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17.

Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.

Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflächlicher als sie handeln, der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähnlichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen konnte! Wir freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss. Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben: während wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik – der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren gegenüber – nur das in schüchternem Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen entstanden ist und – zertrümmert wird.

Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst: während die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere Naturen an sich zu ziehen Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird?

Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein: für welche Culturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates, in dem früher erörterten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.

Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren attischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab: von welcher innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei Phänomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, äusserliche Analogien zwischen einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll, so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängniss des Mythischen unmöglich ist; denn der Mythus will als ein einziges Exempel einer in's Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens gegenüber: jenes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einer ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen Charakters entkleidet; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst: durch welche Armuth sie für unsere Empfindung die Erscheinung selbst noch herabzieht, so dass jetzt z. B. eine derartig musikalisch imitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u. s. w. erschöpft, und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten festgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik: durch sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch die dionysische Musik die einzelne Erscheinung sich zum Weltbilde bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen Geistes, als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höhern Sinne eine durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambischen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre Effectstücke und Manieren.

Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des psychologischen Raffinements in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige Naturwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künstlerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter: während noch Sophokles ganze Charactere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen; in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik d.h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst zu singen anfangen, recht lüderlich zu; wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekommen sein?

Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische Geist in den Schlüssen der neueren Dramen. In der alten Tragödie war der metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist; am reinsten tönt vielleicht im Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer anderen Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt: denn woher sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können? Man suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz; der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war, erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen einen wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden, dem man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war, gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machina ist an Stelle des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nicht sagen, dass die tragische Weltbetrachtung überall und völlig durch den andrängenden Geist des Undionysischen zerstört wurde: wir wissen nur, dass sie sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Entartung zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der verzehrende Hauch jenes Geistes, welcher sich in jener Form der »griechischen Heiterkeit« kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft unproductiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein Gegenstück zu der herrlichen »Naivetät« der älteren Griechen, wie sie, nach der gegebenen Charakteristik, zu fassen ist als die aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als der Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener anderen Form der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrinischen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete – dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: »Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden«.


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