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Zweites Kapitel.
Der große Feind

Der Stein Plessis, eingehüllt von der Angst des Volkes, drückte auf das Reich immer schwerer. Jean de Beaune, dessen Amt ihn als einzigen von der nächsten Umgebung des Königs mit der Bevölkerung in häufigere Berührung brachte, hörte mit seinen scharfen Ohren zuerst, daß das Stöhnen des Landes sich zu Flüchen verdichtete. Er war klug genug, seine Wahrnehmungen nicht dem König, sondern dem Necker mitzuteilen, der ihm ernst und nachdenklich zuhörte.

»Wem flucht man«, fragte er schließlich, »dem König oder mir?«

»Dem Teufelskönig und dem Königsteufel«, antwortete Beaune, über seine Formulierung schon lächelnd, »beiden, Necker, man trennt die Begriffe nicht mehr. Und in dem gebührlichen Abstand folgen dann Tristan und ich. Es gärt nicht unbedenklich.«

Oliver ließ das Gespräch dann fallen, gleich, als ob es ihn nicht sonderlich mehr interessierte. Doch er bestärkte um diese Zeit das erstemal den Daniel Bart in seiner obstinaten Haltung als Statthalter seiner Herrschaften und Güter im Seinetal, befahl ihm, alle seine Handlungen mit dem Namen des Sieur Le Mauvais zu decken und die zahllosen Konflikte mit der Stadt Paris nicht beizulegen, sondern jeder Provokation zuzutreiben. Die vielen Klagen, die von geschädigten Bürgern, beleidigten Beamten, zu Unrecht Inhaftierten, von den Gatten entführter Frauen und Vätern entehrter Mädchen beim Parlamentshof einliefen und notgedrungen nach Plessis weitergeleitet wurden, pflegte er mit ironischen Marginalien und dem eigenen Signum zum Siegel des Königs, dessen Bewahrer er war, zurückzuschicken.

Nicht viel später geschah es, daß dem Jean de Beaune in einer normannischen Ortschaft das Pferd unter dem Leib weggeschossen und er selber am Kinn verletzt wurde. Wieder hielt er es für gut, nur den Necker von dem Vorfall zu unterrichten, dem König sollte ein Reitunfall als Ursache seiner Verwundung gemeldet werden. Doch dieses Mal schien der Necker der Angelegenheit eine absonderliche Wichtigkeit beizumessen. Er bestand darauf, daß sie dem Souverän gemeldet würde, und berichtete sie persönlich, als der Schatzmeister seine Bedenken nicht überwinden konnte. Der König wurde weiß vor Wut und ordnete an, daß die männliche Bevölkerung der Ortschaft dezimiert und die gesamte Landschaft mit einer außergewöhnlich schweren Geldbuße bestraft werde. Der gutmütige Beaune bat den Herrscher auf den Knien, Gnade für Recht ergehen zu lassen und sein Gewissen nicht mit solcher Unmenschlichkeit zu belasten. Ludwig sah ihn kalt an und schüttelte den Kopf.

»Dein Gewissen ist mit dir in meinen Diensten sechzig Jahre alt geworden«, sprach er; »ich garantiere dir, es hält die Belastungsprobe aus.«

Der Schatzmeister erhob sich und sagte zu Oliver: »Ich erinnere mich, Necker, daß Sie zuweilen eine gewisse Humanität der Gesinnung zu zeigen wußten. Legen Sie kein Wort für die Menschen ein, die ich unglücklich machen soll?«

Oliver zuckte mit den Achseln.

»Ich schlug der Majestät das Strafmaß vor«, entgegnete er gleichmütig. – Als der König sie verließ, um seine Tiere zu füttern, fuhr Jean erregt auf.

»Wissen Sie auch, welch ungeheure politische Dummheit Sie mit dieser unnötigen Aufreizung des genugsam irritierten Volkes begehen, Necker?«

»Nein, das weiß ich nicht««, sagte Oliver ruhig und zeigte ihm die Order. »Sehen Sie rein formell keine Abweichung von früheren Verdiktfassungen, Jean de Beaune?«

Der Schatzmeister las zu seinem Erstaunen, daß der Befehl im Gegensatz zu der gewohnten Diktion nur im Namen des Königs lautete und nicht von Ludwig, sondern von Le Mauvais unterschrieben war. Er hob den Kopf und sah den Necker an.

»Begreife ich es recht, Meister?« fragte er langsam. »Sie wollen die Flüche auf sich nehmen? Sie wollen sich vor ihn hinstellen und ihn decken? – Necker, begreife ich Ihre Größe niemals ganz?«

Er ergriff Olivers Hand.

»Mein Gott, Jean«, sagte Oliver, peinlich berührt, »lassen Sie doch die Sentiments. – Ja, es gilt, einer Unpopularität des Königs vorzubeugen oder gar etwas Schlimmerem. Als Sie mich an den Hof brachten, war ich nützlich, weil ich nicht laut wurde. Jetzt ist die Zeit anders geworden, jetzt nütze ich, wenn ich Lärm mache. Bei dem Ruf, den ich ohnedies im Reich genieße, gehört nicht viel Größe oder Mut, nicht einmal viel Kunst dazu, den allgemeinen Unwillen auf mich allein zu lenken. Sie müssen mir dabei helfen.«

»Und wenn der König stirbt?« fragte Jean nach einer Pause.

Oliver lächelte.

»Sie wissen, Beaune, dieses Haus darf solche Worte nicht hören. Der König will nicht sterben.« –

Der Name des Bösen gellte durch das Land. Der Abscheu des Volkes, der sich an die geheiligte Person des Königs – des großen Königs trotz allem! – nur zögernd heranwagte, hatte jetzt das Ziel. Der Teufel regiert das Reich und seinen Herrscher! Man begann, den König zu beklagen und für ihn zu beten. Die fromme Seele der Zeit suchte Ludwigs augenscheinliches Opfer zu verstehen: die Hingabe seines christlichen Heiles an den Antichrist um des politischen Triumphes willen. Man wollte ihm helfen und ihn retten. Es gab zwei mutige Männer, den Parlamentspräsidenten Le Boulanger und den Erzbischof von Paris, die voller Scham über die Straflosigkeit der durch den Neckerschen Statthalter im Umkreis der Hauptstadt begangenen Untaten und voller Besorgnis für die moralische Stellung des Königs nach Plessis kamen, um zu klagen und zu warnen. Bei der Audienz, die sie nach vieler Mühe erlangten, war der Necker zugegen. Nach einem verlegenen Schweigen sagte der Präsident:

»Wir bitten Eure Majestät um die Gnade, im Interesse der kirchlichen und weltlichen Würden, die wir vertreten, daß wir unser Anliegen Ihnen allein, Sire, vortragen dürfen.«

Ludwig zog die Stirn zusammen und antwortete scharf:

»Wir sehen keinen, dessen Ohren nicht hören dürften, was wir hören.«

»Sire«, sagte der aufrechte Mann, »wir sehen den Sieur Le Mauvais.«

Der König schloß halb die Augen und zog die Brauen auf, mit abgründiger Bosheit lächelnd.

»So sehen Sie unseren Stellvertreter, dem wir jetzt die weiteren Verhandlungen zu übertragen belieben.« Er stand auf und ging zur Tür. »Hüten Sie Ihre Würden, Monsignore und Herr Präsident«, sprach er über die Schulter. »Messire Le Mauvais darf Ihnen sagen, daß sie gefährdet sind.«

Er verließ das Zimmer. Der Necker sprach höflich:

»Ich darf Ihnen sagen, Herr Präsident, daß die Majestät nicht erst seit dieser Stunde Lust hat, Ihnen die persönliche Verwaltung Ihrer Güter nahezulegen und Sie zu diesem Zweck von Ihren amtlichen Pflichten zu suspendieren. Und Ihnen, Monsignore, habe ich zu sagen, daß es dem Kardinal Balue in Amboise bis auf einige Seh- und Gehbeschwerden gut geht. – Ich stehe Ihnen jetzt zur Verfügung.«

»Wir haben hier nichts mehr zu sagen«, erklärte Le Boulanger, der bleich geworden war.

Als der fast neunzigjährige Tristan L'Hermite eines Morgens mit friedlichem Gesicht tot in seinem Bett gefunden wurde, im Schlaf wohl von dem letzten Schlag des müden Herzens getroffen, fühlte der König seit langer Zeit wieder die erste Erschütterung durch die große Furcht. Er hörte, stumm und frierend in seinem Sessel kauernd, die Nachricht, die Oliver ihm in gemessenen, aber nicht verhüllten Worten sagte, und sein Kinn bebte. Er weigerte sich auch, den Toten noch einmal zu sehen.

»Sire«, sagte der Necker verweisend, »die Treue von neun dienenden Jahrzehnten verdient den Abschiedsblick.«

»Ja, ja«, flüsterte Ludwig und bewegte unruhig die Hand, »aber ist das Gesicht – anzusehen? In seinem Leben waren doch viele Lasten, die den Tod schwer und schrecklich machen könnten ...«

Oliver schüttelte bewegt den Kopf.

»Es gibt eine dienende Treue, Herr«, sprach er weich, »die das Gewissen auslöscht oder es ersetzt. Tristans Antlitz ist schön und so voll von Frieden, daß es noch dem Lebenden Beruhigung zu geben vermag. Kommen Sie, Sire.«

Der König stand langsam und zaghaft auf und stützte sich auf Olivers Arm.

»Willst du uns mit dem Tod vertraut machen, Bruder?« fragte er und versuchte zu lächeln. »Willst du mich von ihm einlullen lassen? – Ich kenne ihn doch, ich kenne ihn doch! Und mich wird er unter keiner Maske anlocken!«

Sie gingen in die Schlafkammer L'Hermites. Die geschlossenen Läden hielten das Tageslicht ab; den Raum erleuchteten einige Kerzen. Der Hauskaplan betete bei dem Toten. Das Gesicht des Uralten, das gestern noch weise und ironisch lächelte, schien jetzt schon dem Maßstab des Irdischen entrückt, seltsam geglättet und ausgefüllt durch die letzte Ruhe. Es schien auch fast jünger oder doch dauerhafter als das lebendige Antlitz, so endgültig in einer spöttischen Zufriedenheit erstarrt, so fest jeder Zug im Unabänderlichen, daß die Bewegung des Lebens neben der Gewalt des einmaligen Ausdrucks nicht einmal mehr vermißt wurde – wie bei einem meisterlichen Bild aus Stein. Ein seidenes Tuch um Kinn und Wangen, über dem dünnen Haar leicht geknotet, hielt die Kiefer zusammen.

Jean de Beaune, der am Kopfende des Bettes stand und ergriffen den Toten betrachtete, wollte zurücktreten, als der König eintrat. Doch Ludwig machte eine unbeholfene Geste, daß er bleiben solle, senkte den Blick schnell zu Boden und stellte sich hinter den breiten Rücken des Schatzmeisters wie hinter eine Schutzwehr. Er legte die Hände auf die Schultern des anderen, hob dann den Kopf mit einem Ruck und sah über Jeans Achsel auf das Totenbett. Der Geistliche unterbrach auf ein leises Wort des Neckers sein Gebet und verließ das Zimmer. Der König blickte das Pergamentgesicht Tristans an, stumm und mit dringlicher Aufmerksamkeit, den Kopf allmählich über Jeans Schulter vorreckend.

»Gut – gut ...«, flüsterte er wie zu sich selber. Er berührte mit seinen Lippen fast Beaunes Ohr. »Wieviel Jahre ist Tristan älter als ich?« fragte er verhalten. Der Schatzmeister wagte nicht, ihn anzusehen.

»Wohl an die zwanzig Jahre, Sire«, antwortete er leise.

»Zwanzig Jahre ...«, wiederholte Ludwig und wandte das Gesicht dem Necker zu; »das ist eine lange Zeit, dünkt mich, Oliver.«

»Das ist eine lange Zeit, Sire«, sagte der Meister abgewandt. Der König verzog gequält den Mund.

»Gibst du sie mir, Oliver?«

Der Necker antwortete nicht, als hätte er die Frage überhört. Der König atmete lauter und rascher.

»Beruhigt dich dieser Tote, Oliver?« fragte er wieder, »und warum?«

»Sein Frieden beruhigt mich, Sire.«

»Warum? Warum?« drängte der Erregte. Oliver zeigte ihm das ernste Gesicht.

»Weil er den armen Menschen von der Todesfurcht zu heilen vermag, Herr, weil solches Sterben wert ist, begehrt zu werden.«

Der König blieb eine Zeitlang stumm, die Lippen zusammenpressend und so heftig die Finger in Jeans Schulter krallend, daß jener vor Schmerz den Rücken krümmte.

»Nein – nein ...«, flüsterte Ludwig jetzt, und lauter dann: »Nein – nein! So fängt er mich nicht! So fängst du mich nicht!«

Er warf einen hastigen Blick durch das Zimmer, ließ plötzlich den Schatzmeister los, eilte an das Fenster und riß die Läden auf. Eine grausame Sonne stach in den Raum. Ludwig trat mit entstelltem Gesicht an das Totenbett.

»Sire!« rief Jean de Beaune, der zurückwich. Oliver legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte traurig:

»Lassen Sie ihn, Jean! – Das ist Notwehr.«

Der König betrachtete mit bösen Augen die Leiche, die unter dem grellen Licht zu leiden schien. Es war, als wollte ein wächsernes Gebilde kläglich schmelzen, als drohte dem Werk die vernichtende Bewegung. Das tote Antlitz glitt vom Gelben ins Graue, vielleicht gar unter den lebenden Augen in grauenhaften Zerfall. – Jetzt hielt Oliver den Beaune fest, der vorstürzen wollte: Ludwig hatte sich rasch, mit der Grimasse des Abscheus, über Tristan gebeugt und ihm das seidene Tuch vom Kopf gestreift. Der Mund klaffte auf, wie zu einer furchtbaren Rückkehr ins Leben. Aus der zahnlosen Höhle bleckte eine weißliche Zunge. Die unheimliche Kraft des Bartes trieb auf Wangen, Oberlippe und Kinn silberige Stoppeln. Das Antlitz des Toten war ein stummer Schrei. – Der König stöhnte vor Entsetzen; sein Körper bebte wie im Fieber. Er warf die Hände vor und zog mit Daumen und Zeigefinger die Lider von den gebrochenen Augen. – Er schrie auf, zurücktaumelnd, die Finger gesträubt, schrie: »Da! da! Oliver! der Tod!« und stürzte aus dem Gemach. –

Der Necker fand ihn bei seinen Tieren, scheinbar wieder ruhig, mit sanfter Stimme Kosenamen rufend, auf dem Schoß eine sonnenblinde Eule, die den Kopf unter sein Wams steckte. Er sah Oliver nicht an und sagte nur mit etwas befangener Stimme:

»Ich habe ihm die Maske abgerissen. Er bleibt der Feind. Du weißt es jetzt, Oliver. Du versuchst keine Versöhnung mehr.«

Er schwieg, wieder mit den Tieren beschäftigt; dann fragte er:

»Wer wird jetzt Generalprofos?«

Der Necker zögerte einen Augenblick und antwortete fest: »Ich, Sire.«

Der König sah ihn an, eine Sekunde erstaunt, dann lächelte er und sagte:

»Ja, Bruder, das ist gut. Man fürchtet dich, aber man erreicht dich nicht.«

 

Ob sich Ludwig bewußt war, von welcher tiefen Bedeutung und Wirkung auf das Reich und auf sein Verhältnis zu den beiden regierenden Männern die Übernahme dieses fluchbeladenen Amtes durch den Necker wurde, konnte selbst Oliver niemals mit Sicherheit entscheiden. Daß nur das legendäre Alter Tristans und seine persönliche Lauterkeit den Abscheu des Volkes nicht zur rebellischen oder meuchelmörderischen Wut hatten kommen lassen und daß ein neuer Generalprofos nicht einmal durch eine mildere Ausübung seiner richterlichen Gewalt – die innerhalb des geübten Regierungssystems nicht möglich war – das schwere Erbe des Hasses würde sich leichter machen können, wußte der König sehr gut. Aber er schien schon zu fern von den Erregungen des Tages zu sein, zu gleichgültig gegen die Affekte der verachteten Menschen, zu sehr auch dem Neckerschen Genie vertrauend, um von der Ernennung persönliche Nachteile für ihn zu befürchten oder gar den letzten Sinn seiner Bereitschaft zu begreifen. Er begnügte sich, die Stelle eines exekutierenden Fiskals zu schaffen, der im Auftrag des Generalprofosen die Urteile vollzog; und er tat es wohl weniger, weil ihn Oliver schutzbedürftig dünkte, als um seiner eigenen Furcht willen, Stunden und Tage ohne ihn zu sein.

Die Machtfülle des Neckers wurde zu dieser Zeit auch in der äußerlichen Wirkung erstaunlich. Er war der Leiter der außenpolitischen und administrativen Geschäfte, Großsiegelbewahrer und des Reiches höchster Justizbeamter. Nach Tristans Tod und nach dem letzten vergeblichen Versuch, den König der Ergebenheit ins irdische Los wieder zuzuführen, arbeitete er mit so nüchterner und folgerichtiger Energie seinem letzten Ziel zu, daß nur der aufmerksame und kluge Jean de Beaune das Heroische seines Werkes bemerkte: Die vielen bedeutsamen kulturellen Projekte, die nicht aus humanitärer, sondern aus staatsmännischer Gesinnung ausgeführt wurden, und alle Manifeste politischer und organisatorischer Triumphe trugen des Königs Namen, alle Proklamationen und Ordonnanzen einer einzigartigen Tyrannis unterzeichnete Le Mauvais. Die Popularität des Valois und die Bewunderung seiner Größe, die in der Angst vor dem Stein Plessis erstarrt waren, erfuhren ein neues Leben, dem auf seltsame Art Liebe und Mitleid zugehörten. Nur der Souverän selber, der niemals zu lernen sich die Mühe genommen hatte, die zwangvollen Äußerungen der Untertänigkeit von den wahrhaftigen zu unterscheiden, und dessen Menschenhaß jetzt jede Neigung, die von außen kam, gleichermaßen abgeschüttelt hätte, ahnte nichts von der Wandlung in seinem Volk. Aber er hatte auch nicht die Gefahr geahnt, die, aus Angst und Wut zusammengeballt, eine gewisse Zeitlang den Bestand des Reiches bedrohte.

Während der Necker trotz aller Härte im Dienst für das Reich, als Staatsmann und als Profos, keine nachweisbaren Ungesetzlichkeiten beging, deckte er die immer dreister sich dem Kriminellen nähernden Übergriffe und Unterdrückungen seines Statthalters Daniel Bart auf immer provokantere Art. Nach der mißlungenen Intervention des Parlamentspräsidenten und des Erzbischofs in Plessis kam es zwischen Bart, der in Saint-Cloud residierte, und der Stadt Paris zum offenen Bruch. Der Erzbischof, der seit undenklichen Zeiten über die benachbarten Seine-Ortschaften das Recht der hohen, mittleren und niederen Gerichtsbarkeit ausübte, schickte einen Parlamentsadvokaten zu dem Statthalter, welcher in ultimativer Form die Befreiung der zahlreichen, durch unberechtigtes Justizverfahren in Saint-Cloud Eingekerkerten verlangte. Daniel hörte ihn wortlos an, erhob sich dann von seinem Stuhl, ging langsam auf den Juristen zu, der leichenblaß gegen die Wand zurückwich, packte den Schmächtigen und warf ihn durch die berstenden Fensterscheiben auf den Hof, wo einige aufgestellte Leute ihn auffingen und in ein tückisch konstruiertes Prangereisen schlossen. Die beiden Begleiter des Advokaten, die Zeugen des Gewaltaktes waren, wurden mit Peitschenhieben über die Seine in den Boulogner Wald, der damals noch Forst von Rouvray benannt war und zum größten Teil dem Necker gehörte, zurückgehetzt. Am nächsten Morgen begab sich der Erzbischof persönlich ins Parlament und erhob Klage gegen die ungeheuerliche Verletzung des Rechtes und der persönlichen Freiheit. Er erwirkte sofort einen Gerichtsbeschluß, das hundert Häscher nach Saint-Cloud zu marschieren und den Advokaten in dem Zustand mit sich zu nehmen hätten, in dem sie ihn anträfen. Zu ihrem Erstaunen fanden die schwerbewaffneten Agenten den Unglücklichen auf halbem Wege, noch diesseits des Flusses. Er stak in seinem Halseisen, ohne sich rühren zu können, und die Kette, die das Prangergestell belastete, endete in einer dreihundert Pfund schweren Eisenkugel. Unter außerordentlichen Schwierigkeiten wurde der vergitterte Mann auf einen kleinräderigen Lastkarren gehoben und in die Hauptstadt gebracht. Der Parlamentsrat, der sich in der Tournelle versammelt hatte und dem der Advokat vorgeführt wurde, befahl nach einer genauen Protokollierung seines Zustandes, ihn aus dem Eisen zu befreien. Doch es erwies sich, daß weder die Häscher noch die fachmännisch geschulten Schließer der Conciergerie das Kunstschloß zu öffnen oder das Gestänge zu sprengen imstande waren. Es blieb nichts anderes übrig, als den Statthalter in höflicher Form um den Schlüssel zu bitten und dem Überbringer diplomatische Immunität zuzusichern. Daniel Bart hatte nach rascher Verständigung des Neckers die unerhörte Kühnheit, in eigener Person und mit einem gewissen Pomp im Parlamentspalast zu erscheinen, in chevaleresker Haltung den Pranger aufzuschließen und den halbgelähmten Advokaten herauszuziehen. Währenddessen beriet in einem Nebenzimmer der Präsident mit dem herbeigeeilten Erzbischof und den Mitgliedern des Kriminalgerichts über die Möglichkeit, die dreiste Herausforderung des Neckerschen Leutnants mit List oder Gewalt zu parieren, die unerwartete und kaum wiederkehrende Gelegenheit, sich seiner verhaßten Person zu bemächtigen, auf irgendeine, wenn auch illegale Weise auszunutzen und die zugesagte Unverletzlichkeit um der allgemeinen Wohlfahrt willen aufzuheben. Trotz der Warnungen einiger besonnener Räte, die die Situation überschauten, die Zeit der Abrechnung noch nicht für gekommen hielten und in dem ganzen Vorfall einen provokatorischen Akt des Kronteufels vermuteten, erreichte der gereizte Präsident, von dem Prälaten unterstützt, den Verhaftungsbeschluß. Daniel Bart, der sich nicht sonderlich beeilte, den Parlamentspalast zu verlassen, fand das Tor verschlossen und wurde von dem Wachoffizier mit der befremdlichen Frage aufgehalten, ob er Daniel Bart sei. Der Neckerleutnant sagte ein hochmütiges Ja und fand es nicht einmal der Mühe für wert, ein Erstaunen zu heucheln. Der Polizeioffizier hatte bereits einen Steckbrief zur Hand, der frisch geschrieben schien, obgleich er ein ziemlich weit zurückliegendes Datum zeigte, und erklärte, den Statthalter wegen achtzehn neuer gegen ihn vorliegender Anklagen auf Raub, Erpressung, Notzucht, Freiheitsberaubung, Unterschlagung von Kirchengütern, Amtsüberschreitung und unberechtigt ausgeübter Jurisdiktion verhaften zu müssen. Der Bart lachte laut und wandte sich an einen seiner Begleiter:

»Reite nach Plessis, Grandjean, und melde dieser Herren artigen Wortbruch dem Generalprofosen. – Der arme Präsident«, fügte er dann mit bedauerndem Kopfschütteln hinzu und ließ sich bereitwillig in die Conciergerie abführen. Sein Bote wurde natürlich am Stadttor festgenommen; aber er hatte noch Zeit genug, den Arkebusenschuß abzufeuern, der seinen im Forst lauernden Gefährten die Verhaftung des Leutnants meldete und die verabredete Benachrichtigung des Neckers befahl. Anderthalb Tage später, als noch in geheimen Sitzungen des Parlaments für und gegen eine Aburteilung des Statthalters ohne Verständigung der souveränen Instanz gekämpft und doch nicht einmal gewagt wurde, den Bart peinlich zu verhören, kam ein Eilkurier aus Plessis mit königlicher Ordonnanz in schroffstem Wortlaut, signiert vom Generalprofosen: sofortige Freilassung des Statthalters, Suppression der Anklagen, Entschädigung des Inhaftierten durch einen Betrag von zehntausend Talern, aufzubringen von der Stadt Paris, Amtsentsetzung des Parlamentspräsidenten, Neuwahl des Kriminalgerichtskollegiums, Stellung von zwei parlamentarischen und zwei episkopalen Geiseln nach Saint-Cloud.

Es war schon die Zeit, wo des Königs Entrücktheit vom lebendigen Tag zur Teilnahmslosigkeit an jedem Sein wurde, ausgenommen am eigenen, ganz versponnenen, nur mit den Tieren, mit den Büchern und wohl auch mit dem Dunklen, Drohenden in sich selber beschäftigten, wo er fast schon gleichgültig wurde zum regierenden Beruf. Der Böse neben ihm herrschte in seinem Namen, und er war es zufrieden, daß jener den Anprall der widrigen Geschäfte, der ewigen Woge von den Menschen her, auffing, ihn vor der Berührung, die ihn ekelte, schützte und ihm nur die Entscheidung über die großen politischen Fragen überließ, die wiederum sehr hoch über dem Begriff des einzelnen Lebens lagen, mit den Völkern wie mit sachlichen Komplexen umgingen und mit der Zeit wie mit einer Untertanin. Aber selbst diese Gespräche um letzte Entscheidungen wurden spärlicher. Als sein pikardischer Statthalter im Artois von dem habsburgischen Gemahl der Maria geschlagen wurde, hatte er noch Erregung und Enttäuschung gezeigt, neu gerüstet, neue Verhandlungen mit Gent eingeleitet; doch dann arbeitete die Zeit wieder parteilich für ihn und mauerte ihn in seiner harten und teilnahmslosen Sieghaftigkeit ein: Maria starb, noch ehe der Krieg entschieden war, Gent wandte sich im gleichen Augenblick von neuem gegen den fremden Herzog, seine Kinder als Geiseln behaltend und das Mädchen Margarethe als Braut des Dauphin in die Touraine verschachernd; der endgültige Frieden wurde geschlossen und brachte das Artois und das Herzogtum Burgund in allen seinen wallonischen Gebieten an Frankreich. Eine Vollkommenheit des politischen Zustandes war erreicht, die das gewaltige Reich und das ganze Europa in abergläubischer Abhängigkeit von der Allmacht des unsichtbaren Königs gefangenhielten. Der alte Schattenkönig René war gestorben und ließ die Provence und Anjou-Maine auch dem Buchstaben nach dem Valois, Flandern war sein Protektionsland, die Bretagne war friedlich und geduckt gehorsam wie ein gutdressierter Hund, das Reich zitterte willfährig vor jedem Wort, das aus der Feste Plessis drang, die Schweiz parierte wie eine Provinz, Spanien, alle italienischen Mächte, Portugal, Navarra und Schottland bettelten um seine Freundschaft, der todkranke Edward von England und Habsburg hielten sich gerne ruhig oder waren dankbar, daß man sie in Ruhe ließ. – Der alte Mann von Plessis hatte nichts mehr zu besorgen als sein eigenes Leben und die guten Tiere.

Doch die Tiere machten es ihm leichter als das Selbst, der alte Körper, das alte Hirn, die morschen Gefäße seiner Existenz. Er leugnete es sich nicht mehr ab: die Drohung kam jede Nacht fast, in der er nicht trank, aus dem eigenen Innern, unentrinnbar und unbezwingbar, tropfte aus jedem Gedanken wie aus einem lecken Topf, pochte im Blut, zerrte an den Nerven, zog im Nacken, sauste in den Ohren, rollte im Kopf, umklammerte die Brust. So trank er. Doch dann wagte sich die Drohung an den Tag, trieb ihm das Blut in die Stirn und Hitzen ins Gesicht, daß in seinem Blick der Boden vor ihm in schiefe Stufen zerbrach, die Wände sich lächerlich bogen, die Welt einen sachtroten Schleier trug und plötzlich keine Vergangenheit mehr war, kein Ding und kein Tier mehr einen Namen trug, das gedächtnislose Hirn leer lief wie ein aufgehobenes Wagenrad und Füße und Hände eine kalte Lehmschicht zu tragen schienen. – Was tun? Was tun? Lieber die Nacht ertragen, die schrecklich ist an sich, lieber ihre Gespenster nüchternen und tätigen Geistes abwehren und in der Bibliothek zwischen der ergebenen Ewigkeit der Bücher die Erleichterung des dämmernden Morgens abwarten! – Mit seiner ungeheuren Energie warf er das Leben in die äußerste Enthaltsamkeit, trank nichts und aß wenig, arbeitete in den Nächten an einem neuen Gesetzbuch, begnügte sich mit einem kurzen Vormittagsschlaf und verbrachte die hellen Stunden im Tierpark, die animalische Nähe wie Energiequellen auszunutzen trachtend. Niemals aber, auch nicht an Tagen sichtlichen Verfalls, klagte er einem Menschen, selbst dem Necker nicht, der keine Anteilnahme wagte und sogar den Mitleidsblick hütete.

Es kam ein Frühling, in dem die Erscheinungen des Alters durch die triebhafte Erde in erschreckender Weise deutlich wurden, und sie führten zu einer Reizbarkeit und Empfindlichkeit, die die Nähe der Katastrophe anzeigten. Oliver sah die unheilvolle Härte und Schlängelung der Schläfenarterien und oft schon – am hellen Tag, zwischen zwei Sätzen – ein unsägliches Grauen in Ludwigs Augen, eine Unruhe, eine Angst, die die Züge verzerrte. – In jenen Wochen machte Oliver sein Testament zugunsten der jungen Anne Necker, Henryks jüngster Tochter, wie er in Erfahrung gebracht hatte. Da er über sein Schicksal nicht im Ungewissen war und für das Mädchen einen Teil seines Vermögens retten wollte, deponierte er die große Summe, die er flüssig machen konnte, zusammen mit der letztwilligen Verfügung in einem Brügger Bankhaus. –

An einem ungewöhnlich warmen Apriltag schien der König von einer rätselhaften Heiterkeit erfüllt. Gesprächiger als sonst, aber zerfahren und zusammenhanglos plaudernd, schritt er mit Oliver über die Weide der Pferde. Ein Berberhengst, ganz in seiner Nähe brünstig sich aufbäumend und ihn im Vorgaloppieren mit den Hufen fast streifend, erschreckte ihn auf unvermutete Art. Entstellten Gesichts und unsicher laufend, zog er den Necker aus der Umzäunung.

»Das war Saint-Pol!« keuchte er, »fast hätte er mich mit den Hufen getroffen, Oliver ... Bin ich auch hier nicht sicher ... oder ist er ...«

Er preßte die Hand auf das Herz und lallte unverständliche Worte.

»Sire, beruhigen Sie sich«, bat Oliver und sah ihn besorgt an. Ludwig, rot im Gesicht, hob wild die Arme.

»Man soll ihn erschießen!« schrie er, »ich war guter Stimmung! Ich habe schlafen können! Der Druck war fort, der Druck! Er wußte es, er, er, der Rebell! der Konnetabel ... Was siehst du mich so an?«

Der Necker nahm wortlos seinen Arm und wollte ihn ins Schloß führen; doch des Königs Beine versagten den Dienst. Oliver ließ ihn sanft auf die Erde gleiten, stützte seinen Kopf und öffnete ihm die Halskrause.

»Was ist denn ..., was ist denn ...«, stammelte Ludwig, die Augen schließend, und umklammerte Olivers Nacken. Der Meister rupfte taufrisches Gras aus und legte es ihm auf Stirn und Brust. Ludwig atmete auf. »Man soll mich nicht so liegen sehen«, sagte er dann mit klarerer Stimme, »ich will es nicht. Heb mich auf. Ich bin gesund. Ich will es!«

Oliver hob ihn auf die Beine. Ein paar Schritte ging der König noch schwer auf seinen Arm gestützt. Dann richtete er den Körper auf, die Zähne zusammenbeißend, und ließ den anderen los. Im Bereich des Schlosses war die letzte Schwäche überwunden, die Wachen sahen den kurzen raschen Schritt des Herrschers und das kalte Gesicht, das niemanden anblickte, wie vor einer halben Stunde.

Ludwig ging in die Bibliothek und ließ sich erschöpft in einen Stuhl fallen. Der Blick, den er jetzt auf den Necker warf, war der feindlichste ihres ganzen gemeinsamen Lebens. Oliver bemerkte ihn und senkte den Kopf, um den König mit keinem Ausdruck seines Gesichts zu reizen.

»Nachricht von Edwards Zustand?« fragte er mit heiserer Stimme. Oliver zögerte mit der Antwort. Ludwig schlug auf die Seitenlehnen.

»Glaubst du«, rief er böse, »es schadet mir, wenn du sagst, daß er gestorben ist? Das war seit Wochen zu erwarten.«

»Er ist gestorben«, sagte Oliver. Der König schob das Kinn vor und runzelte die Brauen.

»Wie alt wurde er?« fragte er nach einer Weile.

»So alt, wie ich jetzt bin«, entgegnete der Necker vorsichtig, »und das scheint für den lendenlahmen Exzedenten immerhin erstaunlich.«

Ludwig schob mit unwirscher Geste die Bemerkung von sich und sah ihn lauernd an.

»Wieviel Jahre bist du jünger als ich, Oliver?«

»Etwa zehn Jahre, Sire«, entgegnete der Necker leise. Der König schrie ihn an:

»Zum Teufel! Vierzehn Jahre! Was schonst du mich! – Ich will wissen, was du von meinem Zustand denkst!«

»Ich denke nichts anderes«, meinte Oliver achselzuckend, »als daß es lächerlich ist, mir in solcher Weise zu zürnen, nur weil ich Zeuge Ihres kleinen Schwächeanfalls war, Sire.«

Ludwigs Gesicht entspannte sich, er streckte die Hände nach dem Necker aus.

»Ja, du hilfst mir, Bruder«, flüsterte er, »du glaubst nicht, daß Er vorhin hinter mir stand, auf Armeslänge hinter mir! Du darfst es nicht glauben!« – Er stockte und hauchte dann wie ein letztes Bekenntnis: »Ich stehe schon im Kampf, Oliver, schon seit geraumer Zeit ...« Er zog Oliver näher an sich heran, unsicher und fast hilflos redend: »Sind vierzehn Jahre eine weite Strecke für Ihn?«

Der Necker hob sehr bewegt den Kopf und sah ihm in die trüben Augen.

»Nein, Sire, und ich desertiere nicht. Und wenn es sein muß, bin ich mir vierzehn Jahre voraus. – Sie dürfen nicht kleinmütig werden und sich nicht vor mir verstecken: wie soll ich sonst helfen?«

Der König nickte langsam mit dem Kopf. »Ich ergebe mich nicht«, sprach er, plötzlich lenkte er ab:

»Ist Glocester, Edwards Bruder, ruhig, oder doch der Prätendent?«

Oliver durfte es nicht mehr wagen, den Souverän mit Schweigen oder halben Andeutungen zu erregen. Er hielt ihn jetzt wohl auch für stark genug, die Tragödien fremder Schicksale anzuhören, ohne durch den regierenden Tod erschüttert zu werden. Er antwortete rasch und sachlich:

»Glocester heißt heute schon König Richard. Edwards beide kleine Söhne starben von seiner Hand. Edwards beide Töchter wurden von ihm als Bastarde erklärt. Richard bietet Ihnen seine Freundschaft an, Sire.«

Ludwig wurde in beängstigend schneller Folge blaß und rot, seine Augen wurden von dem stoßenden Blut herausgetrieben.

»Diesen Menschen genügt nicht der Tod«, stöhnte er, »so sind sie Mörder! – Glocesters gibt es überall ... jeder kann Glocester sein ... ich war es auch, Bruder ... zu mir kommt er auch ... Hilf mir doch!«

Er sah sich, fast erwürgt vor Entsetzen, im Raum um. Er redete irre. Oliver brachte ihn zu Bett. –

In dieser Nacht heulte die Dogge Tristan und scharrte gegen die Schlafzimmertür. Der Necker, den der König seit Jahresfrist, seit Beginn der nächtlichen Bedrohungen und Arbeiten nicht mehr bei sich schlafen ließ, hatte auch an jenem Tag nicht den Kranken durch eine Änderung der gewohnten Ordnung erschrecken wollen und das Schlafgemach verlassen, als Ludwig in einen unruhigen Schlummer versunken war. Er wachte in seiner Kammer, durch die Nähe des letzten Kampfes verstört und nicht einmal zu lesen fähig. Er starrte in eine schwarze Ecke des Zimmers und lauschte in sich hinein, ob sein Herzschlag im Schicksal des verwandten Geistes mitklopfte. Er empfand eine Müdigkeit, die ihn ergebener dünkte, als es dem Widerstand des streitbaren Greises angemessen schien. Er schüttelte traurig den Kopf.

Wie der Hund seine Klage hinausheulte, sprang er auf, die Fäuste gegen die pochenden Schläfen gepreßt, und stürzte hinaus. Im Vorraum zu Ludwigs Schlafzimmer – die Dogge ließ winselnd von der Tür ab und drängte sich an ihn – hörte er noch den schweren Fall des Körpers drinnen und rasselndes Atmen. Er riß die Tür auf. Der König lag in einiger Entfernung von den Bettstufen auf dem Boden, seitlich hingestreckt und röchelnd. Der Hund war schon bei dem Gefällten und leckte das Ohr und das weiße Haar. Jetzt kniete Oliver neben dem König, schob die Dogge fort, die knurrte, und richtete ihn sachte auf. Ludwig lag auf der Seite, die vom Schlag getroffen war. Es schien, als sei er durch die äußerste Angst des bedrohten Körpers geweckt und aus dem Bett gestoßen worden, als hätte er mit dem letzten Laut des aufgerissenen Mundes nach dem treuen Tier gerufen oder nach dem treuen Menschen, als hätte ihn der Feind zwischen Bettestrade und Tür erreicht und niedergeschlagen. Das Gesicht, dessen linke Hälfte mit hängendem Lid, schlotternder Backe und krampfig abgezogenem Mundwinkel die Zeichen der ungeheuren Faust trug, war blaurot, das rechte Auge stand weit offen, vorquellend, mit glotzender Pupille in der Schlagangst erstarrt. – Muß er so furchtbar sterben, dachte Oliver erschüttert, hob ihn mit Anstrengung auf und trug ihn aufs Bett zurück. Die Glieder der linken Körperseite hingen schwach und schwank herab wie bei einer ungefügen Puppe.

Doch der König starb nicht. Nach der schlimmen Nacht, in der Oliver mit Aderlässen, kalten Kompressen und Essigeinläufen gegen den tödlichen Blutdruck kämpfte und in der er keine andere Hilfe herbeizurufen wagte als die Jean de Beaunes und eines vertrauten und verschwiegenen Kammerdieners, fiel der Kranke in einen tiefen Schlaf. Indessen mußte der am folgenden Tag mit vieler Heimlichkeit herbeigerufene Erzbischof von Vienne, einer der bedeutendsten Ärzte seiner Zeit und vor Olivers Favoritentum Beichtvater des Königs, feststellen, daß Ludwig nicht nur linksseitig gelähmt war, sondern auch die Sprache verloren hatte. Der gelehrte Prälat hoffte wohl auf eine allgemeine Besserung innerhalb weniger Tage, aber er wartete sie, durch die Nähe des Neckers sichtlich irritiert, nicht ab und zog sich noch am selben Abend zurück, nachdem er die Behandlungsmethode des Meisters gebilligt und das feierliche Wort gegeben hatte, über die Erkrankung des Königs zu schweigen.

Noch kannte außer den drei Eingeweihten keiner im Schloß den Zustand des Königs. Man war an seine Launen gewöhnt und wußte noch von Amboise her, daß es ihm zuweilen beliebte, sich durch Tage jedem Auge zu entziehen. Nur die Tiere vermißten ihn und kreischten, bellten, wieherten nach ihrem Freund.

Als Ludwig erwachte, überwand er in erstaunlich kurzer Zeit das Entsetzen über sich selbst. Er sah wohl mit dem gesunden Auge den Necker in seltsamer Klage an, öffnete den Mund, ballte und spreizte die Rechte, schlug verzweifelt auf die Bettdecke, weil nichts als ein häßlich schnarrender Laut über seine Lippen kam, verzerrte erschütternd wütig die eine Gesichtshälfte: aber die fruchtlose Empörung dauerte nur kurze Zeit. Wie Oliver ihm Schiefertafel und Griffel zeigte, griff er gierig danach. Er schrieb mit fast unleserlichen Lettern: »Ich sehe, höre, erkenne – ich spreche bald!« – Oliver sah ihn mit einem Lächeln an, das voll Wehmut und Bewunderung war.

»Sie sind wahrlich noch stark genug, Sire«, sprach er ehrlich, »um mir Kraft abgeben zu können.«

Ludwig bewegte zustimmend die Hand und zerbrach den schweren Griffel zwischen den Fingern; sein halbes Gesicht verschob sich im Willen zu lächeln. Dann schrieb er, die eine Braue hochziehend, mit dem kreischenden Rest des Stiftes die erbarmungslosen Worte der ersten Ordonnanz an die Schloßbesatzung: »Der König ist leicht erkrankt. Wer das kleinste Wort darüber an die Außenwelt gelangen läßt, wird gehängt.« – Der Generalprofos verlas den Befehl den im Schloßhof versammelten Beamten, Gardisten, Lakaien, untersagte für die Dauer der Krankheit jede Beurlaubung und richtete eine strenge Briefzensur ein. – Ein zweiter Erlaß des Königs wies die Wärter an, während seiner Krankheit die Pflege der Tiere nicht im kleinsten zu vernachlässigen; ein jeder hafte mit seiner Person für ihr Wohlbefinden. – Der Stein Plessis bebte vor der kranken Majestät. –

Vierundzwanzig Stunden später begann Ludwig zu sprechen. Es war zuerst ein Lallen, fast noch unverständlich, aber mit ungeheurer Willenskraft wiederholt, jedes Wort angegriffen und nicht mehr losgelassen, bis die Sätze klarer und klarer ausgesprochen wurden. Als der Tag sich neigte, war die Sprache zurückerobert. Die Stimme wohl hatte sich verändert, sie tönte nicht mehr sonor und männlich wie früher, sondern blieb wie geborsten, mühselig auch und mit schweren Lauten die Worte getragen aneinanderreihend, aber die Freude gab ihr eine seltsam heroische, ungefüge Zuversicht. Oliver sah den Ringkampf an, tief erregt und fast bestürzt von solchem Mut. Der König begriff seinen aufmerksamen Blick anders, er streckte ihm die Hand hin und sagte:

»Freund, ich danke dir.«

»Was danken Sie mir?« fragte der Necker verwundert und sogleich auch von leiser Pein angerührt. Ludwig strich ihm über den Arm, mit einer zaghaften Bewegung.

»Ich weiß, ich weiß«, sprach er mit seiner brüchigen Stimme, »du hast mir die Sprache wiedergegeben, Bruder. Groß ist deine Magie, aber ...«

»Sire!« unterbrach Oliver in heftiger Bestürzung, »Gott gab sie Ihnen wieder!«

»Groß ist deine Magie, Bruder«, beharrte der König unbeirrt, »aber gib mir auch den ganzen Körper wieder. – Sieh, ist das königlich?«

Er hob mit der gesunden Rechten seinen linken Arm hoch und ließ ihn zurückfallen wie einen Pumpenschwengel. Der Necker murmelte gequält:

»Beten Sie zu Gott, Sire. Ich kann nichts zurückgeben!«

»Ist das königlich?« fragte Ludwig weiter, grausam taub, und legte die Hand auf die tote Hälfte seines Gesichtes. Der Necker sank sehr bestürzt vor dem Lehnstuhl auf die Knie und umklammerte Ludwigs Beine.

»Herr! Herr!« rief er, »lassen Sie den furchtbaren Glauben an mich! Ich bin nur ein Mensch!«

»Nein, nein, nein!« stöhnte Ludwig, und sein schiefer Mund bebte vor Angst, »ich lasse ihn nicht, darf ihn nicht lassen! – Er hilft mir ja bis hierher – und auch weiter ...«

Oliver wagte nicht mehr zu widersprechen, er mußte, wollte er nicht den König in neue Gefahr bringen, schweigen. Er richtete sich langsam auf.

»Bleib! bleib!« flüsterte Ludwig und fingerte nach ihm, »mir ist fast, als fühlte das linke Bein deinen Körper ...«

Der Necker blieb vor ihm knien, mit wirrem Kopf, und preßte und rieb das tote Fleisch. Gegen Mitternacht konnte der König mit einiger Mühe die gelähmten Glieder bewegen. Er schlief mit einem Seufzer des Glücks ein. Oliver, der bei ihm wachte, barg die brennende Stirn in den Händen. – Warum quält das Schicksal diesen alten Mann auf solche schlimme Art mit mir und mit sich; kann es nicht zum Ende kommen? – Doch am nächsten Tag änderte er seine Haltung dem Kranken gegenüber. Er behandelte ihn, wie jener es wollte: mit dem suggestiven Kommando des körperlichen Erfolges, mit der Unsentimentalität und anspruchsvollen Technik des Schwarzdoktors. Er hob ihn aus dem Bett und stellte ihn auf die Beine.

»Sie können stehen, Sire«, sagte er und ließ ihn los. Ludwig stand. – »Sie können den linken Arm bewegen, Sire.«

Ludwig hob ihn ein wenig.

»Sie können gehen, Sire«, sprach der Necker ein drittes Mal und ergriff des Königs Arm. Ludwig humpelte an seiner Seite durch das Zimmer. – Am Abend waren die Lähmungserscheinungen bis auf die Muskelschwäche des linken Augenlids, das geschlossen blieb, und einer leichten Verzerrung der linken Gesichtshälfte, verschwunden. Sein Gang zwar war hinkend und sein Körper gebückt wie bei einem hinfälligen Greis, und er trennte sich nicht mehr vom Krückstock. Er wurde auch noch menschenscheuer, aus Angst vor einem Blick, der ihm sein verändertes Aussehen verraten könne. Bevor er das erstemal wieder das Schloß verließ, um zu den Tieren zu gehen, gab er den Befehl aus, daß er keinen Beamten oder Bedienten zu begegnen wünsche. So sah er nur die kalten blauen Augen seiner Schotten, die keine neugierigen und nicht zu erschütternde Leute waren. Und dann sah er die alte Freude seiner Tiere.

Zu Anfang Mai, an einem der schweigsamen Abende, an denen der sieche König von neuer Unruhe in seinem Körper heimgesucht wurde, sein erschreckter Blick über den Rand des Folianten flatterte und den Necker suchte, Nachtigallensang aus dem Hag zu laut in den ernsten und herben Bücherraum drangen, Oliver stumm aufstand und die Fenster schloß, hatte Ludwig ein merkwürdiges Verlangen.

»Freund«, bat er fast verlegenen Tones, »lies mir das Kapitel aus dem Propheten Jesaia, in dem der König Hiskia, todkrank, zu Gott flehte, das Leben ihm zu verlängern, und wie des Herrn Wort dem Jesaia geschah und der Herr den Tagen des Königs noch fünfzehn Jahre der Gesundheit zulegte.«

Der Necker blätterte ohne ein Zeichen der Verwunderung in der Bibel und las das achtunddreißigste Kapitel des Buches Jesaia. Schon nach wenigen Sätzen unterbrach der König, bekümmert den Kopf schüttelnd, ohne Hoffnung fragend: »Wie kann ich sagen, daß ich vor dem Herrn gewandelt habe in der Wahrheit mit vollkommenem Herzen und getan habe, was ihm gefallen hat? Wie kann ich es sagen, Bruder?«

Oliver hob nicht einmal den Kopf, als ob Ludwigs absonderliches Eindringen in das biblische Gleichnis ihn nicht zu erstaunen vermöchte.

»Dieser Zweifel allein mag schon dem Herrn genügen«, sagte er schlicht und las weiter. Der König betrachtete ihn sehr aufmerksam; das hängende Lid flatterte in seiner heimlichen Erregung. Der Necker endete: »Hiskia aber sprach: Welch ein Zeichen ist das, daß ich hinauf zum Hause des Herrn soll gehen!«

»Ich habe gebetet, als ich stumm war«, flüsterte Ludwig hastig, wie eine Antwort. Er bedeckte, wie es nach dem Schlaganfall seine Gewohnheit geworden war, die linke Gesichtshälfte mit der flachen Hand und fuhr leise fort:

»Aber ich meine immer, du drängst mich durch Gott in die Resignation, Bruder.«

Oliver sah ihn einen Augenblick an, mitleidig und unmerklich lächelnd, blätterte dann die pergamentene Seite der Vulgata zurück und las noch einmal: »Denn die Hölle lobt dich nicht, so rühmt dich der Tod nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Wahrheit. Sondern allein, die da leben, loben dich, wie ich jetzt tue.«

Eine Weile schwiegen beide. Ludwig blickte ihn mit dem freien Auge forschend an.

»Ja«, sagte er schließlich, »du willst entlastet sein, Bruder, ich kann es begreifen. Und wenn ich auch weniges mehr gutmachen kann, um Gott gefällig zu werden, und wenn auch Gott und wir wissen, daß das königliche Gewissen von wenigem mehr belastet wird und das meiste wieder auf sich nehmen würde, so möchte eine gute Tat doch von Nutzen sein, Bruder, mir und dir?«

»Versuchen Sie es, Sire«, sagte der Necker. Der König sprach ohne Zögern, wie ein Mensch, der die Summe einer langen Überlegung mitteilt:

»Der Kardinal Balue ist begnadigt. – Bitte den Heiligen Vater in meinem Namen um ein Breve, das mich von der Sünde seiner Einkerkerung losspricht. Und dann geh nach Amboise und öffne den Käfig. – Wird die gute Tat uns angeschrieben, Bruder?«

»Ich glaube es«, sagte Oliver und beugte sich dankbar über Ludwigs Hand.

 

Rom hatte in jedem zweiten oder dritten Jahr versucht, den Kardinal zu befreien. Bei den guten politischen Beziehungen des Kirchenstaates mit Ludwig, bei Balues bekannt gewordener Verräterei und der europäischen Machtstellung des Königs konnten die päpstlichen Vorstellungen niemals den höflichen oder gar bittenden Ton verlassen. Doch sie begegneten stets jener gefährlich zutunlichen Dialektik, die das verwischte, was sie nicht zugeben wollte. Um so freudiger nahm der Papst die Initiative des Königs auf, und sein Breve war ein Dankschreiben.

Balues Körper war so schwer geworden, daß die Beine ihn nicht mehr trugen. Nach zehn Jahren einer verzweifelt angespannten Tätigkeit als Übersetzer und Exeget war der Geist noch stark, als das Augenlicht verlöschte. Doch angelangt auf dem höchsten Grad irdischer Betrachtung, erschreckte ihn auch die Dauer des Dunkels nicht mehr. Er lag die letzten vier Jahre wie eine unförmige Masse auf der Pritsche, die Hände über dem mächtigen Bauch gefaltet, die Augen zumeist geschlossen, und diktierte einem Augustiner, der außerhalb des Käfigs saß, eine neue Fixierung des Kanons und eine Kritik der Apokryphen.

An einem dieser Maitage, die durch die offenen Fensterluken das Gewölbe mit sonnenwarmer Luft füllten, wurde der beschaulich Arbeitende zu ungewohnter Stunde gestört. Das Tor wurde geöffnet und nicht wieder ins Schloß geworfen. Schritte von Menschen kamen näher. »Was ist denn?« fragte Balue ein wenig unwillig und wandte den Kopf. Man gab keine Antwort, aber es erhob sich ganz in seiner Nähe das unsäglich neue und unerwartete Geräusch arbeitender Feilen.

»Fra Benedetto, was geschieht hier?« fragte Balue in großer Erregung seinen Sekretär.

»Handwerker arbeiten am Gestänge, Eminenz«, antwortete der Mönch mit einer Stimme, die vor Staunen fremd klang. Der Kardinal legte den Kopf ergeben auf das Kissen zurück, schloß die Augen und begann klaren Tones das Benedic anima mea Domino. Die Feilen kreischten lauter, dröhnend fiel Gitterwerk. Ein Schritt brach in die vierzehnjährige Einsamkeit des Käfiginneren ein, ein Mensch stand, von Eisenstangen nicht getrennt, ganz nahe und sprach leise:

»Monsignor Jean Balue, Kardinalbischof von Angers, Eminentissime! Durch die Gnade des Allerchristlichsten Königs sind Sie ein freier Mann und beurlaubt nach Rom.«

Balue schwieg eine Weile, den Worten nachlauschend, die Augen nicht öffnend; dann flüsterte er:

»Wer sagt mir diese große Kunde, daß ich ihn segnen kann?«

»Ein Diener seines Herrn«, murmelte der Necker und kniete nieder.


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