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Der Paria


Die Hilfe

Der Reverend C. S. Stewart verteidigte Amerika, Louis verteidigte Europa. Der erste Junitag verteidigte sich mit blanker Sonne gegen Lärm, Gewühl und Alltäglichkeit des Broadway. Die Balkontür des Salons im Old City Hotel stand offen, Louis wies hinaus. »Ich bin für die alte Sonne,« sagte er, »Sie sind für die Neue Welt und ihre höllische Tüchtigkeit, Sie sind ein mutiger Reverend.« C. S. Stewart lächelte und sein kahles scharfes Gesicht gewann rechts und links vom langen Kinn eine Falte mehr. »Die Sonne scheint auch über dem Broadway,« meinte er, »und Sie sind gerade zwei Monate hier; nach zwanzig Monaten sehen Sie unsere Tüchtigkeit schon im Purgatorium und nach zwanzig Jahren verteidigen Sie tüchtig unser Paradies.« Louis hob die Hände. »Zwanzig Jahre hier – Gott behüte mich!« – So waren ihre täglichen Debatten, gutmütig und ohne rechten Willen, den anderen zu überzeugen. Sie hatten sich gerne; Louis schätzte den tiefen Anstand des Geistlichen und vor allem den männlichen Takt, mit dem er sein Interesse an dem entgleisten Schicksal zeigte, ohne sein Mitleid zu verraten; der Reverend erkannte die tiefe Unruhe des Verbannten, seinen stillen Kampf um die Anerkennung der Gegenwart, und er wollte ihm helfen. Wer konnte ihm helfen?

 

Alle halfen ihm, alles half ihm, Menschen, Dinge und Ereignisse. Sogar das Meer half ihm, viereinhalb Monate Meer, alle Art, Empfindung und Farbe Meer, das glatte Meer, so glatt wie der Bodensee, und das tobsüchtige Meer, so über alle Maßen gewaltig in Schwungkraft und Schlingwut, daß man wie ein Kügelchen zwischen Todesangst und Lebenshoffnung geschüttelt wurde, in die Angst hinein und hinaus und in die Hoffnung hinein und hinaus, bis die Seekrankheit stärker wurde als beides und man im Mäuseloch der Apathie das Ende erwartete – und dann war es das Ende des Sturms; blaues, graues, grünes, gelbes, schwarzes Meer, das Endlose und Maßlose als Kluft zwischen Gestern und Morgen, die Grenze Frankreichs auf der anderen Seite, das Unüberbrückbare als Grenze, nicht mehr der Rhein, als Kluft ein Raum, über den ein Jahresteil baumelte wie eine Lianenbrücke: wie half ihm das Meer? Es half ihm zur Ergebenheit, es unterwarf auch seine Geduld einer großen Seekrankheit und schüttelte sie, beutelte sie, quetschte sie, bis eine zwangvolle Weisheit übrig blieb, eine Exilierten-Philosophie, die erst stoisch war, wie der seekranke Körper, und dann von einer liebenswürdigen Resignation. Das Meer machte ihn gleichgültig gegen sich, und das war gut. Auf dem zweiunddreißigsten Breitengrad öffnete der Kapitän die Geheimorder des Marineministeriums. – Nach New York, nicht wahr? – Schließlich nach New York, aber zuerst nach Rio de Janeiro; ein Umweg von dreitausend Seemeilen, eine Zusatzhaft von drei Monaten, mit Zwischenlandungsverbot und strengem Verschluß der Außenwelt. Warum? Ach, der Straßburger Prozeß, das Straßburger Drama der Geopferten: man hatte wohl Angst, Louis könne in den Staaten das Weltgewissen zu ihrer Hilfe aufrufen oder ihnen in Brasilien über den Ozean die Stichworte der Verteidigung zuschreien. War die Order eine sinnlose Brutalität? Nein, sie war eine Hilfe für ihn, eine neue Wendung für sein Gewissen, ein neues Stück Meerwelt zwischen ihm und seiner fernen, immer ferneren Schuld gegen die Gefährten. Was konnte er tun? Wie konnte er helfen? Es war gut so: eingesargt zu sein und doch zu leben, nichts zu wissen, nichts zu hören, das Meer hinter sich, um sich, vor sich, vielleicht zu ersaufen, vielleicht auch nicht. Im Januar tauchte ein Wunder aus dem Meer, die Bai von Rio mit dem Saum der Gebirge und dem weißen Amphitheater der Stadt, das Bild blieb durch Wochen vor seinem Blick und blieb Vedute, aufgezogenes Panorama der schönsten Einfahrt der Welt, für ihn nur Ansicht, nicht betretbare, nur beschaubare Landschaft, er war es zufrieden, er schaute und zeichnete sie ab und am besten gelang ihm der Zuckerhut auf der Westseite der Bai, weil der Kegel eine zugleich bizarre und kindliche Form hatte; und weil er nichts als Zeit hatte, lernte er die Landschaft auswendig, die Namen der vielen Inseln, der Forts, der Stadtteile und Berghintergründe – es klang hübsch und fremdartig und tat dem ewigen Meer ein wenig Abbruch. Sie hätten ihn auch an Land gehen lassen können, es wäre nichts geschehen, er wäre wie jeder Fremde fremd und neugierig durch die klirrend weiße, parkgründurchsetzte, im Himmelsblau flirrende, herrlich laute Stadt gefahren und hätte sich auf dem Passeio publico die tropischen Gewächse und die Mädchen angesehen, die sehr schön und sehr spröde sein sollen; vielleicht wäre er auch in ein Bordell gegangen, denn man spürt ja noch das Leben, wenn man auch nicht mehr weiß, was daraus wird. Es wäre nichts geschehen; er hatte fast schon vergessen, wer er war – nein, das Meer hatte seine Vergangenheit und sein Gewissen verwässert, er erkannte es nicht mehr recht, er war gleichgültig geworden, aus seiner früheren Fassung geschaukelt und noch in keine neue Form gegossen: er war ungefährlich, ohne jede Absicht. Und wie sollte Rio wissen, was in diesen Tagen im Justizpalast der Blauwolkengasse zu Straßburg sich abspielt.

Dies hatte sich abgespielt, während er den Zuckerhut zeichnete. Das Straßburger Schwurgericht, das aus einigen höchst aktiven Republikanern, ein paar lahmen Legitimisten und zwanzig nicht französisch sprechenden Bauern bestand, hatte nach zwölf Verhandlungstagen, die ein einziges Melodram waren mit vielen Deklamationen, erschütternden Plaidoyers und vielen Tränen im Zuschauerraum, alle Angeklagten freigesprochen – ja, freigesprochen: und der Zuschauerraum klatschte Beifall, die Stadt tobte vor Begeisterung, die Menschen sanken sich in die Arme, ein festliches Bankett vereinigte die Freigesprochenen, ihre Anwälte und radikale Politiker, die Republikaner veranstalteten einen Fackelzug. Es gab noch Richter in Straßburg. Wie sollte man ehrenhafte, mutige und aufrechte Parteigänger verurteilen, wenn der Führer auf sonderbare und undurchsichtige Art aus der begehrten Verantwortung gerissen und in die Neue Welt, vielleicht sogar in den Ozean versenkt wurde! Die Regierung machte große Augen. So war es nicht gemeint gewesen. Man wollte keine Märtyrer; aber man wollte wahrhaftig nicht die feierliche Institution einer Bewegung, die bisher noch gar nicht bestand. Hatte der kluge König eine große Dummheit begangen, als er den Louis Bonaparte versacken ließ, statt ihn zu füsilieren? Hatte gar der Arenenberger Narr gesiegt, indem er verlor?

New York empfing ihn in den ersten Apriltagen mit der Straßburger Botschaft und riß ihm die warme Resignation ab. Jetzt stand er bloß und fror in der neuen Freiheit, die so unsinnig und abwegig war wie der lange Lehrgang des Meeres. Alles half ihm; aber die Konstellation war so verworren und verschoben, daß die Gunst des Schicksals ihn verfehlte, so sehr sie sich abmühte. Das Seil, das man ihm zuwarf, war zu kurz, das böse Meer, das ihn mit Eifer und Muße den Verzicht lehrte, war zu breit – und was nützte es ihm, wenn er jetzt den Verzicht ins Meer zurückwarf wie einen überflüssigen Rettungsgürtel? Vaudrey und Laity schrieben ihm wie Sieger an den Sieger. Persigny – oh, er war noch da, er tat seine Pflicht, er blieb der Generalstabschef der Idee – veröffentlichte in englischen Blättern Apologien des Prinzen von einer erstaunlichen Verlogenheit und Wirksamkeit.

Was war das alles? Wie hieb die Komödie seines Schicksals in die alte Kerbe! Wie machte es aus dem falschen Louis einen falschen Paria und aus dem falschen Paria einen falschen Schlemihl! Wie machte es aus dem falschen Schlehmil wieder einen falschen Verschwörer, der hier, in New York, hin und wieder, nicht zu oft, mit den italienischen Emigranten zusammenkam, mit den abgehängten Carbonari, mit den alten Blut- und Dolch-Vettern, und ihnen, weil sie es wollten und davon lebten, das freie und geeinte Italien versprach! Wie zwängte es ihn, in starkem Sog, zurück in die alte Form, und was tat er mit ihr in der Neuen Welt?

 

Reverend C. S. Stewart sagte, daß der Prinz von der beabsichtigten Rundreise durch die Staaten sehr viel haben werde, sehr viel, nicht nur neue Kenntnisse und die erste Revision seiner Voreingenommenheit gegen Amerika, sondern auch, ganz einfältig gedacht, Zerstreuung, Abwechslung, wenig Zeit, sich zu quälen, kurz, er bekomme Europa endlich in den Rücken; denn hier, in New York sei er noch viel zu sehr »gegenüber«. Louis lachte auf und sah durch die Balkontür. Alle wollten ihm helfen; der gute Stewart und General Webb, sein Schwager, und der General Scott und der Kanzler Kent und der berühmte Washington Irving und der Lyriker Pitz-Green Halleck aus einer guten Neigung und die großen alten New Yorker Familien, die für ihn rote Läufer über den Gartenkies legten, aus einem wohltemperierten Snobismus, und in Washington würde er vom Präsidenten empfangen und für jeden Gouverneur von Pennsylvanien bis Missouri und von Maine bis Mississipi würde er Empfehlungen erhalten und alle würden ihm helfen, Europa in den Rücken zu bekommen – Louis lachte und preßte die Handflächen gegeneinander: nur er hilft nicht mit, nur er hilft sich nicht …

Ein Kellner kam, auf dem Tablett einen Brief. Louis sprang auf. Was vermögen alle Staaten der Welt gegen einen Arenenberger Brief? »Von meiner Mutter,« sagte er und schloß die Balkontür, weil er den Broadway von dem Brief ausschließen wollte. Dann erst riß er den Umschlag auf.

Der Reverend sah ihm zu. – Ein schwieriger Fall, dachte er, ein zugleich zarter und hartnäckiger Mensch, ein zugleich ungläubiger und besessener Mensch, ach, ein falsch gekapptes Seil … Aber was hat er? Ich habe noch niemals einen Menschen zugleich vergilben und lebendig werden sehen, und dabei rührt er sich nicht und spricht nicht und das Blatt in seiner Hand zittert nicht einmal. Man darf ihn nicht einmal fragen, was er hat.


»Mein lieber Sohn, ich muß mich einer absolut notwendigen Operation unterziehen. Wenn sie nicht gelingt, schicke ich Dir durch diesen Brief meinen Segen. Wir werden uns, nicht wahr, in einer besseren Welt wieder finden; aber Du sollst so spät wie möglich dorthin gelangen, wenn Du anders nicht zu mir gelangen kannst, und Du weißt: wenn ich von hier fortgehe, bedauere ich nur Dich und Deine Güte und Deine Liebe, die mich hier glücklich gemacht haben, wie es nur sein konnte. Das wird auch ein Trost für Dich sein, mein lieber Freund, und Du wirst Mut haben. Man hat immer ein gutes und klares Auge für das, was man zurück läßt. Ich habe Mut für Dich, mein liebes Kind, ich bin ganz ruhig. Ich habe Mut für die andere und für diese Welt, für mich und für Dich. Denn ich hoffe immer noch, wir sehen uns auf dieser Welt. Gottes Willen geschehe.«


Die Mutter ist sehr krank, sie ist schon ganz ohne Schwere, wie entleibt, sie muß schon schweben können, um solchen überirdischen Sinn in die schwebende, ganz dünne und seltsam aufgescheuchte Schrift zu legen; sie muß schon so hoch und fern in Liebe sein, daß sie mich nur noch als Glück und nicht als Unglück sieht; denn hier ist kein Wort, das nicht wahr wäre. Kein Mensch erkennt so gut die Wahrheit wie der Unwahrhafte – ich muß es wissen. Ich bin ihr Glück. Ich bin ihr Glück. Sie ist schon lange krank, ich weiß es, sie hat eine furchtbare Krankheit, glaube ich, der Tod nistet ganz langsam an der Stelle, wo sie mein Leben empfangen hat, ich bin ihr Glück, der Tod ist bei ihr dort, wo ich gewesen bin, und sie hat es verschwiegen, aus großer Scham vor ihrem Glück. Ich bin ihr Glück bis zum letzten November, wo ich sie nach Paris jagte, daß sie für mein ungefährdetes Leben bettele. Ich bin ihr Glück bis in diese Tage, wo Louis Philipp und Metternich die Unschuldige aus dem Schweizer Asyl jagen wollen. Das gibt die Aufregungen, die den Tod in ihr, meinen letzten Bruder in ihr, stark und reif machen. So ist sie und so bin ich: was für eine Mutter und was für ein Sohn. Sie hat Mut für mich, weil ich ihn nicht habe. Sie kennt ihr Glück. Und weil ich mir nicht helfen kann, hilft mir die süße Mutter.

»Reverend, Reverend, es kommt immer anders – nein, es kommt immer so, wie man denkt. Meine Mutter ist sehr krank. Ich fahre mit dem nächsten Schiff.«

 

– Er ist doch ein Napoleon, sagten sich der Reverend und die amerikanischen Freunde, er wäre hier ein freier Mann, man hätte ihm seine Chance gegeben; aber nein, er fährt zurück, er kann nicht anders, er nimmt seinen Kampf gegen die Alte Welt wieder auf, er will seinen Untergang haben. – Er ist ein guter Sohn, dachte Mrs. C. S. Stewart; aber daran dachten die wenigsten.

Das Meer war zahm und gefügig, die dreiundzwanzig Tage lang, der Sommer hielt es in einem großen Käfig aus Sonne, manchmal war es wie der Bodensee. Louis blieb gegen das plötzlich ergebene Element mißtrauisch, er wollte sich durch die lässig friedsame Ueberfahrt nicht aus der Spannkraft bringen lassen, die notwendig war. Ja, sie war notwendig, um den Druck auszuhalten, den die kranke Hortense auf sein Geschick ausübte. Oder vielleicht war es umgekehrt, vielleicht war diese Rückkehr mit ihrem Aufgebot an frischem Willen und neuem Geist des Widerstandes eine Herabwürdigung der Sohnesliebe. Aber konnte er das Arenenberger Krankenbett aus der Alten Welt schaffen? War es nicht die wunderbare Mutter selber, die die letzten Funken aus sich schlug, um ihm neues Feuer zu reichen? Die Vergnügungsfahrt von New York nach Liverpool, die ihm der Atlantik scheinheilig bot, konnte ihn nicht schlaff machen. Er wurde nicht einmal skeptisch oder unsicher, trotzdem er nicht wissen konnte, ob Hortense die Operation überstanden habe. Sie lebte noch: er fühlte es an seiner eigenen Frische. Sie ließ ihn nicht im Stich, sie gab nicht nach, wenn er hartnäckig blieb, es war die alte Zusammenarbeit. Er wußte jetzt, was er wollte und was ihm bevorstand, und sie wußte es gewiß auch. An Bord war er ein angestaunter Mann der Zeitgeschichte, beinahe ein Held. In Europa hatte er ein Paria zu sein, er war sich klar, er hatte es mit allem Nachdruck zu sein. Er wird sich in London nicht verheimlichen und nicht verkleiden, trotzdem er dort die heimliche und verkleidete Filiale der Pariser »Volksfreunde«, von der er sich schließlich einen falschen Paß geben lassen wird, sehr gut kennt. Er wird zunächst von einer Gesandtschaft zur anderen gehen, zum französischen, zum preußischen, zum österreichischen Minister: da bin ich wieder, Louis Napoleon der Deportierte; aber regen Sie sich nicht auf, ich klettere nicht über die Hintertreppe auf eure Bühne zurück, ich habe anderen Kummer, ich will nichts als einen Paß nach Arenenberg, meine Mutter ist sehr krank und verlangt nach mir. Man wird ihm den Paß verweigern, das ist sicher, und ein großes Rumoren wird in den Kabinetten anheben, aber auch in der Presse, die Londoner Bonapartes werden ihn verleugnen, wie sie ihn seit Straßburg verleugnet haben, und ihn wie die Pest scheuen, aber das öffentliche Gewissen wird sich rühren, erstaunt, unleidig, unwillig, erschüttert: läßt man einen guten Sohn nicht zur kranken Mutter, nur weil er Napoleon und sie Hortense heißt? Und er wird schreien: bin ich der Paria Europas?

Der Kapitän erschien auf dem Promenadedeck, hinter sich ein langbeiniges, häßliches, kleines Mädchen. »Verzeihung, Kaiserliche Hoheit, hier ist die Tochter von Doktor William Appeton aus Boston, und sie wäre so glücklich, wenn sie ein paar Zeilen … aber sie wagt nicht …«

»Gerne,« sagte Louis, die kleine Appeton schnitt vor Aufregung Grimassen und er schrieb in ihr Poesie-Album diesen Vers von James Thomson:

Still to employ
The mind's best ardour in heroic aims.

Das Schiff hieß » George Washington«.

 

Der Sommerdom

Jeden Vormittag um elf Uhr erschien der Vicomte Persigny im Vorraum des Krankenzimmers. Doktor Conneau ließ ihn zu der Leidenden, wenn es ihr Zustand nur irgend gestattete; denn der Prophet tat ihr wohl. Früher hatte sie unter seiner rabiaten Tüchtigkeit gelitten; der Lärm, den er in das stille Haus brachte, hatte ihr mißfallen wie die handfeste Art, auf die er ihren Sohn eroberte. Doch als er, als einziger, aus dem Straßburger Unglück heimkehrte, war er ein sanfter, stiller und treuer Mann, der wohl seinen Teil Schuld an dem schiefen Unternehmen trug, aber zugleich auch sein Recht auf Absolution mitbrachte: seine Liebe zu Louis und seinen Glauben an ihn, seinen in nichts erschütterten Glauben. Er ermutigte Hortense, nach Paris zu fahren, und als sie zurückkam, glücklich und unglücklich und den aufgewühlten Schmerz wie eine Teufelskralle im Leib, war er es, der ihr zart und sicher die Zuversicht wieder aufbaute, die Zuversicht für den Sohn, nicht für das eigene Leben. Der Straßburger Freispruch kam, das war der Sieg des Sohnes und der Triumph des Propheten. Persigny bewies ihr, daß jetzt die Idee des Erben konstituiert sei, und sie erkannte es an, sie war sehr krank, die entsetzliche Faust im Unterleib öffnete sich, um noch mehr, immer noch mehr von ihrem Inneren in den grausamen Griff zu nehmen, sie heulte vor Schmerzen; aber in den Pausen des Leides war sie voll Hoffnung, nicht für sich, sondern für den Sohn. In der Pause öffnete sie die Augen: es standen rechts und links vom Propheten der große Oberst Vaudrey und der kleine Leutnant Laity, die Helden von Straßburg, die Kämpfer für Louis, Gläubige auch sie, und sie gehörten fortan zu Arenenberg. Auch das war das Werk Persignys, der nicht nur die Kranke tröstete, sondern auch ohne viel Aufhebens die politische Leitung von Arenenberg ergriff, nicht mehr der Legende, nein, der Parteizentrale. Schon liefen die ersten Noten der französischen Regierung in Bern ein: duldet der Bundesrat eine Filiale der Straßburger Verschwörer im Thurgau, unter dem Vorsitz der Exkönigin statt des Exprinzen? Was riskierte der Prophet, was war sein verhängtes Ziel? Schon rührte sich der Protest der Oeffentlichkeit in der Schweiz, in England, in der französischen Oppositionspresse: man lasse die totkranke Frau in Ruhe!

Nach der Bittersüße des Morphiumschlafes, der die Schrecklichkeit der Untersuchung unterschlug, machte sie die Augen auf. Neben dem Bett standen die drei großen Spezialisten aus Lausanne, aus Basel, aus Paris, bescheiden hinter ihnen stand Doktor Conneau, und alle lächelten plötzlich wie auf Kommando und doch um einen winzigen Augenblick zu spät, so steif und ernst waren die Gesichter gewesen. Jeder der drei großen Spezialisten sagte eine kleine blasse Gutmütigkeit und schließlich gelangten alle Drei zu dem Wort: Operation. – »Nein,« flüsterte sie und schloß die Augen. Die Aerzte waren so still, daß sie hätte meinen können, sie sei allein; und sie konnte nachdenken, sie konnte mit einer Kraft und Weite denken, als sei sie allein auf der Welt, allein mit Louis. Dann machte sie die Augen auf, es waren wieder die berühmten, großen Augen, die Aerzte begriffen nicht, warum sie lächelte, und sie sagte: »Also gut, Operation.« Dann schrieb sie den Brief an Louis, sehr hoch gebettet, mit losen Fingern. Sie ließ Persigny kommen und er las den Brief. Er sagte kein Wort, trotzdem er einen Katarakt von Worten in sich verschließen mußte. Aber da er wenigstens die Geste der Erschütterung nicht missen konnte, beugte er sich über die Bettdecke und küßte ihre Hand, die vor Blässe nicht weiß, sondern grau war. Sie ließ es geschehen, sie liebte die Dramatik des Gefühls von je. Sie fragte leise: »Wird es deutlich?« Er nickte und sie wußte, daß er sie begriff; aber sie fragte noch einmal: »Deutlich genug?« Der Prophet sagte: »Er wird kommen.«

Das war der alte Kanon der Legende, um ein kleines nur verändert.

 

Dieser Tag verging und der nächste und der dritte: Hortense wurde nicht operiert. Das ärztliche Konsilium tagte im Salon des Erdgeschosses, der schon lange verwaist war und sich dennoch nicht veränderte, hartnäckig und mit etwas närrischem Hochmut das Geistergesicht wahrend wie ein nie besuchter Museumssaal. Die Aerzte saßen um den großen, runden Tisch, zwischen jedem war ein zierliches Stühlchen frei und keiner sah den General Napoleon Bonaparte über die Arcole-Brücke stürmen und den Prinzen Louis Napoleon mit seinem andalusischen Rappen wie mit einem Zirkuspferd den Arenenberger Steilhang hinauf turnen und den toten Charles Napoleon aus langwimprigen Hortense-Augen und zwischen koketten Koteletten ins Leere starren. Das Konsilium zankte sich auf lateinisch, Doktor Conneau warnte in aller Bescheidenheit, aber mit dem Nachdruck des Mannes, der den Zustand der Kranken am besten kannte, vor dem Messer, man verhängte von neuem die Folter der Untersuchung über sie, man beriet sich von neuem und man kam zu der Einsicht, daß es für den Eingriff zu spät sei. Die drei Spezialisten reisten ab, Doktor Conneau, erst vierunddreißigjährig, mit einem Gesicht wie ein amerikanischer Quäker, teilte es der Kranken beiläufig mit und wartete auf ihre Fragen, für die er halbwegs glaubhafte Antworten bereit hielt. Denn daß der Rückzug der Aerzte den Sieg über den Krebs bedeute, konnte er der duldenden Frau nicht einreden.

Aber Hortense fragte nichts. Drehte sie auf dem Kissen den Kopf ein wenig nach links, dann sah sie durch das offene Fenster den Mai mit ganz zarten und jungen Farben hereinwinken, mit ein paar Pappelwipfeln des Abhangs, einem Stückchen Himmel dazwischen, einem Stückchen See darunter, einem Stückchen Reichenau, zwischen den winzigen Flecken der roten Dächer den schütteren Hauchschnee der blühenden Kirschbäume, und einem Stückchen fernen, grauen Hügelhintergrund. Sah sie lange hin und zu lange, dann brannte das flirrende Blattgold der Sonne ein Loch in die Landschaft, sie sah durch sie hindurch in ein Meer aus Glanz und Nichts und die sinnlose Endlosigkeit erschreckte sie; denn da war die Zeit, die sich auf den Weg machte, gerade auf diesen Weg, und durch nichts bewogen werden konnte, sichtbar zu sein auf der überaus wichtigen Reise oder am Ziel das kleinste Zeichen zu geben oder die Rückkehr mit dem leisesten Signal anzukündigen. Die Entfernung zwischen der alten und neuen Welt, gewaltig für den Gesunden, unvorstellbar für den kranken Körper, für den schon die Reichweite des Blickes, ach schon das Zeichenpult auf dem Tisch in der Zimmermitte unerreichbar ist, eine hämische Phantasmagorie der nächsten Nähe – der böse Raum der Erde braucht seine Zeit, nein, ihre Zeit, Hortenses karge Zeit. Und nur das Eine ist sicher: daß er kommt, nicht aber das Andere: daß sie dann noch da ist. Sie braucht Doktor Conneau nicht zu fragen, sie weiß sehr genau, warum sich das Messer nicht an sie herantraute und sich mit den Spezialisten davon machte. Ist es gut, ist es schlecht? Es ist gut, den Teufel nicht mit Beelzebub zu vertreiben und nicht nur dem Leiden, sondern auch dem Leben den Garaus zu machen. Es geht um die Zeit, um nichts Anderes mehr. Sie kennt sich mit dem Tod in ihr besser aus als mit dem fremden Messer, sie ist ja die Mutter ihres eigenen Todes und die Professoren sind nur die Ziehväter ihrer häßlichen Instrumente. Sie kennt sich selber am besten und wird sich halten und sich erhalten, solange es nur irgend geht; das bedeutet viel, weiß sie. Und erliegt ihre Zeit dennoch dem grobschlächtigen Raum, dann kommt ihre letzte Parade, an die sie auch neulich schon dachte, als die Aerzte zwischen ihrem Nein und Ja den Atem anhielten: dann haben der Rest des mütterlichen Lebens und die Gefahr des Todes doch schon in den Raum gerufen und dem ganz fernen Sohn gewunken. Er wird zurückkommen und wieder da sein, wo er hingehört. Finden sie sich nicht in dieser Welt, dann in der anderen, irgend einmal, doch mit schöner Gewißheit. Hortense ist gläubig. Und für diese hitzige Erde hat sie ganz kühl und berechnet den zyklopischen Raum und sogar den eigenen Tod hintergangen, wie auch Gottes Wille geschehe. Hortense ist listig und kann wieder lächeln. Persigny lächelt auch, er darf es ihr sagen: die französische Regierung, von Metternich unterstützt, verlangt, daß die Exkönigin Hortense sofort nach ihrer Genesung die Schweiz verlasse. »Dann fahre ich sofort nach Amerika,« sagt sie, und beide blinzeln sich zu wie Auguren.

Der Mai flattert mit seinem leichten, der Juni schwingt mit seinem kräftigeren Gold am Fenster vorbei – jetzt muß er den Brief schon haben, jetzt muß er schon wissen, was er tut, jetzt muß er schon auf dem Schiff sein – der Juli läutet sich mit bronzener Sonne ein. Sieh, es geht, es geht nicht gut, die Pausen werden kürzer, das Leid länger, der Tod im Mutterleib größer – aber man lebt noch, man wird gemach widerspenstig und auf eine ungemeine Art rechthaberisch wie eine Heilige auf dem Rost, schon ganz eckig und unglaubhaft vor heiliger Widerspenstigkeit und Rechthaberei, schon auf der Grenze zwischen Gottesschmerz und Gotteslust, man erwartet etwas, das eben nicht der Tod ist, sondern die Rechtfertigung des starrsinnigen Lebens. Man erwartet die Gnade, auf die man Anspruch hat. Es kam die Julimitte, und mit Blitz und Donner und einem blauschwarzen Stückchen See im regengesträhnten Fensterausschnitt kam Louis' Brief, an Bord des »George Washington« geschrieben, in Liverpool aufgegeben. Der Vicomte Persigny brachte den Brief, er schwenkte ihn wie eine eroberte Fahne, seine Backen waren rot wie die Reinette-Aepfel, die im Thurgau wachsen, und von tausend großen Worten belagert, sagte er nur das eine kleine: »Voilà!« Hortense wurde von der Freude nicht böse mitgenommen, Doktor Conneau stand umsonst in Bereitschaft, sie war ein zu starker Kämpfer, um von ihrem eigenen Sieg übermannt zu werden. Der Brief, den sie eine Weile zwischen den Handflächen hielt – als wollte sie sich an ihm wärmen –, war keine Ueberraschung, sondern eine Bestätigung. »Doktor,« sagte sie, »jetzt lebe ich sogar noch länger als unbedingt notwendig.« Conneau dachte: diese Frau ist so groß und mein Dienst an ihr ist so klein, daß ich mich hiermit dem Sohn verspreche. Er hielt sein Wort.

 

Die Glocke des August ist über Arenenberg gestürzt und dröhnt ganz leise, die Landschaft ist der behutsame Klöppel, von schwerer Sonne umwickelt. Die Kranke schwingt mit, es tut nicht weh, wenn sie gegen die Glocke stößt, es dröhnt nur, es summt nur, sie ist so ruhig und schläfrig wie die Tonschaukel, in der sie ruht. Sie möchte gewiegt werden und schlafen, bis er kommt; denn Schlaf ist Schmerzlosigkeit. Conneau ist Glöckner und Wiegenmeister; sie bemerkt ihn kaum in ihrem Sommerdom, so zart und klug amtiert er; sie schwingt von Schlaf zu Schlaf.

Sie schlief, als Louis auf Zehenspitzen hereinschlich.

Die Stille um den Arenenberg war so gebieterisch gewesen, daß er den Wagen, der ihn von Ermatingen die Hügelstraße hinauffuhr, schon im Beginn der östlichen Einfahrtsallee halten ließ und zu Fuß weiter ging. Es war ihm, als hätte die alte Lautlosigkeit des Bergleins jetzt erst ihren Sinn gefunden: die Ruhe der Kranken zu behüten. Nichts rührte sich, der Mittag unter einem bleischweren Himmel hielt jedes Baumblatt an. Links schob das lange Oekonomiegebäude gegen die Allee seinen ersten Querflügel vor, einst Hortenses Theaterchen, jetzt versperrt und verschalt, als schäme es sich seiner früheren Heiterkeit. Es zeigte sich kein Mensch; es schliefen alle oder es durfte sich keiner rühren. Louis hatte sich nicht angemeldet; es wäre keine Post schneller gewesen als er, seitdem er von Vlissingen unterwegs war, und bis dahin war es eine wirre und aufregende Zeit gewesen, ein so heftig beachtetes Pariatum zu London – ein Hin und Her zwischen Gesandtschaften, Ministerien und Zeitungsredaktionen –, daß schließlich das illegitime Verschwinden keine einfache Sache gewesen war. Und da er darauf gefaßt sein mußte, jeden Augenblick mit seinem fragwürdigen Paß angehalten zu werden, erschien ihm die Ankunftsmeldung nicht ratsam oder sogar wie eine Herausforderung des nachsichtigen Schicksals. Das Schicksal war nachsichtig zu ihm, es war wie ein ernster Freund, es ließ ihn zurückkehren, aber es erlaubte ihm keine Heiterkeit. Seltsam, in der Unruhezeit zu London, in den Augenblicken der riskanten Selbstbelichtung, während der Arbeit seiner verschlagenen Energie fühlte er noch die Heimkehrfreude, und das Wiedersehen mit Hortense schien ihm so gewiß, daß er selber sich eine gesunde Frau oder doch eine Rekonvaleszentin vorzustellen erlaubte und ihre Krankheit wie mit ihrem lächelnden Einverständnis zu einem politischen Mittel machen konnte, die europäische Oeffentlichkeit zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Doch kaum auf dem Festland, befiel ihn die Heimkehrangst. Er hetzte durch die Schlagbäume, die immer wieder die Farben wechselten, und freute sich nicht mehr, daß sie ihn durchließen. Er hetzte den Rhein hinauf, zuerst auf dem linken, dann auf dem rechten Ufer, sah nicht die artige Landschaft, dachte nicht an den fatalen Strom, als er wieder Grenze war, sah nicht auf das Elsaß hinüber, das mit dem Vogesenwall im Sommerdunst die Zukunft versperrte: er hetzte so sehr, ins Arenenberger Krankenzimmer zu kommen, daß er die Politik verlor wie ein schwerfälliges und gleichgültiges Gefolge. Denn er war kein böser Mensch, er war ein guter Sohn, zur Rechten bauten sich die alten Zedern riesig auf, friedhofsruhig, zwischen den Platanen und der Pappel neben der Kapelle zeigte sich schon das Schlößchen mit Säulenportal und geschlossenen Fensterläden darüber, der Kies knirschte, Louis ging schon auf Fußspitzen, er läutete nicht, er klopfte vorsichtig, der Lakai Thelin, in Filzschuhen, öffnete, er hob beide Hände, so überrascht war er, so glücklich auch, Louis war plötzlich gerührt und küßte ihn auf die sauber rasierte Wange – damals, dachte er, wie ich als Gespenst des Kaisers kam, staunte er nicht – »Es geht ihr ganz gut,« flüsterte Thelin, um ihn zu belohnen, er war belohnt, er blieb einen Augenblick stehen, atmete tief und lächelte. Der Diener nahm ihm Hut und Mantel ab. Er glitt durch die Halle und die flachstufige Wendeltreppe hinauf, unhörbar, er öffnete leise die Tür zum Vorzimmer. Ein Herr, der schreibend an einem Tischchen saß, hob den Kopf und stand schnell auf, lächelnd. Conneau erkannte ihn sofort und flüsterte: »Gottseidank.« Louis winkte ihm auf den Gang hinaus. »Sie sind der Arzt, nicht wahr?« – »Conneau.« – »Sagen Sie, Doktor Conneau, sagen Sie mir aufrichtig …« Es war ein kurzes Gespräch. Sie gingen in den Vorraum zurück, Louis war gelb, er setzte sich auf einen Stuhl, einen Augenblick lang, wie plötzlich außer Atem, dann stand er auf, schlich ins Krankenzimmer und lächelte auf jeden Fall.

Hortense schlief. Sie lag hochgebettet, mit beinahe aufrechtem Oberkörper, das Kinn war ihr heruntergefallen, sie schnarchte leise aus dem weitoffenen Mund, sie rührte sich nicht im Schlaf, nur ihre Zunge war wach und schlüpfte mit jedem Atemzug bis zur Unterlippe und zurück. Louis trat ganz dicht heran. Sie hatte sich sehr verändert und sah fremd aus, eine fremde, alte Frau mit großem grauen Gesicht, das vor Leid zugleich geschwollen und mürbe war. Das winzige Kinn lag eingesunken zwischen den hängenden Backen, durch zwei scharfe Striche von ihnen getrennt, unter den Augen hingen dicke, fremde Säcke. Aber nichts war so fremd wie ihre Stirn, die er noch niemals gesehen hatte; denn sie hatte sie immer unter den beiden dicken Haarlocken verborgen oder unter einem Spitzenhäubchen, wenn sie nicht frisiert war. Jetzt war das ganz graue und dünne Haar straff zurückgekämmt und kam zwischen Ohr und Schulter in zwei mageren Zöpfchen wieder und enthüllte eine gewölbte und zerfurchte, mehr breite als hohe Stirn. Louis beugte sich über sie, in der Spanne dieser Sekunde wurde ihm die fremde Stirn unsagbar vertraut und er berührte sie sachte mit den Lippen. Hortense schloß den Mund und man hörte sie nicht mehr atmen. – Jetzt wacht sie auf, dachte Louis und lächelte sofort. Auch Hortense lächelte und ihre Backen zitterten, als fiele es ihr nicht ganz leicht, ihre Lider zitterten; aber sie hoben sich nicht. Hortense schlief eine Weile lächelnd; dann sank das Kinn wieder hinunter, ganz langsam, und das Lächeln löschte langsam aus, bei ihr und bei ihm.

Louis richtete sich auf und sah sich ein wenig hilflos um. Doktor Conneau stand in der Tür und winkte ihm. Louis schlich zurück. »Man könnte sie anrufen,« sagte der Arzt im Nebenzimmer, »sie ist merkwürdigerweise gegen den Ton empfindlicher als gegen die Berührung; aber jetzt ist ihre beste Zeit.« – »Dann nicht,« flüsterte Louis, »dann um Gotteswillen nicht!« – »Die Nacht war nicht gut,« sagte Conneau, »sie hat ziemlich viel eingenommen, sie wird kaum vor der Nachmittagsattacke aufwachen.« – »Attacke …« wiederholte Louis. – »Vielleicht erfrischen Sie sich, ich lasse Sie dann sofort rufen, Prinz.« – »Ich möchte hier bleiben,« sagte Louis. – »Wenn Sie Geduld haben …« – »O ja,« sagte Louis, hob die Brauen und nickte ihm zu, als müßte der junge Arzt wissen, was es mit seiner Geduld für eine Bewandtnis hatte; er ging ins Schlafzimmer zurück. Er setzte sich auf den Sessel am Fußende des Bettes. Der Sessel war sehr niedrig, das Bett sehr hoch. Hortense lag in der Höhe seiner Augen wie auf einem Sarkophag. Selbst das Bett war ihm fremd. Warum nur? Es stand quer in der flachen Nische wie immer. Louis sann nach. – Ach ja, es war mit dem Bett wie mit ihrer Stirn, es war niemals recht sichtbar gewesen, von den blauen Seidenvorhängen verhüllt: jetzt war es kahl und weiß und voller Leid, der Seidenprunk war abgenommen. Aber die Kriegszeltdecke wölbte sich auch über dem Krankenzimmer – Hortense war hartnäckig gewesen bis in ihren Schlaf hinein – und ihre Harfe war vom Salon heraufgebracht, weiß Gott warum, vielleicht reißt sie an den Saiten, wenn die Schmerzen kamen, es wäre ihr zuzutrauen; auf dem Tisch stand ihr Zeichenpult und daneben ihr Stickrahmen, sie hatte die Geräte ihrer vielen Künste um sich versammelt, um sie zur Hand zu haben, wenn sie wieder nach ihnen greifen könnte; sie gab nicht klein bei; und vor seinem Blick an der Wand zwischen ihrem Schmuckschrank und dem offenen Bücherschrank mit ihren bronzenen Initialen auf dem Frontispiz hing das Bild des Vaters Louis, von ihr gemalt. Was für ein Bild vom Vater Louis! Kürassierhelm mit Roßschweif und Brustküraß und Epauletten und dazwischen ein napoleonisches Kriegsgesicht. Die Mutter hatte nicht an den Vater gedacht, als sie dieses Bild malte; aber sie hing das Porträt in das Schlafzimmer, das der Mann nie betreten hatte, und dem kleinen Louis, der es gerne betrachtete – nicht wegen des Gesichts, sondern wegen des Helms – sagte sie oft und nachdrücklich: »Dein Vater.« – Was für ein Vater! dachte Louis; er hängt hier, so unähnlich wie er es verdient, und er beläßt es bei dieser Stellvertretung, er kommt nicht hierher, er stellt seine Krankheit als ewige Ausrede zwischen sie und sich, er wird alt dabei, ach, älter als sie, er ist krumm von je und lebt rücksichtslos, er schrieb mir sogar nicht ganz unfreundlich nach New York, so froh war er, mich aus der Alten Welt zu wissen, oder so verliebt ist er in seine kleine Marchesa Strozzi – oh, ich werde mich ihm in einem artigen Brief als frischen Europäer vorstellen …

Louis hörte hinter sich ein kleines Räuspern und wandte den Kopf. In der Tür stand Persigny, rotbäckig, mit strahlenden Hundeaugen, und zeigte durch große Gesten den Jubel seines Herzens an. Louis nickte ihm kurz zu, nein, er verwies ihn mit einem kalten Blick seines ungehörigen Glückes und sah schon wieder nach vorne. – Was will jetzt dieser Mensch, dachte er böse, er soll mich hier in Ruhe lassen, er soll sich nicht in ihre Ruhe drängen, er soll lernen, abzuwarten und die Grenze zu respektieren!

Louis sah böse vor sich hin. Es war wieder alles still, er hörte nur das kleine Schnarchen der Schlafenden, manchmal versiegte es ganz, manchmal klang es wie Röcheln und dann riß er die Augen auf, hin und wieder schnalzte sie mit der unruhigen Zunge. Das gab einen Laut, der nicht hierher gehörte, einen mutwilligen, bubenhaften, beinahe ungezogenen Laut, und jedesmal hob Louis den Kopf und sah auf ihren offenen Mund. Sonst war alles ruhig, das Haus und vor dem Fenster die Pappelwipfel, der See und die Reichenau, ruhig, schwer und nah wie der bleierne Himmel – nur Louis was es nicht. Die Unruhe kam von dem Propheten, und der Zorn auf ihn war der Zorn auf sich oder das schlechte Gewissen, das plötzlich ohne Hülle war wie das Krankenbett oder die Krankenstirn, so als habe eben der stumme und dreiste Jubilierer den Vorhang fortgezogen. Und ich, habe ich die heilige Grenze respektiert? Habe ich nicht mit dem Pfunde ihres Leids gewuchert? War es nicht schon ein Frevel, mit vielen anderen Gedanken zurückzukommen außer dem einen an sie? Habe ich gewußt, daß ich die Wahrheit sprach, als ich hundertmal ihren Zustand schilderte? Gibt es, großer Gott, Lästerlicheres als Lärm zu schlagen aus ihrer armen Stille? – Louis drehte sich jäh um – vielleicht stand er noch da, der blasphemische Erzengel mit der gezückten Politik – ich weise ihn aus dem Haus, dachte Louis, ich will sehen, ob ich es nicht fertig bekomme, und wenn es seine Straßburger Desertion ist, die ich ihm an den Kopf werfe: doch die Tür war frei und im Nebenzimmer saß allein der sympathische Doktor Conneau schreibend an seinem Tischchen.

Dann rührte sich Hortense, es mochte gegen fünf Uhr sein, und zog unter der Decke die Knie an. Louis stand auf. Die Knie blieben nicht mehr ruhig, sie legten sich, sie hoben sich, sie fingen an, sich zu schütteln. – Ob ich ihr die Knie halten soll? fragte sich Louis, über sie gebeugt; aber er wagte es nicht, vielleicht tat ihr die Bewegung not, er hielt nur die Hände wie beschwörend über den schwingenden Hügel der Bettdecke. Jetzt fuhr er zurück, seine Hände flogen auf und blieben in der Luft hängen. Hortense sang einen ganz hohen und fernen Ton, einen leisen, langen Traumsingsang dann, ein Wimmern dann, das schon beinahe irdisch war, und plötzlich schrie sie, noch unter der Oberfläche des Lebens, die Stimme noch zugedeckt vom zähen Schlaf, aber den Schmerz schon bis in die Spitzen der Finger, die über die Decke rasten und über den mörderischen Schoß kratzten und sich einkrallten und sich eingruben. »Doktor! Kommen Sie! Kommen Sie!« rief Louis sinnlos vor Angst; denn Conneau stand schon neben ihm am Bett und hob ihren Kopf aus dem Kissen. – Ich muß ihr die Hände festhalten, dachte Louis, und im gleichen Augenblick befahl der Arzt »Hände halten, fest drücken!« Louis fing ihre wilden Hände ein, sie waren kalt und naß und schwer zu halten, und weil seine Hände nicht ausreichten oder weil er nicht wußte wohin mit seiner Liebe und seinem Mitleid, legte er noch sein Gesicht ganz fest auf sie.

Hortense schrie nicht mehr, ihre Hände lagen weich und gelöst unter seinem Gesicht, noch eine kleine Weile, jetzt tasteten sie es ab. Louis hob den Kopf, ihre Hände blieben an seinen Schläfen und es war fast, als hätten sie seinen Kopf gehoben. Hortense hatte die Augen auf und sah ihn an, mit einer Zärtlichkeit ohne Staunen, so wie man sein gutes und geliebtes Recht ansieht, mit einer Dankbarkeit ohne Unruhe und Ungeduld, so wie man die Gnade empfängt. Louis lächelte sofort und spürte plötzlich einen ganz fremden, brustpressenden, kehligen Zwang zu weinen. Nur jetzt nicht weinen! Er küßte sie und preßte die Augen zusammen. Er weinte auch nicht. Sie nahm nicht die Hände von seinem Kopf, sah ihn an und blieb stumm, ja, sie preßte die Lippen zusammen, weil der Schmerz nur darauf lauerte, in das kleinste Wort ihres Glückes zu fahren wie ein neidischer Blitz. Nur jetzt sich das Glück nicht zerstören lassen! Sie ließ es sich auch nicht zerstören, Louis strich immer wieder über ihre nackte Stirn, der Schmerz gab schließlich nach, sie holte tief Atem und flüsterte endlich: »Gottseidank! Gottseidank!«

 

Unten im Vestibül ging der Vicomte de Persigny auf und ab. Er hielt sich sorglich auf dem dicken roten Mittelläufer, über den ein grauleinener Schutzstreifen gelegt war; er kannte das Grundgesetz des stillen Hauses, er dachte an die Kranke oben. Thelin, der etwas mißtrauisch auf einem Stühlchen neben der Eingangstür saß und bei allem Respekt vor dem Generaladjutanten keinen lauten Tritt geduldet hätte, fand keinen Anlaß einzuschreiten. Persigny mußte seiner großen Freude Bewegung schaffen, und es im Park zu tun, war nicht ratsam; denn Louis konnte jeden Augenblick herunterkommen und er, sein Prophet, sein Loyola, sein dienender Bruder wollte keine Minute verlieren, ihn wieder zu haben. Ja, seine Freude war groß und leuchtend und nur abgeblendet, damit sie nicht über das Gesicht glänze, denn er wollte nicht die Traurigkeit des Hauses verletzen, er liebte die arme, kranke Frau, die große, mutige Frau, die Mitarbeiterin, die Königin, und ginge es nach ihm, so hieße sie Kaiserin-Mutter und Madame Mère als die würdigste Nachfolgerin der Uralten, die vor zwei Jahren endlich doch den Tod an sich herangelassen hatte. Hin und wieder hatte er sie auch so genannt und sie ließ es sich gefallen – oh, sie verstanden sich gut. – Aber vorhin die Kränkung durch Louis, das Abschütteln seiner Freude oder gar seiner ganzen Person, der flüchtige Blick und der abweisende Rücken als Quittung auf das Geschenk des Wiedersehens? Nein, der Prophet hatte nichts gemerkt, er hätte ganz unbekannte Zweifel an seiner Person und an seiner Sendung besitzen müssen, um etwas bemerken zu können, ein Souverän am Bett seiner kranken und schlafenden Mutter hat nur ein kurzes Nicken nach hinten, wie anders? Ein so guter Sohn wie Louis bleibt am Bett, bis die Mutter aufwacht und ihn begrüßt. Ein so guter Diener wie Persigny bändigt seine Freude und wartet, bis der Herr für ihn frei ist. Aber er läßt auch nicht die beiden Gefährten rufen, Vaudrey und Laity, die wahrscheinlich noch gar nicht zu Hause sind. Da es nach der Hierarchie der Ergebenheit geht, ist er sich seines Ranges bewußt und seines Rechtes, das Wiedersehen für sich allein zu haben. – Eines der vielen Glöckchen am Fries der Kriegszeltdecke, die sich auch über dem Vestibül wölbte, begann zu klingeln. Thelin sprang auf und glitt auf stummen Filzsohlen über den Läufer zur Treppe. – Rief man jetzt ihn, Persigny? Der Prophet stand am Fuß der Rundtreppe und sah hinauf, sprungbereit. Thelin glitt herunter. »Nun?« – »Monseigneur soll etwas essen, wünscht Majestät.« – »Die Königin ist also wach?« – »Jawohl.« Thelin verschwand. Persigny setzte sich auf einen der Armstühle, plötzlich müde. Der Tag war sehr schwül, es konnte nicht regnen. Thelin tauchte mit einem vollen Tablett auf, turnte über die Treppe und kam mit einem leeren Tablett zurück. »Nun?« – »Majestät unterhält sich mit Monseigneur. Majestät ist sehr glücklich und denkt gar nicht an die Krankheit.« Persigny nickte zufrieden und lehnte sich zurück. Das geschnitzte Rankenwerk der Lehne drückte in den Rücken; aber der Prophet war nicht empfindlich. An der Wand neben den vielen Waffen hing eine Ehrenmeldung, die Louis am thurgauischen Kantonsschießen in Dießenhofen im allgemeinen Stich herausgeschossen hatte. Napoleon ist ein guter Schütze, Persigny nickte. – Madame Mère wird auch von mir sprechen, dachte er noch; dann schlief er ein.

Louis kam leise die Treppe herunter, es war schon nach sieben Uhr. Die Mutter war plötzlich abgefallen, sie hatte mit einem Schlag die redselige Lebendigkeit verloren, sie sagte nicht einmal mehr, ob es der Schmerz war, der zuschlug, oder ob nur, nach so starker Erregung und solchem Aufwand an freudiger Rede und glücklich gespanntem Zuhören, die wohltätige Müdigkeit nach ihr gegriffen hatte: sie lag stumm und lächelnd und wie taub im Kissen und verlor ihn aus den Augen, während sie ihn ansah; und Conneau schickte ihn mit einem sanften Druck auf die Schulter hinaus. Wo sich der Schwung der Treppe zur Halle öffnete, blieb Louis stehen: er erblickte den schlafenden Propheten. Wird er an dem unleidlichen Mann, ach, an dem rührenden Mann vorbeischleichen und ihn ein zweites Mal um den Lohn des Wiedersehens betrügen? War er auch jetzt noch nicht mit sich und dem Wiedersehen im Reinen? Louis ging leise weiter, die Stufen hinab und den Läufer entlang. Er war im Reinen, die Mutter hatte ihn, kaum daß sie reden konnte, mit einer gütigen Hast absolviert, als litte sie selber unter seinem schlechten Gewissen. »Siehst du,« hatte sie gesagt, und die Worte durchsichelte der kurze Atem, »alles hat seine zwei Seiten und jetzt hat der böse Leib dich mir zum zweiten Mal geschenkt, und nicht nur mir allein, du weißt schon, Louis, und alles steht gut, sagt Persigny, ein großartiger Mann, wahrhaftig Louis, ein treuer und bedeutender Mann und viel zarter als ich früher dachte, beinahe der Ersatz für den Amerika-Louis, chéri – und da ist nicht nur das Straßburger Urteil und der treffliche Oberst und der liebe, kleine Leutnant, die für dich immer wieder durchs Feuer gehen werden, und der neue Wind durch Frankreich – du weißt doch alles, mein Junge – da ist schon wieder der böse Leib, gegen den der wütende Regenschirm in Paris garnichts machen kann, im Gegenteil, er verliert gegen ihn, er schadet sich und er nützt uns: dafür sorgt die öffentliche Meinung, sagt Persigny.« So war sie wirr und fiebrig kopfüber in die Politik gesprungen, ihr heiliger Mund hatte den Fluch aufgehoben und immer wieder den Propheten genannt. Louis stand vor dem Schlafenden. Sie hatte ihn kanonisiert und sogar aus seiner Straßburger Desertion ein Heldenepos gemacht, einen romantischen Durchbruch durch die Mauer der Feinde zur Gralsburg Arenenberg. Das war die Hortensesche Ballade auf die Fialinsche Lüge. Louis betrachtete ihn lächelnd und beinahe zärtlich. Welch ein Parsifal! Persigny schnarchte leise und friedlich, das grobe Gesicht im Schwung nach rechts, das Kinn auf der Brust und die Backenbartbüschel durch die hohen Kragenecken nach oben gedrückt. Louis wandte den Kopf. Thelin stand stramm vor seinem Stühlchen, die eingebügelten Respektfalten seines sauberen Gesichts rührten sich noch in der Wiedersehensfreude und zugleich auch in einer gewissen Erwartung. Louis nickte ihm zu und dachte: ich kann den Propheten nicht kälter behandeln als den Lakai. Er hatte ein Unrecht gut zu machen, beugte sich über Persigny und küßte ihn – nein, er legte die Wange an seine gesenkte Stirn.

Draußen regnete es endlich, mit rauschendem Einsatz.

 

Miserere

Für Vicomte de Persigny war es vom Ueberschwang der Gefühle zur pragmatischen Tüchtigkeit immer nur ein Schritt, und wenn es darauf ankam, vollführte er beides zur gleichen Zeit. Noch in der ersten Stunde des Glücks und der großen Worte vergewisserte er sich, daß Louis' Londoner Taktik so trefflich zu der eigenen paßte, als hätten sie beide nach einem Plan gehandelt. Und dann wartete er sehnsüchtig auf den Lärm, den die Rückkehr des Prätendenten verursachen mußte und den er sich, wie er gerne zugab, nicht laut genug wünschte. Louis war wie der Blitz in die Schweiz gefahren und der Donner ließ ein wenig auf sich warten; aber dann brach er los, die Pariser Regierungsblätter tobten, die Oppositionsblätter gingen in Stellung, noch etwas unentschlossen und zunächst nur, um ihr unfreundliches Echo gegen den offiziösen Radau zu stellen, der französische Gesandte in Bern überbrachte eine Protestnote, die wiederum in der Schweiz übel vermerkt und laut kommentiert wurde, der Prophet leuchtete vor Zufriedenheit und schwitzte vor Geschäftigkeit. Der absinkende Sommer brannte mit seinem großen, gehaltenen Feuer die Landschaft hart und ganz allmählich rot, es war sehr heiß, Persigny hatte ein Recht zu schwitzen und zuvor nur auf diese Weise zu zeigen, daß er in großer Arbeit stecke. Er liebte das Geheimnisvolle, es wurde ihm ziemlich leicht gemacht, weil Louis, von Natur kein neugieriger Mensch, nur für die Kranke Interesse hatte und den Arbeitsamen nicht zu vermissen schien, wenn er in der Frühe spazieren ging oder badete und wenn er nach den Abendmahlzeiten mit Vaudrey und Laity allein blieb. Persigny pflegte sich gleichnishafter Andeutungen zu bedienen, wenn er mit erhitztem Gesicht zu spät kam oder sich frühzeitig verabschiedete: »Der Heizer mußte noch etwas nachlegen« oder »Jetzt muß ich wieder zu meinem Feuerchen« oder »Der Alchymist geht Gold machen.« Er sagte es immer ungefragt und unbehindert, gleichsam zu seinem eigenen Vergnügen, und war niemals ungehalten, daß er damit keine rechte Spannung erzeugte. Und dabei arbeitete er wirklich, in seinem Wohnzimmer im Oekonomiegebäude sah es aus wie in einer Redaktionsstube, er saß zwischen einem Haufen französischer, englischer und deutscher Zeitungen und Briefschaften, die der Mannenbacher Postbote täglich herbeischleppte – so lange ächzend, bis er seine zwanzig Rappen Trinkgeld bekam –, er schrieb, kopierte, schnitt aus, klebte, er versandte dicke Briefe und versah geheimnisvolle Akten. Er liebte bekanntlich Akten.

Im »Temps« und in der Londoner »Sun« erschien fast gleichzeitig ein anonymer Bericht der Leidensfahrt des Prinzen Louis Napoleon von New York nach Arenenberg, eine sehr rührende Schilderung seines Londoner Passionals, seines Abenteurerzugs durch Holland und Deutschland und des Wiedersehens mit Hortense, eine Epopöe des guten Sohnes, der zur totkranken Mutter fährt und den die brutale Welt am Liebesdienst verhindern will – ein gefühlvolles Melodram im Zeitgeschmack. Man sollte meinen, daß Persigny bereits diese ersten Belege seines Fleißes dem Prinzen vorlegte; aber er tat es nicht, er ordnete sie in die bestimmten Akten ein und arbeitete weiter. Er war ein kluger Mann, er konnte sogar taktvoll sein, wenn die Taktlosigkeit noch zu jung war, zu nackt, zu häßlich, noch ohne politischen Erfolg. Die Wirkung des Rührstückchens war gut, die Opposition griff das handliche Thema auf, Persigny eröffnete eine Art Korrespondenz-Büro und versorgte über eine Pariser Deckadresse – ja, es war Miss Gordon – die geeigneten Zeitungen mit dem aktuellen Stoff, den er listig dosierte und variierte, je nach der Tendenz des Blattes und der Intelligenz des Lesers. Er hatte nicht umsonst seinen Hang für Registratur: vor Straßburg war es die Armee, jetzt war es die Presse der Opposition. Er kannte ihre Struktur vom radikalen »Courrier français« über den liberalen »Temps« bis zum halbwegs loyalen »Constitutionel«. Er stimmte die Berichte auf jedes Blatt ab und machte aus Louis jeweils einen fanatischen Bonaparte, eine politische Hoffnung oder einen verführten jungen Mann, um von seinem politischen Gestern auf die Gegenwart des guten Sohnes zu kommen; der Redakteur brauchte kaum zu dämpfen oder zu beleben. Persigny gab hartnäckig den Ton an: das Mitleid; es war ein gefälliger und anziehender Ton, es wurde ziemlich rasch zur Posaune einer fast aufrührerischen Humanität, und im Laufe des September blies das Oppositionsorchester, in England, Deutschland und in der Schweiz von den fortschrittlichen Blättern unterstützt, ein so verfängliches Miserere, daß der Ministerpräsident Graf Molé, ein vornehmer und der Treibjagd gegen Arenenberg von jeher abgeneigter Mann, die Oeffentlichkeit beruhigte, der Regierungspresse und seinem Minister in Bern die Order und dem Wiener Kabinett die Bitte zustellte, den Fall Arenenberg aus Gründen der Pietät so lange ruhen zu lassen, bis sich das Schicksal der Kranken erfülle.

Jetzt erst entdeckte sich der Prophet dem Prinzen; er tat es an Hand seiner Akten und Belege, mit einem zugleich triumphalen und taktvollen Schweigen. Louis las langsam, genau und wortlos. – Er ist tüchtig, dachte er, er ist unbezahlbar, er ist ein vertracktes Genie; aber ich lobe ihn nicht, gerade heute nicht, ich kann es nicht, am wenigsten nach diesem Nachmittag mit ihr, er ist Leichenfledderer, noch bevor sie tot ist, und er degradiert mich immer wieder zu seinem Teilhaber. – Er könnte schon ein Wort sagen, dachte Persigny, ein klein wenig gekränkt, es ist da allerlei Bemerkenswertes. Louis las alles und bemerkte nichts. Persigny beugte sich über seine Schulter und drückte seinen Zeigefinger auf eine Unterschrift. Der Finger war stämmig und haarig, der Nagel sehr kurz geschnitten und häßlich gerillt, eine hornige Haut über dem Mond. Darunter lag das Wort: »Gordon!« Louis hatte es schon gelesen, und es war nicht das erste Mal, daß es in den Akten erschien. »Ich sehe,« sagte er kurz und strich den Finger fort. »Eine herrliche Frau,« flüsterte Persigny, »sie spielt nach ihrem Freispruch eine große Rolle auf der Linken, und wie sie für die Idee arbeitet!« Louis las schon auf der anderen Seite. »Sie hat den Alten nicht mehr angesehen,« sagte Persigny leise. Louis hörte nicht zu. – Er ist undankbar, dachte Persigny. Louis las zu Ende, stand auf und ging auf und ab. Er sagte nichts und hatte schläfrige Augen. Der Prophet war es sich schuldig, die Bilanz zu ziehen. »Wir haben jetzt die richtige Plattform, Sire, um dann wieder in den Wald zu rufen, damit es zurückschalle, wie es uns paßt.« Er liebte solche Gleichnisse von etwas dunkler Pathetik.

Louis blieb stehen und fragte mit bösen Augen: »Wann: dann?«

Persigny antwortete nicht und dachte wieder: er ist undankbar.

 

Louis war nicht undankbar, wenigstens nicht in diesem Zusammenhang, er war an jenem Abend nur ein sehr empfindliches Gefäß, bis an den Rand voll von der Nachmittagsstunde mit der Mutter. Persigny hatte einen ungünstigen Augenblick gewählt, um mit seiner erfolgreichen Stimmgabel an ihn anzuklopfen und sie klingen zu lassen: er hatte ihm zweifach weh getan, mit dem Klopfen und mit dem Klingen.

Hortense erlitt an diesem Nachmittag keine Attacke. Vielleicht hatte sie den freien Tag abgewartet, um selber anzugreifen, nicht den Tod vor ihr, sondern das Leben hinter ihr. Es war zwischen ihr und dem Sohn in den sanften oder hastigen Schmerzpausen, in den breiten oder schmalen Schmerztälern, während großer oder kleiner Waffenstillstände mit der Krankheit schon vieles gesprochen worden, aber noch nicht alles. Die Redseligkeit der ersten Tage hatte nachgelassen wie das Tageslicht selber, die Schatten wurden länger, der Schwung durch die helle Welt und die sprechbare Stunde wurde kürzer, der Klöppel der Landschaft, an der sie hing, verlor zusehends an Sonnenflausch, der Ton der großen Glocke veränderte sich ins Grelle und Harte, der Anschlag tat immer mehr weh – wer wußte es besser als sie? Und wenn das Leben über Louis' Rückkehr hinaus ein Geschenk ist oder gar ein trübseliger Luxus, den sich der reife Tod in ihr gestattete, dann wollte sie, die hartnäckige Hortense, dem Tod doch keinen Dank sagen und demütig tun, sondern das Quentchen Leben so nützlich und geizig verwenden, als sei es eben nicht geschenkt, sondern erschachert.

Sie lag lange still und nur ihre Augen hinter den langen grauen Wimpern liefen hin und wieder zur Seite, um nach dem Sohn zu schauen. Louis saß in dem niedrigen Sessel am Bett und sein Kopf war nicht höher als die Bettdecke. Sie mußte aus ihrem hohen Kissen auf ihn heruntersehen. Wie still er sein konnte, so still wie die Kranke, die nach den Worten suchte, stiller noch – ein leises Kind, ein leiser Mann. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und die Hände unter die Achsel geschoben, er sah vor sich hin und schien es nicht zu merken, wenn sie ihn aus den Augenwinkeln anblickte, er hatte Augen, die aussahen, als könne er mit halboffenen Lidern schlafen oder als hätten sie zwischen sich und den Lidern noch unsichtbare Zwischenlider, eben die Wolken, nein, nur die Schatten von ständig über sie hinziehenden Wolken. Ein leises Kind, ein trauriges Kind; früher sagte sie sich auch noch: ein unheimliches Kind, jetzt wußte sie: ein großer Mann. Woher wußte sie es? Weil er in seiner Stille den großen Lärm nicht scheute und ihn immer wieder suchen oder sich doch von ihm finden lassen würde? Weil er in seiner Geduld hier saß und die Meute toben ließ, weil er sich nach Amerika verschicken ließ und zurückkam, weil er Revolutionen machte und sich schlagen ließ und weil er es wiederholen wird, immer wieder, immer wieder, und mit jedem Schlag, den er empfängt, ein Stückchen weiter kommt, geduldig, schläfrig und zäh und sehr klug, so klug, wie es nur die Geschlagenen werden können und wie sie, Hortense, es niemals war, wie es vielleicht nicht einmal der große N war, wie es nicht zur Tugend der Familie gehörte – und darauf will ich ja hinaus, dachte die Mutter –, weil er in seiner abwegigen Geduld und Klugheit ans Ziel kommt: ist es das? sehe ich das? wollte ich ihn so haben? kenne ich ihn denn so gut? Sie sah auf seinen stillen Kopf. Die Stirn begann auf der linken Seite, die er ihr zuwandte, das Haar zu verdrängen, und das Haar war nicht mehr so lockig wie früher, es wird bald glatt werden. Die Stirn war sehr breit und weiß, erst an den Schläfen wurde die Haut gelb. Die Stirn war klug und hell, erst an den Schläfen nistete die Traurigkeit, und von dort aus wird sie das Haar glatt legen und schütter machen. – Ich sehe ihn, wie er am Ziel aussehen wird: noch klüger, noch müder, noch unglücklicher; der Bart auf der Oberlippe und unter der Unterlippe wird dichter sein, um die große Nase und das kleine Kinn zu regulieren, und die Schnurrbartenden werden noch dünner ausgezogen sein, wie bei einem Chinesen, und das halbe Lächeln nochmals zerschneiden; das Gesicht wird eine bärtige und dämmrige Maske, damit er dahinter sein kann, wie er will, nur die Stirn wird er freilassen, die Stirn wird links eine breite Bucht in das Haar werfen, in das ganz schlichte traurige nachgiebige Haar, die Stirn wird immer noch hell sein, aber die Augen werden aussehen, als brauchte für sie die Sonne nicht mehr zu scheinen. Wollte ich ihn so haben?

»Louis!«

»Ja, Mutter?«

»Mach bitte die Tür zu.«

»Welche Tür?«

»Die Vorzimmertür.«

Das war ein sonderbares Verlangen. Doktor Conneau hatte bisher alles hören dürfen, wenn er es hatte hören wollen, und er war gewiß nicht neugierig. Louis gehörte nicht zu den aufgeschlossenen Menschen, er war sogar mißtrauisch oder er hatte ein feines Gefühl für Leute, gegen die Mißtrauen am Platz war: doch zu Conneau hatte er Vertrauen, nicht nur zu dem Arzt, sondern auch zu dem Menschen, gleich als ob er spürte, daß der ernste und wortkarge Mann sich ihm versprochen hatte. Es wurde bisher alles bei offener Tür erörtert, Privates und Politisches, Straßburg und Amerika und sogar die neue Spekulation auf das Gemüt. Hortense zumal in ihrem Trieb zur Aussprache und in ihrem zunehmenden Geizen mit der Zeit machte aus nichts mehr ein Geheimnis, wohl weil es Zeit und Kraft kostete. Was war noch zu besprechen und warum hütete sie ihre Worte plötzlich wie eine Beichte? Louis schloß mit einem verlegenen und entschuldigenden Lächeln die Tür; aber der Arzt hatte von seinem Buch nicht aufgesehen. Louis gewann ihn in diesem Augenblick lieb.

Hortense winkte ihn nahe heran, sie wollte nicht nur das Zimmer verschließen, sondern auch noch sehr leise sprechen. Sie hatte einen erschütternden Ausdruck von Entschlossenheit in ihrem mürben Gesicht; und da ihm war, als müsse es für sie eine große Mühe sein, vielleicht eine sinnlose und fiebrige Mühe, die losen und schon fliehenden Züge des Antlitzes in die Anspannung des Willens zurückzureißen, legte er ihr seine Hände zärtlich und begütigend auf Wangen und Schläfen.

»Louis,« fragte sie leise, »hast du manchmal Zweifel?«

Das war eine überraschende Frage, eine Frage aus dem letzten Grunde ihrer Liebe, eine ganz und gar aufgesparte Frage. Louis drückte im Stoß des ergriffenen Herzens leicht seine Hände an ihren Kopf, weil er sie halten wollte und nicht verlieren und nicht das heilige Haupt aus den Händen geben.

»O ja,« flüsterte er »o ja – natürlich …«

»Natürlich …« wiederholte sie sehr langsam und drehte in der Klammer seiner Hände noch mehr den Kopf ihm zu, »natürlich,« sagte sie noch einmal, »dann weißt du wohl auch, woher die Zweifel stammen?«

Das Blut stieg ihm langsam in die Stirn. Ach, sie wollte ja nicht, daß er beichtete, sie wollte selber beichten. Sie wollte sich ihm ausliefern und dann erst dem Tod. War es erhört? Nein und nein! Kann es sie erleichtern? Nein! Darf er es zulassen, daß sie den Mund öffne und ihr großes, mutiges Leben austilge und ganz leer stürbe, leer und entlarvt?

»Die Zweifel, Mutter, sind nicht sehr groß und nicht maßgeblich und nicht ständig; und sie stammen aus meiner Unzulänglichkeit.«

»Und die Unzulänglichkeit?« forschte sie unerbittlich. Er schwieg, er wußte nicht weiter, sie zwang ihn mit jedem Wort näher an ihre Schuld heran, so stark war sie. Sie hielt sich nicht an seinem Schweigen auf, hob nicht ohne Mühe die linke Hand aus der Bettnische und zeigte nach rückwärts in die Höhe. Sie zeigte, den Kopf zwischen seinen Händen und die Augen in seinen Augen, ganz genau und nicht etwa ungefähr, so als ob sie es lange geübt hätte, hinter sich zur Stirnwand des Zimmers, auf das Bild ihres Mannes. Sie fragte knapp und fast streng:

»Louis, du weißt?«

Sie hob kaum die Stimme, es war kaum eine Frage. Ihre Augen in den silbrigen Wimperkränzen schienen heller als früher, trockner und farbloser, als seien sie ergraut wie das Haar.

Oh, Louis war schlau und findig, er fand wieder weiter, er nickte dem Bild zu, er lächelte sogar. »Und ob ich weiß, maman! Das kommt von ihm, das Unzulängliche und das Zweiflerische. Der Vater paßt unter keinen Helm und noch weniger zu Hortense. – Aber die Hartnäckigkeit habe ich von der Mutter und ein bißchen auch von ihrem Mut, nicht wahr?«

Hortense ließ langsam ihren Arm sinken, und da sie nicht zurücklächelte und nicht aufhörte, ihn anzusehen, küßte er sie auf die Augen. Sie behielt sie geschlossen und sagte kein Wort mehr. Aber sie bettete sich auf seine Hand und schlief so ein.

 

Sie schlief so ein, sie hatte nichts mehr zu sagen, seine Hand war ein gutes Kissen, und als er schon längst gegangen war und auch die immer undeutlicheren Tage kamen und gingen, blieb das gute Schlafkissen von seiner Hand. Vor dem Fenster verwehte der September und dem Ende zu wurde er immer röter: das hat er mit der Sonne gemein, nicht mit den ergrauenden Menschen. Die endende Hortense war wie ein poröser Stein oder wie ein fahler Schwamm, sie sah nichts mehr von dem roten Finale draußen, das mit dem Abschein von Sonnenuntergängen hausierte und ihn überall anbrachte, selbst unter den überreinen Mittagen, das bis in die Filigrane der Pappelspitzen ging und dem Stückchen Reichenau rotes Baumgold für gelbes Korngold wechselte. Hortense sah nichts, hörte nichts, wollte nichts – sie hatte nur zu fühlen, und ihre einzige Sehnsucht war, nichts mehr zu fühlen und das Restchen des Seins, ob verliehen oder erschachert, wegzuschenken. Die große Sommerglocke dröhnte nicht mehr, die schöne Schaukel stand still; aber es gab schon streckenlang, den Schmerz einreißend, das wohltätige Nichts. Der Oktober streifte mit ersten Nebelfetzen das Fenster und zeigte rasch noch, zwischen Dämmer und Nacht, Hortenses Sterbefarben. Er steckte rasch noch ein Nebellichtchen an und es kam ihr noch ein trüber Schimmer. Dann sagte sie: »Sind alle da?« Und es mußten alle da sein: Louis, der Arzt, der Generalvikar, Persigny, Vaudrey, Laity, die beiden Hofdamen, die Kammerfrau, die Diener, die Kutscher, Knechte, Mägde – das Zimmer und der Vorraum mußten voll sein und vielleicht standen noch Leute auf dem Gang, auf der Rundtreppe und unten im Vestibül. Dann erst ließ sie sich wieder untertauchen, mit einer winzigen Spur von einem Lächeln; denn es war erst die Generalprobe. Sie hielt sie viermal an vier folgenden Tagen, vier Mal auch wurde ihr das Allerheiligste gebracht. Am fünften Tag, dem fünften Oktober, wußte keiner, auch der Sohn nicht, auch der Arzt nicht, vielleicht sogar sie selber nicht, daß es keine Probe mehr war. Nur der großmächtige Tod in ihrem Schoß wußte es; denn er hatte, wie schließlich einmal jede Spätgeburt, die Geduld verloren, eine ganz sinnlos gewordene Geduld.

 

Fortuna Infortuna Fortuna

Die Welt war so still wie Louis, der nicht einmal weinte, eine Stunde nach ihrem Tod mit seiner zierlichen Handschrift ein paar Trauerzeilen an den Vater nach Florenz schrieb, alle Trauergeschäfte in guter Haltung erledigte, aber dann so tief verstummte, tagelang, wochenlang, daß er den Freunden unheimlich wurde. Der Prophet hatte seinen geräumigen Sinn für Gefühle, er respektierte die echten und schätzte sogar gelegentlich die falschen, er wandte sich nie gegen ihre Stärke, sondern nur gegen ihre Dauer, er zog nun einmal die heftigen und kurzen den stillen und langen vor, er hatte dennoch dem wahren und großen Leid des Sohnes um die Mutter eine sehr weite Auslaufzeit eingeräumt; denn er, Persigny, war ja da, um auch diese Zeit zu nutzen. Aber das war es: die Welt blieb so still wie Louis. Der Tenor des allgemeinen Mitleides, durch den Tod ins feierliche Recht gesetzt, schien so stark und gültig, daß es niemand wagte, die Waffenruhe aufzukündigen; denn es war ja eine Totenruhe.

Der Winter kam, das Arenenberglein steckte im Nebel, und da die Nebel Sicht und Höhe verschlugen, war es wieder, als sei der Hügel ein großer Berg, der sich in den Wolken verlor. Louis wohnte in Gottlieben, weil er nicht mehr bei der toten Hortense wohnen wollte. Der winterliche See war jetzt ganz dicht unter seinem Fenster, so still und leer wie er, geduldig gegen Nebel und Frost, grau und unbeweglich; manchmal erstarrte er an den Rändern zu Eis. Der See ließ nichts heran und im Rücken schützten die erfrorenen Hügelwellen das stumme Haus. Louis schien es zufrieden; er war von einer Unnahbarkeit ohne jede Hoffart, wie der winterliche See, frostig und neblig, man sah kein Ende des Zustandes.

So hatte der Prophet die Pflicht, mit der allgemeinen Apathie aufzuräumen und die Idee vor dem Erfrieren zu bewahren. Da sie sich gegenseitig in Ruhe ließen, die Welt und Louis, mußten beide aus dem Winterschlaf geweckt werden, also auch der Trauernde aus seiner Trauer: es war bedauerlich, aber unabänderlich. Persigny ließ noch eine gewisse Zeit verstreichen, nicht als Gnadenfrist für Louis, sondern als Arbeitsspanne für sich selber. Ein so kluger und ironischer Mensch wie Louis konnte wohl durch leeres Gebrüll geweckt, aber nicht von der Nützlichkeit des Wachseins überzeugt werden: er würde nur eine geschliffene Bemerkung machen und weitertrauern. Ein Mann wie Louis wurde nicht von dem lauten, kaum von dem fanatischen, sondern nur von dem pragmatischen Loyola mitgerissen. Persigny wußte es und baute zunächst den Plan auf, wie immer ohne Ueberstürzung, zugleich verwegen und pedantisch, vorsichtig und skrupellos, wie es seine Art war; dann erst, wohlvorbereitet, wartete er auf den Augenblick für den überraschenden Vorstoß.

Louis sah ihn hin und wieder an, aufmerksamer als sonst, als spüre er den nahen Lärm. Persigny hielt sich noch zurück; aber sein Gesicht hatte schon einen geladenen Ausdruck. Mitte Januar, draußen klingelte, klirrte und knackte das morsche Eis im Druck der Wassers, fragte Louis unerwartet: »Persigny, wie finden Sie diese Grabschrift für Hortense: Fortuna Infortuna Fortuna

Persigny sah ihn mit den Stieräuglein an; vielleicht, dachte er, beendet die Grabschrift die Trauerlähmung. –

»Sehr gut,« antwortete er, »sehr schön, sehr bedeutungsvoll,« er stockte einen Augenblick und beschloß, sofort anzugreifen, »sehr bedeutungsvoll,« wiederholte er lauter, »wenn man will, sogar unsere Devise.«

»Wenn man will,« sagte Louis einfach.

Er ist nicht einmal abweisend, dachte Persigny, er ist ein merkwürdiger Mensch, vielleicht wartet er schon lange, daß ich wieder anfange … – »Ja,« sagte er, »wir dürfen nicht in der trüben Mitte stecken bleiben, Sire.«

»Fortuna,« meinte Louis ganz ernst, »denn wir sind ja Glücksritter.«

»Ich habe,« sprach der Prophet und spielte mit seinen Fingern, »ich habe da in großen Zügen eine neue Streitschrift skizziert, zugleich eine Apologie für Straßburg und ein Parteiprogramm.«

»Ich kann selber schreiben,« bemerkte Louis, »außerdem glaube ich nicht, daß wir mit Makulatur weiter kommen.«

»Damit kommen wir auch nicht weiter,« bestätigte Persigny, »oder doch nur auf eine Weise, die Ihre Autorschaft ausschließt, Monseigneur.«

»Sie wollen provozieren,« sagte Louis.

»Mehr noch,« sagte Persigny, »der Autor muß als Provokateur seiner selbst unmittelbar nach der Publikation der Broschüre laut und deutlich in Paris auftreten.«

»Aha,« meinte Louis leise und sah ihn aus schmalen Augen an, »dann kommen also auch Sie als Autor nicht in Frage, lieber Fialin.«

»Natürlich nicht,« entgegnete Persigny mit Ruhe, »erstens habe ich schon in der ›Sun‹ über Straßburg geschrieben und zweitens gelte ich in der Oeffentlichkeit nicht für ernsthaft genug, um die Regierung zur Weißglut zu bringen.«

»Und drittens,« fügte Louis hinzu, »müssen Sie sich, wie in Straßburg, für die Idee erhalten, nicht wahr?«

»Jawohl,« sagte Persigny.

»Also muß Vaudrey dran glauben.«

»Nein, Sire; das ist ein alter Narr, der sich teils nach seiner Uniform teils nach Miss Gordon bangt und mit beiden seine anständige Figur verloren hat.«

»Also Laity.«

»Ja, Laity.«

»Sie haben schon mit ihm gesprochen?«

»Ja, er freut sich drauf, er ist ein braver Junge, er mag auch nicht immer je nach der Jahreszeit Schlittschuh laufen oder Renken fischen.«

»Fortuna,« sagte Louis, »der frühere Mann meiner toten Mutter schreibt mir gerade, daß er im Frühsommer die junge Marchesa Strozzi heiraten wird. Diese Grabschrift ist ein Allerweltsmotto.«

– Er ist böser Stimmung, dachte Persigny, das ist nicht schlecht; er ist ein besserer Hasser, als er glauben machen will, er kann nicht einmal mehr »mein Vater« sagen.

Louis war böser Stimmung und der Augenblick gut gewählt, vielleicht von beiden. Aber leider beteiligte sich der Prinz viel eifriger an der Redaktion der Broschüre als dem Propheten lieb war. So wurde es kein Pamphlet, sondern ein sehr gut geschriebenes und würdig gehaltenes Dokument der Aufklärung über Straßburg, das keine Fanfaronade gewesen sei, kein Dummerjungenstreich ohne Sinn und Verstand, sondern nur eine verfehlte Revolution mit sehr ernsthaften Hintergründen und Unterlagen, wie es die Volksstimmung nach dem Freispruch bewiesen habe, eine Erhebung, die gelungen wäre, wenn es dem Führer nicht an einem gefehlt hätte: an Brutalität. Es folgte keine Drohung, keine Aufregung, kein Aufruf zu neuer Insurrektion; keiner der knallenden Revolutionssätze im dantonesken Stil, die der Prophet komponiert hatte, wurde aufgenommen; und als Louis den Schlußsatz diktierte – »Unser einziges Ziel ist gewesen, die Wahrheit bekannt zu machen. Es liegt uns nicht im Sinn, das Ereignis des 30. Oktobers unter dem Aspekt zu betrachten, den es für die Zukunft haben könnte.« –, lächelte er seit langer Zeit zum ersten Mal. – Er lächelt, dachte Persigny, er will nur seine Klugheit, seine Ueberlegenheit, seine abgründige Geschicklichkeit zeigen, und dabei tut er dies alles nur, um den kleinen Laity nicht ins Unglück zu bringen – ich kenne ihn.

Der Prophet kannte ihn und es kannte ihn der kleine Laity, der mit dem Manuskript in den ersten Maitagen abreiste und genau wußte, daß ihm der edle Ton der Apologie nichts nützen werde, wenn die Regierung aus der glatten Flöte eine Jericho-Posaune zu machen beliebe, und daß der Edelmut nicht ihm zu gute komme, sondern dem Prinzen, der ihn zum Abschied umarmte und leise fragte, leise und heimlich: »Warum tun Sie dies alles eigentlich, Armand?« und dem er, der nüchterne und vernünftige Armand Laity, nur dies eine erwidern mußte: »Weil ich Sie liebe.« Ja, er kannte ihn ein wenig und liebte ihn sehr, und die Neigung hatte doch kaum etwas mit der Erkenntnis zu tun, es sei denn, daß er wußte: dieser Dulder, der immer zugleich echt und falsch war, schickte ihn nicht mitten in die Gefahr, um in Arenenberg sicher zu sein, sondern im Gegenteil, um die Gefahr zu sich zu locken wie ein sprödes, wildes Pferd, auf dem er ihm nachreiten würde. Nein, Laity wurde von keinem Drückeberger an die Front geschickt, er war nicht der Strohmann einer Strohpuppe, nicht der Sündenbock für eine schafsgesichtige Staatsposse: er war der Vorreiter einer abenteuerlichen und großartigen Energie. Laity war jung. Er brauchte sich keinen Mut zurecht zu legen und nicht die Haltung vor dem Spiegel anzumessen. Die Broschüre erschien anfangs Juni in einem kleinen Pariser Verlag, der den Radikalen nahe stand und von der Persignyschen Presseorganisation in der Propaganda unterstützt wurde. Der umsichtigen Werbung gelang es, aus der Schrift in einer Woche die politische Sensation des Tages zu machen. Rechts und links bliesen Fanfaren, der Lärm war groß, Laity hatte sich im Verlag ein Zimmerchen eingerichtet, damit man ihn bequem und jederzeit finde. Auf dem Schreibtisch lag das Originalmanuskript, Exemplare der Broschüre und zwei sorglich geordnete Haufen Zeitungen, rechts die gegnerische, links die befreundete Presse. Vor dem Schreibtisch saß Laity und wartete. Am 21. Juni kamen Kriminalbeamte, beschlagnahmten die Broschüre und verhafteten den Autor. Am 28. Juni erhob der Generalstaatsanwalt vor dem Pairshof Anklage gegen Armand Laity, fünfundzwanzig Jahre alt, Artillerieleutnant außer Dienst, wegen Verbrechens gegen die Sicherheit des Staates.

Der Prophet erschien in Louis' Arbeitszimmer, Zeitungen in der Hand. Louis sah auf und sagte: »Meine Mutter ist neun Monate und zehn Tage tot. Ihr ehemaliger Mann ist bereits wieder verheiratet. Ich gratuliere ihm gerade.«

»Sire,« sagte Persigny, »Sie sollten Ihr Herz verhärten.«

»Es ist schon hart genug,« entgegnete Louis, »es schlägt nicht einmal schneller, trotzdem Sie, Herr Graf, düster und feierlich dreinschauen. Setzen Sie sich doch.«

»Ich möchte stehen bleiben,« sagte Persigny, »ich möchte stehend, wie es sich gehört, ein paar Sätze aus Laitys Verteidigungsrede vorlesen.« Er entfaltete langsam eine Zeitung und las: »Dies ist das Ziel des Prinzen: er hißt die volkstümliche Fahne, die volkstümlichste, die glorreichste aller Fahnen; er dient als Sammelbecken aller Großherzigen und Vernünftigen aus allen Parteien; er gibt Frankreich seine Würde zurück ohne Weltkrieg, seine Freiheit ohne Chaos, seine Stabilität ohne Despotismus. Der Prinz hat erkannt, daß die Demokratie die Gegenwart bis an den Rand ausfüllt, daß es außerhalb des Demokratie kein Heil für keine Regierung gibt. Als ich wußte, wie er dachte, bot ich mich als Instrument für seine Pläne …«

Der Prophet hob die Zeitung immer höher und wurde immer lauter, er schrie jetzt, als stände er vor den weißbärtigen Pairs, die Masse des Volkes als Hintergrund: »Das ist der edelste und größte Charakter, den es geben kann! Mein Leben gehört ihm! Und ich opfere es ihm umso lieber als ich zu gleicher Zeit der schönsten und heiligsten Sache diene: der Demokratie!« Persigny ließ das Blatt sinken und bog den Kopf zurück, erschüttert die Augen schließend.

Louis fragte leise, nach einer langen Pause: »Das hat der kleine Laity gesagt?«

»Das hat der kleine Laity gesagt,« antwortete Persigny mit dramatischem Nachdruck, »und die Begeisterung der Galerie war lauter als die Glocke des Präsidenten und das Echo im Volk wird nicht abgeläutet werden können.«

Louis fragte leise: »Das glaubt er wirklich?«

»Sire,« schrie der Prophet, »gibt es einen Märtyrer ohne Glauben?«

Louis stand auf. »Das Urteil!« verlangte er.

»Fünf Jahre Gefängnis.«

 

Sofort kam das Verhängnis heran, mit der groben und linkischen Eile einer Dilettantentragödie. Die Regierung hatte die große Dummheit des Laity-Urteils abgeschossen, und sie flog, unter dem Gejohle der Opposition, weiter gegen die Schweiz: der Verschwörer-Prätendent muß ausgewiesen werden. Louis hatte keine Zeit mehr, das Gewicht jener fünf Jahre Gefängnis auf dem Gewissen zu verteilen: der Märtyrer Laity versank in dem großen Lärm um den Märtyrer Napoleon. Persigny versteckte immer nachlässiger den politischen Jubel hinter der pedantischen Berichterstattung. Der französische Botschafter in Bern, der die immer schärferen Noten aus Paris zu interpretieren hatte, war der Herzog von Montebello, Sohn des Marschall Lannes, und dankte Name und Höhe des Lebens dem Kriegsgott. Es fehlte wahrhaftig kein Wasser auf die Mühlen der Kritik: das Schauspiel, das sich der betroffenen oder empörten Welt bot, war peinlich und anfechtbar genug. Die Forderung Frankreichs wurde von Wien und Berlin unterstützt. Zwischen den zeternden Großmächten stand die freie Schweiz in prachtvoller Gelassenheit und zeigte wieder einmal das Beispiel von der Staatswürde, die zugleich die Menschenwürde ist. Der Kanton Thurgau verteidigte seinen Ehrenbürger, der Bundesrat verteidigte die Eidgenossenschaft. Um wen geht der große Lärm auf dem Kontinent? Um den kleinen Napoleon. Ist er denn Schweizer? Ist er denn Franzose? Schließt nicht, nach Artikel siebzehn des Code Civil, das eine das andere aus? Wer schuf den Code Civil? höhnte die Opposition, und ging der junge Mann mit dem Namen Napoleon nach Straßburg, um das Elsaß zum Kanton Baselland zu schlagen? – Er ist der Paria Europas! variierte Persigny als Anonymus in englischen Blättern seine gefühlvollen Melodien. – Er war, ganz plötzlich, der berühmteste Mann des Tages. – Ihr macht ihn ja zum Nationalhelden! rief selbst die loyale Presse der Regierung zu, ihr setzt ihm ja den kleinen Hut wieder auf, den ihm Straßburg vom Kopf geschlagen hat! ihr macht ihn ja mit euren Verfolgungen groß, ihr avanciert einen ziemlich unbekannten und halbwegs komischen Kaiserneffen zum umlärmten Prätendenten Frankreichs! – Louis Philipp konnte nicht mehr zurück, er mußte den Louis Bonaparte so gefährlich machen, wie er vielleicht war. Der Botschafter in Bern brachte eine ultimative Note: Ausweisung des Prinzen oder – mit den äußersten Konsequenzen – Abbruch der Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz. –

Louis zog die Ruder ein, legte sich zurück und ließ das Boot treiben. Er schloß die Augen und hörte dem Wasser zu, das leise und melodisch gegen die Bootsplanken schlug. Es gab verschwommen liebliche Tönchen wie von einem fernen Xylophon, und das simple Spiel war zugleich eine unendlich sanfte Bewegung. Louis ließ sich schaukeln, roch geteertes Holz und den ganz leichten Modergeruch des Sees. Die Stille war groß und ließ das Wasser seine Passagen gegen die Bootswand üben; nur ein paar Möven kreischten. Der Lärm um den Paria Europas wurde unglaubhaft: ihm ging es gut, wenn er im Boot lag und nichts von diesen sonderbaren Tagen bemerkte, weder die tapferen Beweise der öffentlichen Sympathie noch die heimlich gepackten Koffer. Ihm ging es vor allem gut, wenn er nicht den Vicomte Persigny sah und hörte, den unerbittlichen Generaladjutanten und Generalstäbler der Sensation, die er geworden war. Er ließ sich kaum mehr auf der Straße sehn; denn das Aufsehen, das er erregte, war immer auch ein Zusammenfahren. Er war ein fataler Volksliebling.

Aber man trieb weiter, wie in diesem Kahn; man tat nichts und kam von der Stelle; man richtete nicht einmal die Segel nach dem Wind und hatte doch die rechte Richtung. Alles half ihm: mit Freundschaft und Opferwillen, noch mehr mit Feindschaft, Dummheit und Unglück, ihm halfen das Meer, der Bodensee und die Schweizer Berge, die so großartig und beschämend sind wie der Geist dieses Landes, das ihn schützte, und Hortense half ihm sogar mit ihrem Sterben. – Es muß an meinem Stern liegen, dachte Louis und lächelte bedrückt; denn so viele Hilfe belastet. Was für ein trauriger Hans im Glück: man hält stille und treibt im Glück wie ein Schiffbrüchiger, an dem das Schicksal einen Narren gefressen hat, man braucht nicht einmal zu schwimmen, ach man kann vielleicht garnicht schwimmen – man hat nur Eines gelernt und beherrscht es bis zur Meisterschaft: die Geduld. Geduld kann man lernen und Glück kann man haben. Aber das cäsarische Glück, das einst der gute Lehrer Le Bas definierte, das götterhelle Glück ist eine Bosheit für die Gedanken geworden, wie die Sonne für die empfindlichen Augen. – Ob ich jemals an Selbstmord denken werde? fragte sich Louis.

Ruderschläge schlugen an das Ohr und störten das harfende Wasser. Louis rührte sich nicht. Der Störenfried schaufelte sich heran, quietschend und knarrend, das zarte Wasserspiel des Xylophons ertrank in erschrockenem Schwappen, Louis' Boot hob und senkte sich heftiger und erzitterte jetzt unter einem leichten Stoß. Persigny, der Unerbittliche, enterte den Bord mit den Händen und beugte sich über den Liegenden. »Zweierlei, Sire,« sagte er amtlich. »Erstens: Teilmobilisierung der Garnisonen Lyon, Besançon, Belfort und Massierung eines Armeekorps längs der Grenze …«

»Das genügt fürs erste,« unterbrach Louis und blinzelte in die böse Sonne.

»Es ist allerlei,« gab Persigny zu.

Louis legte die Hand vor die Augen. »Jetzt sind wir also endlich so weit,« sagte er schläfrig, »jetzt können wir uns laut römisch Sieben oder Acht des bewährten Persigny-Planes nicht nur mit Anstand, sondern gar noch mit Großmut aus der Affäre ziehen, nicht wahr, Herr Kriegsminister?«

»Man könnte noch,« gab Persigny sachlich zu bedenken, »zur Intensivierung der öffentlichen Erregung das Ultimatum abwarten.«

Louis richtete sich auf. »Warum nicht auch noch eine kleine Schlacht, Herr Graf? Ein kleines Murten und Grandson – das steigert die Erregung und wir machen doch Geschichte, General, und die Schweizer brennen darauf, sage ihn Ihnen, Louis-Philipp dem Kühnen den historischen Garaus zu machen, damit ihr Thurgauer Ehrenbürger und Schützenkönig geradeswegs die fällige Erbschaft antreten kann – nicht, Herr Reichskanzler?«

Das Boot wackelte ein wenig, Louis war laut geworden. Er sah zu seiner Rechten den steilen Waldhang des Arenenbergleins, er schaukelte am liebsten am Fuß des Hügels, er hob den Kopf und sah oben zwischen den Pappeln das rote Dach des Märchenschlosses.

»Zweitens,« meldete der Prophet, »ist der Generalvikar da, jedenfalls in halboffizieller Mission.«

Louis griff zum Ruder, Persigny hielt sich neben ihm. Durch den trübblauen See rillte sich die Doppelspur der abziehenden Boote. »Es wäre wirksam,« empfahl der rudernde Persigny, »sich von dem Generalvikar gleichsam das Herz erweichen zu lassen, – denn wir wissen ja, was er erreichen will – und den Entschluß, die Schweiz freiwillig zu verlassen, gleichsam aus einer ethischen Emotion heraus …«

»Benachrichtigen Sie inzwischen das Foreign Office,« unterbrach Louis.

Der Arenenberg lag süß und selbstvergessen in seinem Rücken.

 

Einfall der Unterwelt

Der Prinz Louis Napoleon, so berühmt wie beliebt, ganz gewiß der Nichtengländer, von dem das mondäne London am meisten sprach – noch mehr als von seinem guten Freund Alfred d'Orsay, der schon zu lange als der schönste und eleganteste Mann der Society und als Rekordinhaber von Duellen, Liebesbriefen und unbezahlten Schneiderrechnungen galt und von dem jedes kleine Ladenmädchen in der New Bond Street wußte, daß er täglich sechs Paar Handschuhe benötigte –: der Prinz Louis Napoleon ritt jeden Tag zur gleichen Stunde die gleiche Strecke, von seiner Wohnung im Palais seines guten Freundes Lord Cardigan, Carlton-House-Terrace 17, Pall Mall, durch den Green-Park in den Hydepark bis Kensington Gardens und zurück. Er ritt bekanntlich weder besonders gerne noch neigte er zu einer straffen Einteilung seines Tages; aber da das englische Leben auch den ganz großen Herrn zu einer uniformen Haltung von gewiß nicht unbequemem, aber doch vorgeschriebenem Zuschnitt veranlaßte und gerade aus dieser Pedanterie die hübschesten Arten des Spleens züchtete, ritt der Prinz zu seiner Stunde aus, auch wenn die York-Säule neben seinem Haus schon wenige Fuß über ihrem Beginn im Nebel stecken blieb und gegenüber im St. James' Park an den traurigen Baumgerippen die Schwaden hingen wie Schemen von Gehenkten. Bei schönem Wetter und vornehmlich zur Season ritt er mit großem Gefolge – sein Hofstaat bestand aus sechzehn Personen und seine bemerkenswerteste Eroberung zu London war die beinahe historische Erscheinung des General Montholon, St. Helena-Gefährten und Testamentsvollstreckers des Kaisers –, bei schlechtem Wetter begleitete ihn nur sein erster Kammerdiener, der überaus englisch aussehende Thelin. Louis war klug und schmiegsam und hatte sich in den anderthalb Jahren, die er jetzt in London war, so vollkommen und auf so gefällige Weise der britischen Lebensart angepaßt, daß die Gazetten über seine vielseitige Repräsentation zu berichten pflegten wie über eine höfische Angelegenheit und daß ihn jeder Schutzmann zwischen Westend und Westminster grüßte. Man schätzte seinen kleinen Reitspleen, und die großen englischen Namen gingen gern zu seinen Empfängen in den pompösen Carlton-House-Salons, die, wie es sich gehörte, zu einer Art Napoleon-Museum umgewandelt waren und außerdem, als symbolisches Haustier, einen lieben jungen Tiger beherbergten. Man sprach nicht von seinen galanten Bedürfnissen und überließ es Pariser Skandalblättern, eingehende Berichte über Orgien mit nackten bronzierten Tänzerinnen zu erfinden, die der Prinz unter der Assistenz des Grafen d'Orsay, des Count Eglinton und anderer erprobter Wüstlinge veranstaltete: und seinen großen Spleen, Frankreich zu erobern, gönnte man den Franzosen.

Das Wetter dieses Februartages war nicht einmal schlecht: trotzdem begleitete ihn nur Thelin. Louis wollte nicht sprechen, sondern nachdenken; und sonderbarerweise ließ es sich am besten denken, wenn er ritt, oder richtiger gesagt: wenn er auf seinem schönen klugen und sanften Halbblut saß und das Pferd ihn durch den stillen leeren winternebligen Hydepark-Ring schaukelte. Es war wie auf dem sachte treibenden Bodenseeboot unterhalb vom lieben Arenenberglein – ach, er wird es sehr bald verkaufen müssen; denn nicht nur London kostete Geld: seine neuen beiden Zeitungen in Paris verschlangen Unsummen; aber sie waren so wichtig wie die ganze kostspielige Propaganda-Organisation in Frankreich und er war nicht reich, die Mutter hatte ihm knapp eine halbe Million Franken hinterlassen und dieses anspruchsvolle Jahr – er allein nur wußte es – wird alles fordern: sein ganzes Vermögen, seinen bemerkenswerten Kredit bei den Baring Brothers, die mit ihrer deutsch-englischen Psychologie zu wissen schienen, warum sie auf ihn setzten, – alles, auch seine Person. – Auch meine Person, lieber, armer Sträfling Laity. – Kam er denn weiter? Ja, ja, er kam weiter, er trieb weiter, er wurde getrieben und er trieb an. Ja, dies war das Neue: er trieb an. Was ahnten seine glänzenden Londoner Freunde, die Earls und die Lords und Sirs und Snobs und Literaten und die M.P., was er neben seinem Beruf als Gentleman und als Besucher der feudalen Klubs in seiner Pall-Mall-Nachbarschaft zu treiben hatte! Vielleicht ahnte es nur der Klügste und Sonderbarste von ihnen, der junge schöne ehrgeizige Exjude Disraeli, wenn er die schwarzen Mädchenlocken aus der weißen Mädchenstirn schüttelte, die Daumen in die Armlöcher der extravaganten Frackweste einhängte, ihn aus den Winkeln der langwimprigen Mandelaugen beobachtete und an den abgezirkelten Lippen ein anmutig verschlagenes oder bedeutsames Lächeln bereit hielt, für den Fall, daß der französische Mann der Zukunft den englischen Mann der Zukunft ansah: und dann nickten sich beide zu. – Die Zeit kam weiter, Louis ging mit, er hatte gute Ohren und hörte das Knistern und Knacken im Julikönigtum, es ging dem dicken Louis Philipp nicht gut, es kriselte hier und dort, die Opposition war sehr stark, die Stimmung in der Armee sehr zwiespältig – Louis hatte zu horchen und rüttelte schon ein wenig am Bau, legte kleine Minen, Fallen und Feuerchen und kommandierte seine beiden Zeitungen, seine beiden Klubs, seine politischen und militärischen Vertrauensleute an die schadhaften Stellen, damit sie den Schaden vergrößerten. Er trieb an, dies war das Neue, er hatte die Führung, nicht mehr der Vicomte de Persigny, der von einer so ungeheuerlichen Eleganz befallen war und eine solche Pflichtenfülle des großen Lebens zu tragen hatte, daß er von seiner sanften Degradierung nicht viel zu merken schien. Vielleicht war Louis in der Tat ein undankbarer Mensch; denn Persignys Regie der Schweizer Affäre war eine Meisterleistung, und diese Woge des europäischen Mitleids war es gewesen, die den Paria Louis sofort auf die Höhe der englischen Sympathie getragen hatte. Aber Louis hatte genug von dem Miserere, das der Prophet eifrig weiter singen wollte; er hatte andere Pläne und behielt sie für sich, er überließ ihm die etwas weinerliche Propaganda, ließ ihn verlogene »Briefe aus London« schreiben, schrieb selber eine sehr männliche und beinahe schneidige Neufassung seiner bekannten autoritär-liberalen oder volkskaiserlichen oder imperial-republikanischen Weltanschauung, die er natürlich »Napoleonische Ideen« nannte, und griff, auf seine Weise aktiv, die Juliregierung an. Wollte er sich in London mit einem zuverlässigen Menschen besprechen, so hatte er den klugen und stillen Conneau, und in Frankreich hatte er Miss Gordon und Vaudrey. Der große Oberst war nicht nach London mitgekommen, er hatte nicht mehr den alten Schwung, der Prophet hatte Recht und bestimmte ihn unschwer, in Mittel- und Südfrankreich für die Idee zu arbeiten. Der große Oberst saß als bescheidener Pensionär in Dijon, mit zweihundert Franken monatlich und der verkümmerten Frau, und von der geliebten Dame Gordon bekam er die Richtlinien für seine Arbeit; aber er sah sie nie, er war unglücklich und bestellte dennoch wacker seinen Distrikt, damit sie mit ihm zufrieden sei: Miss Gordon hatte keine Zeit, ihn zu loben, sie hatte zu viel im Kopf und auch im Herzen. Sie war die vorzügliche Leiterin der bonapartistischen Organisation, sie war die einzige, die Louis' Kampfplan kannte und nach ihm arbeitete, sie kam alle vier Wochen nach London; und nachdem er die erste Begegnung mit einiger Mühe und durch geschicktes Einspringen des ewigen Liebhabers Persigny von den Gefahren ihrer körperlichen Leidenschaft frei zu halten verstanden hatte, blieben alle anderen Besuche der immer formenmächtigeren und merkwürdig rasch alternden Frau durchaus im Rahmen geheimpolitischer Konferenzen und nur noch leicht belastet von dem Liebeshunger ihrer traurigen Augen. –

Die Sonne versuchte sogar, den gelbgrauen Himmel zu durchstechen, sie machte große Anstrengungen, trieb um ihre schwebende Scheibe einen Zackenkranz von Lichtspeeren und Leuchtstreifen, und wenn sie auch nicht ganz ans Ziel gelangte, so schuf sie doch eine transparente Helle, für die man schon dankbar war. – Dieser Frühling bringt klare Sicht, vielleicht bringt sie schon der März, dachte der versonnene Reiter Louis, und er meinte nicht Sonne und Luft und die Konturen der Dinge, sondern die neuen Chancen des bedeutungsvollen Herrn Thiers.

Er beachtete nicht die klare und genaue Helle am Constitutionshill, aber er sah plötzlich in klarer und genauer Nähe ein Gesicht und fuhr auf. Der Hydepark-corner war so leer, als wollte er den Blick auf dieses Gesicht durch nichts stören, und vielleicht war auch die Luft so hell, damit das Gesicht ins rechte Licht gesetzt sei. Vor dem triumphalen Bogen des Parkeinganges stand ein gutgewachsener Herr von augenfälliger Eleganz, die der Engländer als billig erkennt, der Franzose als teuer schätzt, ein Herr mit einem mächtigen Zylinderhut und einem riesigen Plastron, das sich aus den unenglisch geschnittenen Revers des Ueberrockes bauschte, und hob das erstaunliche Gesicht zu dem Reiter Louis empor. Louis machte eine Bewegung, als wollte er halten, und der Herr machte eine Bewegung, als wollte er grüßen; doch Louis wollte nicht halten, er wollte ganz gewiß nicht halten, er ritt weiter und fühlte, wie ihm das aufdringliche Gesicht im Nacken saß, und wußte nicht und wollte nicht wissen, ob ihn der Herr gegrüßt hatte. Aber er trieb das Pferd nicht an, er ritt im Schritt weiter, hörte hinter sich Thelins Pferd durch den Rundbogen klappern, blickte sich rasch um und sah Thelin, wie er sich rasch umblickte. »Thelin!« rief er und der Diener trabte an seine linke Seite. »Haben Sie sich den Herrn eben angesehen?« – »Ja, Hoheit.« – »Merkwürdig, nicht wahr?« – »Napoleon mit Zylinder«, sagte Thelin, er lebte seit zwanzig Jahren zwischen Napoleonbildern, er war kompetent. – »Und ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen, sage ich Ihnen, Thelin, schon irgendwo …« – »Nicht in Arenenberg,« sagte Thelin, und auch für Arenenberg war er zuständig. Louis nickte, der Diener rückte in den gehörigen Abstand zurück und beide überlegten den Fall. – Ich habe diese vulgäre Ausgabe, diese Boulevard-Ansicht vom großen N schon einmal gesehen, dachte Louis, aber wo? – Damned! dachte der Engländer Thelin, wie kommt der Kerl zu dem Gesicht! Thelin hatte den Aerger des Fachmanns, der seine Wissenschaft vor neuen Erkenntnissen bedroht sieht. Louis suchte sein Leben ab; aber er fand das Gesicht nicht vor der Fülle der Menschen, die ihm über den Weg gelaufen waren, und die Fülle der Kaiserbilder, die längs seines Weges standen, so lange er denken konnte, verwirrte ihn vollends. Sie ritten, wie immer, bis zur Brücke über den Serpentine-Kanal, die Kensington Gardens vom Hydepark trennte, und kehrten um. Die Sonne hatte das Gefecht aufgegeben und wurde von graubraunen Wolken abgeschlagen, Louis war plötzlich gereizt, er fühlte sich durch den Plastron-Napoleon gekränkt, er fühlte sich aufgelauert und das eigene Gesicht durch das vorgehaltene Gleichnis mit dem großen Antlitz verspottet. Es war seine alte Empfindlichkeit. Er wußte zugleich, daß seine neue Aktivität nichts weniger vertrug als gewisse Imponderabilien von früher. – Wahrhaftig, dieser Mensch stand noch am Corner, als wartete er auf seine Rückkehr. Natürlich paßte er ihn ab, gewiß kannte er den gewohnten Reitweg des Prinzen Napoleon. Der Prinz Napoleon sah hoffärtig durch die Ohren seines Pferdes hindurch und ritt Trab. Der Zylinderhut-Napoleon, die Hände in den Manteltaschen, rief zu ihm empor: »Salut, mon petit Cousin!«

 

Louis ritt zwei Tage nicht aus. Am dritten Tag wurde von einem Hotelboy beim Torschweizer von Carlton-House für den Prinzen eine Visitenkarte abgegeben: Le Comte Leon, Paris, z. Zt. Fentons Hotel, London. Louis warf die Karte in den Papierkorb und las Miss Gordons Eilbrief: sie habe in Erfahrung gebracht, daß der berüchtigte Leon Revel, genannt Comte Leon, ein natürlicher Sohn des Kaisers, wie man wisse, einer der dunkelsten Existenzen von Paris, wie man ebenfalls wisse, ein Mann, der in zehn Jahren das beträchtliche Vermögen, das ihm der Kaiser sicher gestellt hatte, auf die lustigste Art durchbrachte, von Stufe zu Stufe sank und zuletzt im tiefsten Vorstadtdreck steckte – Heidelberger Student, Pariser Lebemann, Spieler, Duellant, Bataillonschef der Nationalgarde von St. Denis, Querulant, Falschspieler, Bilderschwindler, Schmuckschwindler, Wechselschwindler, Erpresser, zweimal im Schuldgefängnis von Clichy, zuletzt polizeinotorischer Zuhälter in St. Denis – daß dieser interessante Napoleonide nach London gefahren sei; sie warne dringend; Leon, eben noch ein abgerissener Lump, verfüge plötzlich über scheinbar ansehnliche Geldmittel, die ihm nicht nur diese verdächtige Reise, sondern auch die Rückkehr zur alten Eleganz erlaubten; man dürfe annehmen, daß die politische Polizei dahinterstecke und daß er ein Spitzel, wenn nicht gar noch etwas viel Gefährlicheres sei. – Im übrigen gehe alles gut, prächtige Verwirrung in den Tuilerien, Molé wackele, Thiers stehe schon in Bereitschaft. Miss Gordon schrieb: »unser aller Thiers«, Louis lächelte, der Nachsatz war ihm wichtiger als der lange Steckbrief. Je erbärmlicher der Kerl mit dem großartigen Gesicht, desto besser, dachte er. Er tat ein übriges und benachrichtigte den alten Joseph Bonaparte, der in seinem Palais am Cavendish Square auf noble und leise Art residierte und den geräuschvollen Neffen zwar immer noch nicht liebte, aber auch nicht mehr verleugnete. Louis erfuhr durch ein ironisches Billet des alten Herrn, daß der tüchtige Leon bereits bei ihm, wenn auch vergeblich, vorgesprochen und sogar schon den Zweck seines Besuches schriftlich dargelegt habe: er bitte um die Kleinigkeit von einer halben Million Franken, die nach seiner Ueberzeugung Madame Mère und der Kardinal Fesch ihm hinterlassen hätten. Louis lachte herzlich, von der Hydepark-Beklemmung vollkommen befreit. »Ein Narr,« sagte er zu Persigny, »ein viel zu großer Narr für einen Spitzel.« Doch der Prophet hatte ein bedenkliches Gesicht. »Ich halte Zuhälter nicht für Narren,« meinte er.

Der Schweizer vom Carlton-House sagte dem Grafen Leon, der mit einer Mietequipage vorfuhr, daß der Prinz Napoleon nicht empfange, er sagte es ihm in den folgenden Tagen noch zweimal. Dann kam ein Brief vom Grafen Leon. Louis las ihn, bekam böse Augen und zerriß ihn. »Eine unverschämte Provokation,« sagte er zu Persigny, »und in einem Postskriptum vermerkt der Ehrenmann, daß er sich die Kopie zu gelegentlicher Veröffentlichung aufhebe.«

»Erpresser sind immer unangenehm,« bemerkte Persigny, »ich werde zu ihm ins Hotel gehen, die Empfangsverweigerung mit einem Familienbeschluß erklären und ihm tausend Franken für die Rückreise anbieten.«

»Sie nehmen den Lumpen zu wichtig, mein Lieber.«

»Er ist nun einmal der Sohn des Kaisers, Sire.«

»Ach,« meinte Louis mit dünnen Lippen, »sieh da, Herr Vicomte! Aber Sie nannten den Herrn Standesbruder neulich einen Zuhälter und eben einen Erpresser und wollen doch den Dynasten mit tausend Franken abgelten …«

»Trotzdem, Monseigneur,« sagte Persigny mit einer sonderbar stillen Hartnäckigkeit, »trotzdem – und ist er noch dazu ein Mörder – trotzdem hat er den Kaiser im Blut.«

»Wie schön,« sagte Louis sehr leise, »wie sinnig auch: denn dieser Herr fragte mich unter anderem in seinem Brief, ob ich einen Tropfen französischen Blutes in meinen Adern habe. Aber gehen Sie nur, wenn es Ihnen ein Bedürfnis ist.«

»Es ist mir ein Bedürfnis,« sagte der Generaladjutant mit Würde, »es ist sogar meine Pflicht, Sie vor Peinlichkeiten zu bewahren,« und er fuhr im prinzlichen Cab ins vornehme Hotel Fenton, angetan mit einem kaffeebraunen Zylinder, einem rotbraunen Redingote und teerosenfarbenen Beinkleidern. Er kam zurück und hatte ein feierliches Gesicht. »Der Graf will kein Geld,« meldete er, »der Graf will Genugtuung.«

»Das hat er mir bereits geschrieben,« meinte Louis.

»Das hätten Sie mir sagen sollen, Sire,« sagte Persigny mit leisem Vorwurf, »der Graf hielt mich bereits für Ihren Zeugen und ich war in einer nicht ganz angenehmen Situation, zumal der Graf nicht nur wie ein Gentleman aussieht, sondern sich auch so benahm.«

»Und ich, mein Lieber, habe Sie weder hingeschickt noch habe ich vor, mich so zu benehmen wie Ihr Gentleman-Graf.«

»Wollen Sie ihn nicht lieber doch empfangen, Monseigneur?«

»Nein.«

»Dann wird er Sie fordern, und er erzählte beiläufig, daß er bereits drei Duellgegner totgeschossen hat.«

»Es ist zu vermuten,« lächelte Louis, »daß er bei diesen Schießereien Glück hatte.«

»Und wenn er Sie fordert, Sire?«

Louis zeigte auf den Papierkorb, der Vicomte Persigny hob langsam Kopf und Schultern, sehr peinlich berührt, und Louis warf auch das nächste Schreiben des Grafen Leon ungelesen in den Papierkorb.

Dies geschah am letzten Februartag und das französische Ereignis des 1. März war die Betrauung Thiers' mit der Kabinettsbildung. Louis, der die Briefe des Herrn Leon gründlich vergessen zu haben schien, geriet in eine vorzügliche Stimmung, spielte mit dem Tigerchen und fütterte ihn eigenhändig mit einem rohen Beefsteak. »Zu Ehren des Herrn Thiers,« sagte er zu dem Tigerchen. Die ungewöhnliche und beinahe übermütige Laune, die er keineswegs begründete, war für die Umgebung nicht recht begreiflich; dem Propheten erschien sie ein wenig kindisch: er hatte an der Haltung des Prinzen in den letzten Tagen allerlei auszusetzen. Er bemerkte in kurialem Stil: »Die augenscheinliche Genugtuung Eurer Hoheit über die Nominierung Thiers' ist mir nicht ganz erfindlich. Der verflossene Molé war wenigstens Aristokrat und seine Haltung ging mit seiner Politik einig, sie war wenigstens klar. Der Herr Thiers ist der unklarste und glatteste und ehrgeizigste politische Literat, den wir haben. Ein jakobinischer Liberal-Royalist, der Streikende zusammenschießt, die Geschichte Napoleons schreibt und das Juste-Milieu gemacht hat, bleibt auch als Ministerpräsident nicht nur die unsympathischste, sondern auch die gefährlichste, die für uns gefährlichste Mischung unserer Zeit.«

»Sie sind zu adelsstolz, Herr Graf,« lachte Louis, »ich bin gegen gefährliche Bourgeois vorurteilsfreier. Dafür sympathisiere ich wieder weniger als Sie mit den Leon-Grafen, die Sie ja auch für gefährlich halten. Sie sehen im Augenblick überall und in allen Klassen gefährliche Menschen, alter gefährlicher Fialin, ich nicht.«

Persigny hob die Schultern. Thelin kam und meldete Herrn Oberstleutnant Ratcliffe, Kommandeur des sechsten Dragoner-Regiments, in dringlicher Angelegenheit. Louis streifte das Tigerchen vom Schoß und sah seinen Generaladjutanten fragend an. Persigny hob die Schultern, wollte etwas sagen, aber unterdrückte es. Das Tigerchen sprang auf die Queen-Anne Kommode, auf der Canovas Napoleon-Büste stand. Es war sein gewohnter Platz, es war ein symbolischer Platz und schien von dem anzüglichen Instinkt des Raubtierchens ausgewählt: aber es war der Prophet gewesen, der es dorthin gewöhnt hatte.

Es erschien ein langer, magerer Herr in Zivil, dessen Haare grau und dessen Backenbart rot war. Der Uebergang vom Grau zum Rot erfolgte jäh an den Schläfen, und die Brauen, wie vom Farbenwechsel überrumpelt, waren teils grau und teils rot. Louis, der Gutgelaunte, betrachtete freundlich und aufmerksam den doppelfarbigen Gast. – »Ratcliffe.« – »Louis.« – »Ratcliffe.« – »Persigny.« – Man verbeugte sich kurz, keiner setzte sich, das Tigerchen schnurrte wie eine gewöhnliche Katze, der fremde Herr bemerkte es erst jetzt, durch seine Hängeschultern ging ein Ruck, er schien erschrocken.

»Zahm,« sagte Louis. »Sie wünschen?«

Ratcliffes Doppelfarbe wiederholte sich: die Stirn war grau, das Gesicht war rot; und da er auf sonderbare Art die Augen hin und her rückte, blitzte das graue Weiß der Augen neben dem Hellbraunrot der Pupille. »Ich habe die Ehre,« sagte Ratcliffe und sein langes Kinn zerkaute und zermahlte die Worte, »im Auftrag des Grafen Leon zu kommen.«

»Ich gratuliere Ihnen zu der Ehrung,« sagte Louis. Persigny faßte sich an das jadefarbene Plastron, genauer gesagt an die haselnußgroße Perle, die nach dem Vorbild und der Vorschrift Alfred d'Orsays in der Höhe der Brustwarzen zu sitzen hatte, und zog dann den mausgrauen Frack straff, bereit zum Eingriff in die Ehrenaffäre.

»Eure Hoheit habe den letzten Brief des Grafen Leon nicht beantwortet,« sprach Ratcliffe.

»Ich habe ihn nicht einmal gelesen, denken Sie,« versicherte Louis liebenswürdig.

»Das ist auch nicht mehr nötig,« sagte Ratcliffe unliebenswürdig; »denn ich habe die Ehre, im Namen des Grafen Leon den Inhalt zu resümieren: Eurer Hoheit unwürdiges und unritterliches Benehmen …«

»Mein Herr!« brüllte Persigny und schoß vor.

»Aber lieber Freund,« beschwichtigte Louis, »schmälern Sie doch dem Herrn nicht die gräflich leonsche Ehrung und mir nicht die Freude, den Brief ungelesen fortgeworfen zu haben – sonst hörte ich ja jetzt die Geschichte zum zweiten Mal, und das wäre doch langweilig.«

Oberst Ratcliffe hatte sehr vorstehende Augen und der jähe Uebergang seiner Farben entsprach der Sprunghaftigkeit seines Wesens, das zwischen Melancholie und Jähzorn bedenklich hin- und herfuhr, auch zwischen schottischen Balladen, die er seinen vielen Freundinnen gefühlvoll vorsang, und entsetzlichen Mengen schottischen Whiskys, ein krankhafter Zustand, der übrigens unmittelbar nach dieser Ehrenaffäre und vielleicht unter ihrem fatalen Eindruck zum offenen Ausbruch der Dementia führte und ihn ein zweites Mal zum Tagesgespräch von London machte: als er nämlich in der Oper von seiner Loge ins Orchester sprang, den Paukisten aus irgendwelchen Wahngründen verprügelte, mit den eroberten Paukenschlegeln die gesamte Kapelle bedrohte und erst mit Hilfe einer Zwangsjacke ins Irrenhaus verbracht werden konnte. Oberst Ratcliffe, eben noch korrekt, wenn auch unhöflich, starrte den Prinzen aus seinen vorstehenden Augen an, streckte das Kinn vor und sagte laut: »By the christdamned, bloody gates of hell!« Das war ein abscheulicher Fluch und als Zwischenruf so überraschend, daß ihn weder Louis noch Persigny sofort begriffen; sie sahen sich etwas ratlos an, und dann sagte der Graurote noch lauter: »Sie haben sich unwürdig und unritterlich, kurz ungezogen benommen, Sie haben damit bewiesen, daß Sie keinen Tropfen französischen Blutes besitzen, Sie haben sich außerdem erfrecht, den Grafen Leon im Carlton-Club einen französischen Polizeispitzel zu nennen. Graf Leon hat also einen Makel an Ihrer Stirn entdeckt, den er nur durch eine Kugel entfernen kann und zu entfernen willens ist. Ich habe die Ehre …«

»Wie lange,« fragte Louis dazwischen, »wie lange haben Sie eigentlich die viel zitierte Ehre, den Grafen Leon zu kennen?«

Persigny wurde sehr unruhig. Wollte sich der Prinz durch biographische Aufklärungen aus der Affäre ziehen, aus der Affäre der Ehre? Das ging nicht, das ging auf keinen Fall! »Hoheit,« sagte er entschlossen, »Sie wollen mir gestatten, dieser unerhörten Szene ein Ende zu machen und diesem sonderbaren Herrn in meinem Büro das Notwendige zu sagen.«

»Gleich,« meinte Louis, »ich möchte nur wissen, wie lange der Herr den Leon kennt.«

»Seit zwei Tagen,« sagte Ratcliffe, »ich habe den Grafen vorgestern im Restaurant von Fentons Hotel kennen gelernt. Aber das tut nichts zur Sache.«

»Das tut etwas zur Sache,« widersprach Louis sanft, »eine Bekanntschaft von zwei Tagen rechtfertigt Sie in gewissem Sinn, eine längere Bekanntschaft wäre bedenklicher und hätte mich veranlaßt, Ihre Personalien polizeilich nachprüfen zu lassen.«

»Ich habe die Ehre,« sagte Ratcliffe sehr laut und dennoch gaumig, mit mahlendem Kinn und merkwürdig unbeweglichen Lippen, »Eurer Hoheit die Forderung des Grafen Leon zu übermitteln, und das sollte mich vor Diffamierung schützen – das sollte von einem Gentleman …« Das Tigerchen machte neben Kaiser Napoleon einen Buckel und jaulte, vielleicht, weil ihm die fremde Stimme unangenehm war. Ratcliffe, der das Tier vergessen hatte, verstummte mit einem Ruck und sah es an.

Persigny hatte sich dem Prinzen genähert und sagte auf Deutsch: »Mein Gott, das geht nicht, das geht wirklich nicht, Sie machen sich unmöglich, Prinz, der Mann ist Kommandant eines der vornehmsten Regimenter, Sie müssen ihn und die ganze Affäre anders behandeln, ich mache einen kleinen Degenassaut draus, wir haben ja als Provozierte die Waffenwahl und Sie fechten gut, Louis …«

»Ich schieße auch gut,« sagte Louis lächelnd und beobachtete das Tigerchen, das an dem Gast Interesse gefunden zu haben schien und ihn gelb und schlitzäugig anblinzelte, und Ratcliffe starrte auf das Tigerchen, mit roten und weißen Glotzaugen, ein kleiner Muskel schüttelte unablässig seinen Mundwinkel, es sah befremdlich aus, und das Tigerchen sprang von der Kommode und schlich ganz langsam, auf Umwegen, schwanzschlagend auf den fremden Mann zu, und Ratcliffe drehte sich nach dem Tigerchen wie eine Wetterfahne nach dem Wind, seine Schultern rückten auf und ab, und er fluchte. – »Zahm, dear Sir,« sagte Louis heiter; denn die Szene drang nicht durch den Panzer seiner guten Laune, er hatte diese und jene Harlekinade erlebt und nahm nicht an, daß ihn eine Narrenpritsche erschlüge; »ganz zahm,« wiederholte er, »so zahm wie ich, aber ohne Makel auf der Stirn, das Kätzchen«, er trat hinzu, um das Tigerchen an seinen Platz zu tun, »ich habe ebenfalls die Ehre,« sagte er dabei, »und bitte die beiden Herren, sich über die kriegerischen Bedingungen einig zu werden.« Er kam, nach dem verspielten Tigerchen haschend, dem Oberst, der Augen, Mundwinkel, Kinn und Schultern sonderbar hin und her rückte und hinter dem geschlossenen Mund wortlos und gleichsam nur den Fluchtakt fluchte, ziemlich nahe – und so roch er den Whisky.

 

– Alles ist so, dachte Louis auf der Fahrt nach Wimbledon, wie es die Romanschriftsteller in den beliebten Duellkapiteln beschreiben. Es ging auf sieben Uhr zu, die Sonne war wohl schon aufgegangen; aber der graue Morgen unterschlug sie, Nebelschwaden krochen über die Wiesen, die Welt blies Trübsal und die Menschen fröstelten. Alfred d'Orsay saß neben ihm, er hatte den Zobelkragen seiner Jagdpelerine hochgeschlagen, man sah nichts von seinem Gesicht und gerade noch die breite Krempe seines Zylinders, er schien zu schlafen; es war für ihn keine ordentliche Zeit, eben nur die außerordentliche für Duelle, für eigene oder assistierte, und deshalb konnte man auch nicht sagen, es sei für ihn eine gänzlich ungewohnte Zeit. Man sah auch nicht seine Hände, die er hartnäckig in den Taschen verwahrte, und gerade auf die Hände lauerte der Vicomte de Persigny, der ihm gegenüber auf dem Rücksitz saß; denn es galt festzustellen, welche Art von Handschuhen Alfred d'Orsay trug, um zu einem Duell zu fahren, und es war noch zu dunkel gewesen und der Augenblick zu flüchtig, als man sich in London Gutenmorgen sagte und die Hand drückte. Persigny überlegte: er trägt bekanntlich hellgraue Renntierlederhandschuhe, wenn er die Jagdsbritschka lenkt, und gemsfarbiges Gemsleder, wenn er auf die Jagd geht; es kommt meiner Meinung nur eine von diesen beiden Arten in Betracht; denn daß er die soutachierten Chevreau-Handschuhe für Hydepark und Shopping trägt, ist unwahrscheinlich, und die gelben Dinner-Handschuhe aus Hundeleder kommen nicht in Frage: ich jedenfalls trage mauve Renntier mit weißer Steppnaht. – Neben ihm saß, mißmutigen Gesichts, der Doktor Conneau mit einem Köfferchen.

Der Wagen hielt außerhalb des Dorfes Wimbledon, nahe der Windmühle, Persigny sprang aus dem Wagen, half dem Prinzen beim Aussteigen und reichte auch dem Grafen d'Orsay die stützende Hand, nicht so sehr aus Höflichkeit als aus Berechnung; denn so entging ihm der Handschuh nicht: und der Handschuh war aus einfachem schwarzen Wildleder, wenn auch natürlich nagelneu. Persigny war nicht nur fachtechnisch überrascht, sondern auch empfindsam berührt: der gültige Duellhandschuh sah also aus wie ein Trauerhandschuh und schien gleichsam für alle Fälle, für den schlimmsten Fall gerüstet. Der Prophet machte ein ernstes Gesicht.

Der Kampfplatz war Alfred d'Orsays guter, alter Duellplatz, sein Reservat für Ehrenhändel, eine Grasnarbe in einer geräumigen Bodenfalte, und die Hügelchen ringsum trugen noch einen Zinnenkranz von struppiger Weißdornhecke. Es war eine Geheimarena, von der sanften und offenen Croydon-Landschaft eigens für Kavaliere geschaffen, die sich ungestört mit Hieb oder Schuß bedenken wollten; denn in England waren Duelle streng verboten. Alfred d'Orsay liebte seinen Duellplatz wie seine Anzüge, es war, wie immer bei ihm, eine charmant anmaßende Liebe, die die Neigung hatte, aller Welt zu verbieten, eine andere Liebe zu haben. Er, der schönste Mann, hatte den besten Schneider und die schönsten Frauen: jetzt hatte er den besten Duellplatz von Großbritannien – und dieses alles stimmte auch. Er hob sein wunderschönes Gesicht, das um ein Weniges zu glatt und regelmäßig gewesen wäre, wenn er nicht linksseitig die Haare in die Schläfe gekämmt und jenen berühmten, kunstvoll wilden Backenbart getragen haben würde (der doch wiederum das kühne Kinn und den Griechenmund frei ließ). »Louis,« sagte er, nicht mehr müde, sondern strahlend wach, als sie sich der Weißdornbarriere näherten, »gib zu, Louis, gibt es einen schöneren Duellplatz?« – »Es gibt keinen schöneren,« gab Louis zu; »denn ich sehe keinen.«

Er sah ihn erst, nachdem sie sich durch das Gebüsch gezwängt hatten. Er sah auch, daß die gegnerische Gruppe bereits zur Stelle war. Er sah, wie sein Freund d'Orsay plötzlich ein eisiges und maßlos hochmütiges Gesicht bekam, das Duellgesicht, den hohen Hut in die Stirn drückte und mit langen Schritten, nicht zu schnell und nicht zu langsam, den Abhang zur Arena hinunterstieg – und wie sein Generaladjutant de Persigny mit geringer Verspätung das gleiche Gesicht bekam, den mächtigen Zylinder in die Stirn drückte und dem hoch- und gradbeinigen Alfred hurtig wie eben ein abgesessener Husar auf Husarenbeinen folgte. Louis und Conneau kletterten langsam den Hang hinunter und blieben am äußersten Rand der großen Grube stehen. – »Was für eine überflüssige Narretei!« seufzte der Arzt. Louis hob die Schultern.

Am anderen Ende des Tälchens stand Leon, den Hut etwas schief auf dem Kopf, die Arme verschränkt, und starrte herüber; man hörte ihn pfeifen. Louis drehte ihm den Rücken. In der Mitte trafen sich die vier Sekundanten, begrüßten sich steif und besprachen sich. Das heißt, es sprach nur der lange Ratcliffe, einen rechteckigen Kasten unter dem Arm, mit den beiden Zeugen des Prinzen. Hinter dem langen Ratcliffe stand ein kurzer, dicker Herr, einen langen, schmalen Kasten unter dem Arm, sprach nichts und sah so aus, als ob er auch nicht wüßte, was er sprechen sollte. Als die Debatte lebhaft wurde, trat er vorsichtig einen um den anderen Schritt zurück; als die Debatte laut war, stand er bereits in der Mitte zwischen den drei Streitenden und dem pfeifenden Leon, blickte unaufhörlich den engen Heckenhorizont ab und schien sich als Mitglied der Arena-Mannschaft nicht wohl oder doch ungewohnt zu fühlen. – Ja, die drei Herren waren ins Streiten gekommen, am lautesten klang der aufgebrachte Tenor des Propheten, der pfeifende Leon war längst übertönt und Louis sagte zu Conneau: »Die Ehrenwäsche scheint ihre Schwierigkeit zu haben.«

Persigny kam, warf schon unterwegs die Arme entrüstet in die Luft und hatte nicht nur rote Backen, sondern auch eine rote Stirn; man konnte es sehen, weil er den Hut aus der Stirn geschoben hatte, als ihn der Streitfall heiß machte. »Der Kerl,« sagte er erregt, »Sire, der Kerl nimmt für sich in Anspruch, der Provozierte zu sein.«

»Nun schön,« sagte Louis.

»Nein, nicht schön, Sire, gar nicht schön, Louis …« Es geschah sehr selten, daß der Prophet ihn beim Namen nannte, und es mußte schon eine besondere Bewegung sein, die ihn vertraulich werden ließ. Er öffnete und schloß nervös die Finger und fuhr leise fort: »Dann hat der Kerl die Waffenwahl und … und er verlangt Pistolen.«

»So,« machte Louis leise und sah Conneau an.

»Das werden Sie nicht annehmen!« fuhr der Doktor auf, »dieser gemietete Bravo will Sie ja nur einigermaßen legal um die Ecke bringen! Sie weigern sich einfach, Prinz!«

»Das kann ich nicht,« sagte Louis leise, »das tu ich nicht, Conneau, denn er kann mich noch viel legaler um die Ecke bringen, wenn ich kneife.«

»Wenn ich mich doch für Sie schießen könnte!« rief Persigny.

Louis lächelte. »Leider können Sie es nicht, mein Freund.«

»Halt!« sagte Persigny und sah in die Arena, »Ratcliffe geht zu ihm, vielleicht bestimmt er ihn doch …«

Alle sahen in die Arena, auch Louis. Der Oberst redete, Leon schüttelte den Kopf, schüttelte immerzu den Kopf und pfiff.

– Er pfeift, dachte Louis, er ist nicht umzustimmen, er scheint guter Dinge, er ist widerwärtig mit dem schiefen Hut und dem Hurenpfiff – aber er hat Mut, er hat mehr Mut als ich, er hat mehr mutiges Blut als ich; was schrieb einmal jemand aus der Umgebung des großen N? die Bastarde von Helden haben keine Legitimität nötig, um ihren Mut zu erben – ich weiß nicht mehr: ihren Mut oder ihren Ruhm; aber vielleicht bedeutet es für diesen Napoleoniden Ruhm genug, mich totzuschießen. »Wie wäre es,« sagte er mit einem kleinen Lächeln, »wenn man das Los entscheiden ließe. Das tut man doch immer, wenn der eine das Schicksal einschalten und der andere es ausschalten will. Schlagen Sie es doch einmal vor, Persigny.«

Persigny ging sofort und auch Conneau ließ den Prinzen allein, um dabei zu sein. Das war eine gute Idee; denn sowohl der Prophet als auch der Arzt gaben etwas auf die Gewogenheit des Schicksals, wenn es sich um Louis handelte. Und Louis glaubte an seinen guten Stern. Er hatte das Los vorgeschlagen, um der gnädigen und diskreten Hand, die sein Schicksal führte, eine kleine Handhabe zuzuschieben, ihn aus dieser törichten Fallgrube herauszubringen. Die drei Herren konferierten von Neuem. Der vierte Sekundant, der kleine Mann zwischen der Mittelgruppe und dem Grafen Leon, schien seine Mitarbeit für so überflüssig zu halten, wie den umstrittenen Degenkasten unter seinem Arm, beschäftigte sich weiterhin mit der Inspektion des Hügelkammes und sah sich jetzt mit einem schnellen Blick nach seinem sorglosen und unerbittlichen Schützling um. Leon nickte lächelnd. Louis reizte und ängstigte diese Zuversicht zu gleicher Zeit. Was war das für ein unverfrorener Zufall, dem er ausgeliefert wurde? Wußte dieser Bravo oder seine Auftraggeber wirklich den vorzüglichen Moment für das Pistolengeschäft oder war es nur die allgemeine Unbequemlichkeit seiner Prätendentur? – Jetzt werde ich neugierig, dachte Louis, jetzt möchte ich meinen Vetter drüben dies und jenes fragen, jetzt ist es wohl zu spät dazu … – Dieser Thiers: kenne ich ihn denn, kennt ihn denn die Gordon anders als durch Mittelsmänner, die selber wieder Tarnkappen tragen? Was weiß man denn? was weiß man denn? und gibt nicht das böse Hirn jede Erklärung, wenn man sich nur ein wenig anstrengt, und zum Beispiel auch diese: eben weil Herr Thiers wußte, daß er vor der Macht stand, mobilisierte er – oder nicht er, sondern seine dunklen Geister – die napoleonische Unterwelt, daß sie sich vertilge … – Louis war sehr unruhig, die Gedanken fielen ihn hitzig an, das Hemd klebte ihm am nassen Rücken – das Los! – das Los! es kommt auf das gefällige Los [an], und die Drei kommen nicht weiter, jetzt greift Conneau ein, jetzt geht Conneau selber zu Leon, der Kerl hört wenigstens auf zu pfeifen, er sieht aus wie Napoleon als Zuhälter, zum Teufel, er sieht gut aus, trotz des verschliffenen Weibergesichts, er hört mit einem Hochmut zu, der Maulschellen verdient und dennoch Eindruck macht; denn er will ja, daß es ums Leben geht – er nickt jetzt wie ein Schmierenkönig und sagt: meinetwegen, ich höre es nicht, aber ich weiß, daß er es sagt, und möchte ihm die Gnade des Loses an den frechen Kopf werfen – aber ich tu es nicht, natürlich nicht, ich bin sogar froh …

Alfred d'Orsay zog einen Sovereign aus der Westentasche – und da alles an ihm berühmt und einmalig war, sagten die Spötter gerne: den Sovereign – und bestimmte: »Kopf-Pistole, Schrift-Degen.«

»Aber warum denn!« protestierte der Prophet, dessen Seele durch die Ereignisse verdüstert war und der auch eine synonyme Herausforderung des Schicksals zu vermeiden trachtete, »ich schlage vor: Kopf-Degen, Schrift-Pistole.«

»Gut,« sagte d'Orsay und warf das Goldstück in die Luft. Dann bückten sich alle.

Alfred d'Orsay, Conneau und Persigny kamen zu Louis, der kleine Augen machte. Der Prophet hatte nicht einmal mehr seine roten Backen und bot, grau wie dieser Morgen, einen ungewohnten Anblick.

»Liebster Louis,« sagte Alfred d'Orsay, »Pistole.« Er wollte noch bemerken, daß es durch die Einmischung des Vicomte de Persigny zu diesem Resultat gekommen sei, und der Prophet fürchtete die Enthüllung sehr; doch Graf Alfred unterließ es, ein Gentleman. Er fügte hinzu: »Aber du hast als Provokat den Anschuß. Ich bitte dich, liebster Louis, schieß ihn tot.«

»Ja,« sagte Louis leise und die Wolken verhängten seine Augen, »ja ja, das tu ich.«

Er sah keinen an, er wollte nicht die Gesichter der Freunde sehen, die gewiß die Angst um ihn zeigten; aber die Freunde sahen ihn an und Conneau zumal konnte nicht mehr von ihm fortsehen: eine so fremde, tiefe und stille Wut war auf Louis' Gesicht, Aufstieg einer ganz fremden und ungeahnten Grausamkeit. – Was steckt alles in diesem Menschen? fragte sich der Arzt, wieviel doppelte Böden hat seine tägliche Sanftheit? und ihn fröstelte es. Louis legte langsam Hut, Mantel und Ueberrock ab. – Nasenwurzel, dachte er, Nasenwurzel, langsam anvisieren, sich Zeit lassen, den Herzschlag mit dem Atem regulieren, den Kolben in die Handhöhle saugen, nicht pressen, Achtung auf Oberarmmuskel, daß er nicht den Abzugfinger gleichsam anstößt, dein alter Fehler beim Pistolenschießen … Er war Thurgauer Schützenkönig, er hatte schon Schwierigeres getroffen als eine Stirn auf fünfzehn Schritt; wenn es nicht das Los war, dann wird es die Stirn sein; denn das Schicksal läßt ihn nicht im Stich und hat nur, aus einer unerfindlichen Laune, die Farce dramatisiert: der Schützenkönig war auf das Ziel neugierig und schaute nach der Stirn aus. Doch Leon hatte noch den Hut auf dem Kopf, er schien keine Eile zu haben, er hatte noch den Mantel mit den übertriebenen Aufschlägen der Boulevardeleganz an, er trug übrigens die gleiche viel zu glänzende Seidenkravatte wie bei der Hydeparkbegegnung: er besaß jedenfalls keine andere. Louis war böse und hatte es jetzt eilig. »Ich bitte endlich anzufangen!« rief er. Ratcliffe öffnete den Pistolenkasten, d'Orsay und Persigny gingen zu ihm, um die Waffen zu prüfen. Leon knöpfte den Mantel auf, sein Vordermann, der kurze Herr, sah auf die Uhr und warf ein kurzes Wort nach hinten. Leon nickte lächelnd. Conneau sagte: »Die Kampflust drüben scheint gering, trotz allem.« Leon rief den Obersten Ratcliffe zu sich und gab wieder eine Order. Ratcliffe ging zu den Herren zurück und auf seinem roten Gesicht (denn die grauen Partien verdeckte der Hut) saß dick der Aerger; vielleicht fluchte er auch schon. Persigny aber schrie nach der neuen Mitteilung auf, als hätte ihn eine Natter gestochen, und selbst Alfred d'Orsay gestikulierte mehr, als es einem kaltblütigen und vielerfahrenen Duellchampion erlaubt war.

Der Prophet tobte heran: »Der Kerl verlangt den Anschuß!«

Conneau sagte: »Mir scheint, der Herr ist auf Zeitgewinn aus.«

Louis überhörte es, er explodierte, er schrie: »Also gleichzeitiger Kugelwechsel, zum Teufel!«

Leon drüben schüttelte lächelnd den Kopf, rief: »Anschuß!« und zeigte auf sich.

Der kurze Herr vor ihm hob plötzlich den Kopf und die freie Hand und sagte das erste laute Wort: »Ruhe!«, sprang auf kurzen Beinen den Hang hinauf, verschwand im Gestrüpp und schrie das zweite Wort: »Polizei!«

Oberst Ratcliffe fluchte abscheulich, riß dem Grafen d'Orsay die Pistolen aus den Händen, warf sie in den Kasten, raste dem kurzen Herrn nach und lief einem zwei Meter hohen Konstabler geradeswegs in den gebieterischen Stab.

Leon war vollkommen ruhig und knöpfte sich langsam den Mantel wieder zu. Conneau beobachtete ihn genau und sah, daß er noch immer lächelte. Von allen Seiten kletterten Polizisten mit freundlichen Siegergesichtern in die Arena. Persigny sah auf Alfred d'Orsay. Alfred drückte den Hut ins Gesicht, steckte dann die Hände in die Taschen und blickte frostig in die Luft. Der Prophet tat es auch.

Louis war vollkommen ruhig und zog sich in der besten Haltung wieder an. Er war nicht so undankbar, der Hand über sich zu verübeln, auf welche Weise sie die Dinge für ihn lenkte.


Der Polizeirichter von Bowstreet entließ die Gesellschaft in den Nachmittagstunden und glaubte selber nicht, daß die phantastischen Geldstrafen, die er verhängt hatte, bezahlt würden. Baring Brothers garantierten für die prinzliche Partei und wußten, daß die tausend Pfund nicht bezahlt würden. Mr. Fenton bürgte für die Gruppe Leon, weil der gleichzeitige Ausweisungsbefehl für seinen französischen Gast die Angelegenheit innerhalb achtundvierzig Stunden auf die billigste Art erledigte; denn nachher würde kein Hahn mehr nach der Geldstrafe des abgeschobenen Kampfhahns krähen; und dem kurzen Herrn vollends, der auf den Namen Kien hörte, wie Leon auf der Polizeistation angab, war es auf unerklärliche Weise gelungen, aus der Arena zu entkommen.

Zu Hause fand Louis einen Brief Miss Gordons, der sich mit Thiers' Berufung befaßte: nach einer Information der bewußten Mittelsmänner trage sich die neue Regierung mit der verwegensten Absicht, mit der Heimführung des toten Kaisers; ob die Idee von Louis Philipp, der diese Volte mit der Nationalstimmung bitter nötig habe, oder von Thiers stamme, der die Aktion auch aus den bewußten anderen Gründen konzipiert haben könne, sei nicht klar; doch beiden sei sie zuzutrauen und ihre Bedeutung für N so ungeheuer, daß sie, Miss Gordon, die nächsten Informationen wieder persönlich nach London bringen werde; sie, Miss Gordon, warne nochmals und gerade im Zusammenhang mit diesen Mitteilungen vor Leon und zögere nicht mit dem Vorschlag, die guten Verbindungen spielen und den Lumpen ausweisen zu lassen.

N war die Chiffre für die Bewegung und die Bewegung war er, Louis, er legte die Hände auf den Brief und blinzelte durch die Wimpern, das große N geisterte in diesen Briefen und in den Organisationen: untertags – und übertags in der Nation, und der dicke kluge Julikönig wird es aus St. Helena holen, damit es nicht aus London komme, und der dünne kluge Thiers, der Superkluge, tut es entweder aus diesem Grunde oder aus dem andern – aus dem andern: daß es aus London komme. Und wie nun, cher Thiers, wenn derweilen das kleine N Leon den Paria Louis totgeschossen hätte? Ein Strich durch die Rechnung? Der Strich unter die Rechnung? Galt übertags die Chiffre N nur für Tote? Ist dieses böse Spiel der Fragen nicht geeignet, dem eben wieder gewonnenen Spiel des Lebens die gute Laune zu nehmen? Oder hat Conneau recht, auch er ein kluger, ein scharfsichtiger Mann?

Vicomte de Persigny war in seinem Büro und schrieb, ein als Mitarbeiter geschätzter Anonymus, zwei Berichte: einen für den »Sun«, in welchem er das Ereignis des Vormittags mit scharfer Verteilung von Licht und Schatten schilderte, zugleich spannend und gefühlvoll und doch auch noch mit mondänen Augen für das vorbildliche Aeußere der Lichtpartei, des Prinzen Louis, des Grafen d'Orsay und des Vicomte de Persigny – einen zweiten für ein viel gelesenes Londoner Skandalblatt, in dem er mit umfassender Kenntnis und unerbittlicher Schärfe den »Grafen« Leon an den Pranger stellte, unter der ausgezeichneten Ueberschrift: »Der Napoleon der Zuhälter.« Der Prophet also war beschäftigt, und Louis ließ ihm zur Sicherheit noch sagen, daß er, begreiflicherweise abgespannt, sich früh zur Ruhe begeben werde. Dann schickte er Thelin mit einem Billet in Fentons Hotel.

 

Louis blieb hinter dem Schreibtisch sitzen, als Leon eintrat, mit wendiger Eleganz und dem forschen Lächeln. Er war sehr groß, breitschultrig, in den Hüften schmal, sein Gesicht verlor im Lampenlicht an Gemeinheit und gewann an Aehnlichkeit mit dem Vater. – Ich hätte doch die Büste entfernen sollen, dachte Louis und saß mit steifem Rücken. Er wirkte sitzend wie ein hochgewachsener Mann. Leon ging durch das große Zimmer auf ihn zu und das kalte Gesicht des Hausherrn behinderte nicht die rasche Sicherheit seiner Bewegung. Er sagte: »Das hätten Sie viel einfacher haben können, Herr Vetter,« er sprach sehr pariserisch. Er reichte ihm die Hand.

Louis übersah die Hand; aber er sah doch, daß es eine schöne Hand war. »Bitte nehmen Sie Platz,« sagte er in seinem harten Französisch und wies auf einen Sessel, der in angemessener Entfernung bereit stand.

»Ach, Sie wollen mir nicht die Hand geben,« sagte Leon und blieb stehen.

»Ich wollte Sie zunächst fragen,« sagte Louis, »ob Sie Geld für die Rückreise haben.«

»Nein,« entgegnete Leon, »ich habe nicht einmal Geld genug, um das Hotel zu bezahlen.«

Louis nahm einen Briefumschlag unter der Schreibmappe hervor und schob ihn an den Rand der Tischplatte. »Hier sind hundert Pfund,« sagte er.

»Danke,« sagte Leon, nahm den Umschlag vom Tisch, steckte ihn in die Rocktasche und ging zu dem angewiesenen Platz. Jetzt entdeckte er die Queen-Anne-Kommode mit dem Canova-Kaiser und dem zusammengerollten und friedlich schlummernden Tigerchen. »Ach wie reizend!« rief er und meinte offenbar das Tigerchen. Dann setzte er sich.

»Es muß mich doch wundern,« sprach Louis und legte die aufgestützten Hände flach zusammen, »daß Ihre Auftraggeber Sie mit so knappen Geldmitteln ausgestattet haben sollen.«

»Es ist unrecht, Herr Vetter,« bemerkte Leon mit überraschendem Sanftmut, »daß Sie an Ihrer fixen Idee festhalten. Ich bin mein eigener Auftraggeber.«

»Bis kurz vor Ihrer Londoner Reise,« inquirierte Louis, »lebten Sie in St. Denis unter solchen – sagen wir: fatalen Bedingungen, daß sogar Ihre Kleidung Zeugnis davon ablegte. Sie sehen, ich bin ziemlich gut unterrichtet. Sie haben dann nicht nur das Geld für die Reise aufgebracht, sondern auch für eine einigermaßen elegante Kleidung. Sie müssen also einen Geldgeber gefunden haben.«

»Gewiß,« erklärte Leon bereitwillig, »ich habe von einem Freund … Nein,« unterbrach er sich, und sein Gesicht wurde ernst und sogar feierlich, »ich darf nicht wagen, diesen großen Mann einen Freund zu nennen. Dieser große Mann hat meine Sendung erkannt und meine Reise gebilligt, und er hat mir fünfhundert Franken gegeben, davon habe ich etwa dreihundert Franken ausgegeben, um anständig auszusehen. Mit dem Rest bin ich hierher gekommen. Ich besitze noch zehn Schillinge – nein,« verbesserte er sich verbindlich und klopfte auf die Rocktasche mit dem Briefumschlag, »hundert Pfund und zehn Schillinge.«

– Auch dieser Mensch hat eine Sendung? fragte sich Louis, oder nennt er so seine Bravofahrt und gibt er sich so treuherzig, um mich einzuwickeln? »Wer ist dieser große Mann,« fragte er den anderen, »darf man es wissen?«

Leon schien zu zögern oder machte eine Pause der Ehrfurcht; dann sagte er mit starker Stimme: »Der Prophet Coëssin.« Louis lächelte. Leon war mit einemmal empfindlich: »Herr Vetter, da gibt es nichts zu lächeln, das ist der größte christliche Philosoph unserer Zeit.«

»Oh,« lächelte Louis und dachte an seinen Loyola, »ich habe Propheten sehr gerne, es sind zumeist sehr herzliche und sehr nützliche Leute, und Ihr Prophet, ich gebe es zu, ist beinahe ein berühmter Mann, man liest hin und wieder von ihm in der Zeitung, und am berühmtesten war es wohl, als er sich nach dem Tod Pius VII. dem Kardinals-Kollegium als Papst empfahl. Mein Onkel Fesch hat gerne über ihn geplaudert.«

»Mein Onkel Fesch,« nahm es Leon auf, »hat mir trotzdem das Legat vermacht, das mir vorenthalten wird – trotzdem er an dem Unrecht der Abweisung Coëssins beteiligt war. Aber für uns ist er trotzdem der heilige Vater.«

»Für euch?« fragte Louis, tief belustigt. »Der Prophet Coëssin ist unter anderem der Vater der ›Gotteskinder‹, nicht wahr? Er erzieht und organisiert in geistlichen Familien jene Jüngerelite, die bestimmt ist, zum vollkommenen Leben zu gelangen und die Welt zu verbessern, nicht wahr? Und wenn ich Sie recht verstanden habe, genieße ich das Vergnügen, in Ihnen ein Coëssinsches Gotteskind zu sehen.«

»Ich bin erst ein Novize,« sagte Leon bescheiden.

»Und – verzeihen Sie – und jene kleinen beruflichen Eigenheiten zu St. Denis, die sogar der Polizei nicht schlechthin gotteskindlich vorkommen?«

»Ich bin noch im Purgatorium,« sagte Leon fromm.

»Und das Duell heute vormittag?«

»Die göttliche Vorsehung hat es nicht erlaubt,« sagte Leon schlicht.

»Scheint es Ihnen ausgeschlossen,« fragte Louis und sah ihn schläfrig an, »daß der göttlichen Vorsehung in diesem Fall etwas nachgeholfen wurde?«

»Nichts ist für die Allmacht unmöglich,« sagte Leon mit Würde; »denn sie geht den Weg, den sie gehen will, in tausendfältiger Gestalt, und der kleine Mensch, der zu führen glaubt, ist ja nur der Geführte.«

»Sehr schön,« nickte Louis, »es handelt sich, wie man in Bowstreet erfuhr, um die anonyme Anzeige eines kleinen Menschen. Wer hat sie wohl geschrieben?«

Leon schlug die Beine übereinander und meinte sanft: »Will man darüber nachdenken, so könnte man unter Umständen zu dem Schluß kommen, daß sie aus Ihrer Gegend stammen möchte, Herr Vetter.«

Louis nahm sich zusammen. »Ein Denkfehler,« widersprach er vollkommen ruhig; »denn dann wäre unsere Bemühung um den Degen zuerst und den Anschuß dann eine Sinnlosigkeit.«

»Zugegeben,« sagte Leon freundlich.

»Warum sind Sie nach London gekommen?«

»Warum?« rief Leon, »warum? Weil es zu meiner Sendung gehört! Weil ich der Sohn des Kaisers Napoleon und der Sohn des Propheten Coëssin bin! Weil mir der Prophet, der den großen Umsturz kommen sieht, meine Sendung klar gemacht hat! Ich bin Tatmensch durch Napoleon und christlicher Sozialist durch Coëssin! Ich bin hierher gekommen, um von Onkel Joseph mein Geld zu fordern und es Ihnen zur Verfügung zu stellen, Vetter Louis, Ihrer Sendung, die meine Sendung ist, und um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen und Ihnen durch mich das politische Genie des Propheten zu übermitteln, damit wir zur sozialen Republik gelangen, die kommen muß. – Ja, Louis, unser Schicksal ist nicht unähnlich und unser Ziel das gleiche!«

Louis löste die Hände und verschränkte die Arme, und er schloß fast die Augen. – Ist er nicht doch nur ein konfuser Narr? fragte er sich; aber warum kränkt mich dann so sehr die Parallele, die er zu ziehen wagt? – »Und das Duell?« fragte er knapp und böse.

»Die Kehrseite,« flüsterte Leon zerknirscht, »die Kränkung, die Wut – ach, es ist noch viel Hölle in mir …«

»Sie hätten geschossen?« fragte Louis. Leon hob den Kopf, seine großen Augen waren blank vor heimlichem Lachen und sein fester Mund zuckte. »Sie hätten nicht geschossen?« fragte Louis und lächelte.

»Nein,« sagte Leon.

»Sie sind käuflich?« fragte Louis.

»Ich wäre nicht mehr käuflich, wenn mein Onkel Joseph …«

»Was kostet die Wahrheit über die Anzeige?«

»Das ist eine Kleinigkeit,« sagte Leon und berechnete die Kleinigkeit. »Zehn Pfund,« sagte er dann.

Louis zog die Brieftasche, entnahm ihr eine Zehnpfundnote und schob sie wieder an die Tischecke, wie vorhin den Umschlag. Die Brieftasche ließ er vor sich liegen, aber er tat die Hand drauf.

Leon kam, forsch lächelnd, nahm das Geld und sagte: »Herr Kien.«

»Danke,« sagte Louis; »aber nehmen wir den Fall an, die Polizei wäre aus irgend einem Grund nicht gekommen.«

»Dann hätte ich daneben geschossen, Herr Vetter.«

»Aber ich nicht.«

Leon war neben dem Schreibtisch stehen geblieben und sah ihn an. Er hatte lange Wimpern und glich in diesem Augenblick auf eine quälende Art dem toten Bruder Charles. Louis blickte fort. Leon sprach: »Wir beide, Louis, sind Parias, die Gott liebt.«

»Sie können noch mehr verdienen!« fuhr Louis ihn an, er war böse und rachsüchtig, er schlug ihn mit der Käuflichkeit, wenn der andere ihn mit seiner schmierigen Theosophie besudelte, ja, er fühlte sich unsauber und unanständig.

»Bitte,« lächelte Leon höflich.

»Warum unternahmen Sie diese Duellkomödie?«

»Um Sie zu zwingen, von meiner Gegenwart Notiz zu nehmen.«

»Um mir Schwierigkeiten zu machen.«

»Um Sie gläubig zu machen, das heißt, um Ihnen Prüfungen aufzuerlegen.«

»Um mir politische Schwierigkeiten zu machen,« sagte Louis mit Betonung. Leon schwieg lächelnd. »Zehn Pfund,« bot Louis, auf die Geldtasche klopfend.

»Wofür denn?« fragte Leon.

»Sie rechneten mit einer mechanischen Anwendung des Duellparagraphen, der neben den allgemeinen Geldstrafen für Ausländer die Ausweisung verfügt.«

»Da Sie sich selber die Antworten zu geben belieben,« sprach Leon würdig, »nehme ich kein Geld.«

Louis öffnete mit einem Ruck die Schreibtischlade, Leon prallte zurück. »Was haben Sie?« fragte Louis, »ach so – ein Mißverständnis. Nein, ich ziehe keine Pistole, warum denn? Im Gegenteil, ich ziehe eine Bankanweisung. – Hören Sie, ich möchte zum Schluß kommen. Ich gebe Ihnen sozusagen einen Schadenersatz für Ihr mißlungenes Unternehmen, das Ihnen von keiner Seite honoriert werden wird; denn Sie haben weder erfahren, was ich für Pläne habe, noch haben Sie meine Ausweisung erreicht. Ich gebe Ihnen fünfhundert Pfund, für mich eine beträchtliche Summe, wenn Sie zugeben, daß Sie nicht allein ein Gotteskind des Propheten Coëssin, sondern auch ein Höllensohn des Herrn Thiers sind. Nun?«

Louis tauchte die Feder ins Tintenfaß. Leon sah vor sich hin, dann schüttelte er den Kopf. »Nein,« gestand er »ich kann nicht lügen, so gut ich das Geld gebrauchen könnte. Mein Vater Coëssin gab mir eben den Stoß auf die rechte Seite, die des Himmels ist.« Er senkte bekümmert den Kopf. »Genug Hölle ist noch zur Linken,« flüsterte er, »genug, Vetter Louis, und die Hölle war auch im Hydepark, als sie mir den Gedanken der Rückversicherung schickte.«

»Ich ahne, worauf Sie anspielen,« lächelte Louis, – »aber können Sie die Sache mit der Rückversicherung nicht außerhalb Ihrer Theologie formulieren?«

»Ich hasse die bestehende Ordnung,« antwortete Leon lebhaft, »ich lehne sie ab wie Sie, weil meine Sendung erst mit dem Umsturz sichtbar wird wie bei Ihnen; ich hasse sie so sehr, daß ich mir gestatten konnte, außerhalb der Gesellschaft zu leben – Sie spielten vorhin darauf an –, ohne mich zu bedauern. Aber wann kommt der Umsturz? Selbst der Prophet Coëssin gibt darauf keine bestimmte Antwort, und Sie zu fragen, Herr Vetter, erübrigt sich nach dem Vorgefallenen. Nun also: wären Sie infolge des Duells ausgewiesen worden wie ich, so wäre es eine neue Prüfung für uns beide, eine Entmutigung für die Revolution, eine abweisende Antwort der Vorsehung – sehen Sie, Herr Vetter, und dann wäre vielleicht die böse Stunde gekommen, die Versuchung, der Höllenstoß, der mich zur politischen Polizei getrieben hätte, um noch nachträglich den Lohn für Ihre Ausweisung zu fordern oder doch dadurch für die Zukunft – und bis zu unserem Sieg – von den sturen Organen der bestehenden Ordnung in Ruhe gelassen zu werden.«

Leon lächelte freundlich und sprach fließend. – Jetzt werfe ich ihn hinaus, dachte Louis, ich bin ihm nicht gewachsen, er ist zugleich verlogener und aufrichtiger als ich und er kränkt mich mit seiner Existenz so namenlos … »Danke,« sagte er, »bestimmen Sie selber den Preis für den Rückversicherungskommentar.«

»Er kostet nichts, Vetter Louis, und Sie werden bemerkt haben, daß Sie mich mit Ihrer Brieftasche nicht kränken können.«

»Das habe ich bemerkt, und damit kann wohl unsere Unterhaltung abgeschlossen werden.«

»Nein,« widersprach Leon, »es fehlt ja noch das Wichtigste: unsere zukünftigen Beziehungen.«

»Die werden nicht bestehen, verlassen Sie sich drauf.«

»Das wäre jammerschade, Louis, in Ihrem Interesse …« Leon beugte sich etwas vor: »Wir haben uns übrigens schon vor London gesehen – einmal als Kinder, als sich mein großer Vater von mir, dem Aeltesten, und von Walewski und von seinem Neffen Charles und auch von Ihnen verabschiedete …« Louis begriff sehr gut den Sinn dieser Reihenfolge; es kam also auch das noch. Er schwieg, trotzdem Leon eine lange Pause machte. »Und dann,« fuhr er endlich fort, »haben wir uns vor acht Jahren in Paris gesehen, als ich den Lebemann und Sie den Carbonaro markierten.«

»Ich glaube,« sagte Louis, »jetzt kommt eine Erpressung, und das wird wieder ein mißlungener Versuch sein, wie ich Ihnen vorhersagen kann. Wollen Sie ihn nicht lieber sein lassen?«

»Was wollen Sie denn,« verwahrte sich Leon mit sanfter Stimme. »Ich lasse Sie ja als Prätendent gelten, bis zum Umsturz, Louis, und wenn dann meine Sendung beginnt, werde ich sogar für Ihre Präsidentschaft arbeiten, Vetter. Aber wenn Sie die Republik benutzen sollten, um Ihr falsches Kaiserreich aufzurichten, dann ist es meine Sendung als Kaisersohn und Sozialist, kraft meines echten Blutes den falschen Louis und kraft meiner christlichen Gemeinschaftserkenntnis den falschen Cäsar zu entlarven.«

Leon sah lächelnd auf Louis herunter; aber sieh, auch Louis lächelte. »Das mit dem falschen Louis,« meinte er ruhig, »wird eine wenig originelle Fassung des alten Märchens, und darüber gibt es sogar, seitdem ich lebe, ein Lied, das schon längst aus der Mode gekommen ist und das Sie mir trotzdem vor acht Jahren vorzupfeifen beliebten; es fällt mir gerade ein. Das mit dem falschen Cäsar wird die geistigen Kräfte Ihrer eigenen Verlogenheit gewaltig übersteigen. Kurz: ich werde Ihnen für die Nichtentlarvung keinen Pfennig Abstand zahlen.«

»Louis,« sagte Leon und kniff ein Auge zu – so sähe er heute Vormittag aus, dachte Louis erschreckend, wenn er auf mich angelegt hätte – »Louis, es gibt einen unheiligen und einen heiligen Zorn. Ich weiß noch nicht, zu welchem Zorn ich gelangen werde, wenn Sie uns betrogen haben. Aber ich weiß, daß ich zu einem Zorn gelangen könnte. Er gibt die Brutusse und die Ravaillacs, und die Dichter aller Literaturen bemühen sich um die Psyche des politischen Mörders. Bemühen Sie sich rechtzeitig um die meine, Herr Vetter, ganz als seien Sie ein Dichter.«

»Gehen Sie vom Schreibtisch fort,« befahl Louis. Leon gehorchte mit einem duldsamen Lächeln und schlenderte zum [Canova]-Kaiser. – Jetzt soll ich, mit der frischen Angst im Herzen, die Profile vergleichen, dachte Louis gehässig. Leon aber spielte mit dem Tigerchen, das nicht zum Spielen, sondern zum Schlafen aufgelegt war und niedlich knurrte.

»Achtung,« sagte Louis mit bösen Augen, »das Tier ist nicht zahm.«

Leon fuhr zurück, Louis freute sich. Er freute sich über jeden Tort, den er diesem Menschen antun konnte, er hätte sich gefreut, wenn das Tigerchen plötzlich ein wilder Tiger wäre und ihm ins lästerliche Gesicht spränge. Louis dachte an die Polizei, an mietbare Totschläger von Whitechapel, sogar an seine Pistole in der Schreibtischlade. Er war heiß und kalt vor Wut. Leon ging mit seinem frechen Lächeln das Napoleon-Museum entlang: Schärpe, Degen, Krönungsring, Orden, Kreuz der Ehrenlegion. Leon wandte sich um. »Der kleine Hut fehlt,« sagte er und grinste.

»Was kostet es,« fragte Louis mit gelbem Gesicht, »wenn Sie ihn für mich stehlen?«

»Was haben Sie davon,« lachte Leon, »er steht Ihnen nicht.«

»Nein,« flüsterte Louis, »und jetzt gehen Sie. Bis zum Attentat hat es noch Zeit.«

»Verhindern Sie es doch,« sagte Leon ernst, »Sie sind klug und werden die Macht haben. Legen Sie es darauf an, daß mir Ihre Person wichtiger wird als die Republik, ketten Sie mich an sich, nehmen Sie mich als Mitarbeiter, geben Sie mir einen Posten, ich bin ehrgeizig, Louis.«

»Ich mache Sie zum Generalintendanten aller Bordelle von Frankreich!« schrie Louis.

»Ihre Abneigung gegen mich ist verständlich,« sagte Leon geduldig, »es ist die Abneigung Ihres Gesichts gegen mein Gesicht. Also bleibt Ihnen wieder nur das Geld. Wenn mir der Kaiser mein Fesch-Legat auszahlt, bleibe ich loyal.«

»Mein Vorschlag,« sprach Louis nach einer kleinen Pause. »Wenn ich am Ziel bin, erhalten Sie eine Lebensrente von zehntausend Franken jährlich.«

»Sie werden es mir nicht schriftlich geben wollen?« fragte Leon liebenswürdig.

»Nein.«

»Ich werde Sie in der Republik daran erinnern.«

»Das ist unnötig.«

»Sie sind vergeßlich, wenn Sie wollen. Ich werde Sie erinnern. Ich werde Sie auch wiedersehen.«

»Ich werde Sie niemals wieder vorlassen.«

»Das wäre jammerschade. Sie sind ein ängstlicher Held oder ein mutiger Feigling, wie man es nehmen will. Aber damit bringt es Ihrereiner zu etwas. Leben Sie wohl. – Sie geben mir auch jetzt nicht die Hand, oder doch, Herr Vetter? – nein, Sie geben sie mir nicht, Sie fühlen sich in Ihrer falschen Legitimität wohl und es ekelt Sie vor meiner echten Illegitimität. Das ist bedauerlich, aber kein Grund für mich, Sie zu beneiden oder Ihnen weiterhin zu zürnen. Sie haben mit den hundertzehn Pfund meinen Londoner Zorn abgegolten, Herr Vetter. Ich wünsche Ihnen sogar noch alles Gute für Ihre Zukunft.«

»Danke,« sagte Louis müde und traurig.

»Für unsere Zukunft,« verbesserte sich Leon noch in der Tür. Er mußte das letzte Wort behalten. –

Der Canova-Kaiser sah aus wie Leon. – Ich habe die Büste nie gemocht, dachte Louis und hatte plötzlich Kopfschmerzen, sie ist zu glatt, zu kalt, sie ist niederträchtig schön, ich schenke sie dem Propheten – meinem Propheten, verbesserte er sich. Er ärgerte sich über die Korrektur.

Er sah sich im Zimmer um, als wäre er noch immer nicht allein. – Es stinkt hier nach Gemeinheit, dachte er und ging hinaus.

Er bestellte ein Bad.

 

Abfall des Sterns

Anfangs Juli, als sich die Society auf das Land zerstreute und ein Sohn des Julikönigs auf einer Fregatte mit dem unschicklichen Namen »La belle Poule« unterwegs war, die Ueberreste des Kriegsgottes heimzuholen, charterte der Prinz Louis Napoleon ein kleines Dampfboot für einen Monat zu Vergnügungsfahrten. Das war nichts Auffälliges. Warum sollte ein großer Herr, der keine Privatyacht besaß und nicht immer der Gast der anderen großen Herren sein wollte, sich nicht für die heißesten Wochen ein Lust- und Erholungsdampferchen mieten? Aber wenn sich Fahrgäste anmeldeten, wenn Alfred d'Orsay oder Eglinton oder Henry Holland, Lytton Bulwer, Walter Savage oder gar der sylphidenhafte Augur Disraeli: wenn die guten Freunde Stimmungsnächte auf See mit oder ohne Damen arrangieren wollten? Oder wenn das Fahrzeug immer noch still in Gravesend vor Anker lag und der Prinz immer noch in London blieb, auf das Schiffsvergnügen doch nicht so erpicht wie es die große Welt verlangte? Louis war sehr vorsichtig und ließ das Dampfboot durch einen Strohmann mieten. Er hatte viele Strohmänner zu dieser Zeit. Er hatte einen Strohmann, der in Birmingham Gewehre kaufte, einen anderen, der von Pariser Trödlern Infanterieuniformen erstand und in Frankreich zwei Dutzend gediente Militärs als Diener anwarb, er hatte Strohmänner in allen nordfranzösischen Garnisonen, Offiziere aller Grade, Straßburger Mitkämpfer und neugewonnene Gläubige, die für ihn sahen, hörten, sprachen und versprachen. Er hatte an vielen Orten seine Hand im Spiel und man sah sie nicht. Er leitete ein großes Spiel und ließ sich nicht helfen. Er war liebenswürdig und schläfrig wie immer, tätig und schweigsam wie noch nie. Seine Missionare kannten immer nur ihren Auftrag; die Dame Gordon, die wichtigste Person der Vorbereitungszeit, wußte sicherlich das Meiste; doch sie ließ sich von dem Propheten zur Not wohl umarmen, aber nicht ausfragen. Und so sagte Persigny, der sehr wenig wußte und dadurch in eine verbitterte Schwarzseherei geraten war, zum Doktor Conneau, der mehr zu wissen schien, als sein stilles Quäkergesicht glauben machen wollte: »Das wird eine traurige Vergnügungsfahrt, mein Lieber, das wird eine Schiffahrt mit Charon als Fährmann.« Er liebte klassische Vergleiche. Conneau hob still und ernst die Schultern.

Louis behielt die Führung ganz allein, weil er glaubte, daß die Fehlschläge seines Lebens durch seine Passivität entstanden seien, durch die Halbheiten seiner Art, durch halben Mut, halbe Angst, halbes Vorgehen, halbes Befehlen, halbes Gehorchen – ja, durch den halben Glauben. Er wollte Plan, Ausführung und Verantwortung für sich, ungeteilt, ohne Debatte, ohne Rat und Hilfe, ohne Hundeaugen und Stierblick des Propheten, dessen anspruchsvolle Regie die Nerven verbrauchte, ehe es zur Aktion kam, und dessen gestenreiche Bravour den Ernst gefährdete. Louis wollte ernst bleiben und ohne den unseligen Spott auskommen, der immer zur Selbstverspottung führte und den Glauben anfraß. Er wollte glauben, bedingungslos und ohne Rückhalt an eigenen Zweifeln. Er wollte führen, er wollte angreifen und nicht nur die eigene Existenz auf das Spiel setzen – das hat er schon oft getan, wenn auch zumeist mit kleinen Klauseln –, sondern auch die Duldsamkeit des Schicksals. Ja, er wollte seinen Stern riskieren.

Glaubte er an den Erfolg? Er glaubte an die Legende. Er sah mit Staunen und stillem Jubel die Macht der Legende. Napoleon kehrt zurück. Die Nation war von dem Gott besessen, sie durchbrach Gitter und Deiche von Politik und Partei und war ein erregtes, verwirrtes, gefährliches und schönes Raubtier in Freiheit, hungrig nach Napoleon. Der Hunger übersah die heftigste Erfahrung des Irdischen, den Sinn von Leben und Tod, und die Begierde nach dem Toten war die Verleugnung seines Todes. Louis erschauerte; denn er erkannte die revolutionäre Kraft der Bewegung, aber auch ihren mythischen Irrtum. Gab es aus diesem gewaltigen Versuch der Wiedererweckung noch ein Erwachen und eine Anerkennung für das kleine Leben, das in das große tote N zu stellen ist wie eine brennende Kerze in einen toten schwarzen Dom?

Es erschraken die Initiatoren der Heimholung; ob es der Julikönig war oder Herr Thiers, ob die Idee aus geängstigtem oder gewundenem Geist geboren wurde: der Funke wurde Flamme, Blitz und Donner, als sei schon die Luft ein explosibles Gemisch, das Land bebte und niemand wußte, wann und wo die Erde bersten würde. Hunderttausend ehemalige Soldaten wollten nach Paris kommen, um den Kaiser zu grüßen. Wird es Wallfahrt oder Kriegszug? Die Oppositionspresse zitierte mit teuflischer Akribie alle Aussprüche des Hasses, des Abscheus und der Verfluchung, die der Julikönig und die anderen Heimholer in den letzten fünfundzwanzig Jahren gegen den Kaiser getan hatten. Und dann, als der Lärm schon sehr groß war, erhob in London der Sprecher der lebenden Bonapartes die Stimme, der Mann der italienischen Revolution, der Mann von Arenenberg und Straßburg, der berühmte Paria: die Nutznießer von Waterloo holen den toten Kaiser heim und verbannen seine Familie! Das war ein prachtvolles Stichwort für die losgelassene Opposition. Die feierlichen Proteste aus London wurden in wirksame Leitartikel umgesetzt. Der Regierung bangte vor dem Feuer, das sie entfacht hatte, und sie versuchte auf unglückselige Art zu löschen: es handle sich bei alledem nicht um eine Glorifizierung des Kaisers, sondern des Helden Napoleon. Der Hunger nach dem Kriegsgott wurde nur stärker. Es geschah das Beschämende, daß die verstörte Kammer nur eine von den zwei geforderten Heimholungsmillionen bewilligte und daß der alte Joseph Bonaparte, von dem Paria gestoßen, die fehlende Million aus der eigenen Tasche geben zu wollen erklärte. Das Land bebte vor leidenschaftlicher Entrüstung. Louis stand auf dem Berg der europäischen Sympathie. Und die Armee? War man der Armee noch sicher? Hatte man auch die Armee schon gewonnen? So fragten sich in Paris der Julikönig und in London der Prätendent.

»Die Armee schießt nicht auf Veteranen,« sagte Miss Gordon im Mai, »schmuggeln Sie sich nach Paris, führen Sie die Hunderttausend: und Sie bekommen im Nu hunderttausend Arbeiter und Studenten hinzu und die Armee wird vor Ihnen das Gewehr präsentieren.«

Louis dachte ein wenig nach und schüttelte dann den Kopf. Sie hatten eben von Leon gesprochen, der wieder in St. Denis die kleinen Mädchen und neuerdings in Paris Coëssinsche Patentlampen vertrieb; denn Coëssin war nicht nur Prophet, sondern auch Lampenfabrikant. Nach Miss Gordons Erkundigungen gab es zwischen der neuen Regierung und Leon keine Beziehungen, und Louis durfte es, nach seinem Londoner Gespräch mit ihm, glauben. Aber er sagte selbst der Gordon nichts von dieser ungewaschenen Unterhaltung nach der Komödie der Ehrenwäsche, er hätte sie gerne vergessen und dachte doch viel zu oft an das verschliffene Gesicht der echten Illegitimität. Was für eine Formulierung! Er dachte wieder an Leon, als Miss Gordon den verwegenen und vielleicht großartigen Gedanken aufwarf, den Marsch der Veteranen mitzumarschieren, als die Inkarnation der Legende. – Ich schmuggle mich nach Paris und der Zöllner Leon entdeckt mich, er findet mich unfehlbar, er hängt sich an mich, er macht mich gemein mit sich, er wird seine Formulierungen brüllen und mir den großen Augenblick vom Leibe ziehen wie einen kostbaren Mantel und ihn sich selber umhängen oder für weniger als dreißig Silberlinge verkaufen – nein, es geht nicht, ich muß für ihn unerreichbar sein, wenn ich komme: ich muß schon die Entscheidung im Gefolge haben. – Louis hatte vor Leon Angst; aber das gestand er nicht; er sagte: »Nein, Leonore, ich mache aus diesem Sarkophag kein trojanisches Pferd und ich bin kein Leichenfledderer.«

»Ich begreife, oh, ich begreife,« erwiderte sie und ihre Augen wurden zärtlich und dunkel vor Bewunderung; »aber die Armee … wie steht es mit Lille?«

Louis liebte nicht solche Fragen und Miss Gordons mächtiges Sehnsuchtsgesicht kam ihm zu nahe. »Ach Gott,« wich er aus, »mein tüchtiger, neuer Mann Mésonan bearbeitet immer noch seinen alten Freund, den kommandierenden General, und ist immer noch nicht verhaftet.«

Doch Lille, von Louis als Einbruchsstelle und Aktionsbasis in Aussicht genommen, wurde eine Enttäuschung. Der Garnisonschef namens Magnan, der als einfacher Soldat die napoleonische Glücksleiter hinaufgeklettert und in Louis' Militärakten mit drei bedeutsamen Ausrufungszeichen ausgezeichnet war, winkte schließlich ziemlich energisch ab, wenn er auch seinen alten Freund, den früheren Generalstäbler Graf Mésonan, der sich ungemein freimütig als Louis' Funktionär bekannte und ihm dreihunderttausend Franken und den Marschallstab anbot, auch nach dem dritten Besuch wieder aus Lille herausließ. Man konnte, wenn man wollte, daraus schließen, daß das Herz des Generals von einer anderen Loyalität erfüllt war als das kommandierende Hirn. Louis wenigstens dachte so. Er war in diesen Monaten der Vorbereitung von einer Gutgläubigkeit, die ihn zuweilen selber überraschte. Und als seine Verbindungsoffiziere statt des Liller Chefs einen kleinen Leutnant von den Zweiundvierzigern, die zum Teil in St. Omer zum Teil in Boulogne standen, nach London brachte, einen geräuschvollen und redefreudigen jungen Mann namens Aladenize, nahm Louis den Tausch an, sagte sich gerne, daß man mit einer sehr schwachen Garnison leichter fertig würde als mit einer sehr starken und daß ein kleiner begeisterter Leutnant die beiden Garnisonskompagnien von Boulogne sehr viel rascher gewinnen könne, als das Herz des Festungskommandanten sein bedenkliches Hirn.

»Ein Arzt kann doch nähen?« fragte Louis seinen Freund Conneau.

»Ja,« sagte der Doktor, »Wunden.«

»Ich hätte für Sie eine berufsfernere, aber angenehmere Näharbeit,« lächelte Louis, »Knöpfe.«

Der Arzt meinte etwas verwundert: »Im Hause sind ein Dutzend Diener, ein gelernter Schneider, zwei Weißnäherinen …«

»Aber nur ein Conneau,« unterbrach Louis und öffnete eine Pappschachtel mit Uniformknöpfen, die die Nummer 40 trugen.

Der stille Conneau saß in seinem Zimmer und nähte die Knöpfe an die Infanterieuniformen. Er war nicht neugierig, er fragte nichts. »Die Vierziger,« sagte ihm Louis eines Tages, ohne Einleitung, »sind Garnison Dünkirchen. Die Zweiundvierziger von Boulogne sollen denken, es seien die Dünkirchener.«

»Ja,« sagte Conneau und nähte. –

»Doktor,« sagte Louis eines Tages, »es sind auf Ihren Namen ein Setzkasten, eine kleine Druckerpresse und tausend Blatt Plakatpapier bestellt worden. Damit Sie Bescheid wissen.«

»Ich weiß Bescheid,« lächelte Conneau.

Louis diktierte dem Arzt eine Proklamation an die Armee, einen Aufruf an die Einwohner von Boulogne und dem Pas de Calais, er diktierte mit näselnder Stimme ein Dekret:

»Der Prinz Napoleon, im Namen des französischen Volkes, ordnet das Folgende an:

Die Dynastie der Bourbons von Orleans hat zu regieren aufgehört.

Das französische Volk ist in seine Rechte wieder eingesetzt.

Die Truppen sind ihres Treueides entbunden.

Die Pairskammer und das Abgeordnetenhaus sind aufgelöst. Eine Nationalversammlung wird sofort nach der Ankunft des Prinzen in Paris einberufen.

Ministerpräsident Thiers wird zum Präsidenten der Provisorischen Regierung ernannt …«

Conneau hob den Kopf; er war nicht neugierig, aber er fragte doch: »Thiers?«

»Ja,« sagte Louis, »Thiers,« und diktierte weiter.

»Ort und Datum,« verlangte Conneau zum Schluß.

»Boulogne, 1840, dazwischen setzen Sie Punkte.«

Der Arzt sah auf. »Sie werden doch wenigstens den Monat wissen, Prinz.«

»Nein,« sagte Louis, »ich weiß ihn nicht.«

Conneau setzte und druckte.

Dann diktierte Louis den eigentlichen Aktionsplan, wohlüberlegte und bis ins Kleinste gehende Anweisungen vom Augenblick der Landung im Hafen von Wimereux bis zur Besetzung der Kaserne, der Zitadelle, des Rathauses, der Unterpräfektur, der Banken und des Telegraphen von Boulogne. Jedem Offizier des Londoner Stabes wurde seine Aufgabe auf das Genaueste zugewiesen. Conneau erfuhr, daß auch er eine militärische Charge erhielt und zusammen mit einem polnischen Offizier, der vor einiger Zeit zu Louis gefunden hatte, die Nachhut kommandierte. Der Arzt sprach kein Wort. »In dreißig Exemplaren,« befahl Louis. Conneau nickte und ging mit dem engbeschriebenen Blatt zum Setzkasten.

»Wie denken Sie darüber?« fragte Louis leise.

Conneau suchte die Lettern zusammen. »Ich denke garnichts,« sagte er dabei, »ich hoffe.«

– Warum will er nichts denken? fragte sich Louis, was ich so sauber stilisiere und was sich so gefügig Letter an Letter zusammensetzen läßt wie ein Geduldspiel: ist es denn undenkbar? – Louis fand auf solche seltenen Zwischenfragen keine Antwort mehr und er hielt es für gut so. Er trug Scheuklappen und sah nicht mehr rechts und links vom Weg. Es ging sich nicht schlecht so.

Die Knöpfe saßen an den Uniformen, die Gewehre lagerten bei dem Strohmann in Gravesend und dort lag das geduldige Dampferchen, an Bord zwei Wagen, neun Pferde, fünfundzwanzig Kisten Wein, Bier, Branntwein, und wartete, die angeworbenen Leute lungerten in London herum und fanden das neue Leben angenehm; in Louis' Queen-Anne-Kommode war eine große, eiserne Kassette mit vierhunderttausend Franken in Banknoten, Gold und Silber, sein gesamtes Vermögen, von den in aller Diskretion verwunderten Baring Brothers abgehoben, der Prophet zeigte ein düsteres Gesicht und grellfarbige Sommerkleidung: es fehlte noch der Aktion das Datum.

Die »Belle Poule« schwamm mit dem toten N auf dem Atlantik. Welches Datum war das günstigste: vor der Ankunft, bei der Ankunft, nach der Ankunft? Miss Gordon kam Ende Juli und sagte: jetzt. Die Bewegung müsse im Aufstieg abgefangen werden, nicht auf dem Höhepunkt, der den Abstieg einleitet und außerdem durch das Schauspiel der Heimholung die Leidenschaften von der Politik abzieht. Jetzt sei das Volk labil und die Armee befangen; jetzt genüge ein Anfangserfolg, um die Lawine ins Rollen zu bringen. Lasse man die Zeit verstreichen, so riskiere man, daß die Bewegung in der Totenfeier erstarre. So rieten die Dunkelmänner, und es klang klug. Louis nickte zufrieden und erleichtert; denn der Wartezustand wurde auf die Dauer zu kostspielig und zu gefährlich.

»In den ersten Augusttagen,« sagte er und sah die Frau freundlich an. Miss Gordon beugte sich vor und ergriff seine Hand. Er ließ es geschehen, sie hatte es verdient, sie war ein guter und tapferer Mensch, sie war sein bester Kamerad, er streichelte ihre Hand. Ihr großes Gesicht, das nicht zu dem fetten Körper paßte, war scharf, trotzdem es flächig war, es war wach, angespannt und erfahren, von dem riskanten Leben hart angefaßt und mitgenommen. – Sie ist doch erst zweiunddreißig, so alt wie ich, überlegte Louis und sah unter ihren Augen die kleinen, winzig gerillten Hügel, die Tränensäcke werden wollten, – ich bin wahrhaftig erst zweiunddreißig, fuhr es ihm durch den Kopf. In den Augen der Frau, die durch seinen langen Blick verwirrt wurde, stiegen die Gefühle auf wie heiße Dämpfe und erhitzten plötzlich das Gesicht. Louis kannte den trüben Glanz, sie bekam wieder den alten Hunger, er mußte ihn zurückdrängen, bis der Prophet sich zur Verfügung stellte, er sagte rasch: »Sie haben die Mittelsmänner nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß die Aktion zunächst und zu allererst die Volksrechte wiederherstellt, daß ich also im Namen der Nation handele, daß in keiner meiner mündlichen und schriftlichen Aeußerungen die Staatsform und meine Stellung im Staat präjudiziert wird und daß nicht ich das Provisorium präsidiere, sondern eben Herr Thiers.«

Miss Gordon nickte langsam und dann sprach sie leise: »Louis, ich habe Angst.«

Louis zog seine Hand zurück. »Warum denn?« fragte er kühl. »Es gelingt oder es gelingt nicht. Und darüber wird es mir fast gleichgültig, ob es Thiers ehrlich oder nur halb ehrlich meint, also ob er den Umsturz wünscht oder, wie der Liller Kommandant, das Gelingen auf meiner Seite und das Mißlingen auf der anderen Seite mitmacht.«

»Louis,« flüsterte Miss Gordon und wollte wieder seine Hand haben, »ich sah den Mann niemals, ich kam nicht einmal in seine Nähe, ich kenne nicht einmal die richtigen Namen seiner Dunkelmänner, vielleicht sind sie nur Agenten der politischen Polizei; vielleicht lockt man Sie in die Falle …«

»Wo ist die Falle?« unterbrach Louis böse. »Frankreich? Eine mächtige Falle, nach der ich Sehnsucht habe. Der Sarg aus St. Helena? Dann bin ich gerne die Maus, die sie fangen wollen. Und ich darf Ihnen jetzt unseren Propheten holen: er ist im Augenblick für Schwarzseher zuständig.«

»Es waren die Nerven bei mir,« sagte sie still, »es wird alles gut gehen, Louis, es kann bei Ihnen nicht schlecht gehen.« Aber sie weinte, als sie allein war; denn seine kalte Hand war kein Abschied. Er war kein dankbarer Mensch.

Persigny kam, düster und zärtlich. »Ah, Tränen, Eleonore, Tränen um ihn und seine Lustfahrt, nicht wahr? Am 4. August in aller Frühe, nicht wahr? Er hat es mir eben gesagt. Er hat mir ausnahmsweise etwas gesagt. Ich habe ihm nichts gesagt. Ich weiß nichts und er weiß nichts. Aber dir sage ich es, chérie, damit du gut zu mir bist. Das wird eine traurige, eine endgültige Vergnügungsfahrt, die Fahrt über den Styx.«

Er liebte klassische Vergleiche. Miss Gordon schwieg und ließ sich küssen.

 

Es regnete. Als die »Edinburgh-Castle« in Ramsgate die letzte Gruppe des sorgfältig verteilten Expeditionskorps an Bord genommen hatte und sich das sanfte Grün von Kent in grauem, strähnigem nassem Nichts auflöste, wurde die See böig und bockig. Die beiden wüsten Schaufelräder, die viel zu groß für das kleine Dampfboot schienen und unter ungeheuren Kästen übertrieben tobten, hämmerten nicht nur auf das gehässige Wasser, sondern auch in den armen Köpfen der Fahrgäste. Das Schiff schlingerte, stieß, bebte und krachte unter der Doppelfeindschaft der Regensee und der Dampfmaschine. Die sechsundfünfzig Fahrgäste warteten still oder fluchend auf die Seekrankheit. Louis ließ Branntwein verteilen. Die Wirkung war gut.

Auch Louis wurde mißmutig, wie England verschwand und von der Welt nichts mehr übrig blieb als das tobsüchtige Schiff mit mürrischen, ängstlichen, ahnungsvollen oder gleichgültigen Menschen und das graue böse Meer mit der grauen Riesenflagge des Regens. Louis wollte an das Meer denken, das er kannte, in Farbe, Wucht und Laut, als Philosophie und schließlich als Hilfe; aber damals spielte sich das Meer allein auf, mit großartigem Anspruch, und das Schiff war leise und knatterte nur gehorsam oder gequält mit den Segeln oder knarrte im Gefüge: der Dampfhammer dieser Rüttelschmiede zerklopfte jeden Gedanken. Das war vielleicht gut. An was sollte man denken? An die Meerlehre von der großen Resignation? An die sechsundfünfzig unmutigen Gesichter, mit denen er Frankreich erobern wollte? An das niederträchtige Vorwurfsgesicht des Propheten, den er eben jetzt anschrie: »Wenn Sie lieber wieder die Reserve für die große Idee sein wollen, Herr Fialin, fahre ich gerne Ihretwegen nach Margate zurück!« und der vor wortlosem Kummer über dieses Unrecht beinahe sichtlich vom Fleisch fiel? Sollte er an die dreißig endlosen Stunden denken, die das Schiff noch hin und her zu kreuzen hatte, bis es soweit war? Er vertrug keinen Lärm. Es war der Dampfhammer, der ihm den Kopf schwer machte. Es war schlimmer noch als der Marsch hinter der Regimentspauke von Straßburg, die vielleicht an allem Unglück Schuld war. Das durfte nicht sein! Warum blieb im Mörser seines Kopfes, in den die Maschine mit dem genauen Eifer eines Uhrwerkes ihren Lärm stampfte, nichts anderes zurück als die verfluchte Skepsis? Angst? Angst! So hole doch die heroische, die prachtvolle, die beinahe römische Alternative hervor, die du dir in London zurecht gelegt hast, im Napoleonmuseum mit dem Tigerchen, das jetzt nach dir jaulen wird. Entweder – Oder! Entweder Ja oder Nein! Entweder Sieg oder eine Kugel in den Kopf! – Du glaubst es nicht, du würdest am liebsten lächeln, wenn du nicht den Ekel schon im Halse spürtest? – Er schüttelte sich. Nein, es war kein Ekel, vielleicht nur eine kleine Uebelkeit, und er durfte nicht seekrank werden. Er hörte in der Mannschaftskammer, in der die Angeworbenen saßen, das erste Lachen, mit dem der Schnaps über den Kleinmut siegte. »Cognac,« befahl er Thelin, »mir und allen Herren Cognac, Whisky, Gin, Benediktiner – was da ist.« Er trank ein großes Glas achtzehnhundertzwölfer Courvoisier, aus einer Flasche mit dem großen gekrönten N – ein Geschenk Onkel Josephs, der nichts ahnte oder nichts ahnen wollte. – Was war 1812? Rußland … – »Ein guter Jahrgang, Montholon!« rief er über den Tisch. Der alte General nickte mit grauem Gesicht. – Er weiß nicht, daß er übermorgen Höchstkommandierender ist, dachte Louis und wurde vergnügt.

Die Dampfschmiede wurde leiser, der lustige Kopf hörte immer weniger auf die wütende Mühe der Schaufelräder, alles wurde lustig und immer sachter: der Lärm, die See, der Regen und die Zeit. Louis war kein Trinker, trotzdem er viel vertrug, er war kein Liebender, trotzdem er viel liebte, kein Held, trotzdem er viel Mut, kein Feigling, trotzdem er viel Angst kannte. Vielleicht war er nur ein halber Mensch, weil er nicht außer sich geraten konnte. – Wie sie toben! dachte er und hörte den Wirtshauslärm aus der Mannschaftsmesse an wie ein gelungenes Konzert. Er hörte es ohne Neid, mit warmem und wohligem Bedacht. Er unterhielt behutsam und überlegt das eigene Feuerchen der kleinen, heiteren Trunkenheit und heizte den anderen ein, Offizieren und Mannschaften. »Wohl tausend Flaschen Wein, Bier und Schnaps!« sagte der Schiffskapitän zum ersten Steuermann, »eine verdammt lustige Ladung!« Auch er war nicht mehr nüchtern. Das trunkene Schiff kreuzte auf den Hüpfwellen des Kanals zwischen Dover und Hastings.

Der Prophet, der sehr viel trank – zuerst aus Grimm und dann aus Lust, zuerst mit schwarzer Sicht auf die Zukunft und dann immer heller blickend – glühte wie ein Eisen im Feuer und schmiedete sich mit Eifer in die rechte Form. »Ein Adler!« schrie er, »Adler an Bord!« Auf sein Geheiß schleppten zwei Matrosen einen Käfig mit einem kleinen schwarzweißen Fischadler herbei. Der Vogel gehörte dem Kapitän, der ihn einmal auf einem Hebriden-Inselchen mit zerschossenem Flügel aufgefunden hatte. Der Flügel oder vielmehr die dritte und längste Schwinge des spitzen Flügels blieb unbrauchbar und starrte mit scharfem Knick aus dem Gefieder. Der Adler schien den Verlust nicht verschmerzen zu können und zeigte sich zu jedermann gehässig. Er liebte nur den Kapitän, der ihn anrühren und ihn sich sogar auf die Schulter setzen durfte, vorausgesetzt, daß dort Speckstreifen bereit lagen. Trotzdem sich also das Tier zum symbolischen Gebrauch wenig eignete, erging sich der Prophet in schönen und etwas wirren Adlerreden (denn er wußte ja immer noch nichts Genaues und war überdies betrunken), während der Adlerkrüppel mit seinem bösen, kurzen, krummen, langhackigen Schnabel durch die Käfigstangen nach ihm hieb. Die Herren hatten einen großen Spaß daran, Persigny schrie gewaltig, weil er es ernst meinte, und Louis wurde schließlich ärgerlich, weil ihn der Prophet überreden wollte, den Dressurakt des Kapitäns mit Hilfe des Fettstreifens auf der Schulter nachzumachen. »Ich will keinen angeschossenen Adler, lieber Persigny,« sagte er bedeutsam und ließ das Tier hinausbringen. Die mißratene Parabel konnte die Lustigkeit seines Stabes in eine schiefe Richtung bringen. »Kein Adler im Käfig!« rief Louis und stand auf. Er fühlte, daß sein Kopf brannte. Er fühlte den glatten Anlauf des Rausches in den Mut.

Auch der Prophet erhob sich, er verstand sich auf Gedankenschlüsse. »Adler in Freiheit!« schrie er folgerichtig.

»Meine Herren!« rief Louis, »der freie Adler fliegt nach Frankreich!«

Die Offiziere waren aufgesprungen, der Lärm war abgeschlagen, es war ganz still. Louis hörte aus der Mannschaftsmesse johlenden Gesang und einen Dudelsack und Tanzgestampf. »Die Herren und alle Mann an Deck!« befahl er.

Es schien die Sonne, ja, es schien die Abendsonne durch zerrissenes Gewölk. »Sonne von Austerlitz,« flüsterte Persigny und hatte gerührte Augen. Wollte er wieder Stichwort geben? Louis nahm ihn beiseite. »Hören Sie, mein Lieber, der tote Kaiser kommt aus St. Helena und der lebende Bürger Louis Bonaparte aus London. Bitte merken Sie sich die Unterscheidung, sie ist für das Gelingen wichtig.« Die Mannschaft drängte sich auf Deck, zwinkerte in die Helle, sang, pfiff, war lustig und erwartete neues Vergnügen. Der Prophet sah den Prinzen betroffen an. Dann wandte er sich um und schrie zornig: »Ruhe!«

»Seid Ihr meine Freunde?« fragte der Prinz und mußte sehr laut sprechen, um den Lärm der nahen Schaufelräder zu übertönen.

»Ja!« schrie der Chor zurück.

»Noch näher kommen!« brüllte der vorsorgliche Persigny. Die sechsundfünfzig Männer umstanden in dichtem Schwarm ihren leutseligen Herrn. Der Schiffskapitän beugte sich über die Kommandobrücke. Er war neugierig; aber er verstand kein Französisch.

»Seid Ihr meine Schicksalsgefährten?« fragte Louis.

»Ja!« schrie der Chor mit Leidenschaft; denn es war bisher ein lustiges Schicksal.

»So hört zu!« sprach Louis. »Ich habe bisher meinen Plan für mich behalten, weil das Geheimnis zum Erfolg der Aktion gehört. Jetzt sollt Ihr alles wissen. Wir gehen nach Frankreich. Mich ruft Frankreich. Dort finden wir mächtige und ergebene Freunde. Der einzige Widerstand ist Boulogne. Haben wir ihn überwunden, ist der Erfolg gewiß. Zahlreiche Kräfte kommen uns dann zur Hilfe. So wahr, wie jetzt die Sonne durch die Wolken stößt, so wahr sind wir dann in ein paar Tagen in Paris. Und die Geschichte wird sagen, daß Ihr es gewesen seid, eine Handvoll tapferer Kerls, mit denen ich das große Werk schaffte. – Seid Ihr bereit?«

»Ja!« schrie der Chor. Es war ein ziemlich langer und holpriger Schrei, es waren Persigny, Conneau und die Offiziere, die ihn eröffneten, und dann erst fiel die Mannschaft ein. Man hatte nicht alles verstanden, der Prinz hatte keine große Stimme und eine etwas fremdartige Sprache. Man schrie mit, weil man den guten Herrn liebte und von seinem Wein noch voll war. Doch die Welt war plötzlich nicht mehr lustig, sie war noch betrunken, hob und senkte sich und wackelte nach rechts und links; aber das war nichts Heiteres mehr, sondern etwas Unsicheres und es wäre etwas Unheimliches und Unbegreifliches und bodenlos Trauriges, wenn nicht schon der würdige Mister Thelin von Mann zu Mann ginge und jedem fünf Goldstücke in die Hand drückte. Und in jedem Goldstück war ein Stückchen Sonne gefangen und es faßte sich gut an.

Als eine Stunde später statt lustiger Fahrgäste ernste französische Infanteristen mit aufgepflanztem Seitengewehr aus der Kajüte krochen, glaubte der Schiffskapitän, der zugleich abergläubisch und ungläubig war, wie alle Walliser, zugleich an Hexerei und an versoffenen Mummenschanz. Er bat den Prinzen um Aufklärung.

»Ja,« sagte Louis freundlich, »es sind französische Soldaten.«

»Das hier ist ein englisches Schiff,« bedeutete der Kapitän ernst.

»Wo sind wir jetzt?« fragte Louis, dem an der Debatte nichts zu liegen schien.

»Auf der Höhe von Folkestone. Und ich werde den Hafen anlaufen.«

»Sie werden Kurs auf die französische Küste nehmen und um Mitternacht vor Wimereux bei Boulogne ankern.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann lasse ich Sie erschießen,« sagte Louis und gab ihm eine Tausendfrancsnote.

Der Prophet stand dabei und fragte, als sie allein waren: »Wird diesmal geschossen, wenn es darauf ankommt?«

»Wenn es drauf ankommt,« sagte Louis und hatte das gleiche fremde und ungeahnte Gesicht wie auf Alfred d'Orsays Duellplatz zu Wimbledon, kurz bevor die Polizei kam.

 

Als die Schiffsmaschine stoppte, drehten sich die Schaufeln noch ein Weile brausend in den Ohren und verloren sich nur langsam im Nachdröhnen des Kopfes. Die Nacht war ausgesucht: sie war mondlos. Von einem unsichtbaren Kirchturm hatte es zwölf geschlagen: man war pünktlich. Louis stand an der Reeling und starrte auf die paar Lichtpunkte, die die Finsternis durchstachen. Die Finsternis war Frankreich. Es war wie in Straßburg, es fing mit der Finsternis an und mit der Wartezeit, die zäh und langsam wie Teer vertropfte. Der Kopf war schwer. In den Ohren stak es wie Watte. Allmählich drang die langatmige Melodie der Brandung durch.

Es schlug eins, man fror leicht. Dann endlich bekamen die Augen zu tun und es wurde eine heftige Bewegung für den ganzen Körper, man war warm im Nu. Drei neue Lichtchen durchbohrten die schwarze Wand, sie waren näher und niedriger als die alten – und sieh, sie bewegten sich, eng und ängstlich beieinander, sie drangen vor, sie waren jetzt dort, wo man eben noch glaubte, es sei noch Wasser und nicht schon Land – sie verlöschten, nein, das Mittellicht blieb und die beiden anderen wechselten die Farbe: zur Linken blau, zur Rechten rot. Es sah hübsch und unschuldig aus wie ein Kinderspiel. Blau Weiß Rot.

Der Schiffskapitän stand am Fallreep, salutierte und sagte sogar: »Good luck!« Louis, Conneau, Persigny, Montholon, Mésonan und zehn Mann stiegen in die Schaluppe. Das Wasser polterte zwischen Boot und Schiffsrumpf, das Boot schwankte, jemand faßte Louis' Hand und drückte sie, es konnte der Prophet oder der Arzt sein, es war sehr dunkel, das Boot schwankte und kam dann unter den kräftigen Ruderschlägen in Schwung, auf das Blauweißrot zu, das jetzt entfernter schien als von Bord aus. Das Wasser gluckste und regnete in regelmäßigen Abständen ins Boot. Louis zog die Pelerine enger, damit die beiden Pistolen im Gürtel nicht naß würden. – Es wird Conneau gewesen sein, entschied er für sich, immer noch an den Händedruck denkend. – Die Schaluppe knirschte auf Sand. Der Matrose am Heck half ihm beim Aussteigen, die Stiefel klatschten in Wasser.

Leutnant Aladenize stellte die beiden Kameraden von den Zweiundvierzigern vor, die er aus St. Omer mitgebracht hatte. Louis sah einen Augenblick ein rotes und ein blaues Gesicht, die sich vollkommen zu gleichen schienen. Aus dem schwarzen Nichts im Rücken glitt wieder eine Laterne. »Wer ist das?« – »Ich weiß nicht,« sagte Aladenize, nahm seine weiße Laterne in die Linke und öffnete mit der Rechten die Pistolentasche. Es war ein Zollbeamter. Der Fall war vorgesehen. Persigny, in Uniform, trat vor und sagte laut Anweisung: »Vierziger aus Dünkirchen auf Dienstfahrt nach Cherbourg – Maschinendefekt.« Der Zöllner leuchtete in die Runde. »Und dieser Herr?« fragte er und zeigte auf Louis, der Zivil trug. Die Frage war überraschend. »Ein Ingenieur der Reederei,« antwortete Persigny, zu dessen Begabungen die Geistesgegenwart gehörte. Der Beamte verschwand, ohne noch etwas zu sagen. »Er wird Alarm schlagen,« meinte Conneau. – »Dann nehmt ihn fest,« befahl Louis. Doch die Nacht hatte den Mann schon verschluckt. »Es gibt hier nur eine kleine Zollwache,« tröstete Aladenize. Die Schaluppe fuhr noch dreimal hin und her; dann war das Expeditionskorps an Land. An Bord blieb nur Thelin mit der Geldkassette, den Wagen und den Pferden. Die »Edimburgh-Castle« wird eine Stunde später langsam nach Boulogne dampfen und außerhalb des Hafens ankern, auf der Höhe der »Colonne de la Grande Armée«, wie es der Plan vorschrieb.

Als sich die Truppe in Marschordnung formierte, tauchten eilige Laternen auf. »Kurzen Prozeß machen,« befahl Louis, »wir haben wenig Zeit.« Der östliche Himmel wurde schon grau. Ehe sich der Zolleutnant und seine sechs Wächter versahen, waren ihnen die Waffen fortgenommen. »Der Prinz ist gelandet,« sagte Aladenize, »dort ist er, macht ihr freiwillig mit?« Der Zolleutnant sah auf Louis und schüttelte stumm den Kopf. Er wollte auch kein Geld nehmen. Er war sehr erschüttert, aber keine klägliche Figur. Graf Mésonan, ein jähzorniger Mann, zog den Säbel: »Sie kommen mit, ich mache Ihnen Beine!« Der Zolleutnant sagte leise: »Ich bin sehr müde.« Das war eine wunderliche Antwort, und sie nahm ein wie die sanfte und traurige Stimme. »Nur keinen Ballast!« rief Louis, um ihm zu helfen, »nur keine Schlafmützen! Nur keine Zeit verlieren!« Man ließ die Zöllner stehen.

Nach Boulogne war es eine kleine Stunde. Ueber die Landstraße fuhr ewig der Wind. Die Alleebäume neigten sich der Landseite zu, krumm durch den ewigen Fluchtversuch vor der See, Korn und Gras wollte fliehen, die Blusen der Bauern und die Röcke der Bäuerinnen zerrten die Menschen fort von der See, die ganze Landschaft drängte zur flachen, festen Linken, die See im Nacken. Louis hielt den Hut. – Es ist nicht heller als in Straßburg, dachte er. Es war fünf Uhr, als man durch die Porte de Calais in die Oberstadt marschierte. – Es dauerte drei Stunden in Straßburg, dachte Louis, von sechs bis neun.

Ein Haufen Infanteristen war nichts Auffälliges und ein Zivilist zwischen zahlreichen Offizieren zog keinen Blick an. – Man ist stiller hier, dachte Louis. Die Ziegelhäuser standen stumpf und unfroh in der blanken Frühsonne. Auf der Place d'Alton stand eine Militärwache: ein Sergeant und vier Mann. Offiziere sind zu grüßen, und es kamen da, unvermutet, aber blitzend leibhaftig, Uniformen hoher Grade. »An die Gewehre!« schrie der Sergeant, die Wache trat an, die Griffe knallten wie ein Griff, durch die Gesichter wie durch eines ging der Ruck der Ehrenbezeigung. Leutnant Aladenize kam heran, dem Sergeanten klopfte das Herz, aber das sah man nicht, und in seinem Gesicht flatterten nur die Augenlider: was war falsch gemacht? »Dort ist der Prinz,« sagte Aladenize und zeigte auf den Zivilisten, dem die Ehrung nicht galt, »Sergeant, kommen Sie mit uns!« – ›Der Prinz,‹ dachte Louis, es scheint zu genügen. – Der Sergeant bellte in knappem Satz, daß er ohne Befehl den Posten nicht verlassen dürfe. »Ihr Oberst schickt mich,« log Aladenize ohne Weiteres, »Sie können mir folgen; die Regierung hat gewechselt.« Der Sergeant rührte sich nicht, nur seine Augen rückten hin und her. »Bitte gehorsamst um schriftliche Order,« bellte er. Ganz hohe Uniformen kamen, kommandierten, baten, fluchten, drohten. Der Sergeant blieb stumm, selbst seine Augen rührten sich nicht mehr, die Soldaten standen wie Bildsäulen, unverrückbar. »Weiter! Weiter!« drängte der Zivilist und dachte: man ist hier lebloser. Auf der abschüssigen Grand'Rue begegneten sie einem Unterleutnant, der mit verwunderten Augen die Hand ans Käppi legte. Aladenize hielt ihn auf. »Sie sind es, lieber Maussion, Sie kennen nicht den Prinzen, ich stelle Sie vor,« und er packte ihn am Arm. Der junge Mensch riß die Kinderaugen auf und seine Nase wurde so weiß wie der weiße Handschuh seiner grüßenden Hand. »Ich freue mich,« sagte Louis, »ich hoffe, Sie gehören zu uns …« Er war nicht so liebenswürdig wie sonst, er konnte nicht einmal lächeln, es saß etwas in ihm, er dachte plötzlich an sein Tigerchen, ja, es saß eine Wut in ihm, sprungbereit und fauchend, unberechenbar und gänzlich fremd. Der Unterleutnant, der neben ihm ging, hatte immer noch die Hand am Käppi, seine Blicke flatterten rechts und links die Häuser hinauf, und plötzlich riß er sich auf den Bürgersteig, die Hand am Käppi, stammelte mit losem Kinn: »Verzeihung … hier wäre ich …« und verschwand in einem Torweg. Aladenize wollte ihm nach. »Weiter! Weiter!« schrie Louis und sein Gesicht war gelb.

Die Unterstadt war neugieriger; vielleicht war es Freude am Militär, vielleicht gingen schon Gerüchte um. Als die Truppe zur Kaserne kam, hatte sie schon einen Troß stummer Mitläufer. Aladenize ging zur Schildwache: »Posten, rufen Sie die Wache heraus! Hier ist der Prinz!« Aladenize war Regimentsoffizier, wenn auch aus St. Omer, der Posten gehorchte, die Wache trat unters Gewehr, die Trommel wirbelte, Louis und die Truppe trat unbehindert durch das offene Tor in den leeren Kasernenhof. Persigny übernahm mit einigen Leuten die Sicherung des Portals, gemäß der gedruckten Anweisung. Zwei Unteroffiziere kamen aus der Kaserne in den Hof und blieben verdutzt stehen. Aladenize winkte ihnen: »Hier ist der Prinz!« er holte sie, er schleppte sie an den Händen heran. »Zwei von der alten Garde, Hoheit, die Achselstücke verdient haben.« – »Ja, ja,« sagte Louis seltsam ungeduldig, »Sie sind Offizier, Sie sind auch Offizier, weiter! weiter! Antreten lassen!« Aladenize zog die beiden fassungslosen Korporale in die Kaserne, um die Kompagnien auf den Hof zu bringen. Vor dem Hofportal war inzwischen die Menge der Neugierigen angeschwollen. Persigny beschloß, sowohl nach der gedruckten wie nach eigener Weisung zu handeln. Er hielt eine kleine wirksame Ansprache, warf Silber- und Kupfermünzen unter die Leute und rief: »Jetzt, Leute, schreit tüchtig mit mir: Es lebe der Kaiser!« Das rief er entgegen der gedruckten und der mündlichen Order Louis', aber unter dem Eindruck des Anmarsches, bei dem sich die prinzliche Würde als nicht unbedingt zugkräftig erwies und bei dem sich bereits ahnen ließ, daß es weder richtig noch nützlich gewesen sei, ihn, Persigny, kaltgestellt zu haben. Die dankbaren Leute schrien tüchtig mit, Louis fuhr herum und zeigte ein böses Gesicht – ein sonderbar gehässiges Gesicht, dachte der Prophet und deutete mit ausgebreiteten Armen an, daß er für dieses spontane Vivat nicht verantwortlich sei, so sehr es ihm das Herz wärme.

Endlich standen die beiden Kompagnien in dichtem Viereck auf dem Hof, Louis sah Käppi an Käppi, blau und rot, die Sonne tanzte über die kaum durchbrochene Lackwelle der Mützenschilder. – Keiner will mich, dachte Louis, keiner hat ein Gesicht für diesen Augenblick. Wo ist die Macht, die taube Köpfe schütteln kann, schütteln, biegen oder brechen? Er hatte sie nicht, er stand wieder an einer windigen Außenseite des Geschehens und drinnen im Land verstrich seine Stunde, seine Stunde. Sein Kopf ging nicht durch diese buntbekappte Wand der strammen Gleichgültigkeit, der vielgliedrigen Dummheit im Quadrat, er drang nicht durch, seine Stimme drang nicht durch und sein Mund redete doch schon ziemlich lange, »Soldaten!« und »Kameraden!« und »erniedrigtes Frankreich!« und immer wieder »Ich bin gekommen.« Der Prophet vor dem Portal dachte verzweifelt: er spricht viel zu leise, man hört hier überhaupt nicht, daß er spricht, die Kompagnie steht wie ein Eisblock, es gibt ein Unglück … Persigny verließ seinen Posten, entgegen der Order, er wollte eingreifen und Feuer machen, er, der einzig brauchbare Blasebalg der Idee. Aber Louis hatte schon geendet und kein Splitter eines Rufes löste sich aus dem geballten Schweigen. Leutnant Aladenize sprang mutig in das Loch der bösen Stille. »Sergeantmajor Clément!« schrie er, »treten Sie vor! Der Prinz dankt Ihnen durch verdientes Avancement!« Er zerrte einen alten Feldwebel aus dem ersten Glied. »Hauptmann,« sagte Louis ganz leise; denn die Wut hielt ihm die Kinnlade zu, »Sie sind Hauptmann. Zufrieden?«

Es war ein Fehler, daß Persigny seinen Posten am Torgitter verließ; denn es kamen im Laufschritt, die blanken Säbel in der Hand, der Unterleutnant mit den Kinderaugen und die beiden Kompagniechefs mit etlichen Offizieren, Persigny hätte sie gewiß nicht durchgelassen; aber die paar falschen Vierziger der Torwache ließen sich die Bajonette beiseite schlagen und zuckten nur mit den Schultern. Für sie und auch für das übrige Expeditionskorps war das Wechselbad des Schicksals zu heftig. »Die Kompagnien hören nur auf mein Kommando!« brüllte der Rangältere der beiden Hauptleute und arbeitete sich mit seinen Offizieren tapfer durch die Insurgenten.

Louis trat etwas beiseite. Er wußte, was kam. Er kannte die Szene von Straßburg her. Er kannte den geschrieenen Dialog, Persigny und Aladenize konnten nicht schlechter brüllen als damals Vaudrey, und sie versprachen sich nicht einmal auf jene fatale Art; und die Boulogner Offiziere der Gegenseite, von den plötzlich lebendigen Kompagnien schnell aus dem Haufen der falschen Vierziger gerissen, kommandierten so gut wie die Straßburger. Hoch der Kaiser und hoch der König und Frankreich hier und Frankreich dort, Verräter hier, Verräter dort. »Packt das Pack!« so schrien die Straßburger, und Louis glaubte, die Boulogner, die jetzt wie die Straßburger den kleinen Haufen der Feinde gegen das Gittertor drängten, schrien es auch. Er wußte es nicht genau, das Blut klirrte ihm in den Ohren und die Wut trieb trübe Wolken über den Blick. Aber das Hirn arbeitete scharf und schnell: die echten Zweiundvierziger hatten nur ihre Exerziergewehre, die falschen Vierziger hatten scharf geladen, das glich die Uebermacht aus. »Feuer,« sagte er. Er schrie es nicht, er sagte es nur, das Kinn war gefroren, man hörte es nicht im Radau, vielleicht wollte man es auch nicht hören, denn nur die Offiziere leisteten Widerstand, die falschen Vierziger flossen ziemlich eilig zum Tor hinaus. Die Wut war da, die Pistole war in der Hand, und Louis wußte nicht mehr, wann er sie gezogen hatte, und ein dummer abgewetzter trübbrauner Gewehrkolben rückte an, ein dummes rotes gesundes Gesicht mit Käppi und Nußknackerkinn, die Pistole schoß. Der Knall schlug bis ins Herz zurück und stach in die Schläfen, Louis stieß einen kleinen Schrei aus, so weh tat es. Die Pistole fiel in den Sand. Der Kolben drüben fiel auf die derben Infanteristenstiefel und das Gewehr klatschte steif auf den Boden, als sei es erschossen. Der Mann schlug die groben roten Hände ans Kinn, die eine Hand drückte die andere Hand ans Kinn, aber er fiel nicht, er stand und auch sein dummes rotes Gesicht blieb stehen, unverändert, zwischen den Fingern kroch Blut hervor und kroch über das Handgelenk in den Tunnel des Uniformärmels. Louis starrte ihn an und wartete, daß er hinfiele wie das Gewehr, stocksteif. Aber er stand, stocksteif. Alle Zweiundvierziger standen, durch den Schuß an ihre Spielgewehre erinnert. Die falschen Vierziger drängten noch eiliger auf die Straße; denn sie glaubten an einen Zweiundvierziger Schuß und vergaßen die eigene Munition. Persigny und Conneau nahmen Louis in die Mitte und zogen ihn fort. »Nur ein Streifschuß,« sagte der Arzt, als könne er Gedanken lesen.

Die Menge vor der Kaserne wurde sich über das Gebalge der gleichen Uniformen und auch über den Sieger nicht klar, und da sie an die Münzen dachten, ließen sie den Kaiser leben. Die Zweiundvierziger drängten nicht sofort nach, weil sie Munition fassen mußten; aber sie schlugen Generalmarsch und Ordonnanzen fegten aus den Seitenpforten zu den zivilen und militärischen Behörden.

Louis grüßte mechanisch die Menge. Von St. Nicolas schlug es sechs. Louis zählte mit: erst eine Stunde, dachte er, noch zwei. Er gab es noch nicht auf, als müßte die Zeit ausgefüllt werden. Was war denn geschehen? Die Kaserne war nicht genommen. Aber kein Mann war verloren und die Menge schrie Vivat und es gab den berühmten Unterschied zwischen Strategie und Taktik. »Zum Schloß!« kommandierte er. Die alte Zitadelle, die die Oberstadt beherrschte und das Arsenal beherbergte, war eigentlich der strategische Punkt zwei. Gut, man wird die Reihenfolge vertauschen, mit dem Arsenal hat man die Gewalt über die Stadt, also auch über die Kaserne. »Schnell zum Schloß, bevor der Alarm hinaufgelangt!«

»Sire,« sagte der Prophet, »geben wir es auf. Gehen wir zum Kai, dann kommen wir vielleicht noch durch und aufs Schiff zurück.«

»Gehen Sie allein!« rief Louis böse, »im Interesse der Idee!« Die Wut war noch nicht abgesprungen, der Schuß war vergessen. Er erinnerte an die Anweisung. »Geld und Proklamationen verteilen!«

Conneau griff sich an die Stirn. »Louis,« sagte er leise, »die Aufrufe und das Dekret haben noch immer kein Datum.«

Louis sah ihn an. Man hatte es vergessen, in London vor plötzlicher Eile, auf dem Schiff vor Lustigkeit. »Es macht nichts,« sagte er leise, »der Tag ist vielleicht gar nicht so erwähnenswert.«

Der Prophet verteilte Münzen, mit tragischem Gesicht. Zwei Soldaten verteilten Blätter. So kam man gut vorwärts. Man marschierte wieder die steile Grand'Rue hinauf. Vor der Unterpräfektur stand eine dünne Kette Stadtpolizisten und versperrte die Straße. Ein würdiger Herr in Zivil hob schon von weitem die Hand. Es war der Unterpräfekt selber, der Louis höflich grüßte und ihn bat, sich zu ergeben, da die Nationalgarde, die Garnison und die Gendarmerie mobilisiert werden, insgesamt zweitausend Mann, also jeder Widerstand zweckslos sei.

»Geben Sie die Straße frei,« befahl Louis.

»Sie ist schon frei!« schrie Graf Mésonan, der jähzornige Mann, stieß mit dem Säbelknauf gegen das respektable Bäuchlein des Unterpräfekten, und als der Führer umfiel, ließen sich die zehn Polizeisoldaten gerne rechts und links gegen die Häuser drücken. Die Truppe kletterte durch die Porte des Dunes in die Oberstadt. Es war schon sehr heiß, man schwitzte. In der Unterstadt tobten Trompeten.

Von St. Joseph schlug es sieben, Louis stöhnte und zählte mit. Die Truppe stand schon geraume Zeit vor dem ungeheuren, eisenbeschlagenen Außentor der Zitadelle. Das Tor war geschlossen, es ließ sich mit Gewehrkolben und einer requirierten Axt bearbeiten, und wenn es hätte lachen können, hätte es gelacht; aber es stand schwer und quer und preßte seine Jahrhunderte zur Wand aus Holz und Eisen zusammen und sah aus, als sei es noch niemals offen gewesen. Louis trommelte mit den dürftigen Fäusten gegen die Säkularsperre und es klang, als schlüge er gegen einen Felsen, nicht gegen eine Tür. – Mich quälen die Zitadellen, dachte er nur.

»Sire,« sagte der Prophet, »unsere Armee schmilzt uns derweilen.«

Louis wandte sich um. Es stimmte. Die falschen Vierziger waren weniger geworden, manche hatten wohl schon genug und waren verschwunden. Louis' Gesicht war gelb und naß. – Er schwitzt vor Widerspenstigkeit, dachte Persigny. – Er weint ja, dachte Conneau.

»Zur Säule,« befahl Louis fast ohne Stimme.

Die Säule der Großen Armee hatte der große N vor sechsunddreißig Jahren errichtet, damit ein Andenken an das großartige, aber vergebliche Lager von Boulogne bleibe. Man konnte auf die Plattform steigen und von dort, bei guter Sicht, das fatale England sehen, dem damals die große Lagermühe galt. Die Sicht war gut; aber Louis verlangte es nach keinem Ausblick. Ein Offizier nur stieg hinauf, um oben die Trikolore anzubringen. Das war kein Siegeszeichen, sondern das Notsignal; es befahl der »Edimburgh-Castle«, die mit dünnem Rauchfaden an der befohlenen Stelle lag, die Schaluppe klar zu machen.

Die Säule steht auf der Hochfläche im Norden der Stadt, unweit der Staatsstraße nach Calais. Aladenize hatte die Truppe auf Umwegen hinaufgeführt, und als sie oben war, sah sie schon auf der Chaussee die Staubschlange der Verfolger. Die Sicht war gut, aus der großen Staubwoge schoß eine kleine Staubwelle; das waren die berittenen Gendarme. Man hatte die Rebellen an der Säule entdeckt. Jetzt zerfiel die Truppe, die falschen Vierziger rollten den Hang hinunter zum Strand, die Gewehre, die Käppi und sogar die Uniformröcke fielen von den Laufenden ab; denn sie wollten schnell laufen und ohne die ungehörigen Kennzeichen. Die Offiziere blieben noch; aber sie traten schon auf der Stelle, als glühte der Boden durch die Stiefelsohlen. »Los, um Gotteswillen, Louis, schnell, schnell!« drängte Persigny. Doch Louis hatte es jetzt nicht eilig, er konnte nicht schnell sein, die Beine waren plötzlich so steif wie das Kinn. »Geht nur,« sagte er mühsam, »lauft nur!« Er ging um den Säulensockel herum und sah die enggehäufte waffenstarrende, kriegsmutige Allegorie der Bronzereliefs. Er sah die Säule hinauf. Sie war immer noch nicht ganz fertig, es fehlte immer noch über dem dorischen Kapitäl die Kaiserstatue: aber das würde jetzt sehr bald nachgeholt werden; denn die Zeit für den toten N war gekommen. Der Mut ist ein Bronze-Relief, das gekrönte N kommt aufs Grabmal, die Legende ins Museum, die Zeit kommt nicht zu dem Lebenden.

Entweder-Oder: man hat ja schon die zweite Pistole in der Hand. Die erste liegt auf dem Kasernenhof, es ist gut, daß man zwei Pistolen hat, und beide kommen vielleicht ins Museum. Aber die zweite Pistole schießt nicht, sie ist spöttisch, sie warnt vor den unausstehlichen Melodramen. Lieber die komische Oper, nicht wahr, oder die Operette. Du entgehst nicht der Operette und würgst ganz tapfer den Ekel hinunter. Und die Wut? Und die Wut? Oh, sie ist noch da; aber sie gilt der fremden Dummheit, nicht der eigenen. Und weil die Wut so groß ist und weil man heult vor Wut, daß man hier verliert und in Paris gewonnen hätte, tut man diesem pathetischen Monument der Vergeblichkeit nicht den Gefallen, sich beim römischen Wort zu nehmen …

»Louis!« schrie Conneau und riß ihm die Pistole aus der Hand. Louis mußte lächeln, er konnte nicht anders.

Und dann liefen die Beine. Wie sie mit einemmal laufen konnten! Wie es ihn ritt, daß er der Dummheit entliefe! Er sah, bergabstürmend, daß die berittenen Gendarmen einer Gruppe nachsetzten, die zur Linken der Ostmole zu flohen. Er hielt sich nach rechts. Der Seewind setzte ihm zu und riß ihm den Hut vom Kopf, der doch nicht der Kleine Hut von Straßburg war, und jetzt kam er in den Dünensand. Die Beine arbeiteten wie Maschinenkolben, es ging langsamer, aber er kam vorwärts, er kam zum Strand, er sah draußen das vierschrötige Dampfboot. Aber er sah keine Schaluppe.

Persigny, blutrot und mit wehenden Backenbartbüscheln, Conneau, Mésonan trabten heran, hinter ihnen die anderen Offiziere. Nur den alten Montholon hatten sie schon gefangen und Parquin und Aladenize und fünf andere, die zur Ostmole liefen, und den Offizier, der die Fahne auf die Säule steckte.

Die am Strand winkten und schrien dem tauben Dampfboot. Nationalgarde und Zweiundvierziger kletterten die Dünen herab. Hundert Meter vom Strand wackelte ein abgetakeltes Segelboot an der Boje. »Los!« schrie Louis, der an sein Leben glaubte, und sprang ins Wasser. Persigny, Conneau, Mésonan und noch fünf andere folgten ihm.

Die Uebrigen blieben am Strand, dicht zusammengedrängt, und hoben die Hände. Die ersten Schüsse rissen durch das Wasser.

Die Nationalgardisten schossen auf die Köpfe im Wasser. Einer versank. Louis, ein guter Schwimmer und oft tauchend, war der erste an der Boje. – Ich komme davon, dachte er. Da die anderen alle auf der Seite, die dem Land abgewandt war, ins Boot steigen wollten, schlug es um. Sie kletterten auf das Wrack. Die Nationalgardisten schossen wie auf Zielscheiben. Getroffen wurden: Oberst Voisin, Hauptmann d'Hunin und die Leutnants Vilugin, Salvani und Faure. Sie sackten ins Wasser, einen schnell verspülten Schwaden Blut hinterlassend. Louis an der Boje sah noch das furchtbar schiefe und verzweifelte Gesicht des Propheten mit zwei ganz dünnen drahtigen tropfenden Backenbartschnüren: dann schlug es scharf gegen seine Schulter und er versank. Aber er verlor nicht die Besinnung, er konnte auch die Arme rühren und tauchte auf. Er sah, daß die Kugel nur die Schulterwattierung des Anzugs aufgerissen und kaum die Haut geritzt hatte. Er schaute auf: die Freunde klebten noch auf dem Wrack und es schoß nicht mehr. Er wandte den Kopf: ach Gott, die Schaluppe kam! Er schwamm ihr mit kraftvollen Stößen entgegen. – Mein Stern, dachte er, mein Stern! – Man zog ihn an Bord.

In der Schaluppe saß der Hafenkapitän von Boulogne, der die »Edimburgh-Castle« beschlagnahmt hatte. Louis zitterte vor Kälte. Am Land lieh ihm ein gewisser Herr Lejeune, Bauunternehmer und Kapitän der Nationalgarde, seinen Uniformrock. Herr Lejeune war sehr groß und dick. Louis verschwand in der Riesenjacke und seine Hände gelangten nicht aus den Aermeln. Als er mit dem Unterpräfekten und dem Maire in eine Droschke stieg, schlug es von St. Peter Acht.

 

Ende des zweiten Buches

 


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