten kommt, dort überall wegen seiner angeblichen Ungestalt und seines Defektes an Rundung auf das schmählichste verhöhnt wird, bis endlich ein Priester sich seiner annimmt und dem Volke also zuredet: beklagt doch lieber den armen Fremden und bringt dankbaren Sinnes den Göttern ein Opfer, dass sie euch mit diesem stattlichen Fleischberg geschmückt haben.

Wenn jetzt Jemand eine positive Sprachlehre des heutigen deutschen Allerweltstils machen wollte und den Regeln nachspürte, die, als ungeschriebene, ungesprochene und doch befolgte Imperative, auf dem Schreibepulte Jedermanns ihre Herrschaft ausüben, so würde er wunderliche Vorstellungen über Stil und Rhetorik antreffen, die vielleicht noch aus einigen Schul-Reminiscenzen und der einstmaligen Nöthigung zu lateinischen Stilübungen, vielleicht aus der Lektüre französischer Schriftsteller, entnommen sind, und über deren unglaubliche Rohheit jeder regelmässig erzogene Franzose zu spotten ein Recht hat. Ueber diese wunderlichen Vorstellungen, unter deren Regiment so ziemlich jeder Deutsche lebt und schreibt, hat, wie es scheint, noch keiner der gründlichen Deutschen nachgedacht.

Da finden wir die Forderung, dass von Zeit zu Zeit ein Bild oder ein Gleichniss kommen, dass das Gleichniss aber neu sein müsse: neu und modern ist aber für das dürftige Schreiber-Gehirn identisch, und nun quält es sich, von der Eisenbahn, dem Telegraphen, der Dampfmaschine, der Börse seine Gleichnisse abzuziehen und fühlt sich stolz darin, dass diese Bilder neu sein müssen, weil sie modern sind. In dem Bekenntnissbuche Straussens finden wir auch den Tribut an das moderne Gleichniss ehrlich ausgezahlt: er entlässt uns mit dem anderthalb Seiten langen Bilde einer modernen Strassen-Correceion, er vergleicht die Welt ein paar Seiten früher mit der Maschine, ihren Rädern, Stampfen, Hämmern und ihrem "lindernden Oel". (S. 362): Eine Mahlzeit, die mit Champagner beginnt. – (S. 325) Kant als Kaltwasseranstalt. – (S. 265): "Die schweizerische Bundesverfassung verhält sich zur englischen wie eine Bachmühle zu einer Dampfmaschine, wie ein Walzer oder ein Lied zu einer Fuge oder Symphonie." – (S. 258): "Bei jeder Appellation muss der Instanzenzug eingehalten werden. Die mittlere Instanz zwischen dem Einzelnen und der Menschheit aber ist die Nation." – (S. 141): "Wenn wir zu erfahren wünschen, ob in einem Organismus, der uns erstorben scheint, noch Leben sei, pflegen wir es durch einen starken, wohl auch schmerzlichen Reiz, etwa einen Stich, zu versuchen." – (S. 138): "Das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleicht dem Gebiet der Rothhäute in Amerika." – (S. 137): "Virtuosen der Frömmigkeit in den Klöstern." – (S. 90): "Das Facit aus allem Bisherigen mit vollen Ziffern unter die Rechnung setzen." – (S. 176): "Die Darwinische Theorie gleicht einer nur erst abgesteckten Eisenbahn – – – wo die Fähnlein lustig im Winde flattern." Auf diese Weise, nämlich hoch modern, hat sich Strauss mit der Philister – Forderung abgefunden, dass von Zeit zu Zeit ein neues Gleichniss auftreten müsse.

Sehr verbreitet ist auch eine zweite rhetorische Forderung, dass das Didaktische sich in langen Sätzen, dazu in weiten Abstractionen ausbreiten müsse, dass dagegen das Ueberredende kurze Sätzchen und hintereinander herhüpfende Kontraste des Ausdrucks liebe. Ein Mustersatz für das Didaktische und Gelehrtenhafte, zu voller Schleiermacherischer Zerblasenheit auseinander gezogen und in wahrer Schildkröten-Behendigkeit daherschleichend, steht bei Strauss S. 132: "Dass auf den früheren Stufen der Religion statt Eines solchen Woher mehrere, statt Eines Gottes eine Vielheit von Göttern erscheint, kommt nach dieser Ableitung der Religion daher, dass die verschiedenen Naturkräfte oder Lebensbeziehungen, welche im Menschen das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit erregen, Anfangs noch in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit auf ihn wirken, er sich noch nicht bewusst geworden ist, wie in Betreff der schlechthinigen Abhängigkeit zwischen denselben kein Unterschied, mithin auch das Woher dieser Abhängigkeit oder das Wesen, worauf sie in letzter Beziehung zurückgeht, nur Eines sein kann." Ein entgegengesetztes Beispiel für die kurzen Sätzchen und die affectirte Lebendigkeit, welche einige Leser so aufgeregt hat, dass sie Strauss nur noch mit Lessing zusammen nennen, findet sich Seite 8: "Was ich im Folgenden auszuführen gedenke, davon bin ich mir wohl bewusst, dass es Unzählige eben so gut, Manche sogar viel besser wissen. Einige haben auch bereits gesprochen. Soll ich darum schweigen? Ich glaube nicht. Wir ergänzen uns ja alle gegenseitig. Weiss ein Anderer Vieles besser, so ich doch vielleicht Einiges; und Manches weiss ich anders, sehe ich anders an als die Uebrigen. Also frischweg gesprochen, heraus mit der Farbe, damit man erkenne, ob sie eine ächte sei." Zwischen diesem burschikosen Geschwindmarsch und jener Leichenträger-Saumseligkeit hält allerdings für gewöhnlich der Straussische Stil die Mitte, aber zwischen zwei Lastern wohnt nicht immer die Tugend, sondern zu oft nur die Schwäche, die lahme Ohnmacht, die Impotenz. In der That, ich bin sehr enttäuscht worden, als ich das Straussische Buch nach feineren und geistvolleren Zügen und Wendungen durchsuchte und mir eigens eine Rubrik gemacht hatte, um wenigstens an dem Schriftsteller Strauss hier und da etwas loben zu können, da ich an dem Bekenner nichts Lobenswerthes fand. Ich suchte und suchte, und meine Rubrik blieb leer. Dagegen füllte sich eine andere, mit der Aufschrift: Sprachfehler, verwirrte Bilder, unklare Verkürzungen, Geschmacklosigkeiten und Geschraubtheiten, derart, dass ich es nachher nur wagen kann, eine bescheidene Auswahl aus meiner übergrossen Sammlung von Probestücken mitzutheilen. Vielleicht gelingt es mir, unter dieser Rubrik gerade das zusammenzustellen, was bei den gegenwärtigen Deutschen den Glauben an den grossen und reizvoller Stilisten Strauss hervorbringt: es sind Curiositäten des Ausdrucks die in der austrocknenden Oede und Verstaubtheit des gesammten Buches, wenn nicht angenehm, so doch schmerzlich reizvoll über raschen: wir merken, um uns Straussischer Gleichnisse zu bedienen, an solchen Stellen doch wenigstens, dass wir noch nicht abgestorben sind, und reagiren noch auf solche Stiche. Denn alles Uebrige zeigt jenen Mangel alles Anstössigen, soll heissen alles Productiven, der jetzt dem klassischen Prosaschreiber als positive Eigenschaft angerechnet wird. Die äusserste Nüchternheit und Trockenheit, eine wahrhaft angehungerte Nüchternheit erweckt, jetzt bei der gebildeten Masse die unnatürliche Empfindung, als ob eben diese das Zeichen der Gesundheit wäre, so dass hier gerade gilt, was der Autor des dialogus de oratoribus sagt: "illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur". Darum hassen sie mit instinktiver Einmüthigkeit alle firmitas, weil sie von einer ganz anderen Gesundheit Zeugniss ablegt, als die ihrige ist, und suchen die firmitas, die straffe Gedrungenheit, die feurige Kraft der Bewegungen, die Fülle und Zartheit des Muskelspiels zu verdächtigen. Sie haben sich verabredet, Natur und Namen der Dinge umzukehren und fürderhin von Gesundheit zu sprechen, wo wir Schwäche sehen, von Krankheit und Ueberspanntheit, wo uns wirkliche Gesundheit entgegentritt. So gilt denn nun auch David Strauss als "Klassiker."

Wäre nur diese Nüchternheit wenigstens eine streng logische Nüchternheit: aber gerade Einfachheit und Straffheit im Denken ist diesen "Schwachen" abhanden gekommen, und unter ihren Händen ist die Sprache selbst unlogisch zerfasert. Man versuche nur, diesen Straussen-Stil in's Lateinische zu übersetzen: was doch selbst bei Kant angeht und bei Schopenhauer bequem und reizvoll ist. Die Ursache, dass es mit dem Straussischen Deutsch durchaus nicht gehen will, liegt wahrscheinlich nicht daran, dass dies Deutsch deutscher ist als bei jenen, sondern dass es bei ihm verworren und unlogisch, bei jenen voll Einfachheit und Grösse ist. Wer dagegen weiss, wie die Alten sich mühten, um sprechen und schreiben zu lernen, und wie die Neueren sich nicht mühen, der fühlt, wie dies Schopenhauer einmal gesagt hat, eine wahre Erleichterung, wenn er so ein deutsches Buch nothgedrungen abgethan hat, um sich nun wieder zu den anderen alten wie neuen Sprachen wenden zu können; "denn bei diesen," sagt er, "habe ich doch eine regelrecht fixirte Sprache mit durchweg festgestellter und treulich beobachteter Grammatik und Orthographie vor mir und bin ganz dem Gedanken hingegeben, während ich im Deutschen jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des Schreibers, der seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolligen Einfälle durchsetzen will: wobei die sich frech spreizende Narrheit mich anwidert. Es ist wahrlich eine rechte Pein, eine schöne, alte, klassische Schriften besitzende Sprache von Ignoranten und Eseln misshandeln zu sehen."

Das ruft euch der heilige Zorn Schopenhauers zu, und ihr dürft nicht sagen, dass ihr ungewarnt geblieben wärt. Wer aber durchaus auf keine Warnung hören und sich den Glauben an den Klassiker Strauss schlechterdings nicht verkümmern lassen will, dem sei als letztes Recept anempfohlen, ihn nachzuahmen. Versucht es immerhin auf eigene Gefahr: ihr werdet es zu büssen haben mit eurem Stile sowohl als zuletzt selbst mit eurem eigenen Kopfe, auf dass das Wort indischer Weisheit auch an euch in Erfüllung gehe: "An einem Kuhhorn zu nagen, ist unnütz und verkürzt das Leben: man reibt die Zähne ab und erhält doch keinen Saft." –

12.

Zum Schluss wollen wir doch unserem klassischen Prosaschreiber die versprochene Sammlung von Stilproben vorlegen; vielleicht würde sie Schopenhauer ganz allgemein betiteln: "Neue Belege für den Lumpen-Jargon der Jetztzeit"; denn das mag David Strauss zum Troste gesagt werden, wenn es ihm ein Trost sein kann, dass jetzt alle Welt so schreibt wie er, zum Theil noch miserabler, und dass unter den Blinden jeder Einäugige König ist. Wahrlich, wir gestehen ihm viel zu, wenn wir ihm Ein Auge zugestehen, dies aber thun wir, weil Strauss nicht so schreibt, wie die verruchtesten aller Deutsch-Verderber, die Hegelianer, und ihr verkrüppelter Nachwuchs. Strauss will wenigstens aus diesem Sumpfe wieder heraus und ist zum Theil wieder heraus, doch noch lange nicht auf festem Lande; man merkt es ihm noch an, dass er einmal in seiner Jugend Hegelisch gestottert hat: damals hat sich etwas in ihm ausgerenkt, irgend ein Muskel hat sich gedehnt; damals ist sein Ohr, wie das Ohr eines unter Trommeln aufgewachsenen Knaben, abgestumpft worden, um nie wieder jene künstlerisch zarten und kräftigen Gesetze des Klanges nachzufühlen, unter deren Herrschaft der an guten Mustern und in strenger Zucht herangebildete Schriftsteller lebt. Damit hat er als Stilist sein bestes Hab und Gut verloren und ist verurtheilt, Zeitlebens auf dem unfruchtbaren und gefährlichen Triebsande des Zeitungsstiles sitzen zu bleiben – wenn er nicht in den Hegelschen Schlamm wieder hinunter will. Trotzdem hat er es für ein Paar Stunden der Gegenwart zur Berühmtheit gebracht, und vielleicht weiss man noch ein Paar spätere Stunden, dass er eine Berühmtheit war; dann aber kommt die Nacht und mit ihr die Vergessenheit: und schon mit diesem Augenblicke, in dem wir seine stilistischen Sünden in's schwarze Buch schreiben, beginnt die Dämmerung seines Ruhmes. Denn wer sich an der deutschen Sprache versündigt hat, der hat das Mysterium aller unserer Deutschheit entweiht: sie allein hat durch alle die Mischung und den Wechsel von Nationalitäten und Sitten hindurch sich selbst und damit den deutschen Geist wie durch einen metaphysischen Zauber gerettet. Sie allein verbürgt auch diesen Geist für die Zukunft, falls sie nicht selbst unter den ruchlosen Händen der Gegenwart zu Grunde geht. "Aber Di meliora! Fort Pachydermata, fort! Dies ist die deutsche Sprache, in der Menschen sich ausgedrückt, ja, in der grosse Dichter gesungen und grosse Denker geschrieben haben. Zurück mit den Tatzen!" –

Nehmen wir zum Beispiel gleich einen Satz der ersten Seite des Straussischen Buches: "Schon in dem Machtzuwachse – – – hat der römische Katholicismus eine Aufforderung erkannt, seine ganze geistliche und weltliche Macht in der Hand des für unfehlbar erklärten Papstes diktatorisch zusammenzufassen." Unter diesem schlotterichten Gewande sind verschiedene Sätze, die durchaus nicht zusammenpassen und nicht zu gleicher Zeit möglich sind, versteckt; Jemand kann irgendwie eine Aufforderung erkennen, seine Macht zusammenzufassen oder sie in die Hände eines Diktators zu legen, aber er kann sie nicht in der Hand eines Anderen diktatorisch zusammenfassen. Wird dem Katholicismus gesagt, dass er seine Macht diktatorisch zusammenfasst, so ist er selbst mit einem Diktator verglichen: offenbar soll aber hier der unfehlbare Papst mit dem Diktator verglichen werden, und nur durch unklares Denken und Mangel an Sprachgefühl kommt das Adverbium an die unrechte Stelle. Um aber das Ungereimte der anderen Wendung nachzufühlen, so empfehle ich, dieselbe in folgender Simplification sich vorzusagen: der Herr fasst die Zügel in der Hand seines Kutschers zusammen. – (S. 4): "Dem Gegensatze zwischen dem alten Consistorialregiment und den auf eine Synodalverfassung gerichteten Bestrebungen liegt hinter dem hierarchischen Zuge auf der einen, dem demokratischen auf der anderen Seite, doch eine dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde." Man kann sich nicht ungeschickter ausdrücken: erstens bekommen wir einen Gegensatz zwischen einem Regiment und gewissen Bestrebungen, diesem Gegensatz liegt sodann eine dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde, und diese zu Grunde liegende Differenz befindet sich hinter einem hierarchischen Zuge auf der einen und einem demokratischen auf der anderen Seite. Räthsel: welches Ding liegt hinter zwei Dingen einem dritten Dinge zu Grunde? – (S. 18): "und die Tage, obwohl von dem Erzähler unmissverstehbar zwischen Abend und Morgen eingerahmt" u. s. w. Ich beschwöre Sie, das in's Lateinische zu übersetzen, um zu erkennen, welchen schamlosen Missbrauch Sie mit der Sprache treiben. Tage, die eingerahmt werden! Von einem Erzähler! Unmissverstehbar! Und eingerahme zwischen etwas! – (S. 19): "Von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen kann in der Bibel keine Rede sein." Höchst lüderlich ausgedrückt! Sie verwechseln "in der Bibel" und "bei der Bibel": das erstere hätte seine Stelle vor "kann" haben müssen, das zweite nach "kann". Ich meine, Sie haben sagen wollen: von irrigen und widersprechenden Berichten, von falschen Meinungen und Urtheilen in der Bibel kann keine Rede sein; warum nicht? Weil sie gerade die Bibel ist – also: "kann bei der Bibel nicht die Rede sein." Um nun nicht "in der Bibel" und "bei der Bibel" hintereinander folgen zu lassen, haben Sie sich entschlossen, Lumpen-Jargon zu schreiben und die Präpositionen zu verwechseln. Dasselbe Verbrechen begehen Sie auf S.20: "Compilationen, in die ältere Stücke zusammengearbeitet sind." Sie meinen, "in die ältere Stücke hineingearbeitet oder in denen ältere Stücke zusammengearbeitet sind." – Auf derselben Seite reden Sie mit studentischer Wendung von einem "Lehrgedicht , das in die unangenehme Lage versetzt wird, zunächst vielfach missdeutet" (besser: missgedeutet), "dann angefeindet und bestritten zu werden", S.24 sogar von "Spitzfindigkeiten, durch die man ihre Härte zu mildern suchte"! Ich bin in der unangenehmen Lage, etwas Hartes, dessen Härte man durch etwas Spitzes mildert, nicht zu kennen; Strauss freilich erzählt (S. 367) sogar von einer "durch Zusammenrütteln gemilderten Schärfe". – (S. 35): "einem Voltaire dort stand hier ein Samuel Hermann Reimarus durchaus typisch für beide Nationen gegenüber." Ein Mann kann immer nur typisch für Eine Nation, aber nicht einem Anderen typisch für beide Nationen gegenüber stehen. Eine schändliche Gewaltthätigkeit, an der Sprache begangen, um einen Satz zu sparen oder zu eskrokiren. – (S. 46): "Nun stand es aber nur wenige Jahre an nach Schleiermachers Tode, dass – – ." Solchem Sudler-Gesindel macht freilich die Stellung der Worte keine Umstände; dass hier die Worte: "nach Schleiermachers Tode" falsch stehen, nämlich nach "an", während sie vor "an" stehen sollten, ist Ihren Trommelschlag-Ohren gerade so gleichgültig, als nachher "dass" zu sagen, wo es "bis" heissen muss. – (S. 13): "auch von allen den verschiedenen Schattirungen, in denen das heutige Christenthum schillert, kann es sich bei uns nur etwa um die äusserste, abgeklärteste handeln, ob wir uns zu ihr noch zu bekennen vermögen." Die Frage, worum handelt es sich? kann einmal beantwortet werden: "um das und das", oder zweitens durch einen Satz mit: "ob wir uns" u. s. w.; beide Constructionen durcheinander zu werfen, zeigt den lüderlichen Gesellen. Er wollte vielmehr sagen: "kann es sich bei uns etwa nur bei der äussersten darum handeln, ob wir uns noch zu ihr bekennen": aber die Präpositionen der deutschen Sprache sind, wie es scheint, nur noch da, um jede gerade so anzuwenden, dass die Anwendung überrascht. S. 358 Z. B. verwechselt der "Klassiker", um uns diese Ueberraschung zu machen, die Wendungen: "ein Buch handelt von etwas" und: "es handelt sich um etwas", und nun müssen wir einen Satz anhören, wie diesen: "dabei wird es unbestimmt bleiben, ob es sich von äusserem oder innerem Heldenthum, von Kämpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handelt." – (S. 343) : "für unsere nervös überreizte Zeit, die namentlich in ihren musikalischen Neigungen diese Krankheit zu Tage legt." Schmähliche Verwechselung von "zu Tage liegen" und "an den Tag legen". Solche Sprachverbesserer sollten doch ohne Unterschied der Person gezüchtigt werden wie die Schuljungen. – (S.70) : "wir sehen hier einen der Gedankengänge, wodurch sich die Jünger zur Produktion der Vorstellung der Wiederbelebung ihres getödteten Meisters emporgearbeitet haben." Welches Bild! Eine wahre Essenkehrer-Phantasie! Man arbeitet sich durch einen Gang zu einer Produktion empor! – Wenn S. 72 dieser grosse Held in Worten, Strauss, die Geschichte von der Auferstehung Jesu als "welthistorischen Humbug" bezeichnet, so wollen wir hier, unter dem Gesichtspunkte des Grammatikers, ihn nur fragen, wen er eigentlich bezichtigt, diesen "welthistorischen Humbug," das heisst einen auf Betrug Anderer und auf persönlichen Gewinn abzielenden Schwindel auf dem Gewissen zu haben. Wer schwindelt, wer betrügt? Denn einen "Humbug" vermögen wir uns gar nicht ohne ein Subject vorzustellen, das seinen Vortheil dabei sucht. Da uns auf diese Frage Strauss gar keine Antwort geben kann, – falls er sich scheuen sollte, seinen Gott, das heisst den aus nobler Passion irrenden Gott als diesen Schwindler zu prostituiren – so bleiben wir zunächst dabei, den Ausdruck für ebenso ungereimt als geschmacklos zu halten. – Auf derselben Seite heisst es: "seine Lehren würden wie einzelne Blätter im Winde verweht und zerstreut worden sein, wären diese Blätter nicht von dem Wahnglauben an seine Auferstehung als von einem derben handfesten Einband zusammengefasst und dadurch erhalten worden." Wer von Blättern im Winde redet, führt die Phantasie des Lesers irre, sofern er nachher darunter Papierblätter versteht, die durch Buchbinderarbeit zusammengefasst werden können. Der sorgsame Schriftsteller wird nichts mehr scheuen, als bei einem Bilde den Leser zweifelhaft zu lassen oder irre zu führen: denn das Bild soll etwas deutlicher machen; wenn aber das Bild selbst undeutlich ausgedrückt ist und irre führt, so macht es die Sache dunkler, als sie ohne Bild war. Aber freilich sorgsam ist unser "Klassiker" nicht: er redet muthig von der "Hand unserer Quellen" (S. 76), von dem "Mangel jeder Handhabe in den Quellen" (S. 77) und von der "Hand eines Bedürfnisses" (S. 215). – (S. 73): "Der Glaube an seine Auferstehung kommt auf Rechnung Jesu selbst." Wer sich so gemein merkantilisch bei so wenig gemeinen Dingen auszudrücken liebt, giebt zu verstehen, dass er sein Lebelang recht schlechte Bücher gelesen hat. Von schlechter Lektüre zeugt der Straussische Stil überall. Vielleicht hat er zuviel die Schriften seiner theologischen Gegner gelesen. Woher aber lernt man es, den alten Juden- und Christengott mit so kleinbürgerlichen Bildern zu behelligen, wie sie Strauss zum Beispiel S. 105 zum Besten giebt, wo eben jenem "alten Juden – und Christengott der Stuhl unter dem Leibe weggezogen wird" oder S. 105, wo "an den alten persönlichen Gott gleichsam die Wohnungsnoth herantritt," oder S. 115, wo ebenderselbe in ein "Ausdingstübchen" versetzt wird, "worin er übrigens noch anständig untergebracht und beschäftigt werden soll." – (S. 111): "mit dem erhörlichen Gebet ist abermals ein wesentliches Attribut des persönlichen Gottes dahingefallen." Denkt doch erst, ihr Tintenklexer, ehe ihr klext! Ich sollte meinen, die Tinte müsste erröthen, wenn mit ihr etwas über ein Gebet, das ein "Attribut" sein soll, noch dazu ein "dahingefallenes Attribut", hingeschmiert wird. – Aber was steht auf S. 134! "Manches von den Wunschattributen, die der Mensch früherer Zeiten seinen Göttern beilegte – ich will nur das Vermögen schnellster Raumdurchmessung als Beispiel anführen – hat er jetzt, in Folge rationeller Naturbeherrschung, selbst an sich genommen." Wer wickelt uns diesen Knäuel auf! Gut, der Mensch früherer Zeiten legt den Göttern Attribute bei; "Wunschattribute" ist bereits recht bedenklich! Strauss meint ungefähr, der Mensch habe angenommen, dass die Götter alles das, was er zu haben wünscht, aber nicht hat, wirklich besitzen, und so hat ein Gott Attribute, die den Wünschen der Menschen entsprechen, also ungefähr "Wunschattribute". Aber nun nimmt, nach Straussens Belehrung, der Mensch manches von diesen "Wunschattributen" an sich – ein dunkler Vorgang, ebenso dunkel wie der auf S. 135 geschilderte: "der Wunsch muss hinzutreten, dieser Abhängigkeit auf dem kürzesten Wege eine für den Menschen vortheilhafte Wendung zu geben." Abhängigkeit – Wendung – kürzester Weg, ein Wunsch, der hinzutritt – wehe jedem, der einen solchen Vorgang wirklich sehen wollte! Es ist eine Scene aus dem Bilderbuch für Blinde. Man muss tasten. – Ein neues Beispiel (S. 222): "Die aufsteigende und mit ihrem Aufsteigen selbst über den einzelnen Niedergang übergreifende Richtung dieser Bewegung," ein noch stärkeres (S. 120): "Die letzte Kantische Wendung sah sich, wie wir fanden, um ans Ziel zu kommen, genöthigt, ihren Weg eine Strecke weit über das Feld eines zukünftigen Lebens zu nehmen." Wer kein Maulthier ist, findet in diesen Nebeln keinen Weg. Wendungen, die sich genöthigt sehen! Ueber den Niedergang übergreifende Richtungen! Wendungen, die auf dem kürzesten Wege vortheilhaft sind, Wendungen, die ihren Weg eine Strecke weit über ein Feld nehmen! Ueber welches Feld? Ueber das Feld des zukünftigen Lebens! Zum Teufel alle Topographie: Lichter! Lichter! Wo ist der Faden der Ariadne in diesem Labyrinthe? Nein, so darf Niemand sich erlauben zu schreiben, und wenn es der berühmteste Prosaschreiber wäre, noch weniger aber ein Mensch, mit "vollkommen ausgewachsener religiöser und sittlicher Anlage" (S. 50). Ich meine, ein älterer Mann müsste doch wissen, dass die Sprache ein von den Vorfahren überkommenes und den Nachkommen zu hinterlassendes Erbstück ist, vor dem man Ehrfurcht haben soll als vor etwas Heiligem und Unschätzbarem und Unverletzlichem. Sind eure Ohren stumpf geworden, nun so fragt, schlagt Wörterbücher nach, gebraucht gute Grammatiken, aber wagt es nicht, so in den Tag hinein fortzusündigen! Strauss sagt zum Beispiel (S.136): "ein Wahn, den sich und der Menschheit abzuthun, das Bestreben jedes zur Einsicht Gekommenen sein müsste." Diese Construction ist falsch, und wenn das ausgewachsene Ohr des Scriblers dies nicht merkt, so will ich es ihm in's Ohr schreien: man "thut entweder etwas von Jemandem ab" oder "man thut Jemanden einer Sache ab"; Strauss hätte also sagen müssen: "ein Wahn, dessen sich und die Menschheit abzuthun" oder "den von sich und der Menschheit abzuthun". Was er aber geschrieben hat, ist Lumpen-Jargon. Wie muss es uns nun vorkommen, wenn ein solches stilistisches Pachyderma gar noch in neu gebildeten oder umgeformten alten Worten sich umherwälzt, wenn es von dem "einebnenden Sinne der Socialdemokratie" (S. 279) redet, als ob es Sebastian Frank wäre, oder wenn es eine Wendung des Hans Sachs nachmacht (S. 259): "die Völker sind die gottgewollten, das heisst die naturgemässen Formen, in denen die Menschheit sich zum Dasein bringt, von denen kein Verständiger absehen, kein Braver sich abziehen darf". – (S.252): "Nach einem Gesetze besondert sich die menschliche Gattung in Racen"; (S. 282): "Widerstand zu befahren". Strauss merkt nicht, warum so ein alterthümliches Läppchen mitten in der modernen Fadenscheinigkeit seines Ausdrucks so auffällt. Jedermann nämlich merkt solchen Wendungen und solchen Läppchen an, dass sie gestohlen sind. Aber hier und da ist unser Flickschneider auch schöpferisch und macht sich ein neues Wort zurecht: S. 221 redet er von einem "sich entwickelnden aus – und emporringenden Leben": aber "ausringen" wird entweder von der Wäscherin gesagt oder vom Helden, der den Kampf vollendet hat und stirbt; "ausringen" im Sinne von "sich entwickeln" ist Straussendeutsch, ebenso wie (S. 223): "alle Stufen und Stadien der Ein – und Auswickelung" Wickelkinderdeutsch! – (S. 252): "in Anschliessung" für "im Anschluss". – (S. 137): "im täglichen Treiben des mittelalterlichen Christen kam das religiöse Element viel häufiger und ununterbrochener zur Ansprache." "Viel ununterbrochener", ein musterhafter Comparativ, wenn nämlich Strauss ein prosaischer Musterschreiber ist: freilich gebraucht er auch das unmögliche "vollkommener" (S. 223 und 214). Aber "zur Ansprache kommen!" Woher in aller Welt stammt dies, Sie verwegener Sprachkünstler? denn hier vermag ich mir gar nicht zu helfen, keine Analogie fällt mir ein, die Gebrüder Grimm bleiben, auf diese Art von "Ansprache" angesprochen, stumm wie das Grab. Sie meinen doch wohl nur dies: "das religiöse Element spricht sich häufiger aus", das heisst, Sie verwechseln wieder einmal aus haarsträubender Ignoranz die Präpositionen; aussprechen mit ansprechen zu verwechseln, trägt den Stempel der Gemeinheit an sich, wenn es Sie gleich nicht ansprechen sollte, dass ich das öffentlich ausspreche. – (S. 220): "Weil ich hinter seiner subjectiven Bedeutung noch eine objective von unendlicher Tragweite anklingen hörte." Es steht, wie gesagt, schlecht oder seltsam mit Ihrem Gehör: Sie hören "Bedeutungen anklingen", und gar "hinter" anderen Bedeutungen anklingen, und solche gehörte Bedeutungen sollen "von unendlicher Tragweite" sein! Das ist entweder Unsinn oder ein fachmännisches Kanonier-Gleichniss. – (S. 183): "die äusseren Umrisse der Theorie sind hiermit bereits gegeben; auch von den Springfedern, welche die Bewegung innerhalb derselben bestimmen, bereits etliche eingesetzt." Das ist wiederum entweder Unsinn oder ein fachmännisches, uns unzugängliches Posamentirer-Gleichniss. Was wäre aber eine Matratze, die aus Umrissen und eingesetzten Springfedern bestände, werth? Und was sind das für Springfedern, welche die Bewegung innerhalb der Matratze bestimmen! Wir zweifeln an der Straussischen Theorie, wenn er sie uns in der Gestalt vorlegt, und würden von ihr sagen müssen, was Strauss selbst so schön sagt (S. 175): "es fehlen ihr zur rechten Lebensfähigkeit noch wesentliche Mittelglieder." Also heran mit den Mittelgliedern! Umrisse und Springfedern sind da, Haut und Muskeln sind präparirt; so lange man freilich nur diese hat, fehlt noch viel zur rechten Lebensfähigkeit oder, um uns "unvorgreiflicher" mit Strauss auszudrücken: "wenn man zwei so werthverschiedene Gebilde mit Nichtbeachtung der Zwischenstufen und Mittelzustände unmittelbar an einander stösst". – (S. 5): "Aber man kann ohne Stellung sein und doch nicht am Boden liegen." Wir verstehen Sie wohl, Sie leicht geschürzter Magister! Denn wer nicht steht und auch nicht liegt, der fliegt, schwebt vielleicht, gaukelt oder flattert. Lag es Ihnen aber daran, etwas Anderes als Ihre Flatterhaftigkeit auszudrücken, wie der Zusammenhang fast errathen lässt, so würde ich an Ihrer Stelle ein anderes Gleichniss gewählt haben; das drückt dann auch etwas Anderes aus. – (S. 5): "die notorisch dürr gewordenen Zweige des alten Baumes"; welcher notorisch dürr gewordene Stil! – (S. 6): "der könne auch einem unfehlbaren Papste, als von jenem Bedürfniss gefordert, seine Anerkennung nicht versagen." Man soll den Dativ um keinen Preis mit dem Accusativ verwechseln: das giebt sonst bei Knaben einen Schnitzer, bei prosaischen Musterschreibern ein Verbrechen. – (S. 8) finden wir "Neubildung einer neuen Organisirung der idealen Elemente im Völkerleben." Nehmen wir an, dass ein solcher tautologischer Unsinn sich wirklich einmal aus dem Tintenfass auf das Papier geschlichen hat, muss man ihn dann auch drucken lassen? Ist es erlaubt, so etwas bei der Correctur nicht zu sehen? Bei der Correctur von sechs Auflagen! Beiläufig zu S. 9: wenn man einmal Schiller'sche Worte citirt, dann etwas genauer und nicht nur so beinahe! Das gebietet der schuldige Respect. Also muss es heissen: "ohne Jemandes Abgunst zu fürchten." – (S. 16): "denn da wird sie alsbald zum Riegel, zur hemmenden Mauer, gegen die sich nun der ganze Andrang der fortschreitenden Vernunft, alle Mauerbrecher der Kritik, mit leidenschaftlichem Widerwillen richten." Hier sollen wir uns etwas denken, das erst zum Riegel, dann zur Mauer wird, wogegen endlich "sich Mauerbrecher mit leidenschaftlichem Widerwillen" oder gar ein "Andrang" mit leidenschaftlichem Widerwillen richtet. Herr, reden Sie doch wie ein Mensch aus dieser Welt! Mauerbrecher werden von Jemandem gerichtet und richten sich nicht selbst, und nur der, welcher sie richtet, nicht der Mauerbrecher selbst, kann leidenschaftlichen Widerwillen haben, obwohl selten einmal Jemand gerade gegen eine Mauer einen solchen Widerwillen haben wird, wie Sie uns vorreden. – (S. 266): "weswegen derlei Redensarten auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Plattheiten gebildet haben." Unklar gedacht! Redensarten können keinen Tummelplatz bilden! sondern sich nur selbst auf einem solchen tummeln. Strauss wollte vielleicht sagen: "weshalb derlei Gesichtspunkte auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Redensarten und Plattheiten gebildet haben." – (S. 320): "das Innere eines – zart- und reichbesaiteten Dichtergemüths, dem bei seiner weitausgreifenden Thätigkeit auf den Gebieten der Poesie und Naturforschung, der Geselligkeit und Staatsgeschäfte, die Rückkehr zu dem milden Herdfeuer einer edlen Liebe stetiges Bedürfniss blieb." Ich bemühe mich, ein Gemüth zu imaginiren, das harfenartig mit Saiten bezogen ist, und welches sodann eine "weitausgreifende Thätigkeit" hat, das heisst ein galoppirendes Gemüth, welches wie ein Rappe weitausgreift, und das endlich wieder zum stillen Herdfeuer zurückkehrt. Habe ich nicht Recht, wenn ich diese galoppirende und zum Herdfeuer zurückkehrende überhaupt auch mit Politik sich abgebende Gemüthsharfe recht originell finde, so wenig originell, so abgebraucht, ja so unerlaubt "das zartbesaitete Dichtergemüth" selbst ist? An solchen geistreichen Neubildungen des Gemeinen oder Absurden erkennt man den "klassischen Prosaschreiber." – (S. 74): "wenn wir die Augen aufthun, und den Erfund dieses Augenaufthuns uns ehrlich eingestehen wollten." In dieser prächtigen und feierlich nichtssagenden Wendung imponirt nichts mehr als die Zusammenstellung des "Erfundes" mit dem Worte "ehrlich": wer etwas findet und nicht herausgiebt, den "Erfund" nicht eingesteht, ist unehrlich. Strauss thut das Gegentheil und hält es für nöthig, dies öffentlich zu loben und zu bekennen. Aber wer hat ihn denn getadelt? fragte ein Spartaner. – (S. 43): "nur in einem Glaubensartikel zog er die Fäden kräftiger an, der allerdings auch der Mittelpunkt der christlichen Dogmatik ist." Es bleibt dunkel, was er eigentlich gemacht hat: wann zieht man denn Fäden an? Sollten diese Fäden vielleicht Zügel und der kräftiger Anziehende ein Kutscher gewesen sein? Nur mit dieser Correctur verstehe ich das Gleichniss. – (S. 226): "In den Pelzröcken liegt eine richtigere Ahnung." Unzweifelhaft! So weit war "der vom Uraffen abgezweigte Urmensch noch lange nicht" (p. 226), zu wissen, dass er es einmal bis zur Straussischen Theorie bringen werde. Aber jetzt wissen wir es "dahin wird und muss es gehen, wo die Fähnlein lustig im Winde flattern. Ja lustig und zwar im Sinne der reinsten, erhabensten Geistesfreude" (p. 176). Strauss ist so kindlich über seine Theorie vergnügt, dass sogar die "Fähnlein" lustig werden, sonderbarer Weise sogar lustig "im Sinne der reinsten und erhabensten Geistesfreude". Und nun wird es auch immer lustiger! Plötzlich sehen wir "drei Meister, davon jeder folgende sich auf des Vorgängers Schultern stellt" (S. 361), ein rechtes Kunstreiterstückchen, das uns Haydn, Mozart und Beethoven zum Besten geben; wir sehen Beethoven wie ein Pferd (S. 356) "über den Strang schlagen"; eine "frisch beschlagene Strasse" (S. 367) präsentirt sich uns, (während wir bisher nur von frisch beschlagenen Pferden wussten), ebenfalls "ein üppiges Mistbeet für den Raubmord" (S.287); trotz diesen so ersichtlichen Wundern wird "das Wunder in Abgang decretirt" (S. 176).Plötzlich erscheinen die Kometen(S. 164); aber Strauss beruhigt uns: "bei dem lockeren Völkchen der Kometen kann von Bewohnern nicht die Rede sein": wahre Trostworte, da man sonst bei einem lockeren Völkchen, auch in Hinsicht auf Bewohner, nichts verschwören sollte. Inzwischen ein neues Schauspiel: Strauss selber "rankt sich" an einem "Nationalgefühl zum Menschheitsgefühle empor" (S. 258), während ein Anderer "zu immer roherer Demokratie heruntergleitet" (S. 264). Herunter! Ja nicht hinunter! gebietet unser Sprachmeister, der (S. 269) recht nachdrücklich falsch sagt, "in den organischen Bau gehört ein tüchtiger Adel herein". In einer höheren Sphäre bewegen sich, unfassbar hoch über uns, bedenkliche Phänomene, zum Beispiel "das Aufgeben der spiritualistischen Herausnahme der Menschen aus der Natur" (S. 201), oder (S. 210) "die Widerlegung des Sprödethuns"; ein gefährliches Schauspiel auf S. 241, wo "der Kampf um's Dasein im Thierreich sattsam losgelassen wird". – S. 359 "springt" sogar wunderbarer Weise "eine menschliche Stimme der Instrumentalmusik bei", aber eine Thür wird aufgemacht, durch welche das Wunder (S. 177) "auf Nimmerwiederkehr hinausgeworfen wird" – S. 123 "sieht der Augenschein im Tode den ganzen Menschen, wie er war, zu Grunde gehen"; noch nie bis auf den Sprachbändiger Strauss hat der "Augenschein gesehen": nun haben wir es in seinem Sprach-Guckkasten erlebt und wollen ihn preisen. Auch das haben wir von ihm zuerst gelernt, was es heisst: "unser Gefühl für das All reagirt, wenn es verletzt wird, religiös", und erinnern uns der dazu gehörigen Procedur. Wir wissen bereits, welcher Reiz darin liegt (S. 280), "erhabene Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen" und schätzen uns darum glücklich, den "klassischen Prosaschreiber", zwar mit dieser Beschränkung der Aussicht, aber doch immerhin wahrgenommen zu haben. Ehrlich gesagt: was wir gesehen haben, waren thönerne Beine, und was wie gesunde Fleischfarbe erschien, war nur aufgemalte Tünche. Freilich wird die Philister – Kultur in Deutschland entrüstet sein, wenn man von bemalten Götzenbildern spricht, wo sie einen lebendigen Gott sieht. Wer es aber wagt, ihre Bilder umzuwerfen, der wird sich schwerlich scheuen, ihr, aller Entrüstung zum Trotz, in's Gesicht zu sagen, dass sie selbst verlernt habe, zwischen lebendig und todt, ächt und unächt, original und nachgemacht, Gott und Götze zu unterscheiden, und dass ihr der gesunde, männliche Instinkt für das Wirkliche und Rechte verloren gegangen sei. Sie selbst verdient den Untergang: und jetzt bereits sinken die Zeichen ihrer Herrschaft, jetzt bereits fällt ihr Purpur; wenn aber der Purpur fällt, muss auch der Herzog nach. –

Damit habe ich mein Bekenntniss abgelegt. Es ist das Bekenntniss eines Einzelnen; und was vermöchte so ein Einzelner gegen alle Welt, selbst wenn seine Stimme überall gehört würde! Sein Urtheil würde doch nur, um Euch zu guterletzt mit einer ächten und kostbaren Straussenfeder zu schmücken, "von eben so viel subjectiver Wahrheit als ohne jede objective Beweiskraft sein" – nicht wahr, meine Guten? Seid deshalb immerhin getrosten Muthes! Einstweilen wenigstens wird es bei Eurem "von ebensoviel – als ohne" sein Bewenden haben. Einstweilen! So lange nämlich das noch als unzeitgemäss gilt, was immer an der Zeit war und jetzt mehr als je an der Zeit ist und Noth thut – die Wahrheit zu sagen. –


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