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Zweiter Teil
Von der Wirtschaft, der Technik und den Menschen

Die Tatsache, daß wir in einem anderen Wirtschaftsleben darin stehen als unsere Großväter, bedarf nicht vieler Ausführungen. Es braucht nicht erst beschrieben zu werden, wie klein früher der Hamburger Hafen war, wie leer das oberschlesische Kohlenfeld aussah, oder wie sehr der Qualm der chemischen Industrie die Ebene am Mittelrhein verändert hat. Postkutsche und Schnellzug, Rüböl und elektrische Lampe sind oft genug einander gegenübergestellt worden. Man lese Goethes »Hermann und Dorothea«, wenn man die alte Welt haben will! Es gab ein deutsches Volk, das war von einer durch Jahrhunderte erprobten braven Stetigkeit, ein Volk der Bauern und Handwerker, das seinen Acker väterlich bebaute und sein Gewerbe nach heimatlicher Kunst pflegte, ein Volk, das noch Zeit hatte und noch Platz, und das bei aller materiellen Dürftigkeit einen Luxus besaß, den wir verlieren, den Hintergrund einer noch nicht völlig überwältigten Natur, die Romantik des alten Waldes, der alten Straße und auch der alten Stadt und des alten Hauses. Dieses alte Volk aber sah in sich ein neues Volk erwachsen. Seine eigenen Kinder wurden ihm fremd, denn das Bauernkind ward Schaffner an der Straßenbahn, und der Sohn des Tagelöhners stieg unter die Erde, um Kohle zu graben. Die Söhne von Menschen, die nie etwas anderes erlebt haben als landwirtschaftliches Dasein, fangen an, Schienen zu walzen, und die Nachfolger der alten Handwerker werden Fabrikanten oder Maschinenknechte. Aus dem alten langsamen Kaufmann wird ein reisender und Ware anpreisender Händler, aus Büchern werden Zeitungen, und die alte trauliche, aber etwas langatmige Stille weicht einem gedruckten Massengeschwätz, in das allmählich das ganze Volk hineingezogen wird. Einst waren es wenige Vorstellungen, mit denen die Seele ihren Haushalt bestritt, nun aber wird jedermann mit Nachrichten und Abbildungen Übergossen, die er beim besten Willen nicht alle in sich verarbeiten kann. Damit hat das Seelenleben selber eine andere Gangart angenommen, der Rhythmus der Arbeit ist schneller geworden, und erst heute scheint das alte Wort der Bibel einige Wahrheit zu haben: es ist, als flögen wir dahin!

Und alle diese und zahllose andere Änderungen unseres Daseins sind offenbar keineswegs an ihrem Ende angelangt. Wir werden im Laufe der Zeit noch schneller fahren, noch heller beleuchten, noch schärfer rechnen, noch mehr telephonieren, noch mehr drucken, noch viel größere Betriebe erstehen sehen und auf gigantischen Arbeitsplätzen Tausende von Lohnarbeitern vereinigt finden; werden erleben, wie sich noch viel mehr Kapital an gewissen Zentralstellen sammelt, wie die Großstädte unübersehbar werden, wie die Lagerhäuser sich ins Ungemessene weiten und wie der Ozean sich mit immer mehreren und größeren Schiffen füllt. Während nämlich frühere, stillere Zeiten sich leicht in dem Glänze sonnten, wie herrlich weit sie es gebracht hätten, und sich am Abschluß einer langen Entwicklungsreihe glaubten, ist bei uns das viel verbreitetere Gefühl das umgekehrte, daß wir uns erst am Anfang neuer Lebensformen befinden, am Vorabend einer Zeit, deren Wesen sich uns noch kaum enthüllt hat. Nach uns, erst nach uns, so fühlen wir, kommt das wirklich neue, das Zeitalter der Maschine in seiner Macht, Herrlichkeit und Vergewaltigung, das Zeitalter des Weltmarktes und der Erdumspannung, die Periode des sich vollendenden Kapitalismus und vielleicht die Morgenröte des Sozialismus.

Ob wir diese neue Zeit wünschen sollen, wissen wir nicht, sie hat in ihrem Riesengesicht Falten, die uns in Schrecken setzen. Aber unser Wünschen ist ja in der Hauptsache völlig gleichgültig. Die neue Zeit kommt mit uns oder gegen uns, sie lacht nicht einmal über uns, wenn wir sie nicht wollen. Wie eine wandelnde Düne wälzt sie sich über uns daher, ein Schicksal, das erst dann ausreifen wird, wenn die Augen derer, die es herannahen sehen, sich längst geschlossen haben. Diese Zeit in ihrer Gesamtwirkung aufhalten zu wollen, würde Torheit sein. Was sind alle bewußten Maßnahmen, alle Gesetze der Menschen, gegen das Fatum, das Geschick im Wirtschaftsleben? Der bewußte Wille kann den Charakter einer Wirtschaftszeit im ganzen nicht bestimmen, er kann nur auf Grund richtiger Einsicht in diesen Charakter den Lebenden die Brutalität der Übergänge erleichtern und die gewonnenen seelischen Werte der Vergangenheit vor blinder Verschüttung zu schützen suchen, er kann die Rechtsformen dem Wandel der Wirklichkeiten anpassen und Ansätze, die freundliche Entwicklungen zu versprechen scheinen, mit Absichtlichkeit fördern. Er kann also nur etwas, nicht alles, er ist nicht der Demiurg, das heißt der Schöpfer der Lebensbedingungen. Das große Werden selber liegt tiefer als das regelnde und ordnende Wollen, es ist seiner Natur nach etwas Unreguliertes, Überwältigendes, dem einen zum Heil, dem andern zur Plage. Vor ihm stehen wir wie Kinder am Strande: Warum steigen die Wellen? Warum?

Drei Möglichkeiten gibt es, dieses Werden zu erklären. Die erste Erklärung ist wesentlich ideologisch, das heißt, sie sieht als den ersten Faktor des neuen Wirtschaftslebens gewisse Ideen an, die das Handeln der Menschen belebt und in neue Bahnen gedrängt haben. Die zweite Erklärung ist wesentlich technologisch, das heißt, sie sucht den Umgestaltungsvorgang aus der veränderten Methode der Arbeit, des Handels und des Verkehrs zu begreifen. Die dritte Erklärung ist, wenn man so sagen will, anthropologisch, das heißt, sie sieht den Hauptvorgang der neuen Zeit in einer Steigerung der menschlichen Lebenskraft, deren erstes Kennzeichen die Bevölkerungsvermehrung ist. Keine dieser drei Erklärungen schließt die beiden anderen aus, vielmehr liegt die Sache so, daß gleichzeitig neue Ideen, neue Technik und neue physische Kraft bei den abendländischen Völkern auftreten. Es fragt sich nur, welcher dieser drei Erklärungen der erste Platz eingeräumt werden soll. Was ist das primum movens, was ist die Hauptursache der neuzeitlichen Wirtschaft? Wir antworten: Die Vermehrung der Masse der Menschen, der Zuwachs volkswirtschaftlicher Kräfte!

 

Der erste Gedanke der anthropologischen Anschauungsweise ist ein Stück Geschichtsphilosophie und kann hier nur angedeutet werden: die Weltgeschichte besteht aus dem Aufsteigen und Sinken von Völkern, von denen die einen kommen, die anderen gehen. Weshalb kommen sie, warum gehen sie? Man sagt, daß sie kommen, wenn sie jung sind, und gehen, wenn sie alt werden. Aber was heißt das bei Völkern? Hier liegen unergründete Tiefen. Die Behandlung der Rassenfragen, denen sich in neuerer Zeit auffällig viele Kräfte zuwenden, versucht das Dunkel zu lichten, noch aber ist die Unklarheit größer als das Licht. Wir können hier nichts anderes tun, als von der Tatsache ausgehen, daß wir geschichtliche Wachstumszeit haben, und zwar nicht wir Deutsche allein, sondern die ganze germanisch-slavische Welt. Alte Kulturen sind gebrochen, die romanischen Völker treten in ihrer Bedeutung zurück, die einstigen Barbaren aber werden Träger der Kultur und Herrscher des Menschheitslebens. In ihnen ist Willen und Schaffen, Wille zur Macht, Wille zur Ausbreitung. Dieser Wille ist es, ohne den keine Ideen aufsteigen, und ohne den alle Technik schläft. Daß wir diesen Willen haben, ist der Ausgangspunkt der neudeutschen Wirtschaftspolitik. Alle unsere Wirtschaftstheorien sind im Grunde nur Ausdrucksformen dieses Willens.

Wo der Wille zum Wachsen da ist, erscheinen alle Dinge anders, als wo er fehlt. Ein sinkender Stand, der nicht an Wachstum glaubt, hat eben deshalb andere Gedanken in seinem Kopfe als ein steigender Stand, der die Welt erobern will. In jedem Volk gibt es gleichzeitig sinkende und steigende Bestandteile, es ist aber ein großer Unterschied, welche von ihnen die Führung haben. Ein steigendes Volk ist ein solches, bei dem steigende Schichten zur Führung des Wirtschaftslebens gelangen. Im Kampf mit dem sinkenden vollzieht sich die Wirtschaftspolitik. Steigende Schichten aber sind nur dort möglich, wo an sich wachsende Ziffern vorhanden sind.

Jedes lebende Volk hat seine eigenen Nöte. Die einen sind voll Nöte, weil sie nicht steigen, die anderen gerade deshalb, weil sie vorwärtsdrängen. Alles Wachstum macht Schmerzen. Unsere Schmerzen sind Wachstumsschmerzen. Sie als solche zu verstehen, ist der Anfang einer den Willen bildenden Volkswirtschaftslehre. Wir treten aus einer alten Zeit heraus, werden ein zahlreiches Volk, müssen alle Dampfkraft und alle Technik und allen Verstand benutzen, um als solches leben zu können. Die neue Zeit kommt über uns wie ein Naturereignis, weil unsere Natur Saft und Leben in sich hat. Aus der quellenden Tiefe des Volkstums kommt sie heraus. Es quillt die Masse, die Masse aber ist es, die uns treibt, die alles, alles ändert, die uns in die Großstädte wirft und zum Welthandel zwingt, die unsere Tagesordnungen bestimmt und neue Rechte für neues Leben fordert. Ob wir sie lieben oder nicht, die Masse durchdringt unser Dasein.

 

Daß Masse und Mangel sich verbrüdern können, war die große Sorge des Engländers Malthus. Als vor 100 Jahren England etwa an der Stelle stand, an der wir im Jahre 1870 waren, nämlich im Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat, als das Übergewicht der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung fühlbar wurde, da trat er als Prophet der Menschenbeschränkung auf, als Kassandra der modernen Welt: »Vermindert die Fruchtbarkeit, damit ihr leben könnt! Je mehr Leute sich an die Tafel setzen, desto mehr Hungrige werden von ihr aufstehen müssen! Greift der Natur nicht ins Werk, wenn sie Auslese halten will! Laßt die Überflüssigen sterben! Die Kinder sind die Angst der Menschheit!«

Viele Ohren haben diesen Propheten des Pessimismus gehört, und oft hat sich kleine selbstsüchtige Genußsucht mit dem düsteren Mantel des Malthus zu umhängen gesucht. Die Mühen der Erziehung zu sparen, schien als volkswirtschaftliche Weisheit gelten zu dürfen. Die Luxusmutter schrieb »Malthus« über die Tür ihrer Kammer, vergeblich predigte ihr die Bibel, daß Kinder eine Gabe Gottes seien, vergeblich hörte sie schon als Kind, daß Jehova seinem Freunde Abraham nichts Höheres zu sagen weiß als: »Deine Nachkommenschaft soll sein wie der Sand am Meer und wie die Sterne des Himmels!« Nichts wußte sie mehr von dem Stolze alter echter Mütter, deren Seligkeit in ihrer Kinderstube lebte. Und Väter gingen durch das Dasein, die sich keine Schmerzen daraus machten, daß sie die letzten ihres Zweiges waren. Sind diese Frauen und Männer die Qualität von Menschen, mit der man eine starke Volkswirtschaft machen kann? Das ist die Frage. Ist Lebensverneinung auf dem Urgebiet des Lebens verträglich mit sonstiger Lebensförderung? Ist die Furcht vor der kommenden Generation eine gesunde, schaffende Volksstimmung? Malthus war klug im Sinne der kleinen Alltagsklugheit, aber blind gegenüber der Seele des Menschen. Wer sein Leben durch kleine Kunst vermehren will, der wird es verlieren. Malthusianische Völker verlieren ihre erobernde Kraft politisch und wirtschaftlich. Sie werden ängstlich, sparsam, müde, nervös, verfeinert bis zur Schwindsucht. Es fehlt die große Schule des Willens, die Sorge für die Familie. Es fehlt die Freiheit gegenüber dem Tode, die zum Tode spricht: »Nimm weg, wir schaffen wieder!« Eine menschliche Gemeinschaft, die nicht wachsen will, will keine neuen praktischen Probleme angreifen. Wie gut, daß die Engländer im ganzen ihrem Malthus nicht gefolgt sind! Was würden sie heute sein? Geh hin nach Paris, in die Stadt der Unfruchtbaren, die Zola so ergreifend bis in ihr innerstes Wesen hinein beschrieben hat! Dort quälen sich die Besten, den Willen zum Leben wieder volkstümlich zu machen, und es kann sein, daß es zu spät ist.

Und hat nicht auch die Erfahrung aller der Jahre, die zwischen Malthus und uns liegen, gegen ihn gesprochen? Alle angelsächsischen und germanischen Völker haben inzwischen zugenommen, und zwar nicht bloß an Zahl, sondern auch an Qualität. Alle Beurteiler sind darin einig, daß der Durchschnitt des heutigen Engländers gesunder und besser lebt, als der Durchschnitt vor 80 Jahren. Auch bei uns ist es keine Frage, daß die wachsende Menge bis jetzt die Rasse nicht verschlechtert hat. Unsere Lebensdauer wird größer, die Körperlänge hat seit 100 Jahren zugenommen, der Militärschritt ist weiter geworden, die Ansprüche ans Leben sind gewachsen und können leichter befriedigt werden als früher. Kein Mensch wird sagen, daß wir ein ärmeres Volk geworden sind. Es hat Segen auf der Fülle der Menschen gelegen. Sie wuchsen und wuchsen und wurden immer wieder satt! Heute, wo in etwa 90 Jahren aus zwei Menschen fünf geworden sind, verbraucht jeder einzelne trotzdem weit mehr. Noch nie haben die Deutschen so viel Fleisch gegessen wie jetzt. Mit ihrer Zahl stieg ihre Lebensmöglichkeit, denn mit der Zahl stieg die Arbeitskraft und der Wille zur Arbeit.

Malthus hat nämlich nur dann recht, wenn er die Menge der Lebensgüter als eine feste Größe betrachtet. Sie aber ist glücklicherweise elastisch. Mehr Menschen können mehr produzieren und im allgemeinen steigt ihre Produktionskraft mit der Masse. Es ist allerdings nötig, diesen Zusammenhang zwischen Masse und Produktionskraft näher zu beleuchten.

Denken wir uns 100 Menschen auf einer kleinen Insel, die von aller anderen Welt abgeschlossen liegt, und denken wir uns, daß auch hier in 90 Jahren aus zwei Menschen fünf werden. Was wird der Verlauf der Sache sein? Man wird zunächst versuchen, auch die letzten Ecken und geringsten Böden der Insel mit nährender Frucht zu bebauen. Dann wird man tiefer graben, um mehr aus dem Boden herauszulocken. Jeder Quadratmeter wird dreimal umgewendet werden. Da es aber das Erfahrungsgesetz vom abnehmenden Bodenertrag gibt, das heißt die Wahrheit, daß bei Steigerung der Eindringlichkeit der Arbeit der Ertrag zwar auch steigt, aber langsamer als die Intensität der Arbeit, so wird die Arbeit von 200 Insulanern nicht doppelt so viel Ertrag schaffen als die Arbeit von 100. Es ist also anzunehmen, daß, wenn es 300 Insulaner geben wird, die Not da ist und mit der Not die Lockerung der gesellschaftlichen Ordnung. Das Ende ist dann Kindertötung oder Malthus.

Dieser Fall existiert nicht bloß in der Phantasie. Es gibt Bergtäler in den Hochgebirgen, die durch unvorsichtige Vermehrung bettelarm wurden. Dr. Rohrbach erzählt, daß ihm ein Fürst im Kaukasus klagte seit der russischen Herrschaft sei bei ihnen Friede, und es blieben deshalb zuviel Menschen am Leben! Und was war die einstige und noch heute kaum überwundene Dürftigkeit vom Riesengebirge, Erzgebirge, Thüringer Wald und Spessart anders als die Übervölkerung von Gebieten, deren Ernährungsgehalt gering ist? Erst als diese Bevölkerungen es lernten, durch den Handel ihre Arbeit in Brot umzusetzen, das anderswo gebaut wurde, fingen sie an, besser leben zu können. Es bleibt also an der Malthusischen Lehre soviel wahr, daß für jedes abgeschlossene Gebiet, und sei es noch so groß, einmal ein Zeitpunkt kommen kann, wo die Quantitätsvermehrung der Menschen sich in Qualitätsverschlechterung umwandelt. Es ist wahrscheinlich, daß das Chinesentum diese Umwandlung durchlebt hat. Und wenn wir Europäer keine Schiffe hätten und nur auf unseren Erdteil angewiesen wären, so würden wir im Laufe der Zeit immer geringere Böden heranziehen müssen, das heißt, wir würden mehr arbeiten müssen und relativ weniger dabei gewinnen. Dann würde Gesundheit und Moral abwärtsgehen durch Fülle der Menschen.

Gibt man aber dieses zu, so läßt sich rein theoretisch auch gegen den Gedanken nichts einwenden, daß irgendwann in tausend Jahren die ganze Erdoberfläche so klein geworden ist, daß alle guten Böden längst in intensiver Kultur stehen und deshalb die späteren Milliarden von Menschen zur Bearbeitung der ödesten Wüstenränder übergehen müssen, um leben zu können. Man kann zwar einwerfen, daß vorher die Chemie anderen Rat geschafft haben wird, doch ist das keine Sicherheit. Theoretisch bleibt etwas Richtiges an der Furcht des Malthus, aber nur theoretisch, denn für alle Zeiten, die wir uns von der Gegenwart aus wirklich vorstellen können, ist gar keine Angst menschlichen Ernährungsmangels. Noch gibt es zwei große Hilfsmittel: die Verbesserung der Ausnutzung des guten Bodens in der Heimat und der Anbau der ungeheuren Flächen, die noch des Pfluges harren. Südamerika und Mesopotamien sind noch offen, und solange es noch Völker gibt, die Brot und Fleisch kaufen wollen, wird es Menschen geben, die Brot und Fleisch herstellen. Worüber klagen denn unsere Agrarier? Etwa darüber, daß kein Getreide vorhanden ist? Nein, darüber, daß zuviel auf den Markt kommt! Das, was für uns auf Jahrhunderte hin die Malthusische Angst gegenstandslos gemacht hat, ist der Weltverkehr. Wir leben im Zeitalter des Verkehrs; weil wir dieses Zeitalter haben, können so viele leben.

* * *

Die Masse ist für den Fortschritt unentbehrlich, gilt aber selbst oft als Gefahr für ihn. Die Masse füllt die Fabriken und Bergwerke, wird aber von den Unternehmern häufig mit Sorge betrachtet, weil man nicht wissen kann, wann sie sich der Regelung entzieht. Die Masse füllt die Armeekorps des Heeres, man fühlt sich ihrer aber auch dort nicht immer sicher. Die Masse erhöht die Bodenwerte, aber der Haus- und Grundbesitzer geht in den Verein zur Bekämpfung der Sozialdemokratie. Mit Stolz wird von unsern Einfuhr- und Ausfuhrziffern geredet; nur daß dazu viele Millionen von Lohnempfängern und Lohnverzehrern gehören, wird sozusagen als erschwerende Zugabe empfunden. Das ist der Grund, weshalb unser Bürgertum keine richtige innere Stellung zur Arbeiterbewegung findet. Es fürchtet sich vor den Trägern der ausführenden Tätigkeiten, will aber doch täglich mehr Tätigkeit ausgeführt sehen.

Sobald einmal das Wachstum der Masse nachlassen sollte, wird oberhalb der Masse, in den Bureaus und Stuben der sozialen Oberschicht geklagt werden, daß es keinen Fortschritt mehr gäbe. Was hilft nämlich die schönste Organisationsgabe, wenn diejenigen fehlen, die organisiert werden sollen! Dann gelingt nichts Neues mehr, es wird nicht gebaut, es wird nicht vergrößert, denn alle neuen Werke hängen davon ab, daß Menschen zur Verfügung stehen. Der einzelne allein kann keine Brücken bauen und keine Baumwolle verarbeiten. In diesem Sinne hat die Masse recht, wenn sie von ihrer Unentbehrlichkeit überzeugt ist und dieser Überzeugung bisweilen einen sehr kräftigen Ausdruck gibt.

 

Deutschland muß sich darauf einrichten, daß es in 15 oder 18 Jahren 80 Millionen Menschen haben wird. Immer spricht noch alles dafür, daß diese Vorberechnung eintreffen wird. Es ist große Wahrscheinlichkeit, daß wir im Kampfe gegen den Tod noch weitere Siege erfechten werden. Man denke an den Kampf gegen Geschlechtskrankheiten und an den Fortschritt der Kanalisation in Klein- und Mittelstädten! Diese weiteren Siege werden das ausgleichen, was durch verminderte Geburtenhäufigkeit verloren gehen kann. Aber selbst, wenn die Vollendung der 80. Million nicht nach 15 oder 18 Jahren eintritt, sondern einige Jahre später, so kommt sie eben doch. So bald ändern sich große allgemeine Bewegungen nicht, daß der gewaltige Jahresvorsprung des Lebens über den Tod zwischen heute und 1930 verloren gehen könnte. Irgendwann in der Zukunft wird wohl auch unsere Nation sich an das Altwerden gewöhnen müssen, aber vorläufig hat sie noch Glück, Lust, Last und Not der kinderbringenden Völkerjugend. Das bestimmt unsere Zeit, unsere Volkswirtschaft.

 

Das steigende Volk hat steigende Bedürfnisse ... Und haben wir einmal den Blick für die notwendige Ausweitung unserer Volkswirtschaft bekommen, dann fangen wir an, alle unsere Wirtschaftseinrichtungen daraufhin anzusehen, ob und wie sie den größeren Zukunftsaufgaben dienen. Sobald wir das tun, vermindert sich unsere Achtung vor dem bisherigen Weitblick der deutschen Gesamtwirtschaft. Man rechnet bei uns viel zu sehr nur mit dem nächsten Tage. Das trifft besonders unsere Verkehrsanlagen. Diese haben einen sichtbaren Mangel an Zukunftsspekulation in sich. Jedesmal, wenn ein neuer Bahnhof gebaut ist, fängt man schon an, ihn für zu klein zu halten, und jedesmal, wenn man einen Hafen an der Nordsee oder am Rhein erweitert hat, muß man schon wieder neue Erweiterungspläne in Auftrag geben. Vorsicht ist ja sicher gut, aber diese Art Vorsicht ist ein beständiges Umbauen, Anbauen, Ausflicken. Wir hätten uns seit 30 Jahren im deutschen Staats- und Privatbetrieb viele Anlageveränderungen sparen können, wenn man das Volkswachstum als festen Faktor in alle Rechnungen eingesetzt hätte. Diese Ersparnisse würden weit größer gewesen sein als die Zins- und Materialverluste, die bei größeren Anfangsanlagen unvermeidlich sind. Die Kleinheit unserer von zu kleinen Kanaltiefen abhängigen Schleppkähne ist typisch für die wirtschaftliche Gesinnung, mit der wir vorwärtsgehen. Gewiß, wir gehen vorwärts, aber unsere Schritte könnten größer sein, wenn uns nicht die alte, lange, kleingewerbliche Vergangenheit noch in allen Knochen steckte, und wenn nicht unsere Parlamente und die öffentliche Meinung von den Vertretern der Kleinbetriebe verhältnismäßig stark beeinflußt würden. Im Seehandel ist dieser Vergangenheitsgeist am meisten überwunden, im Inlandsverkehr aber wird er uns noch lange, lange quälen. Man vergleiche die wachsende Tonnengröße der Eisenschiffe mit der kindlichen Form der eisernen Wagen! So oft ich nachts einen langen Güterzug fahren höre, denke ich an die Arbeitsvergeudung, die in dieser langen Schlange kleiner Wagen liegt.

Und ist es etwa mit den Einrichtungen der Stadtverwaltungen anders? Die Verkehrsverhältnisse Berlins sind nicht schlechter, sondern eher besser als die von Paris und Wien, aber ungenügend sind sie doch und rechnen nie mit dem unvermeidlichen Zuwachs der Zufuhr und des Menschengedränges. Es ist, als ob die Stadtverwaltungen immer erst vom Zuwachs überrascht werden müßten. Das gilt auch vom Bau von Schulen, Bädern, Spielplätzen. Wir gehen der Zukunft mit ungenügender Willenskraft entgegen.

In der Großindustrie ist das in neuerer Zeit anders geworden. Das Syndikatswesen hat tatsächlich den Blick erweitert, nur kämpft hier die Beschränkung der Produktion um der Preise willen mit der Einsicht in die Notwendigkeit breiter, weiter, zukunftsfroher Großanlagen. Wie aber geht der inländische Handel den gewaltigen Umsätzen der Zukunft entgegen? Als ob er die Menge der Verbrauchsgüter nicht abschätzen könnte, die durch seine Hände gehen werden. Dort der kleine Wagen, hier das kleine Geschäft! Es fehlt noch viel, bis wir es lernen, mit den Mitteln der Neuzeit Industrie- und Massenvolk zu werden!

 

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