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1.

Der Zug hatte sich vom Bahnhofe losgerissen und rollte nun, rasselnd und in der Mittagssonne glitzernd, zwischen grünen Wäldern und Feldern, die er mit seinem weißen Dampfe gleichsam mit einer Wattahülle überzog, der Ferne entgegen. Der sinnlose Wirrwarr, der jeder Abreise vorangeht, war vorüber; das reisende Publikum hatte auf den Bänken Platz genommen und sich in friedliche, unendlich langweilige Reisegespräche eingelassen. Unweit von uns hatten einige Tataren, die in ihre Heimat zurückkehrten, Platz genommen; ein angeheitertes Bäuerlein hatte sich mit ihnen in ein Gespräch eingelassen und machte ihnen Vorwürfe wegen ihres mohammedanischen Glaubens. Er versicherte ihnen, ihr Glaube sei »unrein«, denn sie fräßen Pferdefleisch. Die Tataren warfen sich lächelnd Blicke zu; einer von ihnen erwiderte, daß alle denselben Glauben hätten und daß es nicht recht sei, die Religion anderer zu verspotten. Diese beschwichtigenden Antworten machten auf das Bäuerlein keinen Eindruck und es fuhr, erregt durch das allgemeine ermutigende Gelächter, fort, die »Unreinen« zu beschimpfen. Mir gegenüber saß ein großgewachsener alter Mann mit einem strengen Gesichte, das durch eine mächtige Stirne und einen silberweißen Bart verschönert wurde. Er setzte seine mit einem Zwirnfaden zusammengebundene Brille auf und vertiefte sich in die Lektüre eines Buches. Ein gebücktes, runzliges Mütterchen setzte sich zu ihm und bat ihn, ihr laut vorzulesen. Der Alte ließ sich nicht lange bitten und er begann mit Ausdruck von da an laut zu lesen, wo er gerade stehen geblieben war … »und dieser Kirche eben hatte Christus gelobt, daß sie zu einer unbesiegbaren Pforte werden würde …«

Mehrere Zuhörer, hauptsächlich Weiber, hatten sich um ihn geschart, – und das Vorlesen wurde mitten unter dem Rädergerassel und dem sinnlosen Lärm im Waggon fortgesetzt. Der Alte las mit außerordentlicher Aufmerksamkeit und Hingebung; das Buch, das von den Verirrungen verschiedener Sektanten handelte, schien ihn lebhaft zu interessieren. Er mußte augenscheinlich zu jenem schönen Typus der Wahrheitssucher gehören, den man manchmal in unserem Bauernstande findet und der mir durch sein stetes Streben, die Wahrheit, das Licht zu finden, so sehr sympathisch ist. Dieser sich selbst überlassene, forschende Geist gerät in den meisten Fällen auf Abwege, er tastet im Dunkeln aufs Geratewohl herum und muß, nachdem er sich enttäuscht sieht, leiden. Bloß wenigen solcher Menschen wird das Glück zuteil, sich von der sie umgebenden Finsternis loszureißen …

Der Alte legte, nachdem er einige Seiten gelesen, die Brille ab und verrichtete ein Gebet … Die Weiber dankten ihm und lobten seine Vorleserkunst. Ringsum herrschte noch immer das unzusammenhängende Getöse von Stimmen. Die Arbeiter tranken Wodki, schimpften entsetzlich miteinander und johlten Lieder. Die Tataren hielten sich abseits und betrachteten mit unzufriedenen Blicken die Betrunkenen.

»Nicht recht ist das, ach, nicht recht!« sagte einer von ihnen, mit dem Kopfe schüttelnd.

»Was ist nicht recht?« fragte ich.

»Nun … da sitzt ein Betrunkener … Der ist schon ganz wie ein Tier. Das ist nicht recht …«

Die kleine Schar Tataren bildete durch ihren Ernst, ihre Wohlhabenheit und ihr bescheidenes Auftreten einen grellen und angenehmen Kontrast zu dem übrigen im Waggon befindlichen Publikum.

Es war ein Feiertag. Auf den Bahnhöfen drängte sich das in grelle Farben gekleidete Publikum; die Burschen bearbeiteten ihre Harmonikas, die Mädchen knusperten Sonnenblumensamen, man sah viele Betrunkene, welche den Zug blöd anlächelten … Die Nacht senkte sich langsam zur Erde; auf dem ruhigen blauen Himmel erglommen die goldenen Sterne und durch das Waggonfenster drang das Aroma und die Kühle der Nacht … Der Waggon hatte sich nach und nach beruhigt und war in Schlaf versunken; überall, auf den Bänken und unter ihnen hörte man in allen möglichen Tonarten schnarchen, jemand murmelte im Schlafe …

Am nächsten Morgen wurde ich durch die gleichmäßige, ruhige, von einem innigen Glauben erwärmte Stimme des Alten aus dem Schlafe geweckt:

»Freue dich, himmlische Braut! …«

Die Weiber betrachteten mit stummem Entzücken den lesenden Alten und wischten sich die Augen mit den Zipfeln ihrer Kopftücher; diese unverständlichen Worte rührten sie und weckten süße Gefühle in ihrer Seele …

Jetzt huschten an dem Waggonfenster die Schlote einer Fabrik vorüber; die verödeten Pavillons einer Ausstellung, welche vor einigen Jahren den Triumph, das Fest des russischen Gewerbes und Handels hätten vorstellen sollen und die etwas ganz anderes vorgestellt hatten, blinkten und entschwanden den Blicken …

Der Zug blieb endlich im Bahnhofe von Nishnji Nowgorod stehen, jenes Nishnji Nowgorod, wo einstmals die Lobeshymnen auf die allrussische, »alles könnende« Kaufmannschaft erklungen waren. Die Gesellschaft hatte damals diese Hymnen mit einem spöttischen Lächeln entgegengenommen und die Zeit hatte gezeigt, wie berechtigt diese Zweifel an den ungewöhnlichen Tugenden der russischen Kaufmannschaft gewesen waren: Sie fuhr, nachdem sie ihre Allmacht proklamiert hatte, damit fort, ihre kläglichen Bitten um Schutz gegen die ausländische Konkurrenz und um alle erdenklichen Begünstigungen und Prämien vorzubringen, tut dies auch jetzt noch und wird es wohl nie lassen. Ja selbst in dem schweren Jahre der Volksnot hat die russische Kaufmannschaft sich gegen die Bitten um Hilfe nicht sonderlich willfährig gezeigt und hat ihre »mächtige« Hand nur halb dem Volke entgegengestreckt. Lobeshymnen und Wirklichkeit sind, wie es scheint, zweierlei.

Wir fuhren, während ich über dieses Thema nachdachte, durch den noch leeren, ganz in Staub gehüllten und nach allen möglichen Gerüchen duftenden Platz, wo die Messe abgehalten wird. Am Landungsplatze rauchte schon der zur Abfahrt »stromab« bereite Dampfer, auf dem wir auch Platz nahmen.

Der Abend sank über der ruhig gewordenen Wolga. Die Abendröte spiegelte sich in der breiten Oberfläche des Flusses; mit einem leichten, gleichmäßigen Geplätscher schlugen auf die am Ufer sich erstreckenden Landbänke die in die zartesten Farbentöne gebadeten Wellen an. Vom Ufer her, aus den Gebüschen erklang von Zeit zu Zeit der Gesang der Nachtigall oder der Pfiff der Landschnepfen. Hier und dort standen wie erstarrt auf der Spiegelfläche des Wassers kleine Fischerkähne und von dem Feuer, auf dem sie ihr frugales Nachtmahl bereiteten, erhob sich ruhig ein leichter Rauch … Auf dem ruhigen Himmel erzitterte der erste Stern … Und plötzlich erscholl inmitten dieser Ruhe und dieses Friedens vom Hinterteil des Dampfers her ein sanftes Lied; es erhob sich in die Höhe, ergoß sich in die Ferne, dorthin, wo die goldenen Wolken zerschmelzen, dorthin, wo sich große Dörfer mit weißen Kirchtürmen dehnen …

In diesem träumerischen Abende und in diesem traurigen Liede lag so viel einfachen, aber rührenden Reizes, daß alle, lauschend, auf einmal verstummten. Studenten sangen, auf das davoneilende Wasser blickend:

»Zeig mir den Ort,
Wo das russische Volk nicht leidet …«

Und das kummervolle Lied ergoß sich immer weiter und weiter … Plötzlich erscholl aus der ersten Klasse eine Lachsalve der sich unterhaltenden Geschäftsmänner und der Zauber war gestört, jedoch nur für kurze Zeit.

»… Denn mit dem großen Jammer des Volkes
… Ward überflutet unser Land …«

Und abermals verstummten alle, dem Liede Nekrassows, des »Sängers vom Volksleide«, lauschend.

Ein Sternenreigen entzündete sich am Himmel und erzitterte im Flusse. Etwas ungemein Süßes und Qualvolles preßte die Seele zusammen. Die Augen hoben sich unwillkürlich zum Himmel empor, als wollten sie ihn um etwas fragen oder vielleicht bitten … Es schien, als würden die Sterne der Seele etwas zuflüstern, doch ihre Sprache ist unverständlich und dann sind sie, ach, so unendlich fern! Eine ganze Reihe von Erinnerungen schwirrte im Kopfe herum, im Herzen aber erhob sich ein Drang nach Liebe … Zu wem, zu was? … Einerlei, – wenn man nur lieben, Seelenqualen erdulden, leiden könnte … Und eine Minute schwindet nach der andern, eine Stunde nach der andern und hier gibt es keinen Unterschied zwischen einer Minute, einer Stunde, einem Jahre und man hat das unbestimmte Gefühl, daß das Glück nahe, daß es möglich ist …

Da ist auch Kasan. Auf dem Landungsplatze herrscht ein reges Treiben, schwirrt eine bunte Menge. Das Auge sucht unwillkürlich nach Anzeichen des Volkselends; wir befinden uns schon vor seiner Pforte. Einstweilen ist jedoch nichts Besonderes zu bemerken. Aus den Landungsplätzen hat es ebenso, wie auch jetzt, stets zerlumpte Lastträger gegeben, im übrigen aber ist alles scheinbar in bester Ordnung.

Der Dampfer hält lange an, ich steige ans Ufer und mische mich unter die Menge, beobachte sie, lausche ihren Reden. Dort wird geschimpft, hier gehandelt, geschworen, dort wird Abschied genommen und von Ballast und Rubelgeld gesprochen …

»Väterchen, um Christi willen …«

Es ist eine zitternde kranke Stimme.

Ein abgezehrter, magerer Greis blickt mir zaghaft und furchtsam in die Augen. Seine unbeschreiblichen Lumpen und sein leidendes Aussehen machen mich erbeben. »Da ist es also!« zuckt es durch meinen Kopf. Ich beginne ihn auszufragen: woher, wieso?

»Aus dem Gouvernement Samara, Väterchen … Zu Hause sind wir ohne Brot und ohne Arbeit … Nun denke ich, ich werde unter die guten Menschen gehen, werde Arbeit suchen, doch auch hier ist es nicht besser …«

»Arbeit? … Wie alt bist du denn? …«

»Im dreiundsechzigsten Jahre, Väterchen … Da kann man nicht mehr viel leisten! Was soll ich aber tun? Mein Sohn hat auch ohne mich eine große Familie und muß sich zu Tode schinden. Das ganze Vieh ist verkauft worden, das Pferd ist verendet, die Brotvorräte sind aufgezehrt …«

Im Nu war vor mir der Vorhang jenes traurigen Dramas in die Höhe gegangen, das sich auf diesen endlosen Feldern, in der Tiefe der Wälder, fern von dem äußerlich satten und zufriedenen Aussehen der Städte abspielt. Da wird einem dabei so weh und so beschämend zumute … Ich reiche dem Alten eine Silbermünze. Tränen drängen sich aus seinen Augen hervor.

»Gott schütze dich, Väterchen!« sagt er leise und aufgeregt, dann läßt er sich auf die Knie sinken und beginnt zu beten.

Ich halte es nicht länger aus und kehre hastig auf den Dampfer zurück.

Einige Stunden später befanden wir uns schon auf der Koma und »liefen«, wie man hier sagt, stromauf auf dem noch wasserreichen Flusse. Das Bild änderte sich allmählich. Anstatt des an der Wolga herrschenden Lebens ist hier alles öde. Selten nur schwimmt ein Floß mit Holz beladen das Ufer entlang oder ein Warendampfer zieht pustend und eine Barke hinter sich schleppend vorüber … Das Wasser hat einen ruhigen Perlmutterglanz angenommen … Auf dem weit aus seinen Ufern getretenen Flusse schwimmen hie und da Fischerboote; in den Gebüschen singen die Wachteln, die Nachtigallen flöten, Scharen von Wildenten ziehen vorbei … Ab und zu begegnen wir einem sich auf einem Hügelabhang ruhig ausdehnenden großen Dorfe mit einer altertümlichen Kirche. Das gelangweilte Publikum drängt zum Landungsplatze, um Milch, Blumen, gebratene Fische und andere Eßwaren zu kaufen, die von den unternehmungslustigen Fischerfrauen feilgeboten werden. Ich suche noch immer nach Anzeichen der Hungersnot, doch ich sehe sie nicht. Die Weiber sind nett gekleidet, die Bauern sehen eben wie Bauern aus … »Wo ist also die Hungersnot?«

»Begeben Sie sich tiefer in das Innere des Landes, dann werden Sie genug davon sehen,« antwortet mir ein Herr, welcher die Uniform des Finanzministeriums trägt.

Wir ließen uns in ein Gespräch ein, natürlich über die Hungersnot. Der Herr – er war aus dem südlichen Ural – erzählte mir viel Interessantes darüber, was für schwere Zeiten jene Gegend in den Jahren 1891–92 durchgemacht hatte, wie die Kadaver der verhungerten Pferde auf den Fahrstraßen herumlagen, wie – ein bis dahin ungekannter Fall – Hunde als Zugtiere verwendet wurden und diese sich vom Aas nährten. Unser Gespräch berührte dann das Thema über den Ankauf von Pferden in der Orenburger Gegend, der jetzt zu dem Zwecke vorgenommen wird, um an diejenigen Bauern, die keine Pferde besitzen, geliehen zu werden.

Unterwegs waren viele Pferde in den Steppen zurückgeblieben, denn sie hatten keine Kraft sich fortzubewegen, manche fielen um und alle langten an Ort und Stelle in einem solchen Zustande an, daß es »ein Jammer war« sie anzuschauen. Alle diese Erzählungen erwiesen sich in der Folge leider als wahr, außerdem wurden haarsträubende Einzelheiten mitgeteilt, so wurde zum Beispiel eine Herde von einigen hundert Pferden mehrere Tage ohne Futter gelassen – man hatte vergessen, rechtzeitig sich damit vorzusehen; das Resultat solcher Zustände sind dann natürlich die Viehseuchen …

Wir kamen an einem Dorfe vorüber und einige Hütten mit aufgerissenen Dächern fielen uns auf, das war der Anfang. Eine Stunde später waren wir beim Pjanji Bor (betrunkener Wald) angelangt, wo wir eigentlich unsere Bekanntschaft mit den hungernden Bauern beginnen wollten …

 

2.

Wir erfuhren, während ein alter Fischer einen Nachen ausbesserte, um uns auf das andere Ufer des Koma zu bringen, die naive Legende, welche das Entstehen des Namens Pjanji Bor erklärt. Danach wären einmal vor langen Zeiten Bauern in den Wald gegangen, um Holz zu fällen und hätten dabei unter der Rinde eines Baumes viel Honig gefunden; von oben war der hohle Baum offen, das Regenwasser fiel hinein und bildete, mit dem Honig vermengt, ein überaus schmackhaftes Getränk. Die Bauern tranken davon und wurden betrunken; von da der Namen Pjanji Bor (betrunkener Wald), den auch das Dörfchen erhielt …

Das war aber alles vor alten Zeiten geschehen, jetzt gibt es keine solchen Honigwälder mehr; jetzt werden die Einwohner von Pjanji Bor von der Landgemeinde unterstützt, man hat in ihrem Dorfe eine Kinderbewahranstalt errichtet, man verteilt unter sie Pferde. Es kam manchmal vor, daß die Bauern solche Pferde zurückwiesen, bald, weil sie »so mager waren, daß sie nicht einmal nach Hause gebracht werden könnten«, bald, weil zu Hause kein Futter für sie da war … Die Zeiten hatten sich augenscheinlich stark geändert …

Der Nachen war instand gesetzt und wir fuhren über die wasserreiche Koma. Neben uns hatten noch zwei Platz genommen: ein junger Tatare, welcher krankheitshalber sein Regiment verlassen hatte und in die Heimat zurückkehrte, und ein Bauer mit einem Sacke auf dem Rücken. Der Kranke war fürchterlich anzuschauen; sein Gesicht war gelb, seine Augen fieberhaft glänzend, er fletschte oft vor heftigem Schmerze entsetzlich die Zähne und ein Schüttelfrost durchlief seinen Körper … Der Bauer war, wie es sich herausstellte, aus jener Gegend, er kehrte nach fruchtlosem Suchen nach Arbeit im ganzen Gouvernement in seine Heimat zurück. Die Hungersnot hatte viele gezwungen, nach allen Seiten hinauszuwandern, um Arbeit zum Lebensunterhalte zu suchen. Zuerst hatte sich die notleidende Bevölkerung wie eine mächtige Welle über den Ural und die Wolga ergossen; sie fanden jedoch überall einen Überfluß an Arbeitshänden, und die Löhne sanken entsetzlich. Diese ganze Menschenmasse war, nachdem sie einige Zeit vergebens Arbeit gesucht hatte, ebenso sinnlos zurückgeschnellt, ihre letzten Groschen unterwegs verzehrend, um ein Nichts ihre Pferde verkaufend und sich in Christi Namen durchbettelnd … Man erzählte mir, daß das Angebot von Arbeitskräften in den Goldminen des südlichen Ural so groß gewesen war, daß die Arbeiter nicht einmal um ein Stückchen Brot akzeptiert wurden; im Gouvernement Pern wurden die Arbeiter in den Fabriken mit 45 Kopeken pro Tag bezahlt, doch konnte ein Arbeiter bloß auf zwei Tage Arbeit per Woche, d. h. auf 90 Kopeken wöchentlich rechnen. Unser Mitreisender hatte in Ufa und im ganzen Gouvernement sein Glück gesucht, doch hatte er es leider nicht gefunden …

Ich hatte späterhin Gelegenheit, in einigen Landgemeinden von den Gouvernements Kasan und Ufa Einsicht über die Zahl der ausgelieferten Pässe zu nehmen. Diese Zahl war mit dem Ausbruche der Hungersnot im Verhältnis zu derselben Zeitperiode im vorhergegangenen Jahre bedeutend in die Höhe gestiegen, dann war sie plötzlich gesunken und im zweiten Viertel des Jahres 1899 waren bedeutend weniger Pässe ausgegeben worden, als im zweiten Viertel des Jahres 1898. Die Bauern, entmutigt durch die Mißerfolge einiger ihrer Landsleute, konnten sich nicht mehr entschließen, auswärts Arbeit zu suchen; die Vorwürfe, die den Bauern darüber gemacht werden, daß sie eher vorziehen, »sich vom Staate füttern zu lassen,« als selbst Arbeit zu suchen, sind demnach einigermaßen unbegründet …

Wir waren, in unser Gespräch vertieft, ohne es zu bemerken, an das jenseitige Ufer angekommen, von wo wir auf einem Bauernwagen in das am Flusse gelegene Dorf Jurtowa gelangten und dort über Nacht blieben.

Dieses Dorf bot einen recht traurigen Anblick … Armselige, schiefe Hütten blickten traurig auf die öden stillen Gassen hinaus: kein Kind, kein Hund war zu sehen, nicht einmal eine Krähe oder ein Spatz waren zu hören, als wäre alles ausgestorben … Ab und zu bloß bemerkten wir die düstere Gestalt eines Bauern, der bei unserem Anblicke die Mütze zog … Überall streben wie Skelette großer phantastischer Tiere die vom Stroh entblößten Pfeiler der Häuser und Wirtschaftsgebäude in die Höhe … Ein unendlich wehmütiges Gefühl erfaßt die Seele beim Anblicke dieser armseligen geplünderten Nester … Hier schleppt sich mühselig ein abgezehrter Gaul; in den Seitengäßchen wanken hier und dort halbtote Kälber; die Schafe stehen in der Sonne mit apathisch herunterhängenden Köpfen, als hätten sie jede Hoffnung verloren …

Wir wählten eine äußerlich netter aussehende Hütte aus und stiegen dort ab … Wir hörten, während wir uns ein wenig stärkten, den Erzählungen des Hausherrn über das Unglücksjahr zu. Diese Erzählungen waren recht traurig: Sie berichteten von Krankheiten und davon, wie das Vieh »zum Abschlachten« verkauft wurde, und wie es bei jenen Bauern vor Hunger verendete, die im bitteren Kampfe mit der Not ihr Vieh bis zum Frühjahre zu erhalten bemüht waren … Die alte Hausfrau, die der Hungersnot eine Kuh und ein junges Pferd abgerungen hatte, erzählte mit Tränen in den Augen davon, wie ihre halbverhungerte »Ernährerin« im sumpfigen Boden stecken blieb, als sie das erstemal auf die Weide hinausgetrieben worden war: sie wurde damals herausgezogen, konnte sich aber auf den Beinen nicht halten und war ganz wie tot …

»Da haben wir sie denn, mein liebes Herrlein, aus der Hand füttern müssen … Sie aß, blieb über Nacht auf dem Felde liegen, am nächsten Morgen habe ich sie wieder gefüttert und abermals versucht, sie in die Höhe zu bringen. Sie stand mit Mühe auf, fiel aber bald wieder um: sie konnte sich auf den Beinen nicht erhalten … Erst am Abend des darauffolgenden Tages gelang es mir sie nach Hause zu bringen. Auch das Pferd war ganz entkräftet, – es war eben noch jung und schwach … Manchmal hätte ich Lust gehabt, ihm eines mit der Peitsche zu geben, wenn ich aber überlegte, was es im Winter hatte ausstehen müssen, dann mußte ich die Hand sinken lassen …«

Die Alte weinte und bekreuzte sich:

»Nun, vielleicht hilft uns jetzt Gott, daß wir uns ein wenig erholen können.«

Man kann den herrschenden Mangel an Viehfutter schon aus diesem Umstande ersehen, daß alle Dächer, welche mitunter mehr als zehn Jahre gelegen hatten und sich schon ganz in verfaultes Häcksel verwandelt hatten, vom Vieh aufgefressen worden waren …

Die Volksküche des Roten Kreuzes und die Landgemeinden, die per Kopf 35 Pfund Getreide geben, kommen den Bauern zu Hilfe. Von dieser Unterstützung ist die männliche Bevölkerung, welche zur Arbeit, die nicht vorhanden ist – fähig ist … die Bauern bleiben zu Hause sitzen und die Frauen, Kinder und Greise müssen ihren Anteil mit den arbeitsfähigen Männern teilen, was gerechtfertigte Klagen über die Unzulänglichkeit der Unterstützungen hervorruft … Sogar jene Bauern, welche in den leider sehr seltenen Fällen einer Unterstützung nicht bedürfen, bemühen sich sie zu erlangen mit der Begründung, daß sie bei der solidarischen Kaution leicht in die Lage kommen könnten, ihren Teil der Gemeindeschuld zu zahlen, ohne etwas erhalten zu haben … In den Volksküchen wird die ärmste Bevölkerung gespeist; ein jeder erhält eine Kanne Suppe und ein Pfund Fleisch per Tag. Da hört man auch Klagen darüber, daß »nicht alle gefüttert werden«, daß man »auch anderen, reicheren gibt und uns nicht«; die erste Prätension ist aus Mangel an Mitteln nicht so leicht zu befriedigen, und dies wäre auch mit Rücksicht auf die ärmste Bevölkerung des Dorfes ungerecht; was den zweiten Vorwurf anbetrifft, so sind Irrtümer bei der Größe des Dorfes (800 Seelen) wohl möglich.

 

3.

Die Volksküche des Dörfchens Jurtow wird von der dortigen Volksschullehrerin geleitet. Sie hatte sich, nachdem die Prüfungen vorüber waren, die verdiente Erholung nicht gönnen wollen und war dort geblieben, um den Hungernden zu helfen. Sie bewohnt ein kleines schmutziges Zimmer, das mit Säcken voll Kartoffeln, Erbsen und Graupen angefüllt ist. Auf einem Tischchen liegen einige Hefte alter Zeitschriften. Durch die verstaubten, regenbogenfarbigen Fensterscheiben dringt das Licht nur spärlich ein, und das läßt diese Armut, die beinahe die Not ist, noch armseliger erscheinen … Man muß bei einem solchen Anblicke unwillkürlich über das Schicksal dieser Kämpferinnen nachdenken, welche in weltvergessenen Orten ihr Leben zum Nutzen der armen, verdummten Bevölkerung vergeuden. Die Einrichtung einer solchen Lehrerin enthält nicht nur keinen Komfort, sondern sie entbehrt oft auch der allernotwendigsten Bequemlichkeit: ihre Wohnung ist oft feucht, finster, kalt, schmutzig; die Nahrung ist einförmig und einfach – denn was könnte eine solche Lehrerin sich für die erbärmlichen verdienten Groschen erlauben? – ihre geistigen Bedürfnisse bleiben ungestillt; es gibt weder Bücher, noch Zeitungen, noch gesellschaftlichen Verkehr; bis zur nächsten Distriktsstadt ist es oft so weit, daß man »drei Jahre hinrennen kann, ohne hinzugelangen«, im Frühjahre aber, wenn das Tauwetter eintritt, dann wird das »Rennen« überhaupt unmöglich. Der Tag einer solchen Lehrerin ist voll schwerer, undankbarer Arbeit, die öfters von der Umgebung nicht gebührend gewürdigt wird. Welch große Heldentat muß es sein, das ganze Leben ohne fremde moralische Stütze sich zu plagen, und wieviel Mut gehört dazu, ein solches Kreuz zu ertragen! … Selten nur schallt zu ihr durch ein Zeitungsblatt oder durch eine Zeitschrift die weit draußen pulsierende Welt herüber, und in solchen Momenten muß das Bewußtsein ihrer Vergessenheit, ihrer Entfremdung für sie besonders qualvoll sein …

Das Mädchen empfing uns sehr freundlich und teilte uns alles mit, was uns interessieren konnte, sie erzählte uns von ihrem Leben und von ihrer Tätigkeit – und das alles so einfach, mit einem gutmütigen Lächeln, als wäre alles in der Ordnung, alle diese Mühe, alle diese Entbehrungen …

»Die Bauern verhalten sich mißtrauisch zu denjenigen, welche die Volksküchen verwalten,« erzählte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Sie glauben, daß deshalb nicht alle gefüttert werden, weil die Leiter vieles für sich nehmen, der ›Zar aber habe befohlen, alle zu füttern …‹«

»Dieses Mißtrauen muß Ihnen ja sehr unangenehm sein?«

»Wie soll ich Ihnen sagen? … Sie sind ja – wie Kinder, und man kann ihnen nicht zürnen … Es geht zwar nicht immer alles friedlich ab. Man erzählte mir zum Beispiel, daß unlängst in einem Dorfe der Lehrer von den Bauern überfallen und geprügelt worden wäre, weil sie, als er abreiste, in seinem Tarantaß (Reisewagen) Mehl gefunden hätten: ›So also ist es … du entziehst uns dasjenige, was der Zar uns gegeben hat? …‹ Das Mehl aber gehörte vielleicht ihm, oder er wollte es in eine andere Volksküche führen …«

Ich fragte, ob die Unterstützung keine schädliche Wirkung auf die Bauern ausübe.

»Es gibt natürlich auch Müßiggänger, welche es vorziehen, anstatt zehn oder zwanzig Kopeken zu verdienen, in die Freiküche zu gehen; aber es sind ihrer sehr wenige, und ihretwegen kann man der ganzen Bevölkerung die notwendige Hilfe nicht entziehen … Überhaupt haben die Bauern jetzt erst angefangen, die Volksküche ungezwungen zu besuchen, früher genierten sie sich sehr. Nach und nach haben sie sich daran gewöhnt, haben angefangen ihre Kinder hinzuschicken, dann sind auch die Weiber gekommen … Die arbeitenden Muschiks besuchen sie auch jetzt nicht … Zuerst war es ihnen sehr peinlich, Unterstützungen anzunehmen, und nur die äußerste Not zwang sie dazu.«

Wir besuchten einige Izbas (Bauernhütten).

Manche boten einen entsetzlichen Anblick – ohne Dach, mit abgeschundenen Pfeilern, oft auch ohne Pfeiler (sie waren verbrannt worden), aus bloßem Lehmanwurf, unglaublich winzig (4 × 5 × 2¼ Arschin), schmutzig …

Zerlumpte, ausgehungerte Kinder drücken sich in einem Häuflein in die Ecke und blicken furchtsam die Eintretenden an; sie sehen alle blaß, ungesund aus … Einen besonders tiefen Eindruck machte auf uns die Izba der Witwe Tatjana Boktscharewa. In einer kleinen Kammer mit einem schiefen, schlechten Fußboden, einem schadhaften Plafond, durch welchen der Regen ungehindert eindringt, kauern in einem Häuflein ihre sechs kleinen Kinder mit fahlen Gesichtern und einem erschrockenen Ausdrucke in den großen blaugeränderten Augen. Die Hausfrau selbst sitzt an einem Webstuhle und webt einen Baumwollstoff für das Rote Kreuz, welches fünf Webstühle im Dorfe verteilt, das dazu nötige Material gegeben hat, für jeden gewebten Arschin 4½-5 Kopeken zahlt und auf diese Weise fünf Frauen einen Verdienst von zirka 25 Kopeken per Tag schafft. Die Vertreter des Roten Kreuzes lassen sich die Entwicklung dieses Erwerbszweiges angelegen sein und haben bereits einige Metallwebstühle kommen lassen, um sie an die am meisten notleidenden Familien zu verteilen. Der Sarpinka genannte Stoff, der hier gewebt wird, ist sehr dauerhaft und sein Muster oft sehr schön. Der Marktpreis des Stoffes ist 18–23 Kopeken per Arschin.

Wir nahmen, nachdem wir die Hausfrau begrüßt hatten, auf einer Bank Platz, auf der sich zwischen Lumpen ein bis zur Unmöglichkeit abgemagertes, struppiges Kätzchen wärmte. Wir richteten an Tatjana einige Fragen über ihre Lebensweise. Bei den ersten Worten fing sie an zu weinen; sie zeigte mit einer hoffnungslosen Gebärde auf ihre fahlbleichen Kinder und rief den Segen des Himmels auf jene herab, die den Freitisch eingerichtet haben, ohne den sie nach ihren Worten hätte zugrunde gehen müssen … Es stehen ihr außerdem in ihrer Not einige städtische Lehrerinnen bei, die ihr geholfen haben, ihr Pferd bis zum Frühjahre zu erhalten, und ihr Kleidungsstücke geschickt haben. Die kleinen Kinder waren in der Tat in verschiedene, ihrem Körpermaß nicht entsprechende Jacken städtischen Schnittes gekleidet …

»Sie haben mich besucht,« erzählte Tatjana, »haben eine Weile dagesessen, haben geweint und sind fortgegangen. Dann haben sie mir Kleidungsstücke geschickt, denn früher gingen meine Kinder ganz nackt herum … Da kam noch ein Unglück: der Schornstein fiel auseinander; die Muschiks sagten mir: ›Es wird ein Brand entstehen, du mußt ihn ausbessern lassen …‹ Womit aber soll ich ihn ausbessern lassen? … Nun, da haben sie mich auf zwei Tage in die »kalte Stube« (Arrest) eingesperrt … Sie können mich auch jetzt wieder einsperren, denn der Schornstein ist noch immer nicht ausgebessert. Wohin ich mich auch wende, überall nur Not. Der Gemüsegarten ist unbebaut – ich habe keine Samen dazu; heute habe ich zur Frühsaat unter Tränen geackert: ich habe kein Pferdegeschirr, der Boden ist lehmig, so laufe ich neben meinem Pferdchen daher und weine wie ein dummes Kind …«

Jetzt ertönte die Glocke in der kleinen am See gelegenen Kapelle, und Scharen von Weibern und Kindern setzten sich in der Richtung gegen die Volksküche in Bewegung, in den Händen Bündel haltend, in denen die Töpfe für die Suppe eingewickelt waren.

Auch wir gingen hin. Dort, in einem großen düsteren Zimmer, teilte unter der Aufsicht der Lehrerin eine flinke Köchin die Suppe in die ihr gereichten Töpfe aus. Die Gesichter der um die Nahrung Gekommenen waren abgehärmt, das Aussehen traurig; selten bloß hört man einen Scherz, bemerkt man ein Lächeln auf den bleichen Lippen: die Freude findet hier keinen Widerhall! …

In der Hütte war es heiß und dumpf, und wir traten, nachdem wir von der schmackhaften Suppe gekostet hatten, auf die Straße hinaus, wo, trotzdem es Pfingsten war, dieselbe Todesstille herrschte: da gab es weder Chorowody (Reigen), noch Spiele, wie wir sie zu besseren Zeiten an anderen Orten zu sehen Gelegenheit gehabt hatten, bei denen festlich gekleidete Mädchen bändergeschmückte Birkenbäumchen einher, trugen und die Luft mit ihren fröhlichen Liedern erfüllten … Jetzt sind die Alten hier böse, wenn es irgendeinem einfällt, sich durch ein Liedchen zu erheitern: wenn Gott seine Strafe herabgesandt hat, ist es sündhaft zu singen …

Auf der Straße näherte sich uns ein Häuflein Bauern mit Klagen. Wir wurden leider oft für die »Obrigkeit« gehalten, und trotz aller unserer Beteuerungen, daß wir »bloß so da wären«, wollten sie es durchaus nicht glauben. Während man ihnen erzählte, man sei dies und das und reise darum und deshalb, schienen sie daran zu glauben; kaum war man aber mit dem Erklären fertig, so fingen sie auch schon wieder an: »Du solltest doch, Väterchen, dem Starosta (Dorfältesten) befehlen, daß er mir Futter geben solle … Ich würde ja nicht darum bitten, wenn die Not nicht wäre …«

Auch diesesmal kamen die Bauern mit Beschwerden hauptsächlich gegen den Starosta … Die Unterstützung der an Futter für das Vieh notleidenden Bauern ist von dem Zemstwo (Landesverwaltung) sonderbar eingerichtet. Einige Hundert Pud (1 Pud = 16½ Kilo) Futter werden dem Starosta übergeben, welcher dasselbe nach eigenem Ermessen unter der Bevölkerung verteilt und dadurch allgemein Unzufriedenheit hervorruft … Die Bauern sagen: »Stelle ihm eine Flasche Schnaps hin, dann wird er dir Futter geben, selbst wenn du noch so reich bist; gibst du ihm aber keinen, dann kannst du dir in die Faust pfeifen.« – Wir konnten natürlich nicht untersuchen, ob es richtig sei oder nicht, jedenfalls muß diese Art von Gebarung sonderbar erscheinen. Es würde ja ein leichtes sein, dem Starosta zwei von der Bevölkerung selbst gewählte Gehilfen beizustellen, die das Futter jenen Bauern geben würden, für die es eben bestimmt ist.

Während der ganzen Zeit unserer Anwesenheit in Jurtow kamen ununterbrochen Bauern zu uns, bald mit der Frage, ob sie dem Zemstwo den erhaltenen »Anteil« zurückerstatten müßten, bald mit Klagen darüber, daß das Rote Kreuz »nicht alle« nähre, sondern bloß nach Gutdünken; »Heuer habe der Herrgott alle gleichgestellt, alle litten Not;« bald mit der Bitte, den von einem Lohne erhaltenen Brief durchzulesen. Wir mußten uns zum hundertesten Male davon überzeugen, wie unbeholfen unser Bauer durch seine Unkundigkeit des Lesens und Schreibens und durch seine vollständige Unkenntnis seiner Rechte und Pflichten ist.

Die Bauern beklagten sich sehr über die neue Mißernte. Das Wasser der Koma war in diesem Frühjahre ungewöhnlich hoch gewesen und hatte die ganze Wintersaat weggespült, – bloß »100 Garben für jeden Bauernhof zurücklassend;« die Frühjahrssaat aber leide sehr unter der Dürre. Die sich in den letzten Jahren immer öfters wiederholenden breiten Überschwemmungen der Koma und des Iks werden von den Bauern durch das Verschwinden der Uferwälder erklärt, die früher den tauenden Schnee zurückhielten; jetzt dagegen kommt er sehr rasch herunter, und die Flüsse treten aus und vernichten die Saaten. Zum Unglücke hatten die Einwohner von Jurtow außerdem noch 200 Stück Kleinvieh eingebüßt, die sie, kaum daß es wärmer geworden war, weit hinaus auf die Weide hinausgetrieben hatten. Plötzlich war ein starker Frost herangebrochen; die durch den Winter erschöpften Tiere konnten keinen Widerstand leisten und fielen dutzendweise. »So liegen sie zu Haufen,« erzählten die Bauern.

Den Jurtowern steht noch ein schweres Jahr bevor – ob es wohl auch nur eines sein wird? – und die Bauern sind ganz entmutigt und durch die auf ihnen lastenden schweren Pflichten ganz erdrückt. Sie hatten um eine Auswanderung in neue Orte angesucht, ihr Gesuch aber war abschlägig bewiesen worden. – »Was wird weiter sein?« – ist die fürchterliche Frage, die sie sich stellen und auf die sie keine Antwort finden. – »Wie es Gott schon wohlgefällig sein wird,« sagen sie betrübt. – »Sein heiliger Wille geschehe …«

 

3.

Das nächste große Dorf war Jamakowo, wo wir ein, zwei Tage zuzubringen beabsichtigten. Die Einwohnerschaft dieses Dorfes ist beinahe ausschließlich tatarisch. Wir finden ohne Mühe Unterkunft beim alten, großgewachsenen Radulla Abdullin. Wir treten in den Hof, wo wir ein weißes, zitterndes und leise stöhnendes Schaf erblicken, welches sich in der Sonne wärmt. Es wird einem so weh ums Herz bei diesem ununterbrochenen Stöhnen des kranken Tieres …

Unsere Sachen sind von herbeigelaufenen Tataren in die Izba getragen worden, und wir beginnen nach der Fahrt Toilette zu machen. Unsere Blicke fallen zufällig auf die mit Pölstern belegten, mit einem weißen Tuche bedeckten breiten Pritschen, diese Pritschen nehmen in den tatarischen Izbas die ganze vordere Hälfte ein. Dort an der Wand kleben Überbleibsel weißer Zettelchen, auf denen hie und da lateinische Buchstaben zu sehen sind. Der alte Radulla erklärt uns, daß vor acht Tagen hier das zeitweilige Spital des Roten Kreuzes für Typhuskranke untergebracht war. Es wurde uns zuerst ein wenig bange, in diesem Zimmer verweilen zu müssen, dann aber entschieden wir, daß »wer Wölfe fürchtet, in den Wald nicht darf«, – und wir blieben.

In die Izba kamen einer nach dem anderen unter verschiedenen Ausreden Tataren, um uns zu »sehen«; eine hübsche junge Tatarin lief herein und betrachtete uns neugierig mit ihren schwarzen Augen, ihre Schürze nach dem strengen Gebot »Resul Allah« des Propheten vor das Gesicht haltend.

In dem Dorfe sind eine Volksküche mit einem Teehause für die Skorbutkranken, ein Typhusspital für Frauen und ein Ambulatorium eröffnet worden.

Wir begaben uns zuerst zur Volksküche, wo genesende Skorbutkranke zweimal täglich mit Tee mit Zitrone und Brot bewirtet werden. Die Zahl jener, welche diese Volksküche benützen möchten und dieselbe dringend benötigen, ist noch viel größer, aber der Mangel an Mitteln hindert, alle zu befriedigen, und so können sie nur der Reihe nach – zugelassen werden. Man hielt uns wie gewöhnlich für die Obrigkeit und überhäufte uns mit unzähligen Klagen darüber, daß »wir noch keinen Tee bekommen haben«, und mit Bitten, sie für das Teehaus vorzumerken. Die Tataren lieben leidenschaftlich den Tee, und öfters kommt es; nach den Worten der barmherzigen Schwester vor, daß sie sich das Zahnfleisch zerkratzen, um Skorbutkranken ähnlich zu sehen und Tee oder, was nach ihrer Meinung noch besser ist, Zitrone zu bekommen; letztere gilt bei ihnen nicht so sehr als Heilmittel, denn als Leckerbissen. Oft essen an Skorbut erkrankte Mütter die erhaltenen Zitronen nicht selbst auf, sondern sie geben dieselben als Naschwerk ihren Kindern …

In dem Gärtchen brodeln auf zwei langen Tischen einige Samowars, um die herum Tataren, meistens nur Frauen – sitzen. Welch entsetzliche Gesichter! Gelb-grün, mager, oft unglaublich schmutzig, mit fieberhaft glänzenden Augen. Welche Lumpen, durch die der schmutzige, von der Krankheit abgezehrte Körper durchblickt! Diese fünfzig Menschen machen einen unsäglich betrübenden Eindruck und unsere Phantasie malt sich unwillkürlich jene entsetzlichen Bilder, die man, bevor Hilfe gekommen war, überall sehen konnte; die barmherzige Schwester schildert uns jetzt in beredten Worten, wie ganze Familien im Schmutze ohne medizinische Hilfe und ohne Brot herumlungerten. Diese Gesichter mit ihrem unglaublich angeschwollenen Zahnfleisch, aus welchem das Blut herausrann, mit ihren wackeligen, leicht aus den Kiefern herausfallenden Zähnen, mit den dunkelblauen Flecken auf dem ganzen Leibe, sahen entsetzlich aus; der Geruch, den solche Kranke ausströmen, ist unerträglich: Schon von der Ferne spürt man, daß sich in einer Izba Skorbutkranke befinden.

Die Tatarinnen tranken nach und nach ihren Tee aus, grüßten mit einem schwachen Lächeln und sagten: »Rachmet« und »sehr danken«. Einige wollten durchaus der barmherzigen Schwester die Hand drücken. Ich erinnere mich besonders lebhaft an eine alte, uralte Frau, die sich in Begleitung eines halbwüchsigen Mädchens durch die Menge durchdrängte, um der barmherzigen Schwester die Hand zu drücken und unverständlich zu murmeln: »Rachmet« … »sehr danken« …

Unterdessen hatten uns die Tataren umringt und sie erzählten uns, einer den anderen überhastend, in ihrer gebrochenen Sprache von ihrem traurigen Dasein.

»Aj, aj, arm,« sagten sie, die Köpfe schüttelnd. »Pferdchen weg, Kuh weg, Schäfchen weg, alles weg; gar nichts ist geblieben. Dank dem Zar, daß er uns füttert, sehr gut füttert, sonst wären wir schon längst krepiert, ganz krepiert …«

Sie flehten uns an, ihre Wohnungen zu besichtigen.

»Spazier', spazier' zu uns herein … Sieh selbst …«

Wir besuchten die Izbas. Überall vollständige Zerstörung wie nach einem Kriege. Die Hofgebäude, die Izbas sind alle ohne Dächer; oftmals fehlt bei letzteren sogar der Dachstuhl, – der Hausherr »verbrannte« ihn in der Winterkälte, um seine armselige Hütte zu beheizen. Und welche Wohnungen! Fünf Arschin Länge, vier Arschin Breite, zwei und einhalb Arschin Höhe; der Fußboden ist schief, der Plafond löcherig … Dieser Raum wird von einem großen Ofen und von breiten Pritschen ausgefüllt, so daß kaum für drei Personen Platz übrig bleibt. Der uns begleitende Polizeimann muß draußen bei der Türe stehen bleiben. Und in einem solchen Käfig ist oftmals eine Familie von 7–8 Personen zusammengepfercht, in der Winterkälte ohne Luft, beinahe ohne Licht, welches kaum durch das winzige, unglaublich schmutzige Fensterchen durchschimmert.

Auf der Schwelle der ersten Hütte empfängt uns eine junge, hübsche Tatarin mit grauen Augen, die in ungewöhnlicher Reinheit und Klarheit glänzen, – als würde aus ihnen ein schöner Maimorgen auf uns blicken. Sie bedeckt nicht ihr Gesicht mit ihrer Schürze und spricht sehr gut russisch. Es ist – Chadija Galejewa, die vor zwei Monaten im Spitale angestellt war, dort an Typhus sich ansteckte, genas und nun zur Erholung zu ihrer Familie zurückgekehrt ist. Diese Chadija ist ein interessanter Typus. Sie ist mehr eine Russin denn eine Tatarin und deshalb lieben sie die Einwohner des Dorfes nicht. Wie sollten sie auch? Sie verdeckt nicht ihr Gesicht, versteckt sich nicht hinter einem Zaune beim Herannahen von Männern und blickt im Gegenteil mit ihren großen kindlich-klaren Augen jedem keck ins Gesicht; im Spitale hat sie fremde Männer gepflegt, und ein größeres Verbrechen kann es nach der Ansicht der Tataren gar nicht geben! Chadija zieht die Gesellschaft der Russen vor, obwohl sie sich von den Ihrigen nicht zurückzieht. Chadija ist eine jener, die sich gegen die unterdrückte Lage der Tatarinnen auflehnen, vielleicht ganz unbewußt … Wie schrecklich aber die Lage der Frau bei den Tataren ist, wie gering sie geschätzt wird, kann man aus folgenden Worten, die ich von einem Tataren zu hören Gelegenheit hatte, entnehmen. Er hatte in der Hungersnot seine Frau und seinen Gaul verloren und er beweinte ganz besonders den letzteren.

»Wie? Tut dir denn deine Frau gar nicht leid?« fragte ich.

»Na ja, sie tut mir auch leid … Aber eine »Baba« (Weib) kann man immer finden, ein Pferdchen aber nicht … Besonders jetzt sind Babas so viel man will zu haben, in der Hungersnot sind sie gar nicht wählerisch …«

Chadija lebt sehr schlecht. Die Familie besteht aus Vater, Mutter, der erwachsenen Chadija, zwei kleinen Mädchen und einem kleinen Knaben. Der Vater ist fortgezogen, um Arbeit zu suchen. Die ganze Familie bewohnt eine fremde unglaublich winzige Izba (die eigene haben sie aufgezehrt), in der auf einer Pritsche in einem Winkel das Schwesterchen von Chadija, welches an Masern erkrankt ist, im Fieber daliegt. Die Familie besitzt weder Pferd, noch Kuh, ja nicht einmal eine Henne, alles ist »weg«.

Wir treten in die nächste Izba ein, wo ein junger Bauer, Jakschissam Iksanow, auf dem verwüsteten Hofe mit irgendeiner Arbeit beschäftigt ist.

»Bist du der Hausherr?« fragte ich ihn.

»Ein kleiner Hausherr,« erwidert mit einem Lächeln auf dem energischen Gesichte Jakschissam und er zeigt dabei mit einer ironischen Gebärde auf seine Armut.

Die Familie besteht aus vier Köpfen, die kleine Izba sieht der früheren ähnlich; von Vieh ist bloß ein kleines weißes Kätzchen vorhanden, welches in einer Ecke jämmerlich schreit.

Wir treten dann zum kranken Mohammed Skiorgoljew ein, einem gewesenen Soldaten, der jetzt Polizeimann ist; sein Hausrat unterscheidet sich von den früheren nur dadurch, daß er zwei Hühner mit abgefrorenen Füßen besitzt. Es gibt im Dorfe eine Menge solchen abgefrorenen Geflügels, welches die Zehen von den Füßen verloren hat; die Rauheit des Winters und die dächerlosen Gebäude haben das ihrige dazu getan.

Wir besuchen dann noch eine ganze Reihe Izbas, deren Wirtschaft von Nekrassow so kurz und klar charakterisiert worden ist.

»… Im Gemüsegarten
Zwei Zwiebeln einsam warten,
Statt der Kupfertöpfe
Ein Kreuz und zwei Knöpfe,
Im Stalle anstatt der Schafe
Zwei Kätzchen wimmern im Schlafe …«

Leider war es hier mit der Wirtschaft noch schlechter bestellt; es gibt nicht einmal eine Zwiebel, denn der Gemüsegarten ist aus Mangel an Geldmitteln zum Ankaufe von Samen gar nicht bebaut worden; sogar Kätzchen findet man nur selten in den leeren Ställen, wenn überhaupt Ställe noch vorhanden sind … Hier ist – »alles weg …«

Die uns begleitenden Tataren erzählten uns laut mit lebhaften Gebärden, wie sie sich während des letzten Winters durchschlagen mußten, wie mancher Bauer »bloß jeden zweiten Tag etwas zu essen hatte«, wie sie dann »krank und schwach« wurden, wie sie sich bemühten, ihre Pferde zu erhalten und mit ihnen den letzten Bissen teilten, dessenungeachtet schwand das Vieh nach und nach, und die wohlhabenden Bauern verwandelten sich allmählich in arme, besitz- und obdachlose Bettler. Obdachlos wurden sie auf folgende Weise: Zuerst verkaufte der Hausherr jemandem sein Dach als Brennmaterial um zwanzig bis dreißig Kopeken oder er verbrannte es selbst, dann zog er zu einem anderen Bauern und zahlte ihm für die Wohnung mit seiner Izba, die als Heizmaterial verwendet wurde. Übrigens fanden sich nicht immer Käufer für das verfaulte Zeug. Jetzt gibt es in Jamakow über vierzig pferdelose Bauern. Diese mieteten Pferde, um zur Frühsaat zu ackern, bei den anderen Bauern des Dorfes zum Preise von vier Rubeln per Dessiatyn; das Geld dazu borgten sie sich entweder bei den Kapitalisten des Ortes oder bei den Gutsbesitzern aus der Umgebung gegen künftige Arbeit, wobei die Löhne, um die sie sich verdangen, meistens zweimal kleiner als die gewöhnlichen waren.

Wenn der Typhus und der Skorbut beim Hereinbrechen der warmen Witterung und dank der fremden Hilfe auch in der Abnahme begriffen sind, so kann dies nicht von dem Krankenstand der Bevölkerung im allgemeinen gesagt werden; davon konnten wir uns bei einem Besuche des Ambulatoriums überzeugen, wo die Kranken in der Abwesenheit des Arztes von der Wärterin des Distriktsspitals, die dem Roten Kreuze zugewiesen worden war, empfangen wurden. Es waren über hundert Kranke da; die durchschnittliche tägliche Frequenz des Ambulatoriums betrug sechzig bis siebzig Mann …

Ich blieb zwei Stunden im Empfangszimmer, und ich mußte die ganze Zeit über die primitive Behandlungsweise staunen. Die Diagnose wurde in einer Minute festgestellt, dann wurde die Arznei in meistens unsauberen, von den Kranken mitgebrachten Gefäßen verabreicht – eigene Gefäße besitzt das Ambulatorium nicht. Meistens wurden Borsäure, Salizyl-Natrium, Rizinusöl, Salmiak, Lebertran und natürlich auch Zitronen verabreicht. Der Verkehr war außerdem durch die Unkenntnis der russischen Sprache seitens der Bevölkerung erschwert, so daß die Wärterin sich mit Hilfe des verdolmetschenden Polizeimannes, welcher selbst das Russische schlecht verstand, verständigen mußte.

Die Skorbutkranken zeigen ihre Zähne. Die barmherzige Schwester pinselt ihnen aus einem Fläschchen den Mund aus und hat nicht einmal Zeit, den Pinsel nach jedesmaligem Gebrauche zu desinfizieren … Das entsetzliche Aussehen dieser Munde wird bei den Tatarinnen durch die Schwärze der Zähne noch mehr erhöht; sie färben sie – wie der Polizeimann sagt – mit Tinte, so verlangt es die Mode.

»Ja, weshalb färben sie sie denn? …« frage ich.

»Das weiß ich nicht … Wahrscheinlich gefällt es ihnen so …« antwortet der Tatare.

»Wem denn? Den Männern etwa?«

»Wozu den Männern? … Uns ist es einerlei, ihnen selbst gefällt es, so färben sie sie!«

Die Ausbreitung der Krätze unter der Bevölkerung ist einfach unglaublich. Die Kinder sind mit Krätzen und fürchterlichen Geschwüren übersäet; oftmals sind ganze Familien von dieser Krankheit angesteckt. Den Kranken wird grüne Seife und eine Schwefelsalbe verordnet; man sagt, daß diese Mittel helfen, doch kann man nicht umhin, daran zu zweifeln, wenn man den unglaublichen Schmutz sieht, in welchem hier Erwachsene und Kinder stecken. Wir hatten Gelegenheit, noch eine sonderbare Krankheit zu beobachten, die sich darin äußerte, daß große, sehr schmerzhafte Geschwüre gleichzeitig auf allen Fingerspitzen auftraten.

Ein großgewachsener alter Blinder tritt jetzt herein. Er hält sich gerade und spricht gut russisch. Es ist ein getaufter Tatare, Feodor Kuzmin, welcher »zwanzig Jahre dem Zar Nikolaus gedient hat«. Der Alte bezieht eine kleine Pension, er ist reinlich gekleidet und klagt nicht sonderlich über sein Schicksal. Er geht ohne Führer in seinem Heimatsdorfe herum, und wenn er sich einmal verirrt, dann rufen ihm die Kinder zu:

»Onkel Wali, hast dich verirrt …«

Und sie führen ihn wieder auf den richtigen Weg.

Onkel Wali klagt über Beklemmungen in der Brust. Ein Fläschchen mit Rizinusöl soll sein Leiden erleichtern.

Dann kommt ein Mädchen mit einem verbundenen Kopfe. Sie zittert im starken Fieber und erzählt unter Schluchzen, wie sie die Krankheit quält. Die Schwester untersucht, einen Typhus vermutend, ihre Brust, und das Mädchen weigert sich nicht, in Gegenwart eines Mannes es geschehen zu lassen – so sehr ist es von der Krankheit gepeinigt worden. Die Schwester kann sich nicht entschließen, die Diagnose zu machen, und sie befiehlt der Kranken, am nächsten Tage, wenn der Arzt da sein wird, zu kommen. Es gibt nicht wenig solcher Kranken, die nochmals zum Arzt kommen und sich, oft ganz entkräftet, fünf Werst (eine halbe Meile) hinschleppen müssen.

Selbstverständlich kommen bei einer solchen Behandlungsweise die verschiedensten Sachen vor. So wurde zum Beispiel einer skorbutkranken Tatarin eine Zitrone zum Essen und eine Salbe zum Einreiben der Füße gegeben. Die Tatarin rieb sich die Füße mit der Zitrone ein, konnte sich glücklicherweise aber nicht dazu entschließen, die Schwefelsalbe einzunehmen. Als sie das nächstemal wiederkam, bat sie abermals um eine Zitrone zum Einreiben der Füße, versichernd, daß sie ihr das erstemal ausgezeichnet geholfen habe! Der Glaube versetzt auch Berge …

Die Tataren schenken überhaupt den Ärzten und den Arzneien großen Glauben und wenden sich jetzt gerne an sie um Hilfe, früher aber, zu Anfang der Skorbutepidemie, mußte man die Kranken oft mit Gewalt hervorholen; sie versteckten sich. Für die Behandelnden hegen sie die größte Sympathie. So sagte ein Greis, als er von einer an Typhus erkrankten barmherzigen Schwester erzählte:

»Gut Schwester war … Gar zu gut … Habe geweint, als Schwester krank …«

Zu Anfang der Hungersnot wandten sich viele im Spitale an den Arzt mit der naiven Bitte:

»Gib uns eine solche Arznei, daß wir nicht sollen essen wollen …«

 

4.

Es herrschte einiges Leben in den Straßen von Alt-Almety, als wir in die Stadt hineinfuhren, um dort zu übernachten: die Tataren feierten ihren Zein. Auf der Straße fuhren einige Leute mit ziemlich abgemagerten Troikas (Dreigespann) auf und ab spazieren. Einige betrunkene waren zu sehen: die Alten klagen, daß in den letzten Jahren das »Resul Allah« – das strenge Gebot des Propheten – immer öfter überschritten wird. Die Tatarinnen, in grelle Farben gekleidet, blickten, ihre Gesichter mit den Ärmeln zudeckend, auf die Herumkutschierenden. Eine gewisse traurige Stimmung lag auf diesem ganzen Feste, auf dieser ganzen Fröhlichkeit; man sah, daß irgend etwas nicht in der Ordnung war, man sah, daß das Volk sich unterhält, nicht weil ihm froh zumute sei, sondern weil es von altersher schon so eingeführt ist, daß man an diesem Tage spazieren fahren und sich ein wenig unterhalten soll … Die Alten betrachten selbst diese unterdrückte Fröhlichkeit mit unzufriedenen Augen: in einem Jahre, wo die Gegend vom Zorne Gottes ereilt worden ist, ist keine Zeit zum Frohsinn …

In dem Dorfe sind vom Fürsten S. J. Schachowskoj neun Volksküchen und eine ärztliche Station für genesende Skorbutkranke eröffnet worden. Auch hier ist wie überall viel Vieh verkauft worden, und die Lage der Bauern ist sehr traurig. Besonders stark hat das Nachbardorf Ransangar gelitten, wo die Zahl der pferdelosen Höfe auf 46 % gestiegen ist (gegen 23 % vor der Hungersnot); von der Gesamtzahl von 212 Bauernhöfen sind 66 ohne jegliches Vieh.

Wir hatten Gelegenheit, in Almety – und das war auf unserer Fahrt nicht das erstemal – Klagen über die »freie Fütterung« zu hören; diejenigen, die sich über dieselbe beklagten, versicherten, daß sie das Volk demoralisiere, es zur Faulheit erziehe. Man hört solche Stimmen von allen Seiten: von der Intelligenz des Ortes, von jenen, welche hergekommen sind, um den Hunger zu bekämpfen, und von den Bauern selbst. In Alt-Almety wurden diese Klagen von einem achtzigjährigen alten Tataren vorgebracht, welcher sich darüber beschwerte, daß das Volk jetzt ganz verdorben und verarmt ist. Die Wälder sind »weg«, die Flüsse ausgetrocknet, das Getreide gedeiht schlecht, und das Volk ist in der Not. Das Volk geht jetzt nach den Worten des Alten in die Volksküchen, um zu essen, und dann »unterhält« es sich auf den Straßen anstatt in der Wirtschaft zu arbeiten. Diese Klagen sind bei der erstaunlichen Sorglosigkeit des Baschkiren vielleicht nicht unbegründet: heute ist er satt, morgen wie Allah wollen wird, und einstweilen liegt er auf der Erdbank vor seiner Hütte und summt seine endlosen Lieder vor sich hin. Ich erinnere mich an einen Fall, der für diese Sorglosigkeit der Tataren besonders charakteristisch ist. Eine Gutsbesitzerin – es war eine sehr intelligente Frau, welche das Volk gut kannte und liebte – hatte während des Hungerjahres einen Baschkiren gehalten und ihm für seine Arbeit acht Rubel Lohn monatlich bei vollständig freier Station für ihn und seine ganze Familie gezahlt. Die Zeit der neuen Ernte nahte heran, und die Gutsbesitzerin fragte den Baschkiren, ob er auch ferner bei ihr arbeiten wollte.

»I–i … Wo glaubst du hin! …« – antwortete er. – »Ich habe jetzt zwei Dessiatyn schönen Getreides … Wozu soll ich jetzt arbeiten?«

Ein zweiter, welcher gegen die freie Fütterung protestierte, war ein reicher Tatar und, wie mir schien, eine eiserne Faust. Er wütete darüber, daß keiner bei ihm arbeiten will, und er empfahl, um die Bevölkerung zur Arbeit zu zwingen, die Schließung der Volksküchen, die nach seiner Behauptung das Volk bloß verderben. –

»Volk hungerte – Volk gefüttert, – sehr gut, dank … Jetzt aber arbeiten muß …«

»Weshalb aber wollen sie nicht arbeiten? Vielleicht willst du ihnen weniger zahlen? …«

»Natürlich weniger als früher. Auch bei mir ist die Ernte schlecht gewesen, woher soll ich also Brot nehmen? … Arbeiten muß ein jeder; das Volk aber hat sich angegessen, und jetzt liegt es auf der faulen Haut. Besser als im Himmel …«

Ich interessierte mich zu erfahren, für welche Arbeiten er Arbeiter suche und zu welchen Preisen. Erstens, um »Kisiak« zu arbeiten. Das ist eine Galeerenarbeit, die ungemein schwer und schmutzig ist und die darin besteht, daß aus mit Wasser vermengtem Dünger viereckige Ziegel gemacht werden, die dann, in der Sonne getrocknet, als Brennmaterial dienen. Ein Arbeiter ist imstande, im Laufe eines Tages höchstens fünfzig Stück solcher Ziegel anzufertigen, wofür er bei eigener Verpflegung zwanzig Kopeken erhält. Den Mähern zahlte der genannte Bauer bei freier Verpflegung zehn bis zwanzig Kopeken per Tag; für das Schneiden einer sechzigfachen Dessiatyn (60 x 60 Saschen [Klafter]) zahlte er – 2 Rubel (gegen den früheren Preis von 4–6 Rubel). Bei solchen Preisen ist es natürlich nicht zu verwundern, wenn sich keine Arbeiter melden. Der alte Tatar erzählte sehr hitzig und versicherte mich, daß auch er kein Getreide und folglich auch kein Geld habe. Er schob mir einen Bogen Papier unter, dabei wiederholend:

»Schreib ein Gesuch in aller Form … Schreib' …«

»Wem denn?« –

»Dem Zemstwo (Landesverwaltung), daß sie keine Unterstützung geben, und dem Fürsten, daß er die Volksküchen schließen soll. Das Volk hat sich angefressen, und jetzt faulenzt es; sie sollen arbeiten …«

 

5.

Den nächsten längeren Aufenthalt machten wir in dem russisch-tatarischen Dorfe Alexandrowskoje-Karamaly, wo wir ein großes, lichtes Zimmer bezogen mit der Aussicht auf den Marktplatz, auf dem eine Sau herumspazierte, auf die Kirche, das Gemeindehaus, die Schule und das Haus des Gutsbesitzers; mit einem Worte im Zentrum des Ortes. Unsere Hausfrau, eine dicke, gutmütige Bäuerin mit einer breiten Aussprache, machte sich daran, uns einen Brei und eine Suppe aus Hammelfleisch zu kochen, was uns beinahe in Verzückung versetzte. Die Nahrungsfrage spielt in diesen weltentlegenen Gegenden eine sehr wichtige Rolle. Wir mußten uns oft tage- ja wochenlang mit Tee, Brot und Eiern begnügen. Zum Schlusse unserer Reise konnten wir nicht einmal mehr den Anblick der letzteren ertragen, so sehr waren sie uns zuwider worden, und das bloße Wort »kuckoj« (tatarisch Ei) machte uns nervös zusammenzucken …

Wir gingen nach unserer Gepflogenheit durch das ganze Dorf und machten uns einen allgemeinen Begriff über dasselbe. Es hatte dasselbe traurige Aussehen wie die früheren, nur nahm es sich vielleicht ein wenig anständiger aus: wir trafen auch Hütten mit ganzen Dächern an … Überall, wo die Dächer unversehrt waren, natürlich nichts anderes als Stroh, Stroh und Stroh, ein ganzer Ozean von Stroh, in dem nur sehr selten einzelne Holzdächer wie Inseln auftauchen; man muß dabei unwillkürlich an jenes Fünkchen denken, welches im Nu das ganze Dorf in Brand stecken und es nach wenigen Stunden in einen Haufen Asche verwandeln kann: das Dorf Karmaliny brennt sehr regelmäßig, alle fünf Jahre gewöhnlich, ab … Man kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn man alle Feuerlöschvorrichtungen betrachtet: bei jedem Hause lehnt ein zum Löschen bestimmter Eimer und ein ausgetrocknetes Faß mit Überbleibseln einer trüben und übelriechenden Flüssigkeit auf dem Boden; an den Hütten sind Täfelchen angeschlagen, auf denen hier ein Spaten, dort ein Eimer, eine Leiter oder dergleichen abgebildet ist, mit einem Worte, alle jene Instrumente, welche die Bauern zum Löschen benötigen und welche im gegebenen Falle gewöhnlich durch ihre Abwesenheit glänzen; selbst aber wenn sie da sind, brennt das Dorf dennoch bis auf Grund und Boden ab. Es bleibt dann den Bauern bloß der eine Trost, daß sie nicht ohne zu kämpfen und mit Hilfe von Löschapparaten abgebrannt sind …

Plötzlich steht vor uns, unsere Gedanken gleichsam bestätigend, eine Gruppe zerlumpter, abgehärmter Männer. Es sind, wie wir erfahren, Abbrändler aus dem Dorfe Nalim, welches vor einer Woche zur Hälfte eingeäschert wurde: es verbrannten dabei fünfzig Höfe, viel Vieh und zwei Menschen. Die Abbrändler blieben von allem entblößt, ohne Hütten, ohne Brot, und werden nur durch die Volksküche des Roten Kreuzes erhalten. Viele Kranke ohne Obdach, ohne Meldung sind dem kalten Winde und dem Regen preisgegeben. Möge der Leser dabei nicht vergessen, daß die Einwohner von Nalim nicht die einzigen sind und daß viele Hunderte von Dörfern jedes Jahr demselben Schicksale anheimfallen …

Armselige, kleine Hütten fallen uns besonders auf, Hütten, die kaum einem Menschen Raum bieten können, in denen aber aus sieben, acht Köpfen bestehende Familien hausen. Es gibt auch einige solche Lehmhütten, durch deren niedrige Türe wir uns nur mit Mühe durchzwängen können. Mir erblicken in einer solchen Lehmhütte ein trauriges Bild: in einem dumpfen, halbfinsteren Raume – die Hütte wird bloß durch ein kleines Luftloch von oben erhellt – liegt auf einer schmutzigen Pritsche in Fieberphantasien ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Da gibt es nichts – weder Hilfe, noch Pflege, – und die arme Mutter kann bloß mit Tränen zusehen, wie sich ihr Kind quält.

Wir blicken in die Höfe – überall Verwüstung und lautlose Stille; das bedeutet eben, daß »alles weg« ist. Es stehen armselige Teljegas (Wagen), welche jeden Augenblick zu zerfallen drohen, einige Küchlein piepsen und junge Schwalben zwitschern, ihre niedlichen Köpfchen aus einem an dem Dachstuhle klebenden Neste hervorsteckend. Im Gemüsegarten gedeihen in diesem Jahre herrlich … Brennesseln, Löwenzahn und Wermut … Traurig wird einem ums Herz beim Anblicke dieser ganzen bitteren Armut, noch trauriger aber, wenn man eine Hütte mit festvernagelten Fenstern antrifft: das bedeutet, daß die Inwohner es nicht länger aushielten und davonliefen. Es sind stets bessere Hütten, welche vernagelt sind, ihre Besitzer mußten also wohlhabendere Bauern gewesen sein, welche die Mittel besaßen, um, nachdem sie ihr eigenes Nest verlassen, an neuen Orten ihr Glück zu suchen. Es blieb bloß jene Armut zurück, welche keine Möglichkeit hat, sich »vom Platze zu rühren …« Viele Tataren sind, wie man sagt, nach der Türkei geflohen; ob diese Gerüchte auch richtig sind, weiß ich nicht …

Man bemerkt hier unwillkürlich den Unterschied zwischen den Tataren, den Baschkiren und den Russen. Es haftet auf den letzteren der Stempel einer gewissen Gedrücktheit, einer gewissen knechtischen Ergebenheit; erblickt ein »Muschik« (russischer Bauer) von der Ferne »Herren«, dann zieht er schon auf eine Werst Entfernung seine Mütze, springt von der vor seiner Hütte angebrachten Lehmbank in die Höhe und verneigt sich bis zur Erde, nachdem er zuvor seinem Jungen einen leichten Rippenstoß gegeben hat. Der Junge rettet sich, so rasch er kann, hinter das Tor und betrachtet von dort mit seinen blauen verwunderten Augen die »Herren«. Das sind noch immer Spuren früherer Knechtschaft, die durch einen beinahe vierzigjährigen »freien Stand« nicht verwischt worden sind. Etwas ganz anderes ist der Baschkir. Er knüllt seine Mütze nicht in den Händen, ja er verändert nicht einmal seine Pose, wenn ein Herr – Obrigkeit, oder ein Herr, welcher einer Obrigkeit ähnlich sieht – vorübergeht; er betrachtet einen solchen Herrn mit Neugierde und summt sein Liedchen ungestört weiter. Betritt man seine Hütte, dann ist er über alle Maßen gastfreundlich, er trägt das allerbeste, was er hat, auf, bewirtet eifrig seinen Gast, lacht viel, seine schneeweißen Zähne dabei zeigend; es ist an ihm kein Schatten knechtischer Unterwürfigkeit oder Speichelleckerei zu bemerken … Auch im Gespräche zeigt sich der Unterschied: während der russische Muschik bemüht ist, so viel als nur irgend möglich dem »Herrn« beizupflichten und beständig sein: »Natürlich, das verstehen wir ja nicht,« wiederholt, lacht der Baschkir oder Tatar, scherzt und verteidigt mutig seine Sache …

Unser erster Besuch in Karamaly galt dem Fürsten S. J. Schachowskoj, welcher seit mehreren Monaten in diesem weltentlegenen Neste arbeitet. Der Fürst empfing uns sehr liebenswürdig und erzählte uns viel Interessantes von seiner Tätigkeit unter den Hungernden. In dem von ihm gegründeten Vereine arbeiten mehr als dreißig Mann; zweihundertundfünfzig Volksküchen für je sechzig Personen sind von ihm, und zwanzig von ihm mit dem Roten Kreuze zusammen eröffnet worden; die ihm zugekommenen Spenden belaufen sich auf ungefähr sechzigtausend Rubel.

Der Fürst und die übrigen Mitglieder seines Vereines müssen unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Sie verbringen halb schlaflose Nächte in den von Wanzen, Flöhen und anderem Ungeziefer wimmelnden Izbas; sie können sich nicht satt essen und sind auf »Kukajs« (Eier) und Tee mit Milch als Nahrung angewiesen, sie machen Tausende von Werst im Tarantaß bei oft unmöglichen Wegen, besonders in der Regenzeit; sie sind gezwungen, wochenlang ohne Briefe und monatelang ohne Zeitungen zu sein; es treten außerdem noch verschiedene andere Umstände und Hindernisse hinzu, welche bald da, bald dort auftauchen und einen gewissen Kampf zu deren Beseitigung erfordern …

Nachdem es unmöglich ist, alle in einem fort zu füttern, was auch, da es auch solche gibt, die sich selbst ernähren können, ungerecht wäre, so beschäftigen sich die Mitarbeiter des Fürsten, wenn sie in ein Dorf kommen, zuerst damit, alle Höfe zu besuchen, worauf sie, um die Unterstützungen gerecht verteilen zu können, zur Klassifikation ihre Zuflucht nehmen und diese auf sehr geistreiche Weise durchführen. Da es im Vereine sehr viele gibt, die mit den Dorfverhältnissen wenig vertraut sind und denen es also schwer fallen würde, die ökonomische Lage irgendeines Bauern richtig zu beurteilen, so wird die Klassifikation gewöhnlich von den Bauern selbst gemacht. Das geschieht auf folgende Weise: Die Bauern werden alle zusammengerufen, und ein jeder wird ausgefragt. Nehmen wir an, zum Beispiel, daß Iwan Petrow gar kein Vieh besitzt; seine Izba ist schlecht, er hat kein Brot, es sind Kranke in der Familie da – er kommt in die erste Klasse. Nikita hat ein Pferd, aber kein Futter, eine kleine Izba und eine große Familie – er kommt in die zweite Klasse. Terentji hat zwei Pferde, auch anderes Vieh, eine mittelgroße Izba – er kommt in die vierte Klasse. Bei einem weiteren Ausfragen fangen die Bauern an, sich die Sache zu erklären, dann sagen sie selbst schon:

»Schreib ihn in die zweite Klasse ein … Es geht ihm gar zu schlecht …«

Manchmal entsteht wegen einer Klassifikation Streit, und dadurch wird der richtige Stand der untersuchten Wirtschaft klargelegt. Dieses massenweise Ausfragen hat gegenüber dem Ausfragen eines jeden bei ihm zu Hause noch jenen Vorteil, daß hier jede abgegebene Aussage von allen kontrolliert wird, und lügt einmal einer etwas vor – was manchmal geschehen ist – dann wird er sofort überführt. Es sind übrigens auch Fälle von Lügen en masse vorgekommen. In solchen Fällen ist das obwohl unangenehme System der »Ungerechtigkeit« anzuwenden. Man muß dann einem notorisch stark notleidenden Bauern die Unterstützung verweigern, worauf dieser, gekränkt, alle anderen überführen wird.

Während der jetzigen Hungersnot wurden schwache Versuche gemacht, im Kreise Mezelinsk eine Hilfsaktion durch Schaffung von Arbeiten zu organisieren, doch führten sie zu keinem ernsten Resultate; so zum Beispiel fing man an, eine Brücke zu bauen – sie wurde jedoch noch unfertig vom Hochwasser weggeschwemmt, und der Versuch, welcher, wie man sagt, vierzigtausend Rubel gekostet hat, endigte damit. Übrigens hatte die Bevölkerung an dem Bau der zur Brücke führenden Straße gearbeitet.

Russische Bauern aus dem Dorfe Schugan erzählten mir auch, wie sie zu Waldarbeiten in der Umgebung von Ufa aufgefordert worden waren. Die Bauern von Schugan mußten wegen dieser Arbeiten mehr als zweihundert Werst zurücklegen, die Bedingungen aber waren solche, daß sie es vorzogen, nachdem sie das letzte aufgezehrt hatten, nach Hause zurückzukehren; sie hatten auf diese Meise vergeblich mehr als fünfhundert Werst zu Wagen zurückgelegt. Man hatte sie ausgenommen, um Holz zu führen, zuerst um den Preis von zwei Rubeln für eine Kubiksaschen, dann zahlte man ihnen bloß einen Rubel und siebzig Kopeken; jede Kubiksaschen mußte in neun Fuhren geteilt werden und da die Wälder von der Stadt neun bis zwölf Werst entfernt sind, konnte ein Bauer nicht mehr als zwei Fuhren täglich machen, mithin nicht mehr als vierzig Kopeken per Tag verdienen, und das konnte natürlich zur Erhaltung eines Arbeiters und seines Pferdes nicht ausreichen.

 

6.

Wir konnten erst am nächsten Morgen Karamaly verlassen. Jetzt nähern wir uns einem kleinen Dörfchen, bei dessen geöffneten Toren ein bildhübsches, blondhaariges, etwa fünfjähriges Mädchen steht und uns verstohlen mit seinen himmelblauen Augen mißtrauisch betrachtet. Wir werfen dem Kinde für das Öffnen der Tore ein Fünfkopekenstück zu und fahren in die Straße hinein, durch welche das Volk, Bündel tragend, zieht: augenscheinlich findet jetzt die Speisung in der Volksküche statt … Es ist ein neues, vor vier Jahren erst entstandenes Dorf und es nennt sich Georgiewka. Die Einwohnerschaft ist ausschließlich russisch. Die Bewohner von Georgiewka sind aus verschiedenen Orten des Gouvernements Ufa zusammengelaufen: es wurde ihnen, wie sie sagen, auf den »alten Plätzen« zu eng. Man gab ihnen Grundstücke aus ehemals den Baschkiren gehörendem Boden, und sie werden als Pächter des Staates für zwanzig Jahre geführt. Sie erhielten fünf Dessiatyn Boden per Kopf bei einem Pachtschilling von 72¾ Kopeken per Dessiatyn. Sie übersiedelten alle »mit Vermögen« her; es waren durchwegs wohlhabende, ja manche sogar nach ihren Begriffen reiche Bauern. Anfangs schien es ihnen, nach den Worten eines Muschiks, »gut zu gehen,« jetzt dagegen sind sie im vollen Sinne des Wortes – Bettler. Im ersten Jahre war die Ernte mäßig, im zweiten und dritten Jahre war sie schlecht, heuer aber war überhaupt nichts geraten. Im Verlaufe dieser drei Jahre hatten sich die Einwohner von Georgiewka total ruiniert: sie mußten das Vieh und die Wirtschaftsgebäude verkaufen, sie mußten die Dächer als Heizmaterial oder als Futter für das Vieh verwenden und blieben schließlich ohne Pferde und ohne Vieh.

Das Vieh wurde teilweise aufgegessen, teilweise um ein nichts verkauft. (Die Fleischpreise sanken im Winter manchmal bis zu einer Kopeke per Pfund herab.) Viel Vieh verhungerte auch, nachdem alle Dächer und alle Vorräte an Gipskraut aufgezehrt worden waren. Letzteres – eine trockene Distel, welche im Winter auf den Steppen gesammelt wurde – stieg im Preise bis zu drei Rubel für die kleine Fuhre. Das Vieh konnte sich nur in der äußersten Not dazu entschließen, dieses Futter zu essen. »Tagelang standen die Pferde bei diesem Futter,« so erzählen die Bauern, »und rührten es nicht an, dann aber blieb ihnen nichts anderes übrig: friß oder stirb. Nun, so fraßen sie davon …«

Wir bekamen viele erschütternde Geschichten in Georgiewka zu hören; viel Trauriges hatten wir auf unserem Wege gesehen, bis zu einer solchen Stufe des Unglücks war aber, mir scheint, kein einziges Dorf gesunken. Alle Einwohner gingen hoffnungslos wie Schatten einher. Das Entsetzliche ihrer Lage wird dadurch noch erhöht, daß sie auch heuer von der Mißernte heimgesucht worden sind …

Ich erinnere mich besonders lebhaft an einen jungen, athletisch gebauten blauäugigen Muschik, der wie aus Stahl gegossen schien. Und dieser Riese konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten, als er von den Leiden, die sie in diesem Jahre hatten erdulden müssen, sprach. Er war reich gewesen, er war ein Bettler geworden … Er hatte alles, was er besaß, verkauft, um seine Familie zu erhalten und wenigstens ein Pferd zu retten. Die Hofgebäude, welche über hundert Rubel gekostet hatten, verkaufte er als »altes Gerumpel« um achtzehn Rubel, zwei Pferde gingen vor Hunger zugrunde, mit dem dritten fuhr er auf den Markt, unterwegs konnte es nicht weiter, und er verkaufte es um … einen Rubel und fünfundzwanzig Kopeken! Die Hühner, Schweine, Schafe – alle verendeten …

Welch entsetzliches Bild malt sich vor unseren Augen, wenn wir in jeder Hütte die gleichen Erzählungen hören müssen! … Der Winter war rauh gewesen, es mangelte an Heizmaterial. Es gab Hütten, in denen wochenlang nicht geheizt wurde; öfters versammelten sich einige Familien in einer Hütte, eine jede brachte ein Stückchen Holz mit, und sie wärmten sich zusammen. Alles, was nur irgend möglich war, wurde verbrannt: die Betten, die Fußböden, die Holzpritschen, die Dachstühle – alles! Kaum dunkelte es, da versank auch schon das ganze Dorf in den Schlaf: den ganzen Winter über wurde kein Licht angezündet. Anstatt Tee brauten sie irgendein Grasgewächs ohne Zucker. Tagelang wurde nichts gegessen. Manchmal pflegten sie sich zu versammeln und zusammen bitterlich zu weinen, dann ging das Hungern von neuem an! … Dann brach der Skorbut, der Typhus und der Scharlach aus, und – man sandte ihnen eine Krankenpflegerin aus dem Landesspital, um die Epidemien zu bekämpfen; sie hat, wie man erzählt, sehr gewissenhaft gearbeitet, doch was hätte sie ohne Kenntnisse der Medizin und in jenem Milieu, das wir kennen lernten, ausrichten können: in armseligen, winzigen, feuchten, dächerlosen Izbas, ohne Luft und ohne Licht; ungeheizte, finstere Lehmhütten, in denen im Frühjahre das Wasser des draußen tauenden Schnees stand.

Bereits am fünfzehnten August begann man an die Einwohner von Georgiewka dreißig Pfund Mehl per Kopf zu verteilen. Im Dezember eröffnete das Rote Kreuz seine Volksküchen und ein kleines Spital; vom ersten Juli an fing man an, der entkräfteten Bevölkerung zweimal täglich warme Speisen zu verabreichen.

 

7.

Kilimowo war der letzte Punkt unserer Reise zu den Hungernden. Wir beschlossen, hier ein wenig auszuruhen und das gesammelte Material zu ordnen. Hier waren wir wieder unter zivilisierten Menschen, wir schliefen in guten Betten und aßen gut in der liebenswürdigen Gesellschaft der Familie M., die uns in zuvorkommender Weise eingeladen hatte, bei ihr zu wohnen.

Herr M. ist Landeshauptmann. Er hat in der Hungersnot mit dem Roten Kreuze gearbeitet und er konnte uns folglich vieles erzählen. Ich werde diese Erzählungen nicht wiederholen; es war immer dieselbe Geschichte: Die Menschen hungerten und froren, sie siechten dahin und starben. Herr M. erzählte uns viel von den Baschkiren. Dieses Volk durchlebt gegenwärtig eine schwere Krisis. Vor hundert Jahren waren es Nomaden, welche mit ihren Herden durch die weiten Steppen zogen. Da gab es auch Urwälder »mit Biberjagden«, wie es aus den »Kaufverträgen« jener Zeit zu entnehmen ist; hier wurde auf Marder und auf andere Raubtiere gejagt. Mit einem Worte, der Nomade und der Jägersmann hatten hier volle Freiheit. Doch die Zeiten hatten sich jäh geändert. Der Baschkir wurde an die Scholle gefesselt und gezwungen, den Boden zu ackern, bis dahin aber war ihm eine derartige Lebensweise ganz fremd gewesen. Er hatte es noch nicht einmal gelernt, den Boden zu bearbeiten. Es kommt, wie man mir erzählte, oft vor, daß der Baschkir den ihm zugewiesenen Boden für elende Groschen verpachtet; für das erhaltene Geld kauft er sich Tee und seiner Frau ein buntes Kopftuch, dann verdingt er sich, vom Hunger dazu getrieben, als Taglöhner bei seinem Pächter; er arbeitet bei diesem drei, vier Tage (bei einem Lohne von 4–5 Kopeken pro Tag), dann kauft er für das erhaltene Geld ein, zwei Pud Mehl und lebt davon, ohne etwas zu arbeiten, eine ganze Woche mit seiner Familie. Braucht er wieder einige Kopeken, dann verdingt er sich wieder als Taglöhner … Diese Baschkiren leben entweder in ganz unmöglichen, kleinen und feuchten Izbas oder in den von mir schon früher beschriebenen Lehmhütten. Sie haben nicht einmal Gemüsegärten. Herr M. erzählte uns darüber eine charakteristische Episode. Er hatte in einem Dorfe alle Baschkiren zusammenrufen lassen, hatte ihnen den ganzen Nutzen der Gemüsegärten erklärt und ihnen dann vorgeschlagen, Samen kommen zu lassen. Die Versammlung – lauter Baschkiren – hatte gerne zugestimmt und die hiezu nötige Summe angewiesen. Eine Woche später kommt Herr M. zufällig wieder in dieses Dorf und er fragt die Bauern, ob sie darüber zufrieden seien, daß sie sich endlich entschlossen haben, Gemüsegärten anzulegen?

»Zufrieden … zufrieden sind wir damit,« antworten die Baschkiren, »doch haben wir uns die Sache schon wieder überlegt …«

Herr M. erfuhr nun, daß die Weiber eine ganze Revolution wegen der Gemüsegärten inszeniert hatten, fest entschlossen, sich dagegen bis zum letzten Tropfen Blutes zu wehren. Dieser Protest ist leicht begreiflich: Die ganze Last der Arbeit ruht bei den Baschkiren auf den Schultern der Frau, die eine Sklavin ist und deshalb ist ihr Leben auch ohne Gemüsegärten nicht rosig.

Nichtsdestoweniger sind hie und da doch schon Gemüsegärten anzutreffen und die Entwicklung dieses Unternehmens kann nach den Worten des Herrn M. in seinem Kreise für gesichert gehalten werden, Herr M. erzählte uns, mit welchem Vergnügen er bei seinem Besuche irgendeines Dörfchens den ihm angebotenen Rettig verzehre, welcher, dank seinen Bemühungen, endlich als Avantgarde der Zivilisation in diese wilde Baschkirengegend gedrungen ist …

Man kann nach allen diesen Tatsachen beurteilen, wie wenig der Baschkir sich bis jetzt an seine neue Lebensweise gewöhnt hat und wie traurig sein Leben nicht bloß in diesem Jahre des Volkelends, sondern im allgemeinen ist. Jetzt ist die Hilfe gekommen und der Baschkir sagt naiv: »Der liebe Gott hat uns ein gutes Jahr geschickt! Niemals noch haben wir so gegessen!« (Das sagt übrigens auch der russische Muschik.) In der Tat, anstatt einer Brotrinde und eines Stückchens Ziegetee erhielt der Baschkir in den Volksküchen täglich eine warme Suppe, frisches Brot und manchmal auch Tee, es ist also leicht begreiflich, daß ihm dieses Unglücksjahr wie ein Jahr außergewöhnlichen Wohlergehens vorgekommen ist, später wird er wieder hungern, denn er kann die ihm durch die Jahrhunderte anerzogenen Gewohnheiten auf Befehl der Obrigkeit nicht ablegen.

Die Unwissenheit der Baschkiren ist geradezu fabelhaft; des Lesens und Schreibens Kundige sind unter ihnen eine seltene Erscheinung. Wie in einer ewigen Nacht dämmert dieses Volk dahin, nichts wissend, nichts verstehend. Es ist leicht begreiflich, daß der Baschkir sich selbst aus seiner Not nicht befreien kann; um sich befreien zu können, müßte er ein bestimmtes Ziel vor sich haben, ein solches kann aber nur bei einem Menschen, der sich seiner Lage und der Verhältnisse, in denen er sich befindet, bewußt ist, vorausgesetzt werden. Kann aber etwas Derartiges von einem Baschkiren verlangt werden?

 

8.

Wir nahmen Abschied von unseren liebenswürdigen Wirten und fuhren zur Station Tschischla, welche von Ufa bloß 50 Werst entfernt ist. wieder dehnte sich vor uns die weite Steppe, über welche die Schatten der Wolken liefen, das Pfriemengras schaukelte sich, die Herden von Schafen schimmerten grau … Selten nur jagt in der Ferne ein Baschkir mit einem weißen Filzhute zu Pferde vorüber oder eine Troika begegnet uns … Die Reisenden wechseln neugierige Blicke und fahren auseinander, um nie mehr wieder sich zu begegnen, und abermals ist alles öde …

Wir fahren über den Damm einer Mühle, auf dessen Rand ein Schwarm bunter Tauben sitzt; auf der spiegelglatten Fläche des schlafenden Teiches schwimmen von grünem Schilf eingerahmt prächtige Wasserlilien und in dem durchsichtigen Wasser sieht man die auf dem sandigen Grunde spielenden Silberfischlein … Der Weg steigt einen hohen Hügel hinan, auf dessen Abhängen junge Birken und Eichen wie ein in den Kampf ziehendes Heer stehen. Wir halten ein wenig an, bewundern ein letztesmal die Steppe und setzen nicht ohne Traurigkeit unsere Fahrt fort … Unsere Reise, welche einen Monat gedauert hatte, näherte sich ihrem Ende; jetzt konnten wir aus allem Gesehenen Schlüsse ziehen und diese riefen in uns ein trauriges Gefühl hervor. Sowohl wir, als auch die anderen, welche die hungernden Gegenden besucht, hatten die Empfindung mitgenommen, daß das Dorf wieder allein, sich selbst überlassen und ganz ohnmächtig gegen eine mögliche Wiederholung der Kalamität geblieben sei. Die Volksküchen und die kleinen Spitäler würden bald wieder geschlossen werden und bald darauf würde das allgemeine »Sichnichtsattessen« und die Krankheiten beginnen. (Letztere hatten übrigens gar nicht aufgehört.) Das Dorf ist allein ganz unfähig, auch nur ein wenig seine trostlose zu verbessern … Was ist also zu tun? Man kann doch nicht immer und ewig mit Volksküchen und Spitälern durch das arme Rußland laufen, das Bauernreich nährend, bekleidend und kurierend … Im Verlaufe der gegenwärtigen Hungersnot wurde wiederholt der Gesellschaft ein Mangel an Mitgefühl zu der bitteren Lage des Bauernstandes vorgeworfen. Es ist natürlich sehr unrecht, dem Volke nicht zu Hilfe zu kommen, doch diese Gleichgültigkeit der Gesellschaft ist vielleicht nicht unbegründet. Die Gesellschaft hat in den Jahren 1891–1892 dem notleidenden Volke geholfen, in 1898–1899 ebenfalls und im Jahre 1899–1900 abermals im Süden Rußlands, – wann wird diese Hilfe also ein Ende nehmen?

Immer häufiger werden Stimmen laut, daß »es so nicht gehe, daß diese Fütterung das Volk verderbe, daß es auch ohnedies schon ganz faul geworden sei«. –

Das Volk der Faulheit zu zeihen, ist natürlich sehr leicht und … sehr praktisch, da dieses einen Anlaß gibt, ihm die Hilfe zu verweigern; es ist eben faul und also »unwürdig, erhalten zu werden«. Diese Beschuldigung hält jedoch eine Kritik nicht aus; man kann das Volk ebensowenig beschuldigen, wie man ein Pferd beschuldigen kann, welches auf der Straße stehen geblieben und nicht imstande ist, den allzu schweren Wagen vom Flecke zu rühren; es ist nicht deshalb stehen geblieben, weil es nicht weiter will, sondern weil es nicht weiter kann … Und möge die russische Gesellschaft ihr Gewissen nicht mit verschiedenen Liedern vom »faul gewordenen Volke« einlullen; möge es dem Volke auf andere Weise zu Hilfe kommen, wenn es an die »Volksfütterung« nicht glaubt, das Volk braucht Hilfe und ohne diese Hilfe wird es vor dem drohenden Schatten der Hungersnot leider immer machtlos bleiben! … Bei dieser Hilfsaktion ist es notwendig, daß die Zemstwos, die Administration, die Gesellschaft und solche staatliche Institutionen wie das Rote Kreuz Hand in Hand gehen sollen, hauptsächlich aber ist es unerläßlich, daß die ausgedehnteste Bekanntmachung dieser Hilfsaktion gestattet und sodann jenen Leuten, welche den hungernden und Frierenden nach Kräften helfen wollen, keine Hindernisse in den Weg gelegt werden, mit einem Worte – daß der Gesellschaft die Möglichkeit geboten werde zu helfen. Ohne Hilfe der letzteren ist, wie die vorhergehenden Versuche gezeigt haben, ein Kampf mit der Hungersnot unmöglich; weshalb also Hindernisse schaffen, welche offiziell während der jetzigen Hungersnot beseitigt worden waren? Entsteht ein Brand, dann möge ein jeder und nicht bloß die Feuerwehr das Recht haben, ihn zu löschen. Besser wäre es noch, wenn die Möglichkeit solcher Brände bis zum äußersten Minimum herabgesetzt und der Bauernstand in solche Verhältnisse versetzt würde, bei welchen eine Mißernte nicht imstande wäre, eine ganze Gegend vollständig zu ruinieren. Gute Schulen, billiger Kredit, die Verbreitung volkswirtschaftlicher Kenntnisse, die Assekuranz der Ernten, die hinreichende Versorgung der Bauern mit Grundstücken, die Freiheit der Auswanderung u. s. w. – das sind lauter Dinge, die nicht erst morgen, sondern heute noch verwirklicht werden sollten … Es darf nicht gezögert werden: Die Mißernten wiederholen sich beinahe jedes Jahr; der kranke Organismus bedarf keiner süßen Arznei, sondern eines starken Mittels, welches imstande wäre, die Krankheit radikal zu heilen …

Ende


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